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Nell ist schüchtern und hasst Veränderungen. Daher ist sie nicht gerade begeistert, als sie zu ihrer Großmutter in eine englische Kleinstadt ziehen muss – und das mitten im Schuljahr. Doch der Neubeginn ist nicht Nells einziges Problem. Jemand scheint sie in ihrem neuen Zuhause zu beobachten und als sie ernsthaft in Gefahr gerät, eilt ihr ein mysteriöser Junge zu Hilfe. Doch dieser Junge scheint ebenfalls voller Geheimnisse zu stecken. Nell ist sich sicher: Dieses Mal möchte sie sich nicht verstecken, sondern dem Rätsel auf den Grund gehen. Doch sie ahnt nicht, dass die Gefahr noch keinesfalls gebannt ist und schon einmal ist ein Mädchen aus diesem Ort spurlos verschwunden.
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Kapitel 1: Ein neuer Anfang
Kapitel 2: Alarmiert
Kapitel 3: Bücher und Bauchgefühl
Kapitel 4: Stechende Blicke
Kapitel 5: Außer Atem
Kapitel 6: Licht im Dunkeln
Kapitel 7: Sog
Kapitel 8: Rostrot
Kapitel 9: Doppelt Angeschlagen
Kapitel 10: Beipackzettel
Kapitel 11: Angeborene Autorität
Kapitel 12: Wasserflasche und Nagelfeile
Kapitel 13: Quietschgeräusche
Kapitel 14: Herr im Haus
Kapitel 15: Sägewerkfreies Nachtlager
Kapitel 16: Ohne Geleitschutz und Panzerkolonne
Kapitel 17: Adrenalin ohne Sprint
Kapitel 18: Risiken, Nebenwirkungen und Fensterkitt
Kapitel 19: Eingewebte Goldfäden
Kapitel 20: Bergkristall und Dachbodengeheimnisse
Kapitel 21: Logans Geschichte
Kapitel 22: Flattern im Bauch
Kapitel 23: Kontrollgang
Kapitel 24: Sägemehl und Förmlichkeiten
Kapitel 25: Heimathafen
Kapitel 26: Kuchenschlacht und Doping
Kapitel 27: Kribbeln und Ziehen
Kapitel 28: Soldat
Kapitel 29: Charismatisch, Gutaussehend und Interessant
Kapitel 30: Ernste Worte
Kapitel 31: Blass und Bronze
Kapitel 32: Die Einschläge rücken näher
Kapitel 33: Unglückszahl
Kapitel 34: Besser als sein Äußeres
Kapitel 35: Schicki-Micki und Plunderstücke
Kapitel 36: Lauft!
Kapitel 37: Dämmerzustand
Kapitel 38: Wärme
Kapitel 39: Gescheiterte Pläne
Kapitel 40: Bestimmung
Veränderungen können beängstigend sein.
Aber nichts ängstigt mehr,
als etwas zu bleiben,
was man nicht wirklich ist.
Ich hasste Neuanfänge, ich hasste Unerwartetes, ich hasste Überraschungen. Und deshalb war das, was mir gerade passierte genau das, was meinem persönlichen Alptraum gleichkam. Ein Neuanfang stand mir bevor – und was für einer. Betrübt blickte ich aus den Fenstern des typisch schwarzen englischen Taxis, das mich durch den Regen fuhr – hinein in eine mir nahezu unbekannte Welt. Der Taxifahrer, ein alter grauhaariger Opatyp mit Schnauzer, war mir mit seiner ruhigen und zurückhaltenden Art auf den ersten Blick sympathisch gewesen. Besonders gefiel mir, dass er nicht versuchte, mich in irgendein Gespräch zu vertiefen. Wahrscheinlich war mir meine trübe Stimmung schon auf zehn Meter Entfernung anzusehen, was wahrscheinlich der Grund war, warum er mir nach dem Einladen meiner beiden kiwigrünen Koffer und des kitschigen Schildes mit meinem Namen „Nelinda Roseanne White“ nur ein aufmunterndes Lächeln zugeworfen hatte und dann schweigend hinter sein Steuer geklettert war um leise die Musik anzustellen und im gemäßigten Tempo loszurollen.
Etwas über vier Stunden war ich nun unterwegs. In den ersten drei Stunden im Linienbus von London nach Lancaster hatte ich wirklich versucht, mich mit meiner neuen Situation abzufinden. Aber recht gelungen war es mir nicht. Nach dem Umsteigen, einer weiteren Busfahrt nach Kendal und der Zeit jetzt im Taxi war mir klar geworden, dass so sehr ich mich auch bemühen würde, ich einfach nicht viel Gutes an der Situation finden würde. Ein Jahr… Ich würde es schon irgendwie schaffen: Die Schule rumkriegen, einen möglichst guten Abschluss machen, mich nachmittags im Haus verkriechen und warten, bis die Zeit umging. Das Haus… Ja, das war tatsächlich etwas Positives. Grandma lebte in einem riesigen Haus – Anwesen könnte man eher sagen – mit dem klangvollen Namen „Backingshire Manor“, einem typischen altenglischen Landsitz. Auch die Queen hätte sich wahrscheinlich dort wohl gefühlt. Das Haus war uralt und sah aus, als wäre es direkt am Set eines Historienfilms abgebaut und in dem kleinen Ort Wickershan wieder aufgestellt worden. Meine Familie war schon immer sehr wohlhabend gewesen. Dad hatte oft gescherzt, dass wir einen ziemlich noblen Adelstitel tragen würden, wenn wir nur dazu ständen, und dass man sich deshalb in dem Haus meiner Großeltern mit Manieren aus dem 19. Jahrhundert herumschlagen müsste. Ob an dem Adelstitel etwas dran war konnte ich nicht sagen, aber streng waren meine Großeltern nie gewesen. Eher ziemlich verrückt. Nicht viele konnten von sich behaupten, Großeltern zu haben, die noch mit über 60 mit dem Rucksack durch Australien gewandert waren. Erst nach Grandpas Tod vor zwei Jahren war Grandma etwas ruhiger geworden und hatte sich auf ihr Anwesen zurückgezogen, wo sie nun mit meiner Großtante Maggie, einem Zwergpudel namens „Schalk“ und einigen wenigen Bediensteten wohnte. Das Haus hatte für mich allerdings einen ziemlich großen Nachteil. Es war in dem kleinen Ort die Sehenswürdigkeit schlechthin. Ein Teil war sogar als Hotel ausgebaut, was jedem, der in diesem Haus wohnte, sicherlich die Aufmerksamkeit eines bunten Hundes einbrachte und mir meinen Start in der neuen Schule wahrscheinlich nicht gerade erleichterte. In meiner letzten Schule war ich genau das gewesen, was man eine „graue Maus“ nennen würde. Mit meinen blonden langen Haaren, den grauen Augen, einer mädchenhaften Figur und einer blassen durchscheinenden Haut war ich wohl nicht gerade hässlich, aber einfach völlig unscheinbar. Und wenn ich ehrlich war, war mir das bisher nur recht gewesen. Ich hatte noch nie im Mittelpunkt stehen wollen und war immer damit zufrieden gewesen, am Rande zu stehen und mir die Geschehnisse eher aus der Ferne anzusehen. Das wollte ich hier in meinem letzten Schuljahr nicht unbedingt ändern. Ärgerlich schob ich den Gedanken an die neue Schule beiseite. Das konnte noch eine Woche warten.
Es wurde Zeit, Mum eine Nachricht zu schicken und ihr zu schreiben, dass es mir gut ging und ich auf den letzten Kilometern war. Wenn ich erst unter die Fittiche meiner Großmutter geraten war, würde ich wahrscheinlich so schnell keine Zeit mehr dafür finden. Meine Mutter hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil sie nun für ein Jahr in die Staaten zog, um dort einen Job als Lektorin bei einem großen Verlag anzunehmen. Aber ich hatte sie schlussendlich überzeugen können, dass es eine einmalige Chance war, dass ich nun schon alt genug war und dass es mir nichts ausmachte, meine Schule in einer anderen Stadt zu beenden. Ich wollte ihrem Glück nicht im Wege stehen. Nachdem sie und mein Dad sich getrennt hatten als ich vier war, hatte sie viel auf sich genommen, um mir alles zu ermöglichen und Zeit für mich zu haben. Sie war immer zu stolz gewesen, um Geld von der Familie meines Vaters anzunehmen, auch wenn sie sich mit meinen Großeltern von Anfang an gut verstanden hatte. Ich war ihr unendlich dankbar für alles, was sie für mich getan hatte und wollte mich nun endlich einmal revanchieren und es ihr ermöglichen, dieses einmalige Angebot anzunehmen. Und schließlich teilten wir die Liebe zu Büchern, auch wenn sie eher welche las und ich eher welche schrieb. Ich wusste, dass ihr nach dem Jahr in Amerika hier in England alle Wege offenstehen würden. Außerdem hätte ich ebenso die Möglichkeit gehabt, zu meinem Vater nach Southhampton zu ziehen. Doch da mein Dad eine geradezu winzige Wohnung bewohnte, hätten wir uns in dem Fall gemeinsam eine neue Wohnung suchen müssen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf und der Erinnerung daran, dass ich diesen Neuanfang für meine Mutter machte, setzte ich mich daran, ihr eine möglichst fröhliche und zuversichtliche Nachricht zu schicken. Das Regenwetter erwähnte ich lieber nicht.
Gerade als ich auf „senden“ drückte, passierte das Taxi das Ortschild von Wickershan. Zwei Jahre war ich nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal zur Beerdigung meines Großvaters – auch damals hatte es geregnet. Dennoch hatte sich hier anscheinend nicht viel verändert. Viele kleine Geschäfte reihten sich entlang der Hauptstraße aneinander. In den Seitenstraßen standen kleine, gepflegte Wohnhäuser. Große alte Bäume prägten das Bild und alles in allem machte es einen verschlafenen, aber gemütlichen Eindruck. Keine Hochhäuser, keine riesigen Einkaufsläden wie ich es von London gewohnt war. In dieser Kleinstadtidylle nicht aufzufallen würde nicht leicht werden.
Dieser Gedanke verstärkte sich, als das Taxi nach rechts abbog und man „Backingshire Manor“ am Rande des Ortes, leicht erhöht auf einem Hügel, liegen sah. Die Mauern waren hellgrau, die dunkelbraunen Mahagonifenster hoben sich edel von ihnen ab und rund um das ganze Haus rankten rote und weiße Kletterrosen ein Stück die Mauern hinauf. Der Hauptteil des Hauses war etwas höher als die beiden nach vorn auslaufenden Seitenflügel. Vor dem rechten Seitenflügel spannten sich vier große gelbe Sonnenschirme – das Café des Hotels hatte bereits geöffnet. Wanderer, die sich die wunderschönen Seen und Wälder des anliegenden Lake Districts anschauten, kamen hier häufig vorbei, um sich vor der Weiterreise zu stärken. Unwillkürlich musste ich lächeln… Ja, das hier war auffällig. Eigentlich sollte es nicht zu mir passen. Dennoch hatte ich mich hier, in dem Haus, das seit Generationen von meiner Familie bewohnt wurde, immer zu Hause und willkommen gefühlt. Ich liebte es mit seiner Geschichte, dem verwilderten Garten mit den uralten, verwachsenen Bäumen, dem Weinkeller, den Zimmern mit den hohen Decken, dem Kaminzimmer und dem riesigen Dachboden. Der Taxifahrer fuhr auf die Auffahrt und lenkte seinen Wagen um das Rondell mit der alten knorrigen Eiche im Innenhof und das Knirschen des Kieses unter den Reifen kratzte unangenehm an meinen ohnehin schon angespannten Nerven. Ich atmete tief ein und zwang mich, meine Ängste fürs Erste beiseite zu schieben und mich ganz auf das Wiedersehen mit meiner Grandma zu freuen.
Schon riss jemand oben auf der Treppe des Hauptportals die Tür auf und meine Oma stürmte die Stufen hinunter, Schalk, den Zwergpudelmischling, dicht an ihren Fersen. Auf der drittletzten Stufe kam sie ins Schlingern, drehte sich einmal auf dem Absatz, fing sich gerade noch rechtzeitig und kam genau vor meiner Autotür zum Stehen. Sie hatte sich kaum verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte schneeweiße Haare, die ihr in einem Kurzhaarschnitt wild vom Kopf abstanden, war eingehüllt in etwas, das aussah wie die Hippieversion eines Kimonos und sie war … klein… einfach unglaublich klein. „Nelly“, kreischte sie und hüpfte vor meiner Autotür auf und ab. Kaum kamen die Reifen zum Stehen, riss sie die Autotür auf, zog mich auf die Füße und warf sich mir um den Hals – naja, bei ihrer Größe kam sie gar nicht so hoch. Ich schloss sie in meine Arme und war in diesem Moment einfach nicht fähig, irgendetwas zu sagen. In meiner selbstverordneten Weltuntergangstimmung, bei allem, was mich in den nächsten Wochen an Ungewissheit erwartete, war sie mein Fels in der Brandung, das einzig wirklich Vertraute in dieser neuen Welt. Schalk sprang laut bellend an uns hoch, anscheinend empört darüber, dass er nicht standesgemäß zuerst begrüßt wurde. „Hi Granny!“, murmelte ich in Grandmas wuschelige Haare. Diese unglaubliche, starke Frau, die schon immer ein bisschen verrückt und schusselig gewesen war, aber ein großes Herz hatte, schien nie wirklich in die Vorstellung zu passen, die Außenstehende wahrscheinlich von den Bewohnern eines solch alten englischen Landhauses haben würden. Ich vermutete, dass die Familie meines Grandpas sicher nicht sehr begeistert von seiner Wahl gewesen war, als meine Großeltern geheiratet hatten. Grandma Roseanne hatte mit ihrer lustigen, wilden Art nicht nur das Herz meines Großvaters erobert, sondern auch Leben in die verstaubten Traditionen des alten englischen Adels gebracht. Ich hatte großen Respekt vor ihr und liebte sie sehr.
Nun schob diese kleine starke Frau mich auf Armeslänge von sich weg und betrachtete mich mit kritischem Blick. „Nelly, du bist blass. Sicher hattest du eine anstrengende Fahrt! Ich bitte Anton, uns sofort einen Tee zu bringen. Der Fahrer kann dein Gepäck hinaufbringen. Anton wird ihn bezahlen.“
Tee, sicher, das Allheilmittel meiner Großmutter. Und Anton… Ein paar Bedienstete hatte meine Grandma nach dem Tod ihres Mannes behalten. Daran würde ich mich Wohl oder Übel gewöhnen müssen. „Danke, Grandma, es ist so schön, dich zu sehen, aber ich kann selbst bezahlen, Mum hat mir Geld mitgegeben, damit ich…“
„Papperlapapp“, unterbrach sie mich und schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Haare und ihre großen Ohranhänger wild um ihren Kopf wackelten, „Das kommt gar nicht in Frage. Ich hätte dich selbst abgeholt, aber du weißt, wie ungern ich fahre. Wir regeln das schon. Komm erstmal hinein, es regnet ja schon wieder.“
Gemeinsam sprangen wir die Stufen hinauf – unfallfrei diesmal. Drinnen schüttelte sich Granny wie ein Pudel, der frisch aus der Hundewaschanlage kam. Schalk tat es ihr gleich. Einen Augenblick später wurde ich an der Hand quer durch die schwarz-weiß geflieste Eingangshalle gezogen, die mich als Kind immer an ein überdimensionales Schachbrett erinnert hatte. Dann ging es weiter nach links in den langen Korridor, der in den östlichen Seitenflügel führte, bis hinein in imposante Küche, deren Größe ausgereicht hätte, eine ganze Kaserne zu bekochen. Schalk schien begeistert, zu dieser Zeit noch einmal in die Nähe der Küche zu kommen. Er wartete aber brav an der Türschwelle. Ich wunderte mich kurz über diese vorbildhafte Erziehung des kleinen Pudels, der seinen Namen von dem deutschen Dienstmädchen bekommen hatte. Dies war wohl Großtante Maggys Verdienst. An der Arbeitsfläche stand ein glatzköpfiger, dicklicher Mann in rot-weiß karierten Stoffhosen und einer weißen Schürze und schnitt mit einem großen Messer Tomaten in Stücke. Das Auffälligste an ihm war die schier unglaubliche Größe seiner Nase, woraufhin er mich sofort an Gerard Depardieu in den Asterixfilmen erinnerte – nur halt ohne Haare. Als er sich umdrehte und mich anlächelte, strich ich mir verlegen die Haare hinter die Ohren.
„Miss Melinda“, sagte er und klang ehrlich erfreut, „Wie schön, dass Sie gut angekommen sind. Ihre Großmutter sagte, Ihr Lieblingsessen wäre Gemüselasagne. Ich hoffe, das ist Ihnen für den heutigen Abend angenehm. Ich habe einen frischen Tomatensalat dazu hergerichtet.“ Anton strahlte über das ganze Gesicht.
„Oh, Vielen Dank, das ist großartig. Aber es wäre doch nicht nötig gewesen. Und... äh, … Nelinda... mit N. Oder sagen Sie einfach Nell.“, stotterte ich schüchtern. Schon unzählige Male hatte ich Menschen wegen meines Namens berichtigt. Was hatten sich meine Eltern nur dabei gedacht, mir einen Allerweltsnamen zu geben und dabei einfach den Anfangsbuchstaben zu tauschen?
Anton lächelte entschuldigend: „Natürlich, Miss Nell!“
Ich spürte Wärme in meinen Wangen aufsteigen und wusste, dass mein Gesicht auffallend rot geworden war. Schon wieder. Warum war ich bloß so verdammt schüchtern? Anton schien wirklich nett zu sein und ich war durch seine zuvorkommende Geste ganz gerührt.
Da mischte Granny sich ein: „Anton, wir benötigen zwei Tassen starken schwarzen Tees mit Milch und dazu Gebäck. Wir werden ihn im Kaminzimmer trinken. Das Essen können Sie auch dort servieren. Meine Enkelin ist sicher hungrig.“
„Sehr wohl, Mrs. Backingshire. Ich bringe es gleich hinauf.“
Während wir den Weg zurück durch die Eingangshalle gingen und die breite Treppe hinauf in den zweiten Stock bis ins Kaminzimmer, überlegte ich, wie Grandma und Tante Maggy es jeden Tag aushielten, mit Menschen unter einem Dach zu leben, die ihnen bei allen alltäglichen Dingen halfen, mit denen der Umgang aber immer förmlich bleiben würde. Ich wusste jetzt schon, dass es mir unangenehm bleiben würde, die Hilfe der Angestellten anzunehmen und beschloss, dies während meines Aufenthalts auf einem unumgänglichen Minimum zu halten. Schalk hatte wohl beschlossen, dass es bei uns nicht mehr spannend werden würde und hatte sich Richtung Keller verzogen, wahrscheinlich wild entschlossen, der ein oder anderen Maus den Schreck ihres Lebens zu verpassen. Unterdessen redete Grandma ohne Punkt und Komma über den Regen, den alten, wahrscheinlich senilen, aber durchaus charismatischen Postboten, der die Briefe ständig im falschen Haus abgab und ein neues Ölbild, an dem sie seit zwei Wochen arbeitete und an dem das Lila scheinbar nicht ihren Vorstellungen entsprach. Ich war dankbar, dass ich nicht viel reden musste.
Das Feuer im Kamin hatte irgendjemand schon angezündet. Die Feuerstelle nahm tatsächlich einen großen Teil des Raumes ein. Sie war aus Natursteinen gemauert und fügte sich trotz ihrer Größe perfekt in den Rest des Raumes ein. Drei dunkelgrüne Ledersofas standen u-förmig davor und waren übersäht von Kissen und Deckchen in allen nur erdenklichen Farben. Die Wände waren bis an die Decke mit Regalen voller Bücher versehen. Alte, in Leder gebundene Wälzer und dünne, in buntes Glanzpapier gebundene Taschenbücher standen nebeneinander. Die Sammlung in diesem Raum schien mehrere Jahrzehnte zu umfassen. Eigentlich hätte das Zimmer eher den Namen „Bibliothek“ verdient. Überall erkannte ich den Stil meiner Großmutter – an den Kissen und Deckchen auf den Sofas, an den kleinen bunten Porzellantieren auf den storchenbeinigen Beistelltischen und den bunten Flickenteppichen auf dem alten Dielenboden. Der ganze Kitsch schien auf den ersten Blick zu den kostbaren alten Möbeln zu passen wie Schlagsahne zu Brathering, aber es verlieh dem großen Raum auch etwas Anheimelndes und Gemütliches. Mir kam der irrwitzige Gedanke, dass Grandma in ihrem bunten wallenden Gewand auf dem Sofa zwischen den Decken einfach verschwinden könnte.
„Komm, Nelly, nun machen wir es uns erstmal gemütlich! Und dann hast du sicher viel zu erzählen. Maggy ist noch unterwegs. Sie sagt, sie wäre bei der Sitzung des Handarbeitsclubs. Aber wenn du mich fragst trifft sie sich mit Timothy McDouthen im alten Eichenpark. Der hat ihr schon beim letzten Herbstball des Historienvereins schöne Augen gemacht und … äh... huch!“ Grandma sprang von dem Sofa auf, auf das sie sich gerade setzen wollte und nahm ein helles Buch mit einem schwarz-weiß Foto eines einsamen Kindes auf dem Einband, das zwischen den Decken verborgen gewesen war. Es sah aus, wie ein Geschichtsbuch. „Oh, ich denke, das muss ich gestern Abend hier liegen gelassen… es ist nichts Wichtiges… nur… wie dem auch sei.“ Sie ließ das Buch hektisch unter die Falten ihres Gewandes gleiten. Etwas zu schnell, wie mir auffiel.
Ich wunderte mich über ihre hektische Reaktion, wollte jedoch nicht nachfragen.
„Und nun zu dir, Nelly! Erzähl, wie geht es dir damit, dein letztes Schuljahr in der abgelegenen englischen Provinz zu verbringen? Ich war sehr überrascht zu hören, dass du zu uns kommst. Erfreut natürlich, das ist klar, dieser alte verstaubte Kasten kann etwas junges Leben nur zu gut gebrauchen und ich alte Schachtel umso mehr. Aber ich kenne dich, Nelly, es muss dir schwerfallen, hierher zu ziehen.“
Ich musste lächeln. Meine Grandma hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen Sie hatte schon immer frei heraus gesprochen was sie dachte.
„Granny, ich bin dir wirklich dankbar, dass ich bei dir und Tante Maggy wohnen darf. Es ist nur für ein Jahr und glaube mir, ich bin wirklich froh, wieder hier zu sein. Ich freue mich auf die Zeit mit euch und es soll hier einen wirklich guten Literaturkurs geben...“ Ich gab mir Mühe, zuversichtlich und positiv zu klingen.
Die tiefblauen Augen meiner Großmutter, die trotz ihres Alters nicht an Eindringlichkeit verloren hatten, schauten mich skeptisch an. Es war eindeutig, dass sie mir nicht glaubte. Doch in diesem Moment kam Anton herein. Er stellte ein Tablett mit Tee, dem Abendessen und zwei Gedecken auf einen der Storchenbeintische, warf dabei zwei rosa Porzellanpudel um, die er mit seinen dicken Fingern umständlich wieder aufstellte, und wünschte uns einen guten Appetit.
Nach dem Abendessen brachte Grandma mich auf mein neues Zimmer. Bei meinen letzten Besuchen hatte ich immer in einem der offiziellen Gästezimmer im Seitenflügel geschlafen. Aber diesmal führte Grandma mich bis in das oberste Stockwerk des Haupthauses. Direkt unter dem Dachboden war hier tatsächlich ein völlig neues Zimmer für mich eingerichtet worden. Der alte Dielenboden war abgeschliffen worden und besaß nun eine warmgoldene Farbe, links stand ein urgemütliches braunes Sofa vor einem niedrigen dunklen Tisch, gegenüber auf dem Boden lag ein dunkelroter Sitzsack. An der gegenüberliegenden Seite des Zimmers stand ein dazu passender Schreibtisch. Zwei große Stehlampen tauchten den ganzen Raum in ein warmes Licht. An der Kopfseite des Zimmers war der Fußboden etwas erhöht, so dass man zwei Stufen auf eine zweite Ebene hinaufsteigen musste, auf der ein großes Bett stand. Von der Decke hingen zwei dünne weiße Vorhänge links und rechts des Bettes bis auf den Boden. Neben dem Schreibtisch blickte man durch eine Glastür auf einen kleinen Balkon und den Garten mit den vielen hohen Bäumen. Ich war schon einmal hier oben gewesen, aber das letzte Mal war hier ein Abstellraum für alte Möbel, Porzellankatzen, Zinnteller und jede Menge in Decken eingehüllte Ölbilder gewesen.
„Grandma, dieses Zimmer… Es ist einfach perfekt! Unglaublich! Ich bin wirklich sprachlos! Ich bin dir so dankbar!“ Mir hatte es tatsächlich die Sprache verschlagen.
Grandma machte einen ziemlich zufriedenen Eindruck. „Es ist wichtig, dass du einen Ort hast, an den du dich zurückziehen kannst und an dem du in Ruhe deine Aufgaben für die Schule erledigen kannst. Meiner Meinung nach hätte der Raum ein paar mehr bunte Farben vertragen“, sie rümpfte die Nase, „aber Maggy meinte, ihr jungen Leute mögt es etwas … dezenter! Maggy war sowieso ganz versessen darauf, dass es dieses Zimmer sein musste. Sie meinte, es würde sie an ihre Jugend erinnern. Nun ja, das wird sie dir wohl selbst erklären müssen. Du bist sicher müde. Ich lasse dich jetzt allein. Silvester hat dein Gepäck schon hochgebracht. Traditionell waren hier im Obergeschoss schon immer die Kinder- und Jugendzimmer eingerichtet. Deshalb ist gegenüber im Flur ein Badezimmer für dich frei. Es ist nicht besonders modern, aber es ist alles frisch gereinigt worden. Ich hoffe, du fühlst dich wohl! Schlafe gut, Liebes!“ Sie kam zu mir und ich schloss sie erneut in meine Arme.
„Granny, du bist fantastisch! Ich danke dir! Glaube mir, ich weiß all das was du für mich tust sehr zu schätzen!“
Nachdem meine Grandma in ihr Schlafzimmer verschwunden war, das ein Stockwerk tiefer lag, schaute ich mich noch einmal genau in meinem neuen Zimmer um, in dem ich nun das nächste Jahr wahrscheinlich viel Zeit verbringen würde. Ich rechnete nicht damit, hier im Ort Freunde zu finden oder meine Freizeit anderweitig als in diesem Zimmer zu verbringen – wie sehr ich mich doch darin irrte….
Die beiden Koffer auszupacken dauerte nicht besonders lang. Ich hatte nur wenig Kleidung, weil ich mir aus den neuesten Modeerscheinungen nicht viel machte. So hatte ich bald alles in dem Kleiderschrank neben dem Bett verstaut. Mit meiner Kulturtasche stapfte ich über den Flur ins Bad und brachte auch dort meine wenigen mitgebrachten Dinge unter. Grandma hatte Recht behalten. Die Fliesen waren braun mit angedeuteten orangenen Blumen und stammten eindeutig aus den geschmacklichen Verwirrungen der 70er Jahre. Anders als im Rest des Hauses hatte man hier oben wohl nicht viel Wert auf eine dem Stande der Familie angemessene Ausstattung gelegt, sondern war den modischen Wünschen der hier wohnenden Jugendlichen nachgekommen. Ich fand es himmlisch.
Zurück im Zimmer zog ich mir meinen hellblauen Schlafanzug mit den kleinen weißen Sternen darauf an, kämmte mir die langen Haare vor dem Spiegel und band sie mir zum Schlafen zu einem lockeren Zopf zusammen. Dann ging ich barfuß auf den kleinen Loggia-Balkon und blickte auf den mittlerweile schon fast völlig im Dunkeln liegenden Garten hinunter. Hier auf der Rückseite des Hauses hatte jedes Zimmer im ersten und zweiten Stock einen kleinen Balkon. Unter dem Dachboden waren wegen der Schräge kleine Loggias eingebaut worden. Die Zimmer aus dem Hoteltrakt hatten keinen Blick auf diese Rückseite. Darüber war ich gerade heilfroh, denn ich war nicht besonders erpicht darauf, einem der Hotelgäste in einem Sternchenschlafanzug zuwinken zu müssen. Durch das schwindende Licht und die hohen Bäume lag der Rasen komplett im Dunkeln. Aber die Hügel und Wälder des Lake Districts waren noch deutlich zu erkennen und der See Grasmere spiegelte das letzte Abendlicht. Ich atmete tief durch. Ich musste zugeben, der erste Abend war gar nicht so übel gewesen. Grandma war klasse. Anton schien auch sehr nett zu sein und dieses Zimmer übertraf meine kühnsten Wünsche. Aber der schwerste Teil des Neubeginns lag noch vor mir. Ich holte mein Handy vom Schreibtisch und trat wieder nach draußen. Mum hatte geantwortet und mir eine Teils besorgte und Teils begeisterte Nachricht geschrieben und berichtete mir, dass ihr zweiter Arbeitstag an ihrer neuen Stelle aufregend und besonders interessant gewesen sei und dass sie mir mindestens drei neue Bücher empfehlen müsse. Ich lächelte. Bücher… Aus dem Leben von mir und meiner Mutter waren sie nicht wegzudenken. Auch wenn ich nur zwei Koffer mitgebracht hatte, meine allerliebsten Lieblingsbücher hatten mich auf meiner Reise begleitet und lagen nun auf zwei niedrigen Stapeln neben meinem neuen Bett.
Ich war gerade in eine Antwort-SMS an meine Mutter vertieft als ich etwas Ungewöhnliches spürte. Ein merkwürdiges Gefühl legte sich mir auf den Magen; eine Mischung aus dunkler Vorahnung, dem beängstigenden Gefühl beobachtet zu werden und… freudiger Erregung. Verwirrt schaute ich mich um. Hatte ein Geräusch meine Aufmerksamkeit erregt? Mein Zimmer war leer und nach dem Zähneputzen hatte ich es abgeschlossen. Es war nicht so, dass ich meiner Grandma und Maggy nicht traute. Ich wollte nur nicht Gefahr laufen, dass Silvester der Butler morgen in aller Frühe mit Tee vor meinem Bett stand. Ich wusste nicht, wie die Gepflogenheiten in diesem Haus waren, aber ich war mir sicher, dass Silvester so eine übertriebene Zuvorkommenheit zuzutrauen wäre. Bei meinem vorletzten Besuch vor drei Jahren hatte er vor meiner Ankunft im ganzen Gästezimmer Spielsachen verteilt. Ich war durchaus gerührt gewesen – nur war ich zu dem Zeitpunkt fast 14 Jahre alt gewesen. Ich blickte hinunter in den Garten. Bis auf das Rascheln der Blätter im Wind und das leise Geräusch der letzten von den nassen Bäumen fallenden Regentropfen war nichts zu hören. Und doch… Irgendetwas stimmte nicht. Dort unten war jemand. Das spürte ich nun ganz genau. Und mit derselben Sicherheit konnte ich sagen, dass dies nicht ein verirrter Hotelgast oder Anton bei seinem Abendspaziergang war. Nein, wer auch immer dort unten war, er beobachtete mich. Und da sah ich ihn. Aus dem Schatten einer hohen Eiche trat ein Mann. Ich konnte nur einen dunklen Umriss erkennen. Er schien groß zu sein und hatte breite Schultern. Sein Gesicht war in Schwärze verborgen. Nun blieb er stehen und schien direkt zu mir hinauf zu schauen. Ein dunkles Grollen ging von ihm aus und drang zu mir hinauf. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich wich rückwärts in mein Zimmer und schloss hastig die Türen zum Balkon. Auch hier drehte ich den Schlüssel um. Die Vorhänge zog ich rasch zu.
Waren meine überspannten Nerven mit mir durchgegangen? Hatte die Aufregung mir einen Streich gespielt? Nein, es war als hätte ich diesen Mann spüren können. Als hätte mein Unterbewusstsein seine Anwesenheit angezeigt wie ein Kompass. Fröstelnd schüttelte ich den Kopf. „Nell, du bist wirklich durch den Wind“, flüsterte ich mir selbst beruhigend zu. Dort draußen war kein abgesperrter Bereich. Viele Menschen hatten Zugang zum Garten. Jeder, der im Haupthaus wohnte, konnte durch die große Flügeltür in der Eingangshalle nach draußen gelangen. Wahrscheinlich hatte Silvester nur eine letzte Zigarette vor dem Schlafengehen geraucht, nachdem Granny hier im Haus stricktes Rauchverbot verhängt hatte. Ich versuchte, meinen hämmernden Puls zu beruhigen und atmete mehrmals tief durch. Was hatte mich nur so verängstigt? Eine Person war im Garten. Na und? Besonders ungewöhnlich war dies sicherlich nicht. Nach den zu jeder Tages- und Nachtzeit überfüllten Straßen von London war ich einen ruhigen Garten wohl schlichtweg nicht mehr gewohnt. Ich schüttelte noch einmal den Kopf über mich selbst und stieg dann die zwei Stufen hoch zu meinem Bett. Heute war wirklich ein anstrengender Tag gewesen. Den ersten Schritt in mein neues Leben hatte ich geschafft.
Beim Frühstück am nächsten Morgen waren alle dunklen Gedanken an einen Mann im Garten gänzlich verflogen. Im gemeinsamen Esszimmer umarmte mich Großtante Maggy herzlich und ich drückte mich dankbar an sie. Sie war eine große, gutaussehende Frau, mit langen grauen Haaren, die sie kunstvoll am Hinterkopf zusammengesteckt hatte. Ihre grünen Augen strahlten noch immer jugendlich und sie sah mit ihrer geraden Nase und ihrer schlanken Figur wunderschön aus. Mein Vater hatte schon mehrmals angemerkt, wie ähnlich Maggy und ich uns sehen würden. Ich hatte ihn dafür immer ausgelacht. Im Gegensatz zu mir strahlte Tante Maggy eine Aura der Selbstsicherheit und Erhabenheit aus. Sie war einfach von Kopf bis Fuß elegant – das Gegenteil meiner Großmutter. Und leider auch von mir. Tante Maggy war ihr Leben lang alleinstehend gewesen, was mir schon immer Rätsel aufgegeben hatte, denn wenn man sich die alten Fotos im Haus ansah, war sie in ihrer Jugend eine einzigartige Schönheit gewesen und auch heute sah sie immer noch umwerfend aus.
Es war sehr amüsant, Granny und Maggy beim Frühstück zu beobachten. Sie waren grundverschieden – elegant und voller englischer Tradition die eine, quirlig und etwas zerstreut die andere.
Tante Maggy setzte gerade ihre Kaffeetasse ab: „Ich denke, Silvester sollte wirklich schnell einen Ersatz für Enrique finden, neben dem Hotelgarten sieht unser Vorgarten aus wie der reinste Dschungel. Wir können nicht noch vier weitere Wochen warten bis Enriques Bein vollends verheilt ist.“
„Oh, Liebes, der Vorgarten ist großartig. Ich habe gerade gestern wilde Brennnesseln links neben den Rosenstauden entdeckt. Sie sind noch sehr klein, aber ich werde Anton bitten, sie zu pflücken sobald sie größer sind“, entgegnete Granny verträumt, „Ich liebe Brennnesseltee… Huch, meine Serviette.“ Und schon kroch Granny auf allen Vieren unter den großen Eichentisch.
Maggy schüttelte nur lächelnd den Kopf. Schalk hob kurz erwartungsvoll die Schnauze von seinem kleinen roten Samtkissen, seufzte jedoch resigniert und schlief ebenso schnell wieder ein. Ich konnte mir beim Anblick der beiden Frauen ein Grinsen nicht verkneifen.
Tante Maggy nahm meine Hand: „Nell, wie möchtest du deinen ersten Tag hier verbringen? Sollen wir dir ein paar Dinge zeigen? Neben Jonathans Angelshop hat ein entzückendes neues Café aufgemacht, wir könnten später eine Tasse Kaffee zusammen trinken.“
Sie wurde von einem lauten „Autsch“ unterbrochen und Granny kroch mit der Hand an der Stirn unter dem Tisch hervor. „Heute ist Mittwoch, Maggs, das „Sit in“ hat heute Ruhetag.“
Ich räusperte mich: „Das macht nichts, Tante Maggy, wir können das Café ein anderes Mal besuchen. Ich wollte heute in die Bücherei. Mum sagte, dass dort angebaut wurde und ich würde mich gern ein wenig umsehen und ein paar Bücher ausleihen. Ich konnte nicht viele hierher mitnehmen.“
Das stimmte. Ich wollte mir die Bücherei wirklich ansehen. Aber vorrangig wollte ich den beiden von Anfang an zeigen, dass sie sich für mich kein Beschäftigungsprogramm ausdenken mussten. Sie hatten mit der Malerei, Maggys Stiftung und dem Unterhalt dieses Anwesens genug zu tun und ich wollte ihnen keine Umstände machen. Zum anderen war ich schon immer gut allein zurechtgekommen und freute mich auf ein wenig Ruhe zwischen den Büchern.
So machte ich mich nach dem Frühstück mit meiner großen Umhängetasche über der Schulter zu Fuß auf in Richtung Ortsmitte. Ich wusste von meinen vorherigen Besuchen noch ungefähr, wo ich die Bücherei finden konnte und vertraute darauf, mir notfalls die Richtung erfragen zu können.
Der Weg war jedoch länger als ich ihn in Erinnerung hatte. Dafür war die Bücherei wirklich gut ausgestattet für die Größe des Ortes und so machte ich mich erst nach 12 Uhr wieder auf den Heimweg. Das Stöbern zwischen den Buchreihen, der Geruch des Papiers, das Eintauchen in verschiedene Geschichten hatte mir ein vertrautes Gefühl geschenkt und hatte mir gutgetan. Und schlussendlich hatte ich mir sechs Bücher ausgeliehen, viele verschiedene Genres, von englischer Klassik bis zum modernen Thriller war alles dabei und ich freute mich darauf, mir heute Abend einen gemütlichen Leseabend auf dem neuen Sofa zu gönnen.
Zum Glück regnete es heute nicht, aber wegen der schweren Bücher war ich dennoch froh, „Backingshire Manor“ am Ende des Weges näher rücken zu sehen. Plötzlich hörte ich ein unangenehmes Reißen, der Riemen meiner Umhängetasche gab an der Naht nach und die Tasche mitsamt der schweren Bücher glitt an meiner Seite hinab. Ich versuchte noch, sie zu packen, aber es war zu spät, die Bücher purzelten aus der Tasche auf den gepflasterten Boden. Leise fluchend hockte ich mich hin und begann, die Bücher einzusammeln und wieder in die Tasche zu stecken. Da spürte ich ein Kribbeln im Nacken. Dasselbe Gefühl wie am vorherigen Abend auf dem Balkon überkam mich. Doch diesmal nicht in dunkler Umgebung, sondern hier, mitten auf einem Bürgersteig in der nur durch einige Wolken verdunkelten Mittagssonne hatte ich erneut das Gefühl, beobachtet zu werden. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich spürte es wieder – die Präsenz von jemandem … oder von … Etwas. Ich versuchte, mich unauffällig umzusehen. Einige Meter hinter mir schob eine junge Mutter ihren Kinderwagen über den Gehweg und auf der anderen Straßenseite zog eine Kindergartengruppe mit ihren zwei Erzieherinnen vorüber. Kein Schatten, keine dunkle Gestalt war zu sehen. Und doch wurde ich das merkwürdige Gefühl nicht los. Was mich am meisten wunderte war, dass sich auch dieses Mal eine unerklärliche freudige Erregung in mir ausbreitete. Ich ging weiter, die Tasche nun mit beiden Händen vor meinen Bauch geklemmt, ertappte mich aber dabei, wie ich nach schweren Schritten lauschte, hinter Büsche schaute und entgegenkommende Personen genau betrachtete. Alles schien normal. Wie konnte es nur sein, dass meine Nerven mir zweimal in 24 Stunden einen derartigen Streich spielten? Ich versuchte, vernünftig zu denken und setzte meinen Heimweg fort. Das merkwürdige Gefühl ließ sich aber nicht abschütteln. Es verfolgte mich bis zur Haustür. Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Stunden schüttelte ich den Kopf über mich selbst. Na großartig! Nun wurde ich auch noch paranoid.
An den nächsten Tagen verbrachte ich viel Zeit mit meinem Laptop im Garten oder im Kaminzimmer, genoss die letzten Ferientage so gut es ging, ohne an die neue Schule zu denken und schrieb an meinem neuen Buch. Bisher hatte noch nie jemand anderes meine Bücher gelesen als meine Mum, sie gab mir Tipps und half mir weiter, wenn ich mit einer Geschichte ins Stocken geriet. Sie hatte mir geholfen, meinen eigenen Schreibstil zu finden, Wörter in Bilder zu verwandeln, in Geschichten einzutauchen, ihrem Zauber zu erliegen und sich von ihnen tragen zu lassen, bis ihre Geheimnisse mich fortzogen und ich beim Schließen des Laptops wie aus einem Traum erwachte. Oft kam mir das reale Leben fremder vor als die fiktiven Geschichten, die ich mir ausdachte oder die ich in Büchern las.
Die aktuelle Geschichte war jedoch anders als meine bisherigen. Ich hatte nicht geplant, wie sie ausgehen würde. Kein plotten, keine Charakterstudie. Ich war vor drei Wochen einfach einer Eingebung gefolgt, hatte ein neues Dokument auf meinem Laptop geöffnet, einen kurzen Moment auf die leere Seite gestarrt und losgeschrieben.
Jedes Mal, wenn ich mich erneut an die Geschichte setzte, war ich selbst gespannt, wohin sie mich führen würde und fieberte mit den Protagonisten mit. Ich wusste noch nicht, wie es weitergehen würde, doch die Geschichte schien einfach aus mir heraus zu fließen. Zum allerersten Mal schrieb ich eine Liebesgeschichte. Sie drehte sich um einen Jungen, düster, unheimlich und geheimnisvoll, der sich in die Schulsprecherin seiner Schule verliebte, sich aber aufgrund seiner kriminellen Vergangenheit nicht traute, sie anzusprechen. Dieser düstere Junge mit seinen dunklen Augen, seinen dunkelbraunen kurz geschorenen Haaren und dem durchdringenden Blick hatte mich in meiner zweiten Nacht in Backingshire Manor sogar bis in meine Träume verfolgt. Verwirrt und beschämt war ich aufgewacht und hatte mich gefragt, ob ich mir vielleicht meine eigenen Sehnsüchte in diesem Buch von der Seele geschrieben hatte. Ich war noch nie richtig verliebt gewesen. Bisher waren mir die Jungs in meinem Alter oft zu albern erschienen. Außerdem stand ich definitiv nicht auf Partyhelden, die sich an jedem Wochenende Alkohol hinter die Binde kippten. An meiner alten Schule waren diese unsympathischen männlichen Exemplare leider weit verbreitet gewesen und ich hatte wenig Hoffnung, dass dieser Umstand an meiner neuen Schule anders sein könnte.
Am Samstagnachmittag saß ich gerade wieder im Garten, um Notizen für mein Buch zu machen. Die riesige massive Holzschaukel aus meiner Kinderzeit war in den letzten Tagen zu „meinem“ Platz geworden war. Unter dem Hintern hatte ich meine Jacke auf der Schaukel drapiert, da das Holz hier nie ganz trocken zu werden schien. Mir gefiel dieser romantische Platz. Außerdem erinnerte er mich an meinen Grandpa, der hier oft Zeit mit mir verbracht hatte als ich noch ein kleines Kind gewesen war.
Granny trat mit Schalk auf den Fersen aus der großen Flügeltür des Hauses. „Ich dachte mir, dass ich dich hier finde, Nelly! Ich wollte dich fragen, ob du mit mir einen Tee im Café des Hotels trinken möchtest. Ich habe gerade mein Acrylbild beendet und möchte einen Moment verschnaufen, bevor ich mit meinem nächsten Auftrag beginne.“
Ich freute mich über diese Ablenkung. Seit ich hier war hatte ich noch recht wenig Zeit mit meiner Grandma verbracht und ich hatte deshalb ein etwas schlechtes Gewissen. Außerdem drängte sich seit gestern immer mehr der erste Schultag in meine Gedanken, der nun übermorgen vor mir lag und mich zunehmend nervöser machte. Deshalb sagte ich ihr lächelnd zu und wir gingen durch das Haus und durch die Vordertür zum rechten Flügel des Anwesens, der komplett durch das Hotel eingenommen wurde. Wir mussten diesen Umweg durch das Haus nehmen, da der Garten Richtung Hotel durch eine mit Efeu bewachsene Mauer abgetrennt war. Soweit ich wusste, hatte das Hotel einen ziemlich guten Ruf und war trotz seiner recht hohen Preise und seiner gehobenen Ausstattung sehr gut besucht.
Wir setzten uns draußen an einen mit einem weißen Tischtuch bedeckten Tisch auf zwei sehr bequeme Polsterstühle und bereits nach wenigen Sekunden brachte ein Kellner uns zwei Karten. Er grüßte meine Großmutter sehr freundlich und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Während die beiden sich über die neuen Teesorten des Hauses unterhielten, spürte ich ein merkwürdiges Kribbeln in meinem Bauch. Dieses Kribbeln hatte ich schon auf meinem Balkon und auf dem Weg von der Bücherei nach Hause gespürt, als ich das Gefühl gehabt hatte, verfolgt zu werden. Mein Blick schwenkte über die Tische auf der mit gelben Sonnenschirmen bedeckten Terrasse. Bis auf zwei Ausnahmen waren alle Tische belegt - meist von älteren Touristenpaaren, die die ersten Sonnenstrahlen des Mais nutzten, um die Wanderwege des Lake Districts zu erkunden. An einem Tisch jedoch saß ein großer Junge mit dunkelbraunen, fast schwarzen, Haaren und leichtem Bartschatten, etwa in meinem Alter, vielleicht auch etwas älter. Er las in einer Zeitung und hatte vor sich auf dem Tisch eine Cola stehen. Das alles war nicht ungewöhnlich, aber als ich ihn ansah überkam mich blitzartig dasselbe Gefühl wie am ersten Abend auf meinem Balkon. Ein warnendes Ziehen in der Magengegend gemischt mit unerklärlicher Vorfreude. Und noch etwas erregte meine Aufmerksamkeit. Ich wusste nicht warum, aber ich war mir absolut sicher, dass der Junge nicht wirklich las. Er starrte auf die Seiten seiner Zeitung, hatte aber einen hoch konzentrierten Gesichtsausdruck, seine lässige Haltung wirkte wie erstarrt, seine Muskeln an den Armen waren angespannt, was unter seinem schwarzen T-Shirt gut zu sehen war. Seine Hände hielten die Zeitung verkrampft fest und er erweckte den Eindruck, dass er am liebsten sofort die Flucht ergreifen würde. Was regte diesen Jungen so auf?
„Nelly? Bist du damit einverstanden?“
Ich schreckte auf. Dass ich neben meiner Großmutter saß hatte ich beim Anblick des Jungen völlig vergessen. Ich blickte in ihr erwartungsvolles Gesicht. „Entschuldige, Granny, was hast du gesagt?“
„Mr. Blayton hat uns Erdbeertorte mit Minzblättern und dazu einen milden Earl Grey mit Minzaroma und einem Schuss Milch empfohlen. Ich denke, das klingt sehr verlockend.“
„Danke, Granny, das klingt es wirklich. Es wäre köstlich!“, erwiderte ich halb zu ihr, halb zu dem Kellner Mr. Blayton.
Zum Glück war meine Großmutter zu sehr ins Gespräch vertieft gewesen, um den Grund meiner Ablenkung zu erraten.
Mr. Blayton ging zufrieden davon und Granny begann sofort mit einer detaillierten Beschreibung ihres vollendeten Bildes und aller Schwierigkeiten, die sich während des Malens ergeben hatten und deren Auflösung, bis hin zu dem vollendeten Werk. Sie gestikulierte dabei so schwungvoll, dass sie beinahe das kleine Blumengesteck auf dem Tisch umfegte. Obwohl ich die Kunst meiner Großmutter wirklich mochte und sie in der vergangenen Woche einige Male in ihrem Atelier im ersten Stock besucht hatte, konnte ich ihrer Erzählung nicht mit voller Konzentration lauschen. Mein Blick schweifte wieder an den Tisch, vier Meter entfernt von uns. Die Haltung des Jungen hatte sich um keinen Zentimeter verändert. Er saß dort in seiner aufgesetzt lässigen Körperhaltung mit unveränderter Anspannung. Er schien sich sichtlich schlecht zu fühlen, ja sogar wütend zu sein. Was ihn wohl derart beunruhigte? Und warum ging er nicht woanders hin, wenn er sich hier nicht wohl fühlte? In diesem Moment hob er seinen Kopf und sah mir direkt in die Augen. Himmel, war dieser Typ gutaussehend. Er hatte strahlend blaue Augen und einen schon fast schmerzhaft stechenden Blick, der mich herausfordernd und fast boshaft ansah und irgendwie…traurig?! Keuchend sog ich die Luft ein. Ich fühlte mich beim Beobachten ertappt und mein Magen spielte verrückt. Mir schoss die Röte ins Gesicht und schnell wand ich mich wieder meiner Grandma zu, die mit ihren Erzählungen inzwischen bei dem neuen Auftrag eines wohlhabenden alleinstehenden Herren angekommen war und ihren Überlegungen, welche Themen in ihr Werk einfließen sollten. Granny nahm zwar Aufträge an, ließ sich jedoch nie vorschreiben, was sie malen sollte. Ich versuchte, mich in das Gespräch einzubringen aber meine Gedanken waren bei diesem Blick, der mir bis in meine Seele gegangen zu sein schien. Ich schaute nicht mehr an den Nebentisch, aber ich konnte die Präsenz des Jungen regelrecht körperlich spüren und auch eine unerklärliche Anziehungskraft, die von ihm auszugehen schien. Ich war davon überzeugt, dass ich diesen Jungen irgendwo schon einmal gesehen hatte. Doch so sehr ich auch nachdachte, ich wusste nicht, woher ich ihn kennen sollte.
Als der Kellner kam und uns Tee und Torte brachte war ich dankbar dafür, etwas in der Hand zu haben, doch als ich die Teetasse in die Hand nahm zitterte sie leicht. Dieser große, düstere Junge mit seinem merkwürdigen Verhalten und seinem stechenden Blick hatte mich eingeschüchtert. Während des Essens versuchte ich das völlig irrationale Gefühl und die Einschüchterung abzuschütteln und unterhielt mich mit Granny darüber, was ich mir von meinem neuen Literaturkurs erwartete. Über das Schreiben zu sprechen fiel mir leicht und so war ich tatsächlich ein wenig gelöster als der Kellner eine dreiviertel Stunde später kam, um unser Geschirr abzudecken und nach dem Rechten zu fragen. Als Grandma bezahlt hatte und wir unsere Jacken anzogen schaute ich noch einmal möglichst unauffällig zu dem Jungen. Er hatte sich vorgebeugt, das Kinn auf die Fäuste gestützt und blickte mich direkt an. Schnell schreckte ich zurück und schaute weg. Wie peinlich! Sicherlich hatte ich ihn vorhin so offensichtlich beobachtet, dass er sich von mir gestört fühlte und war nun verärgert über die neugierigen Blicke. Ich beeilte mich, Granny zu folgen, das Café zu verlassen und zurück ins Haus zu flüchten.
Drei Etagen weiter oben im Haus, als ich mit angezogenen Beinen auf meinem neuen Sofa saß, war das merkwürdige Ziehen im Bauch verschwunden. Ich rief mir den Blick des Fremden noch einmal ins Gedächtnis. Ich mochte die letzten Tage durch den Wind gewesen sein, vielleicht angespannte Nerven haben, aber dieses Gefühl, das die Anwesenheit dieses Mannes in mir ausgelöst hatte, war kein Hirngespinst gewesen. Das hatte ich mir nicht eingebildet. Ich konnte mich genau daran erinnern, wie ich seine Anwesenheit gespürt hatte, seine Präsenz quasi vor meinem inneren Auge gesehen hatte. Wie konnte das sein? Ich versuchte mich zu erinnern, aber dieses Gefühl hatte ich noch niemals vorher gespürt. Es sollte mir Angst machen. Dieses Ziehen im Magen, diese angespannte Körperhaltung des Jungen, der stechende, feindselige Blick, dass er mich so direkt angesehen und vielleicht sogar beobachtet hatte… All das war tatsächlich beängstigend. Aber da war noch diese unerklärliche Freude, die ich bei seinem Anblick gespürt hatte. Fröstelnd schloss ich die Balkontür und hüllte mich in eine dunkelrote Wolldecke ein. Ich zwang mich, wieder zur Tagesordnung überzugehen. Übermorgen würde ich meinen ersten Tag in einer neuen Schule verbringen und ich hatte andere Sorgen als einen gutaussehenden Fremden, der aus unerfindlichen Gründen voller Anspannung in einem Café saß und mir, wahrscheinlich genervt von meinen Beobachtungen, feindselige Blicke zuwarf.
Um mich abzulenken zwang ich mich, meinen Rucksack für die Schule zu packen. Meinen Laptop würde ich lieber zu Hause lassen. In London waren einige Schüler mit Laptop oder Netbook im Unterricht gewesen, aber hier war ich mir da nicht so sicher. Ich puzzelte noch ein wenig hier und da herum, konnte die Anspannung in meinem Zimmer dann jedoch nicht mehr aushalten und ging, auf der Suche nach etwas Ablenkung, hinunter in die Eingangshalle. Aber das Haus schien wie ausgestorben. Das Esszimmer, das Kaminzimmer und sogar die Küche waren leer. Auch Schalk lag weder auf seinem Kissen im Esszimmer noch stand er vor der großen Flügeltür zum Garten, wie er es so oft tat, wenn er draußen Kaninchen witterte. Wahrscheinlich waren Grandma und Tante Maggy mit ihrer Arbeit beschäftigt und ich wollte sie nicht stören.
Zum Schlafen war es noch zu früh und weil ich nicht wusste, wie ich die restlichen Stunden verbringen sollte, ging ich nach draußen und schlenderte ohne bestimmtes Ziel auf dem Pfad am Hotel vorbei in Richtung Wald. Da Backingshire Manor auf einem sanften Hügel lag, führte der Weg die ersten 200 Meter bergab. In der Senke war der Weg von hohen Traubeneichen gesäumt, zwischen denen man einen schönen Blick über den See und die weitläufigen Felder hatte, die durch niedrige Natursteinmauern gesäumt wurden. Einige hundert Meter weiter stieg der Weg wieder an und führte in den Wald.