Gut beraten in der Krise -  - E-Book

Gut beraten in der Krise E-Book

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Beschreibung

Wie kommt man wieder – und zwar gestärkt – aus der Krise heraus? In Zeiten, die durch ein Maximum an Unsicherheit geprägt sind, verlieren bisher bewährte Bewältigungsstrategien weitgehend ihre Wirkung. Vorgehensweisen und Tools aus der systemischen Beratung bieten hier eine wertvolle Hilfestellung, um Frustration zu überwinden, die Resilienz zu stärken und alternative wie bisher 'undenkbare' Lösungsoptionen zu entwickeln. Mai 2020 wurden 3 neue Tools in den Download-Ressourcen ergänzt.

Strategien und Werkzeuge für ganz alltägliche Ausnahmesituationen: Ist das nicht schon ein Widerspruch an sich? Und ist es nicht gerade das Kennzeichen der aktuellen Krise, dass alle bewährten Handlungsroutinen von jetzt auf gleich hinfällig geworden sind? Das ist richtig. Aber gerade deshalb ist es in der Arbeit als Berater, Trainer oder Coach hilfreich und notwendig, ein möglichst flexibel einsetzbares Set an Vorgehensweisen und Interventionen präsent zu haben, die in stark belastenden Krisensituationen zunächst einmal Orientierung geben und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Schließlich lautet die Leitfrage immer: 'Wie kommt man wieder – und zwar möglichst gestärkt – aus der Krise heraus?' Und: 'Welche hilfreichen Erfahrungen, Methoden und Strategien haben Kollegen in der Praxis bereits gesammelt?' Das Herausgeberteam Gunther Schmidt, Anna Dollinger und Björn Müller-Kalthoff hat in diesem Buch genau jene Methoden und Konzepte zusammengetragen, die sich in Krisen als besonders hilfreich erwiesen haben. Und tatsächlich verfügen sie wie auch viele ihrer Kollegen über umfangreiche Erfahrungen zum Thema 'Kriseninterventionen', die in großer Vielfalt in dieses Buch eingeflossen sind. Auch wenn viele der hier beteiligten Autorinnen und Autoren einen hypnosystemischen Hintergrund haben, wird mit dieser Interventionssammlung 'kein homogenes, ideologisch-gefärbtes, clean-gestyltes Ding' (Gunther Schmidt) herausgegeben, sondern ein nutzbringendes Konzept- und Arbeitsbuch. Von B wie Burnout bis U wie Unternehmenskrise findet der Leser eine Vielzahl von Methoden, die sich insbesondere in extrem schwierigen Krisenzeiten als nachhaltig wirksam erwiesen haben: für sich selbst und für andere, für Einzel- und Gruppensituationen, für emotionale und kontextuale Facetten einer Krise. Das gemeinsame Ziel aller Interventionsformen ist es, die Betroffenen dabei zu begleiten, wieder Zugang zu ihren Ressourcen zu finden, neue Elemente in die 'Problemsicht' einzuführen und so zur gezielten Überwindung von 'Krisen-Trancen' und zur Lösungsorientierung beizutragen. Und last but not least: zieldienliche Haltungen gegenüber einer massiven Krise zu fördern und zu etablieren.

Als zusätzlicher Service stehen den Lesern des Buchs weitere, vertiefende Leitfäden und Konzepte online zum Download zur Verfügung.

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Seitenzahl: 412

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Gunther Schmidt, Anna Dollinger, Björn Müller-Kalthoff (Hrsg.)

Gut beraten in der Krise

Konzepte und Methoden für ganz alltägliche Ausnahmesituationen

© 2010 managerSeminare Verlags GmbH

6. Aufl. 2022

Endenicher Str. 41, D-53115 Bonn

Tel: 0228–977 91-0, Fax: 0228–61 61 64

[email protected]

www.managerseminare.de/shop

Der Verlag hat sich bemüht, die Copyright-Inhaber aller verwendeten Zitate, Texte, Abbildungen und Illustrationen zu ermitteln. Sollten wir jemanden übersehen haben, so bitten wir den Copyright-Inhaber, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung vorbehalten.

ISBN 978-3-98856-065-0

Herausgeber der Edition Training aktuell:

Ralf Muskatewitz, Jürgen Graf, Nicole Bußmann

Lektorat: Ralf Muskatewitz, Michael Busch

Grafik: Jürgen Graf

Coverbild: istockphoto, WoodenDinosaur

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Ihre Download-Ressourcen

Begleitend zum Buch stehen Ihnen Arbeitshilfen für die persönliche Verwendung zum Download im Internet zur Verfügung. Sie können die Vorlagen jederzeit in hoher Qualität abrufen und einsetzen.

 www.managerseminare.de/tmdl/b,186045

Inhalt

Vorwort

I. Grundlagen

Was für Krisen braucht und wie viel Krise verträgt der Mensch? Neurobiologie der Krisenentstehung und Krisenbewältigungvon Prof. Dr. Gerald Hüther

Hypnosystemische Krisenberatung: Wie Opfer-Erleben zu Empowerment und konstruktiver Lösungsentwicklung transformiert wirdvon Dr. Gunther Schmidt

II. Praxis

1. Münchhausen-Techniken: Sich selbst aus dem Krisen-Sumpf ziehen

Der Krise Raum geben: Eine Anleitung für StrukturliebhabervonSandra Hofmann-Arnold

Im Sumpf bis über die Ohren und dennoch nicht verlorenvon Almuth Wünsch

Interventionen gegen Krisenerleben: Utilisation von Restriktionen, Imagination der Wunsch-Person (und der Horror-Person) und „Back to the future“von Dr. Gunther Schmidt

Problem-Lösungs-Gymnastik und Kompetenz-Balance: Interventionen, die kontextflexible Autonomie stärken und systemische Synergie ermöglichenvon Dr. Gunther Schmidt

2. Coaching-Werkzeuge: Einzelinterventionen in Krisensituationen

Crisis, what Crisis? Einstreugeschichten als Fokussierungshilfen in Krisenzeitenvon Björn Müller-Kalthoff

Das Ressourcen-Mandalavon Dr. Frank Taschner

Entscheidungen in Krisensituationen: Die innere Aufmerksamkeit neu fokussierenvon Josef Mikus

Hausgemachte Krise: Krisenarbeit mit der „Haus“-Metaphervon Kinga Janisch

Karrieren in der Krise: Optionen für neue berufliche Wege entwickelnvon Katja Wengel und Joachim Hipp

Rückblick der weisen Alten: Ressourcengewinnung bei Burnout-Phänomenenvon Alexandra Mößmer

Vom Nutzen der Schwäche: Kompetenz-Coaching in Krisenzeitenvon Ute Jakobi

3. Workshop-Konzepte: Gemeinsam sind wir gar nicht blöd

Agendapunkt „Kotz”: Kritische Situationen und Krisen-Frust in Gruppen überwindenvon Katharina Fehse

Die Problemlösebrückevon Geraldine Katz

Krisen in komplexen Systemen vorhersagen: Eine Workshop-Methode für den Umgang mit Vernetztheitvon Prof. Dr. Thea Stäudel und Prof. Dr. Gisela Holicki

Systemische Beratungsarbeit im krisenbedingten Mitarbeiterabbauvon Ralf Albers und Andreas Roßmanith

Taskforce for Future: Eine Großgruppenmoderation z ur Behandlungvon Anna Dollinger

Tiefpunkte überwinden bei massiven Veränderungen: Gruppencoaching für Managervon Andrea Zimmermann

Verjüngungskur mit alten Weisen: Intuitionsaktivierende Techniken in der Begleitung burnout-gefährdeter Menschenvon Christa Fasch und Angelika Kail

Wenn die Wellen höher schlagen: Das Konzept „Manage in Change“von Jürgen Vogt

4. Seminar-Konzepte und Strategien: Fix & fertig raus aus der Krise

Kompetenztraining für Führungskräfte in Krisenzeitenvon Norbert Esters und Michael Köhler

Konzepte des Leadership-Developments in Krisenzeitenvon Jens Bergstein

Konzertierte Migration: Unternehmens-Restrukturierung um 4 vorvon Christine Stöhr

Stell Dir vor, es ist Krise – und keiner macht Vertriebvon Kai Pfersich

Wer hat schon für die Krise geübt? – Simulationstraining für krisenhafte Herausforderungenvon Olav Schroth, Ingrid Weeger, Aglaja Przyborski und Oliver Schneider

III. Anhang

Die Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

IV. Download-Ressourcen

Über den Link in der vorderen Umschlagklappe haben Sie Zugriff auf die folgenden Beiträge, Materialien und Arbeitshilfen als Ergänzung zu den Buchinhalten:

Methode Starfish von Katharina Fehse: mit der Starfish-Methode die Zusammenarbeit im Team verbessern.

‚Mich auch in Krisensituationen in die Balance bringen‘ von Jennifer Stein: Wie ich durch die Methode der Energiebilanz für mich selbst sorgen kann – und somit auch wieder für Stabilität in meinem Team.

‚Vier Augen sehen mehr als zwei‘ von Kinga Janisch: zusätzlicher Online-Beitrag zum Buch.

Anleitung zur Schaffung des Krisen-Raums von Sandra Hofmann-Arnold: schematische Darstellung der Anleitung. Siehe dazu auch Beitrag auf S. 65.

Zusammenhänge in komplexen Systemen verstehen‘ von Thea Stäudel und Gisela Holicki: ein detaillierter Ablaufplan des exemplarisch vorgestellten Workshops. Siehe dazu auch Beitrag auf S. 182.

‚Taskforce for Future‘ von Anna Dollinger: ein Handout, ein Leitfaden und eine Arbeitsanweisung. Siehe dazu auch Beitrag auf S. 214.

‚Taskforce for future‘ digital von Anna Dollinger: Wie man Großgruppenkonferenzen digital organisiert.

‚Verjüngungskur mit alten Weisen‘ von Christa Fasch und Angelika Kail: Ablauf und ausführliche Übungsanleitungen. Siehe dazu auch Beitrag auf S. 232.

Leitfaden ‚Training on the Job‘ und Leitfaden ‚Vertriebstraining‘, von Kai Pfersisch: Trainingsunterlagen. Siehe dazu auch Beitrag auf S. 285.

Vorwort

zur 6. Auflage

Strategien und Werkzeuge für ganz alltägliche Ausnahmesituationen: Das war (und ist auch noch) der Untertitel der ersten Auflage unseres Buches „Gut beraten in der Krise“. Als wir heute im Jahr 2022 darüber nachdenken, unser Buch neu aufzulegen, fühlt sich dieser Satz für uns allerdings nicht mehr richtig stimmig an. 2008 war unser Buch vor allem eine Reaktion auf die Finanzkrise. Eine Krise, auf die man ebenfalls nicht mit ganz alltäglichen Handlungsroutinen reagieren konnte.

Doch ungleich gewaltiger erscheinen die derzeit wahrzunehmenden Herausforderungen: Der Klimawandel einerseits, der bis Mitte dieses Jahrhunderts genauso tödlich sein wird wie Covid-19, sowie der russische Angriff auf die Ukraine andererseits kennzeichnen die größten Herausforderungen unserer Existenz seit dem zweiten Weltkrieg.

In diesem Buch bieten wir keine Strategien und Werkzeuge an, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Aber wie wir in diesen Krisenzeiten miteinander umgehen, dafür schaffen gerade auch Unternehmens- und Führungskultur eine entscheidende Grundlage. Und somit auch wir, die Autoren dieses Buches: durch unsere Arbeit als Berater, als Trainer und Coach mittels unseres Wertekanons, den wir in die Unternehmen hineintragen. Werte und Werthaltungen, für die wir stehen:

Wir setzen darauf, dass es immer konstruktive und engagierte Menschen in Systemen gibt, die das System/die Organisation voranbringen wollen und unterstützend sind.

Wir glauben daran, dass Menschen alle Fähigkeiten, die sie zur Bewältigung von Herausforderungen brauchen, haben und dass …

in Kollaboration und Netzwerken diese bestmöglich geschöpft, verbunden und synergetisch wirksam werden.

Wir müssen vorleben, was wir möchten, dass sich in Systemen zeigt.

Wir bieten eine Reihe von generellen Vorgehensweisen und Interventionen, die in den unterschiedlichsten Krisensituationen erst einmal Orientierung geben und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen können. Wir haben uns selbst und andere gefragt, welche Methoden und Konzepte in Krisen am hilfreichsten waren. Danke an dieser Stelle für die tatkräftige Ermutigung, die Unterstützung und die Geduld. Was uns diese Arbeit gezeigt hat, ist: Offensichtlich haben wir alle viele Erfahrungen zum Thema „Kriseninterventionen“ gesammelt, die nun hilfreich sein können.

Auch wenn die meisten Autoren einen hypnosystemischen Hintergrund haben, wollen wir mit unserer Methodensammlung „kein homogenes, ideologisch-gefärbtes, clean-gestyltes Ding“ (Gunther Schmidt) herausgeben, sondern ein nutzbringendes Konzept- und Arbeitsbuch. Die gemeinsame gedankliche Klammer für diesen Band ist vor allem die Wirksamkeit von Interventionen und Strategien. Für Krisenzeiten heißt dies: wieder Zugang zu stets vorhandenen, aber verschütteten, aktuell nicht zugänglichen Ressourcen zu finden. Neue Elemente in die „Problemsicht“ einzuführen, die zur gezielten Überwindung von „Krisen-Trancen“ und zur Stärkung von Lösungsorientierung beitragen. Einzelne Menschen und Gruppen mit stimmigen Gesamtkonzepten ermutigen und befähigen, Themen anzupacken und last but not least: zieldienliche Haltungen gegenüber einer massiven Krise zu fördern und zu etablieren.

Mit diesem Buch können wir hoffentlich eine wertschätzende Balance-Haltung vermitteln, die konsequent auf die Lösungsressourcen fokussiert und gleichzeitig die impliziten Werte und Kompetenzen in Problemprozessen achtungsvoll utilisiert.

„Oh Gott gib mir den Mut, zu ändern, was ich ändern kann,

die Kraft zu ertragen, was ich nicht ändern kann, und

die Weisheit, zwischen beidem zu unterscheiden.”

– Franz von Assisi (1226) –

Die Herausgeber

I.

Grundlagen

Übersicht

Keine gute Interventions-Sammlung ohne ein stabiles Fundament. Dieses Kapitel führt Sie in wesentliche Grundlagen ein, wodurch Krisen entstehen, was als Krise überhaupt wahrgenommen wird, wie sich Krisen-Erleben ausdrückt und, anhand von Konzepten der hypnosystemischen Krisenberatung, wie Krisen kraftvoll in neue Chancen transformiert werden können.

„Was für Krisen braucht und wie viel Krise verträgt der Mensch?“ Diese Fragen stellt und beantwortet Prof. Dr. Gerald Hüther, indem er die neurobiologischen Reaktionsmuster beleuchtet, die bei angstauslösenden Bedrohungen entstehen.

Dr. Gunther Schmidt widmet sich in seinem umfassenden Grundlagenbeitrag „Hypnosystemische Krisenberatung: Wie Opfer-Erleben zu Empowerment und konstruktiver Lösungsentwicklung transformiert wird“ den Basisprämissen des hypnosystemischen Beratungsansatzes. Er beschreibt, wie menschliches Erleben konstruiert wird, welche Merkmale etwas zu einem Problemerleben machen und wo wirksame Beratertätigkeit ansetzen kann.

Was für Krisen braucht und wie viel Krise verträgt der Mensch? Neurobiologie der Krisenentstehung und Krisenbewältigung

Von Prof. Dr. Gerald Hüther

Überall auf der Welt streben Menschen nach einem erfüllten Leben mit Aufgaben, an denen sie wachsen und Beziehungen, auf die sie sich verlassen können. Sie träumen von Geborgenheit und Autonomie, von einem Leben ohne Not und Angst.

Die Realität sieht anders aus: unsichere Arbeitsplätze, Konkurrenz- und Leistungsdruck, Mobbing, Zukunftsangst, Orientierungslosigkeit und vieles mehr macht uns schwer zu schaffen. So geraten wir immer wieder und meist auch schneller als gedacht in Krisen. Verzweifelt suchen wir nach Lösungen, denn wenn wir die nicht finden, verlieren wir irgendwann den Halt und manchmal sogar die Fähigkeit, von einem Leben ohne Angst und Stress träumen zu können.

Wie Stress-Reaktion funktioniert

Zu allen Zeiten und an allen Plätzen dieser Erde haben Menschen deshalb versucht, ihre Träume vom stressfreien Leben wahr werden zu lassen oder, wenn das nicht gelang, wenigstens an eine zukünftige, angstfreie, bessere Welt zu glauben. Da in der Vergangenheit schon genug Scharlatane mit ihren Ratschlägen für große Enttäuschungen gesorgt haben, glauben wir heute lieber an die objektiven, von Experten nachgewiesenen Tatsachen. Vor allem von den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Gehirn- und Stressforscher erhoffen viele Menschen heutzutage Wissen, das ihnen hilft, mit Angst und Stress umzugehen. Von ihnen haben sie erfahren, wie die Stress-Reaktion funktioniert: dass die Angst in bestimmten Regionen des Gehirns entsteht, dass dabei verschiedene Transmitter und Hormone vermehrt ausgeschüttet werden und vielfältige Wirkungen auslösen, dass die Anfälligkeit für Stress genetische Ursachen hat und durch ungünstige frühkindliche Entwicklungsbedingungen für den Rest des Lebens erhöht bleiben kann, und vor allem, dass Angst und Stress krank machen. Zu der alten Angst ist so inzwischen noch eine neue hinzugekommen: die Angst vor den Folgen von Angst und Stress.

Die Wartezimmer von Psychologen und Psychiatern spiegeln das wider. Deren wichtigste Botschaft löst in den meisten Fällen zunächst wenig Begeisterung aus: Die mit jeder Lebenskrise einhergehende Verunsicherung bzw. Angst ist ein zentraler Bestandteil unseres Gefühlslebens und eine sehr starke, unser Denken und Handeln bestimmende Kraft. Nicht indem wir die Angst zu bekämpfen versuchen, sondern indem wir sie als wichtiges Gefühl verstehen, können wir sie nutzen, um uns weiterzuentwickeln. Um eine psychische Belastung ohne Schaden auszuhalten, muss die Belastung als sinnvoll und die Veränderung als wünschenswert empfunden werden. Aber unter welchen Voraussetzungen und von wem kann eine Krise angenommen und als Signal für einen notwendigen Veränderungsprozess verstanden werden? Was geschieht im Gehirn derjenigen Menschen, die außerstande sind, eine geeignete Lösung für eine angstauslösende krisenhafte Entwicklung zu finden?

Druck erzeugt Stress

Menschen brauchen Aufgaben, an denen sie wachsen können. Aufgaben, die bewältigbar sind, ermöglichen uns, die Erfahrungen zu machen, dass wir etwas bewirken, bewegen, gestalten können, auch wenn es bisweilen anstrengend ist. Die erfolgreiche Bewältigung von Herausforderungen stärkt das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Und wer das schon als Kind und auch später im Leben immer wieder erfahren hat, sucht aus eigenem Antrieb nach neuen Herausforderungen. Der will etwas leisten und setzt sich dabei selbst unter Druck. „Eustress“ hat man das früher genannt, aber der Übergang von Eu- zum Dysstress ist fließend und individuell sehr unterschiedlich.

Mobilisierung von EnergiereservenMehr vom Gleichen

Am Anfang jeder Stress-Reaktion kommt es zunächst zu einer Aktivierung des sympathischen Nervensystems mit verstärkter Katecholausschüttung. Die führt zur Mobilisierung von Energiereserven und einer Reaktion im Gehirn, die wachrüttelt und die Aufmerksamkeit auf das Problem lenkt, das es zu bewältigen gilt. Ist das geschafft, kehrt wieder Ruhe ein, die periphere sympathische Aktivierung wird abgestellt, im Gehirn wird noch ein Schwapp Dopamin und Endorphin ausgeschüttet und man erlebt einen Zustand, als hätte man gleichzeitig eine kleine Dosis Kokain eingenommen. Erfolgserlebnis nennt man das, und ohne solche Erfolgs- und Aha-Erlebnisse wäre das Leben grau und eintönig. Weil die verstärkte Ausschüttung von Dopamin gleichzeitig auch noch zur Bahnung und Verstärkung der zur Lösung des Problems aktivierten neuronalen Verschaltungen führt, wird man bei der Bearbeitung solcher und ähnlicher Herausforderungen auch noch immer besser. Aus den anfänglich noch sehr schwachen Verknüpfungen werden, je häufiger ein Problem auf die gleiche Weise gelöst wird, allmählich immer besser nutzbare Nervenwege, dann Straßen und am Ende sogar Autobahnen. Und von diesen kommt man später oft nur schwer wieder herunter. Dann versucht man es immer wieder auf die gleiche, eingefahrene Weise, und wenn sich irgendwann das Problem verändert und eine neue, innovative Lösungsstrategie gefunden werden müsste, sitzt man fest, fällt immer wieder in die alten Muster zurück, und das ist dann alles andere als Eustress. Dann gerät man sehr leicht in Angst und Panik, dann erlebt man eine Krise.

Zu viel Druck erzeugt Angst

So wird also nachvollziehbar, weshalb ausgerechnet diejenigen Menschen, die bisher ganz besonders erfolgreich mit ganz bestimmten Strategien unterwegs waren, nun plötzlich völlig hilflos reagieren, wenn neue Anforderungen auf sie zukommen, die sich mit ihren bisherigen erfolgsgebahnten Verhaltensmustern nicht lösen lassen. Ihnen geht es dann nicht anders, als all jenen, die auch ohne solche Erfolgsbahnungen mit Problemen und Aufgaben konfrontiert sind, die sie nicht zu bewältigen imstande sind. Auch sie erleben diesen überstarken Druck als Bedrohung und reagieren darauf mit Angst.

Angst mobilisiert archaische Notfallreaktionen

Eine angstauslösende Bedrohung führt im Gehirn zur Mobilisierung sogenannter archaischer Notfallreaktionen. Aktiviert werden diese Reaktionen durch spezifische Auslöser auf der Ebene der Wahrnehmung (etwa bei einem Unfall), viel häufiger aber durch die subjektive Bewertung eines Ereignisses, oft auch im Vorfeld (etwa eine bevorstehende Prüfung), wobei es weniger das Ereignis ist, das die Angst auslöst, sondern die befürchteten oder erlebten Reaktionen anderer Menschen, mit denen man sich einerseits verbunden fühlt oder von denen man abhängig ist. Der häufigste Auslöser von Angst ist daher die reale oder vorgestellte negative Bewertung des eigenen Handelns oder der eigenen Leistungen durch andere, bedeutsame, mächtige oder sonstige wichtige Menschen.

Deshalb beginnt jede Angstreaktion im Gehirn auch dort, wo wir unsere Bewertungen vornehmen, also im Frontallappen, der komplexesten Region des menschlichen Gehirns. Dort kommt es immer dann, wenn wir eine Diskrepanz bemerken zwischen dem, was wir erwarten oder erhoffen und dem, was wir real erleben oder wahrnehmen, zu einer unspezifischen Erregung, die sich zu einer Übererregung (Hyperarousal) aufschaukelt. Unter diesen Umständen ist aus den komplexen neuronalen Netzwerken des Frontalhirns kein „vernünftiges“ handlungsleitendes Muster mehr aktivierbar. Das Verhalten, auch das Fühlen und die Reaktionen des Körpers werden jetzt von den tiefer liegenden, früher herausgeformten und stabileren neuronalen Netzwerken bestimmt.

Wenn kein Ausweg aus dieser Situation gefunden wird, übernehmen schließlich die archaischen Notfallprogramme im Hirnstamm das Kommando. Dann bleiben nur noch drei Verhaltensoptionen:

Angriff,

wenn das nicht geht, Flucht,

und wenn beides nicht geht, ohnmächtige Erstarrung.

Vernünftig denken kann man unter diesen Bedingungen nicht mehr, auch nicht sich in andere Menschen hineinversetzen, Handlungen planen oder die Folgen einer Handlung abschätzen.

Angst ruft nach Lösungen

Die Angst ist kein angenehmes Gefühl und der Rückfall in archaische Notfallmuster der Verhaltenssteuerung ist kein beglückender Zustand. Deshalb sucht jeder Mensch, wenn er in Not und Angst geraten ist, nach Lösungen, die dazu beitragen, ihm diese Erfahrung künftig zu ersparen. Meist wird dann eine der beiden folgenden Möglichkeiten gewählt: Entweder man verändert die Verhältnisse, die die Angst auslösen und versucht so, die Welt und die anderen Menschen an sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse anzupassen. Oder man verändert sich selbst und versucht, sich und seine eigenen Bedürfnisse an die jeweils herrschenden Verhältnisse so anzupassen, dass es künftig nicht mehr zu diesen angstauslösenden Diskrepanzen zwischen der eigenen Erwartungshaltung und den eigenen Kompetenzen und der realen Welt kommt.

Dritte Form der Veränderung: eine neue Bewertung des Geschehens

Nur wenigen Menschen gelingt eine dritte Form der Veränderung, die sich als Bewusstseinswandel manifestiert. Auf dieser Stufe wird weder eine Veränderung der Verhältnisse noch des eigenen Verhaltens als wichtigste Voraussetzung zur Überwindung der Angst betrachtet, sondern eine andere Bewertung des Geschehens im Außen und im eigenen Inneren angestrebt. Grundlage dieser neuen Bewertung ist eine veränderte Haltung, eine andere Einstellung der betreffenden Personen gegenüber dem Leben und dem, worauf es im eigenen Leben wirklich ankommt. Hier geht es also eher um das Wiederfinden von etwas, was man angesichts von Leistungsdruck und Erfolgsstreben verloren hat.

Wenn bisherige Lösungen unbrauchbar sind, steckt man in einer Krise

In jeder Krise steckt also eine Chance für eine eigene Weiterentwicklung. Die wird man jedoch nur dann nutzen können, wenn man das, was einem zugestoßen ist, als Krise erkennt. Deshalb ist es sicher recht hilfreich, sich klarzumachen, was eigentlich eine Krise ist. Woran lässt sich erkennen, dass beispielsweise ein unerwartet eingetretenes Desaster auf den Finanzmärkten und die daraus entstandenen Folgen Ausdruck einer Krise sind und nicht ein einfacher Absturz, ein Zusammenbruch oder eine schmerzliche Korrektur vorangegangener Fehlentwicklungen?

Wie Krisen entstehen

Krisen entstehen nicht dadurch, dass etwas wegbricht, sondern weil deutlich wird, dass es so wie bisher nicht mehr weitergeht. Und zwar deshalb, weil man mit den Vorstellungen und Überzeugungen, mit denen man bisher unterwegs war, in ein Dilemma geraten ist. Wie in einer Ehekrise: Zusammen geht es nicht mehr, aber allein will auch keiner bleiben. Oder in einer Lebenskrise: Den alten Beruf hat man satt, aber ohne Arbeit hat man nichts zu beißen. Wenn das, was wir beispielsweise in der Wirtschaft immer wieder erleben, Ausdruck einer Krise ist, müssten wir also mit unseren bisherigen Strategien des Wirtschaftens auf dieser Welt in ein Dilemma geraten sein: So wie bisher geht es nicht mehr weiter, aber dass es ganz anders weitergeht (Wirtschaften, Politik machen, Beziehungen gestalten, unser Leben führen), wollen wir auch nicht. Wenn man in der Kluft zwischen miteinander unvereinbaren Wünschen, Überzeugungen, Strategien, also im Dilemma, stecken bleibt, dann steckt man in der Krise.

Krisen ermöglichen die Herausbildung anderer Haltungen und Einstellungen

Nehmen wir einmal an, dass das, was wir auf den Finanzmärkten, in der Wirtschaft und in der Politik global erleben, eine richtige Krise und somit Ausdruck eines Dilemmas sei, in das wir geraten sind. Dann stellt sich die Frage, was für ein Dilemma das ist. Klar, es ist ein Dilemma zwischen unvereinbaren Strategien wirtschaftlichen Gewinnstrebens. Wir brauchen uns jetzt nicht darüber den Kopf zu zerbrechen, was das für Strategien waren, die hier kollidiert sind. Wichtig ist nur, dass diese Strategien von Menschen zur Verwirklichung bestimmter Ziele ausgedachte und eine zeitlang wohl auch erfolgreich verfolgte Konzepte waren. Es waren also Ideen, Vorstellungen, Überzeugungen davon, worauf es im (Wirtschafts-) Leben ankommt, und wie man das, worauf es ankommt, entweder möglichst schnell oder aber möglichst nachhaltig erreicht: Ideen also haben uns das Dilemma beschert und uns in die Krise gerissen.

Ideen und Überzeugungen als Krisenauslöser

Und woher kommen diese Konzepte und Ideen? Sie sind das Ergebnis von Überlegungen, die diejenigen angestellt haben, die an den Schalthebeln von Wirtschaft und Politik saßen und die Weichen aufgrund dieser Überlegungen so gestellt haben.

Und was hat diese Leute dazu bewegt, genau solche und keine anderen Ideen, Überzeugungen und Vorstellungen zu entwickeln? Das war nicht ihr auswendig gelerntes Wissen, sondern das in ihrem Hirn verankerte Kondensat ihrer Erfahrungen – in Form ihrer inneren Haltungen, ihrer inneren Überzeugungen. Freilich gibt es wenig Grund anzunehmen, dass diese Weichensteller sich ihrer eigenen Haltungen und Überzeugungen wirklich bewusst waren. Aber es wäre sicher besser gewesen, sie wären sich dieser eigenen Haltungen und Einstellungen tatsächlich bewusst gewesen. Dann hätten sie sich auch fragen können, warum sie diese und keine anderen Haltungen, Überzeugungen und Vorstellungen entwickelt und vertreten haben. Ob das, was sie gedacht und gemacht haben, überhaupt langfristig so funktionieren kann, wie es kurzfristig zu funktionieren schien.

Aber um das zu denken, braucht man eben eine andere, eine bewusst reflektierte Haltung. Eine transpersonale und eine spirituelle. Eine transpersonale deshalb, weil diese Entscheidungsträger ja Entscheidungen getroffen haben, die Auswirkungen auf viele andere Menschen hatten. Das allein ist ja schon ein Dilemma: Ich kann nicht vorrangig nur an mein eigenes, persönliches Wohlergehen denken, wenn ich etwas in Bewegung setze, was das Wohlergehen anderer Menschen unterminiert, von denen ich selbst abhängig bin. Eine Zeit lang vielleicht, aber eben nicht allzu lange.

Und genau das ist die spirituelle Dimension des Dilemmas: Wir sind auf eine tiefere und subtilere Weise mit allen anderen Menschen und mit der Welt verbunden, als uns das lieb ist und wir es uns bewusst zu machen bereit sind. Das gilt auch für die Weichensteller.

So, damit hätten wir die Hintergründe zumindest wirtschaftlicher und sozialer Krisen ein wenig klarer beleuchtet: Sie sind Ausdruck eines Dilemmas, in das wir hineingeraten, weil wir zugelassen haben, dass Menschen sich an die Schalthebel wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen setzen, die weder ein transpersonales Bewusstsein noch eine spirituelle Haltung zu entwickeln Gelegenheit oder Veranlassung hatten.

Die Lösung?

Und wie könnte die Lösung aussehen? Ist überhaupt eine andere Lösung für das Dilemma denkbar, das uns jede Krise beschert: bei uns selbst anzufangen. Uns selbst und die Haltungen erkennen, mit denen wir andere Menschen dorthin rudern lassen, wohin sie wollen, obwohl wir doch alle im gleichen Boot sitzen, transpersonal verbunden und spirituell unterwegs – als Suchende.

Literatur/Quellen

G. Hüther (1997): Biologie der Angst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

G. Hüther (1999): Die Evolution der Liebe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

G. Hüther (2001): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

G. Hüther (2004): Die Macht der inneren Bilder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

G. Hüther/H. Bonney (2002): Neues vom Zappelphilipp. Düsseldorf: Walter Verlag.

G. Hüther/I. Krens (2005): Das Geheimnis der ersten neun Monate. Düsseldorf: Walter Verlag.

K. Gebauer/G. Hüther (2001): Kinder brauchen Wurzeln. Düsseldorf: Walter Verlag.

K. Gebauer/G. Hüther (2002): Kinder suchen Orientierung. Düsseldorf: Walter Verlag.

K. Gebauer/G. Hüther (2003): Kinder brauchen Spielräume. Düsseldorf: Walter Verlag.

K. Gebauer/G. Hüther (2004): Kinder brauchen Vertrauen. Düsseldorf: Patmos Verlag.

C. Nitsch/G. Hüther (2004): Kinder gezielt fördern. München: Gräfe und Unzer.

M. Storch/B. Cantieni/W. Tschacher/G. Hüther (2006): Embodiment. Bern: Verlag Hans Huber.

W. Bergmann/G. Hüther (2006): Computersüchtig. Kinder im Strudel der Medien. Düsseldorf: Walter Verlag.

J. Prekop/G. Hüther (2006): Die Schätze unserer Kinder. München: Kösel Verlag.

G. Hüther/C. Nitsch (2008): Wie aus Kindern glückliche Erwachsene

werden. München: Gräfe und Unzer Verlag.

G. Hüther/W. Roth/M. von Brück (Hrsg.) (2008): Damit das Denken Sinn bekommt. Freiburg: Herder Verlag.

G. Hüther/I. Michels (2009): Gehirnforschung für Kinder, Felix und Feline entdecken das Gehirn. München: Kösel Verlag.

G. Hüther (2009): Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Hypnosystemische Krisenberatung: Wie Opfer-Erleben zu Empowerment und konstruktiver Lösungsentwicklung transformiert wird

Von Dr. Gunther Schmidt

„Eine Krise besteht darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann.”

– Antonio Gramsci –

Die hier vorgestellten hypnosystemischen, kompetenz-fokussierenden Ansätze bieten eine Vielzahl an Interventionen, die Betroffenen in Krisen meist schnell und nachhaltig helfen. Diese Ansätze sorgen dafür, dass Betroffene wieder Kontakt zu ihren Fähigkeiten finden, mit denen sie die „Krisen“ in konstruktive, stimmige und oft auch mit zusätzlicher Stärkung einhergehende Lösungen transformieren können.

Lernen Sie zunächst die wesentlichen Basisprämissen dieses Ansatzes kennen. Erfahren Sie, wie menschliches Erleben grundsätzlich konstruiert wird und welche konstituierenden Konstruktionsmerkmale etwas zu einem Problemerleben machen. Konkreter erkennbar wird dies durch die Beschreibung typischer Prozessbestandteile, die mit dem Erleben von Krisen einhergehen. Sowie durch die vielen spezifischen Interventionsstrategien, die stringent aus dem hypnosystemischen, kompetenz-fokussierenden Modell abgeleitet werden.

1. Zur aktuellen Lage und damit einhergehenden Missverständnissen

„Die schlimmste Krise seit Jahrzehnten“

Mal wieder ist seit Monaten die Rede von einer massiven Krise. Mit vielen Daten aus der Wirtschafts- und Finanzwelt wird gut belegt, dass es sich dieses Mal sogar um die schlimmste Krise seit Jahrzehnten handelt. Die Zahlen sprechen für sich. Sie machen viele von uns quasi mundtot und so betroffen, dass wir blitzschnell in unangenehme Erlebnisprozesse einmünden.

So haben die Zeugen Jehovas der Schweiz auf ihrem Jahreskongress in Zürich abschließend festgestellt, gefüttert mit vielen entsprechenden Beiträgen, dass gar das Weltende (jetzt aber wohl echt endgültig) bevorsteht. Wir haben also allem Anschein nach auf absehbare Zeit nicht viel zu lachen. Beklommenheit, Zukunftsangst, Ratlosigkeit, bei vielen Menschen sogar Hoffnungslosigkeit und massive Hilflosigkeit färben Verhalten und Kommunikationsprozesse so, dass sich dieses Erleben wieder wechselseitig weiter verstärkt.

Die Krise prägt die Stimmung

In vielen Beratungsprozessen unserer Klientinnen und Klienten spiegelt sich diese Dynamik wider. Viele meiner Klienten-Systeme (Einzelne in Coachings, häufig aber auch in Team- und OE-Prozessen) kommen in sehr bedrückter Stimmung, auch jetzt noch, nachdem allerorts schon wieder über neuen Aufwind gesprochen wird. In vielen Supervisionen und Konsultationen mit Kolleginnen und Kollegen, die Ähnliches bei ihren Klienten erleben, ist dies wohl der derzeit immer noch vorherrschende Stimmungs-Trend.

Allerdings, auch wenn aktuell besonders häufig „Krise“ öffentlich diskutiert wird, in Beratungsprozessen ist das Thema überhaupt nichts Neues. Menschen erleben sich immer wieder in extremen Krisensituationen, auch wenn die ökonomische und sonstige gesellschaftliche Situation allgemein als sehr stabil und zufriedenstellend angesehen wird.

Typische Muster des Krisenerlebens

In den Schilderungen der Klienten kann man bestimmte Muster des Erlebens „herausdestillieren“, die sich ähneln: Sie erleben sich als Opfer von Umständen, die massiv auf sie einwirken. Diese jeweiligen „Umstände“ können z.B. sein:

Ereignisse von außen wie das Platzen der Subprime-Blase mit starken Verlusten in Depots, Verlust von Aufträgen, Umsatzeinbrüche, Jobverlust oder Bedrohung des Jobs, Rationalisierungs-/Umstrukturierungsmaßnahmen, die das bisherige Sein mit herben Einschränkungen treffen.

In diesem Zusammenhang auftretende plötzliche körperliche und/ oder seelische Reaktionen können massiv verunsichern und ängstigen („Ausgerechnet jetzt, wo ich es am allerwenigsten gebrauchen kann …!“).

Häufig wird auch der drohende oder schon erfolgte Verlust der Beziehung zu einem geliebten Menschen als Auslöser einer Krise erlebt.

Oder es bleibt ein massives Gefühl von Sinnleere („Unter den jetzigen Bedingungen macht meine Arbeit einfach keinen Sinn mehr für mich, ich komme mir völlig leer vor, aber ich kann doch nicht alles hinwerfen, obwohl ich das am liebsten tun würde …“).

Sind die äußeren Umstände die Verursacher?

In den allermeisten Fällen werden die Umstände von den Klienten als „Ursache“ ihres so unangenehmen, unerwünschten Erlebens und ihrer Situation (wie sie diese eben wahrnehmen) erlebt und beschrieben. Dies ist sehr verständlich. Gleichwohl verstärkt diese Art des Erlebens – also die äußeren Umstände als „Ursache“ zu behandeln – den inneren Stress, die Not, die Hilflosigkeit und das unerträgliche Opfer-Erleben (selbstrückbezüglicher Feedback-Prozess). Denn mit diesen Erklärungen und Bewertungen verbunden sind ja wieder die impliziten Annahmen, dass man zur Abwendung dieser schlimmen Situationen diese „Ursachen“ beenden oder zumindest schnell zum Positiven hin verändern müsste. Gleichzeitig wissen die Betroffenen aber, dass gerade dies außerhalb ihrer eigenen Gestaltungsmöglichkeiten liegt. Das Erleben von Ausweglosigkeit verstärkt sich, die Spirale dreht sich weiter in eine eskalierende Richtung.

Dass Situationen wie die aktuelle Finanzkrise und ihre Folgen für viele Menschen nicht nur leichte Irritationen oder vorübergehende Belastungen mit sich bringen, sondern zu lebensgefährlichen existenziellen Eskalationen führen können, zeigen einige von leider sehr vielen Beispielen für solche „Ursachen“ möglicher Krisen:

Beispiele für Krisenursachen

Herr Merckle (Ratiopharm, Heidelcement etc.) galt noch 2008 als einer der reichsten Männer Deutschlands. Sein Vermögen wurde üblicherweise auf ca. 8-10 Mrd. Euro geschätzt. Fast jeder Beitrag, der über ihn und sein Imperium veröffentlicht wurde, zeichnete ihn in neidvoll bewundernden Farben. Dann spielten er und seine Manager kräftig an der Börse mit, um an der Entwicklung der VW-Aktien noch mehr zu verdienen und verspekulierte sich so brutal, dass sein ganzes Imperium gefährdet war. Wie ja durch viele Presseberichte hinlänglich bekannt, konnte schließlich nach zähem Ringen eine Vereinbarung mit den Gläubigerbanken gefunden werden, die darauf hinauslief, dass die Merckle-Gruppe aufgespalten und Ratiopharm verkauft werden musste. Nach dieser Einigung hatte Herr Merckle sicher extreme Verluste zu verschmerzen, genaue Zahlen sind mir nicht bekannt.

Aber sicher dürfte sich auch nach diesem herben Einschnitt das Gesamtvermögen des Merckle-Imperiums noch immer im Bereich von vielen Millionen Euro bewegen. Im Januar 2009 beging Herr Merckle Suizid und warf sich, kurz nach diesen Verhandlungen, vor einen Zug in der Nähe seinesWohnhauses. Hatte Herr Merckle eine Krise? Ganz sicher. War der Verlust so großer Vermögenswerte die „Ursache“ der Krise? Aus meiner Sicht ebenso ganz sicher nicht!

Nicht nur Herr Merckle wird in vielen Presseberichten als „Opfer“ der Krise verstanden. Wie schon früher, in anderen sogenannten ökonomischen Krisenzeiten und Finanz-Crashs, machten auch 2008/2009 wieder einige renommierte Personen des Finanzsektors mit Suiziden oder Suizidversuchen von sich reden. Manches Mal auch mit vorgetäuschten Suiziden (wobei sich die Betreffenden dann in den Untergrund abzusetzen versuchten, um Strafverfolgungen zu entgehen). „Ökonozid“ wurde das vom Finanzmagazin „Forbes“ genannt. Kirk Stephenson, 47, war Mitgründer der Investmentfirma Olivant, die sich in Finanzkreisen einen Namen machte, als sie Anteile an der Schweizer Großbank UBS erwarb. Unglücklicherweise parkte Stephenson die Beteiligung bei der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers, die sie offenbar weiterverlieh. Als Lehman zusammenbrach, verschwand auch Olivants Einlage im Wert von rund 250 Millionen Euro. Zehn Tage nach der Lehman-Pleite nahm sich Stephenson das Leben (DER SPIEGEL 3/2009).

Der bisher prominenteste reale Wall-Street-Selbstmordfall war der von Thierry de la Villehuchet. AIA, die Fondsfirma des französischen Aristokraten mit New Yorker Wahlwohnsitz, hatte fast 1,5 Milliarden Dollar in der Affäre Madoff verloren, darunter auch Villehuchets Privatvermögen. Am Abend des 23. Dezember schloss sich Villehuchet, 65, in seinem Büro im 22. Stock an der Madison Avenue in Midtown Manhattan ein, setzte sich hinter seinen Schreibtisch, nahm Schlaftabletten und schnitt sich die Pulsadern auf (SPIEGEL ONLINE, 26.1.09).

Manche Wirtschaftssoziologen schätzen, dass allein der Anstieg der Arbeitslosigkeit um einen Prozentpunkt rund 1.200 zusätzliche Selbstmorde nach sich zieht. In der Tat wurde die historisch höchste Selbstmordrate in den USA 1932 verzeichnet – auf dem Zenit von Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit. „Finanzieller Ruin treibt verzweifelte Männer und Frauen oft zu verzweifelten Handlungen“, schreibt die „Washington Post“, „und die derzeitige Wirtschaftspanik ist da keine Ausnahme“ (SPIEGEL ONLINE, 26.1.09). Gerade solche Schilderungen möglicher Zusammenhänge legen den Eindruck nahe, dass die wirtschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Ereignisse, Wechselwirkungen und Situationsbedingungen die „Ursachen“ solcher Reaktionen von Menschen sind, die dann als schwerwiegendes Erleben einer Krise definiert werden.

Beispiele, die aber gerade diese „Ursachen“-Sicht fraglich erscheinen lassen

Gegenbeispiele

Florian Sitzmann verlor mit 15 Jahren 1992 bei einem Unfall beide Beine (hoch bis ans Ende der Oberschenkel) – ein Lastwagen hatte ihn überfahren. Vorher ein sehr lebenslustiger, ja lebenshungriger Junge, war er für Jahre gezwungen, mit mehreren Folgeoperationen und oft unter sehr starken Schmerzen, ein völlig neues Leben aufzubauen. Vor dem Unfall war er ungefähr zwei Meter groß. Nach dem Unfall, wie er selbst schreibt, noch einen Meter. Mit beeindruckendem Humor kommentiert er dies auf diese Art: „Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes ein Sitzmann, nomen est omen …“ Er hat es mit viel Engagement und hartem Einsatz geschafft, nicht nur den Führerschein zu machen und viel Auto zu fahren. Er wurde darüber hinaus ein sehr erfolgreicher Handbike-Sportler mit Teilnahme an der deutscher Meisterschaft, an den Paralympics und anderen Veranstaltungen. Außerdem gilt er, wie mir eine renommierte Journalistin berichtete, die ihn bei einem Buchprojekt unterstützte, als ausgesprochener „Womanizer“, der sich durch seine brutale Behinderung keineswegs daran hindern ließ, diverse Beziehungen (auch lange) mit attraktiven Frauen zu leben. Inzwischen ist er auch Vater einer kleinen Tochter. Hatte Florian Sitzmann eine Krise? Als er nach diesem fürchterlichen Unfall aus dem Koma aufwachte, war im Raum außer seinen Eltern auch noch eine Psychologin der Klinik. Kaum hatte er sich etwas orientiert, kam sie zu ihm und sagte (unaufgefordert) zu ihm: „Sie sind jetzt in einer Lebenskrise.“ Nach erster Irritation war seine (aus meiner Sicht sehr gesunde Spontanreaktion), dass er seine Mutter herbeirief und sie bat: „Schaff´ mir die Alte vom Hals, aber bitte schnell!“ (Sitzmann 2009).

Ein weiteres Beispiel liefert Artur Brauner (Filmproduzent, DER SPIEGEL 4/2009): „Mir ist das gleiche Los beschert worden wie Herrn Merckle. Auch ich habe über 60 Jahre ununterbrochen aufgebaut, habe vier Kinder und bin seit vier Jahren unter gemeingefährlichsten Druck einiger Banken geraten. Der Suizidgedanke kam wiederholt auf, wurde jedoch von dem Gedanken verdrängt, wonach ich, nachdem ich Hitler und Himmler überlebt habe, den Banken nicht diesen Gefallen tun würde und gerade dies trotz der halbkriminellen Machenschaften und wiederholten Versuche, die Existenz unserer Familie auszulöschen.“

Viktor Frankl, bereits in den 1930er Jahren ein international bekannter Psychiater und Psychotherapeut, hatte 1938 schon das Visum für die Einreise nach Großbritannien, sodass er noch ohne große Probleme aus Wien hätte ausreisen können. Obwohl er genau wusste, was ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartete, entschied er sich dennoch, in Wien zu bleiben. Aus Loyalität zu seinen alten und schon durch Krankheiten eingeschränkten Eltern.

Wie befürchtet, kam er schließlich für mehrere Jahre ins KZ, nach Treblinka, Auschwitz und Dachau. In seinem weltweit bekannten Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen …“ (1998) schildert er eindrücklich, wie viel unermessliches Leid er und seine Mitgefangenen erdulden mussten. Detailliert verdeutlicht er darin die psychische Dynamik bei den Opfern. Auch, wie unterschiedlich deren Reaktionen auf die gleichen unglaublich schrecklichen, qualvollen Umstände und die kaum fassbaren grausamen Verhaltensweisen der Nazi-Schergen waren. Sicher kann davon ausgegangen werden, dass hinsichtlich der äußeren Bedingungen die Begleiterscheinungen der jetzigen Finanzkrise im Vergleich dazu wesentlich weniger schlimm sein dürften. Dennoch kam für Viktor Frankl und viele seiner Leidensgenossen niemals in Frage, Suizid zu begehen. Waren sie etwa nicht in einer „Krise“ oder gar in einer „Dauerkrise“ über die vielen Jahre ihres Leids?

Ähnlich äußerte sich auch Karlfried Graf Dürckheim, der Begründer der „Initiatischen Therapie“ und berühmter Zen-Meister. Er war nach dem 2. Weltkrieg fast zwei Jahre in Japan im Gefängnis, weil er als Nazi-Kollaborateur verdächtigt wurde (was er offenbar aber nicht war). Auf die mitfühlende Bemerkung eines Reporters, dass dies doch sicher eine sehr schlimme Zeit für ihn gewesen sein müsse, sagte er einmal in einem Fernseh-Interview, dies sei im Gegenteil eine enorme Chance für ihn gewesen. Er gehe auch davon aus, dass er viele seiner Bücher nicht geschrieben hätte, wenn er damals nicht diese „wunderbar ungestörte Zeit zum intensiven Meditieren“ gehabt hätte.

Zahllose weitere Beispiele, wie die hier aufgeführten, kann man in der Salutogenese-Forschung und in der Forschung zu Resilienz (kraftvolle Widerstandsfähigkeit auch in sehr belastenden Lebenssituationen) (Antonovsky 1993) finden. Auch sie weisen klar darauf hin, dass es eben nicht die Ereignisse selbst sein können, welche das leidvolle Krisen-Erleben „verursachen“.

Krisen sind immer auch relativ

Sollte, wie geschätzt wird, das deutsche Bruttoinlandsprodukt durch die Finanzkrise 2008/2009 um 2 bis 5 Prozent schrumpfen, würde es wieder ungefähr auf der Höhe von 2005/2006 liegen. Damals hat jedoch niemand von einer Krise gesprochen. 2008 lagen die deutschen Warenexporte um 32 Prozentpunkte höher als 2006. Im Vergleich zu 2005 waren es sogar über 50 Prozent. Natürlich sollen solche Zahlenvergleiche nicht die leidvolle Wucht der Folgen der Finanzkrise für viele betroffenen Menschen bagatellisieren. Wenn jemand z.B. seinen Arbeitsplatz und womöglich noch viel mehr dadurch verloren hat, trösten keinerlei solche Zahlenspiele. Und Statistiken dieser Art nivellieren ja oft die ganz unterschiedlichen Folgen für verschiedene Betroffene. Wenn das Bruttoinlandsprodukt beispielsweise um 5 Prozent sinkt, gibt es Branchen, die 20 Prozent Wachstum haben, und andere, die um 24 Prozent einbrechen. Die Folgen für die Letztgenannten sind natürlich gravierend (Simon 2009). Die Zahlen weisen aber deutlich darauf hin, dass Phänomene wie das, was wir jetzt die „Finanzkrise“ nennen, nichts Absolutes widerspiegeln, sondern immer abhängig von den jeweiligen Bezugspunkten ihre spezifische Bedeutung und Wirkung erhalten.

2. Begriffsbestimmung: „Krise“ – ein ominöses Phänomen

Die genannten Beispiele zeigen, dass der Begriff „Krise“ ziemlich vielschichtig ist. Er wird derartig inflationär und undifferenziert verwendet („Ich glaube, ich kriege die Krise …“), dass er Gefahr läuft, seine aussagekräftige ursprüngliche Bedeutung zu verlieren.

Gerade, wenn Menschen Beratungsprozesse nutzen wollen und dabei Themen und Anliegen einbringen, die mit Krisen-Erleben einhergehen, dreht es sich in aller Regel aber um sehr ernst zu nehmende und oft auch als sehr gefahrvoll erlebte Prozesse. Schon um die Not der Beteiligten und die Intensität ihres Problemerlebens adäquat zu würdigen und professionell optimal begleiten zu können, benötigen wir einen wissenschaftlich präzise definierten Begriff von „Krise“, der dann auch für die Entwicklung konstruktiver Lösungsmöglichkeiten in dieser Dynamik nutzbar gemacht werden kann.

Der Kern der „Krise“: Eine Entscheidung wird nötig

„Krise“ (aus dem Griechischen von krísis) bedeutete ursprünglich „die Meinung“, „Beurteilung“, „Entscheidung“, „entscheidende Wendung“. Im Laufe der Zeit mündete die Bedeutung ein in „die Zuspitzung“. Damit wird eine problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation bezeichnet. Der Begriff wird sowohl in der Alltagssprache als auch in den unterschiedlichsten Wissenschaftsfeldern genutzt.

Typen von Krisen

Wenn Menschen Krisen erleben, ereignet sich dies immer unter spezifischen Kontextbedingungen. Sie können in vielen Situationen und Phasen des menschlichen Lebens auftreten.

Als typische Möglichkeiten werden meist beschrieben:

Entwicklungskrisen (z.B. in der Pubertät/Adoleszenz, Ablösung vom Elternhaus, Geburt eines Kindes u.Ä.);

Anforderungs-Krisen (z.B. neuer Job, der ungewohnte und als zu hoch erlebte Leistungserwartungen mit sich bringt, oder widersprüchliche Erwartungen von nahen Personen, die viel Präsenz und Nähe einerseits und gleichzeitig viel erfolgreiche Außenaktivität mit beruflichem Erfolg fordern);

Verlust-Krisen (z.B. jemand verliert durch Tod oder Trennung einen geliebten Menschen; bei Menschen, die ihre Arbeit verlieren);

Sinn-Krisen (bisher wichtige Lebens-Sinn gebende Variablen sind weggefallen, z.B. Beziehung, Job oder politische, gesellschaftliche Situationsbedingungen);

Interaktionelle Krisen (z.B. massive Streitigkeiten in nahen Beziehungen, Mobbing-Erfahrungen);

Organisations-Krisen (das Unternehmen, in dem jemand arbeitet, durchläuft eine gravierende Umstrukturierung, die einen Menschen intensiv betrifft oder die Firma erleidet massive Umsatz- und Gewinn-Einbrüche, die ihr Bestehen bedrohen);

Gesellschaftliche Krisen (z.B. die „Wiedervereinigung“ Deutschlands, Putsch in einem politischen System, die Finanzkrise mit gigantischer Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit etc.).

Wie Krisen erlebt werden

Regelmäßig kann man als typische Phänomene eines „Krisen-Erlebens“ beobachten:

„Eine von Betroffenen als schwierig erlebte Situation und Zeit, die für sie den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt“ (Duden). Dass es sich hierbei um einen Wendepunkt handelt, kann jedoch oft erst konstatiert werden, nachdem die Krise abgewendet oder beendet wurde (Gredler 1992). Nimmt die Entwicklung einen dauerhaft negativen Verlauf, so spricht man von einer Katastrophe (wörtlich in etwa „Niedergang“).

Dabei werden gewohnte Muster der eigenen Lebenssituation (Sicherheit bzw. Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten gewährleistende Bedingungen wie z.B. Status, Rollen- und Aufgaben-Kompetenz, Entscheidungs-Kompetenz, Zugangsmöglichkeiten zu Informationen und relevanten Netzwerken, Erleben von Zugehörigkeit etc.) als nicht mehr verfügbar erlebt. Vertraute Prozesse von Planung, Verhalten, Denken und Fühlen werden abrupt als getrennt, unterbrochen, verändert oder gar als vernichtet empfunden. Oft wird dieser Prozess als gewaltsam oder willkürlich von außen kommend erlebt.

Entsprechende zentrale und oft als lebenswichtig angesehene Werte, Normen, Ziele und Planungsvorstellungen werden dabei als so wichtiger Teil der ganzen Identität empfunden, dass sie als gleichsam unverzichtbar für ein stimmiges, sinnvolles und sicheres Leben erscheinen.

So verstärkt sich zunehmend, oft sehr massiv, ein Erleben großer Unsicherheit, Dringlichkeit und von Zeitdruck. Handlungsentscheidungen werden als dringend notwendig erlebt, verbunden mit dem Gefühl, dass das Ergebnis der unbedingt schnell nötigen Entscheidungen von prägendem Einfluss auf die Zukunft sei.

Gleichzeitig haben Betroffene dabei den Eindruck, dass sie zwar sofort „und ganz richtig“ entscheiden müssten, aber dabei gar nicht über die (im wahrsten Sinne des Wortes) not-wendigen Informationen und Handlungsmöglichkeiten verfügen, um für die eigenen Belange in stimmiger, Sicherheit gebender Weise etwas tun zu können (Gredler 1992).

Bewährte Lösungsstrategien wirken nicht mehr

Die bewährten Lösungsstrategien, die den Betroffenen das Erleben von Kontrollkompetenz, Sinn, Kraft, Sicherheit und auch von Würde verliehen haben, werden als nicht mehr wirksam erlebt. Gerade und genau in Situationen, in denen jemand glaubt, sie am meisten zu benötigen. So empfinden sich Menschen schnell als sehr inkompetent, schwach und als hilfloses, ausgeliefertes Opfer. Das bewirkt wiederum, dass die Situation als zunehmend bedrohlicher und gefährlicher erlebt wird. Noch mehr Handlungsdruck wird aufgebaut, wieder gefolgt von weiter anwachsendem Ohnmachterleben.

Die damit verbundenen typischen Lösungsversuche (Strategien) reichen fast immer in kreisförmiger Abfolge von (zunächst) Kampf (extremer Hektik) zu Flucht/Vermeidung/Verleugnung, zu Paralyse/Totstell-Reflexen (man will es einfach nicht wahrhaben) mit Katalepsie (intensiver Bewegungsarmut) und manchmal bis hin zu Katatonie (völlige Starre), wiederum gefolgt von Unterwerfungsversuchen (Menschen oder der Situation gegenüber). Die Organisation der Wahrnehmung ist dabei abwechselnd gekennzeichnet von „Röhrenblick“ (Tunnelvision), totaler Überflutung mit den gerade „feuernden“ Affekten (z.B. der Angst, der Wut, der Verzweiflung) und Dissoziation (die beschriebenen Prozesse werden völlig weggedrängt, abgespalten – zumindest affektiv).

Destruktive Eskalationsprozesse

So kommt es oft mehr und mehr zu destruktiven Eskalationsprozessen mit Konfusion, Angst, Wut und Verzweiflung. Da die erlebte Ohnmacht extrem schwer auszuhalten ist, sucht man schließlich oft im aggressiven Vorgehen gegen sich selbst wenigstens wieder Handlungsmacht zu finden. Dies wieder führt zu massivem Zweifeln am eigenen Wert (Selbstwertverlust) mit meist abwertenden Attacken gegen sich selbst. Was wiederum oft starke Schuldgefühle induziert, einhergehend mit einem Vertrauensverlust nach innen und außen. In solcher Eskalationsdynamik kann es (nicht selten) auch zu suizidalen Ideen oder auch suizidalen Handlungen kommen. Diese Gefahr darf nie unterschätzt werden und sollte auch jeweils direkt angesprochen und geprüft werden (in diesem Beitrag kann darauf nicht näher eingegangen werden, siehe dazu z.B. Schmidt 2001 b).

Je länger und intensiver solche Prozesse ablaufen, desto mehr dominiert unwillkürliches Reagieren: Man reagiert immer impulsartiger, automatisierter. Dies wieder behindert zunehmend die kognitive Steuerungsfähigkeit und ruhigere Strategie-Überlegungen und Planungsmöglichkeiten. Weitere Erlebnisphänomene, die dabei auf meist vorbewusster und unbewusster Ebene auftreten, werden im Rahmen der nachfolgenden Konzeptdarstellung sowie in den entsprechenden Interventionsbeiträgen in diesem Band beschrieben.

3. Das Konzept der hypnosystemischen Kompetenz-Fokussierung

3.1 Grundprämissen

Für eine effektive Beratungsarbeit im Falle von Kriseninterventionen brauchen wir Konzepte, die schnell und nachhaltig wirksam wieder eigene Gestaltungsmöglichkeiten der Betroffenen aktivieren. Das hypnosystemische Konzept für Beratung erreicht dies durch differenzierte Möglichkeiten, die sowohl individuelle internale (bewusste und unbewusste) als auch interaktionelle Dynamiken eines Krisengeschehens systematisch beschreiben und daraus passgenaue Interventionsstrategien ableiten.

Das hypnosystemische Konzept für Beratung

Das hypnosystemische Konzept für Beratung repräsentiert die Integration systemischer Ansätze für Beratung (Coaching, Teamentwicklung, Organisationsentwicklung) und Psychotherapie mit den kompetenzaktivierenden Konzepten, die aus der Erickson’schen Hypno- und Psychotherapie abgeleitet wurden. Bereichert mit hilfreichen, kompatiblen Aspekten anderer Ansätze, z.B. aus Psychodrama, Körpertherapien u.a. (Schmidt 2004, Schmidt 2005 a, 2005 b). Es ermöglicht, schnell und nachhaltig wirksam die vielfältigen „schlummernden“ Kompetenzen von Menschen wieder zu aktivieren, sie situationsadäquat einsetzbar zu machen und dabei gleichzeitig maßgeschneidert auf die einzigartigen Kulturen der jeweiligen Klientensysteme einzugehen. Die Prämissen dieses Konzepts basieren auf der Systemtheorie, der Kommunikationstheorie, der modernen, autonomieorientierten Erickson ´schen Hypnotherapie, den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung und der Neurobiologie sowie auf den Aspekten der Wahrnehmungspsychologie und der Gedächtnisforschung. Einige zentrale Aspekte sind dabei die folgenden:

Zentrale Aspekte des Konzepts

Lebende Systeme werden dabei verstanden als sich selbst organisierende, autopoietische Systeme (sich autonom selbst erzeugende Systeme, die ihre Wahrnehmung auf der Basis ihrer inneren Strukturdeterminiertheit organisieren). Umweltbedingungen können diese Wahrnehmung zwar „verstören“, aber nicht bestimmen (Maturana 1982, Maturana/Varela 1987, Roth 1994, Spitzer 2000, v. Foerster, Watzlawick in diversen ihrer Publikationen).

Jedes Erleben (individuell und interaktionell) gilt als Ausdruck von regelhaften Mustern, die durch Fokussierung von Aufmerksamkeit (willentlich, vor allem aber unwillkürlich) aufgebaut werden. Als Aufmerksamkeitsfokussierung kann die selbst organisierte Form des assoziativen Zusammenfügens von solchen sinnlichen Erlebniselementen bezeichnet werden. Verbunden werden im Inneren synchrone Prozesse wie z.B. Elemente des Denkens, visuelle Elemente (innere/ äußere Bilder, Filme), auditive Elemente, innere und äußere Dialoge, kinästhetische (Empfindungen), gustatorische (Geschmacks-) und olfaktorische (Geruchs-)Eindrücke, Alters- und Größenerleben, Atemmuster; Körperkoordinationen mit Verhalten, Bewertungen und Bedeutungsgebung sowie des Fühlens, weitere körperliche Prozesse wie z.B. Atmung, Muskelaktivität, Hormonausschüttungen usw., Prozesse der verbalen und nonverbalen Kommunikation und der sie beeinflussenden Kontextfaktoren, z.B. Ort, Zeit, Raum, Beteiligte, Klima.

Verknüpfte Erlebniselemente generieren Muster

Diese assoziativen – und meist häufig wiederholten – innerlich selbst (zum größten Teil auf unwillkürlicher und unbewusster Ebene) gemachten Verknüpfungen von Erlebniselementen werden als „Muster“ bezeichnet. Erleben ist Ergebnis solcher selbst (auf willkürlicher und unwillkürlicher Ebene) zusammengefügter Muster. Hirnphysiologisch können solche Muster als aktives Feuern von neuronalen Netzwerken beschrieben werden, die sich als Verbindungen vieler Synapsen beschreiben lassen (für ausführlichere Beschreibungen siehe Schmidt 2004, S. 88 ff. und 179 ff.). Es gilt als gesichertes Wissen, dass sich bei jedem emotional intensiv erlebten Prozess immer die Zellen, die dabei feuern, zu solchen neuronalen Netzwerken verbinden („Gesetz der Hebb ´schen Plastizität“: „cells that fire together wire together“). Wenn sie verbunden sind, genügt schon das „Feuern“ einzelner Elemente des Netzwerks, um das ganze Netzwerk zu aktivieren. Beispielsweise wird im bekannten Pawlow ´schen Konditionierungsexperiment einem Hund zunächst Fressen vorgesetzt, welches dann bei ihm Speichelfluss auslöst. Dann wird während dieses Geschehens wiederholt noch eine Glocke geläutet, die mit der Dynamik des Hundes beim Fressen ja eigentlich gar nichts zu tun hat. Nach kurzer Zeit genügt es, die Glocke zu schlagen: Schon zeigt der Hund Speichelfluss, auch wenn er gar kein Fressen vorgesetzt bekam.

Muster werden über unsere Sinneskanäle gestaltet

Diese Muster werden über unsere Sinneskanäle gestaltet: visuell, auditiv, kinästhetisch, olfaktorisch, gustatorisch. Durch die jeweils stattfindenden Vernetzungsprozesse wird von Moment zu Moment die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf bewusster und unbewusster Ebene fokussiert und damit Wahrnehmung und Erleben hergestellt. Man könnte etwas zugespitzt sagen, unser Erleben wird quasi von uns selbst und in Interaktionen mit anderen dann auch wechselseitig durch solche Prozesse der Aufmerksamkeitsfokussierung fabriziert. Der größte Teil hiervon läuft auf unwillkürlicher und zunächst unbewusster Ebene ab. Unwillkürliches Erleben ist immer schneller und wirksamer als willkürliches. Zur Veränderung dieses Erlebens muss systematisch darauf geachtet werden, wie unwillkürliches Erleben aufgebaut wird, um dann gezielt gewünschte unwillkürliche Prozesse zu aktivieren.

Die so aktivierten Assoziationsnetzwerke sind nicht dauerhaft stabil. Sie werden durch Umfokussierungsreize (z.B. plötzlich auftauchende Gedanken von innen oder Reize aus der Außenwelt) ständig beeinflusst und geändert.

Veränderung des Erlebens entsteht immer dadurch, dass Unterschiede in diese Muster eingeführt werden, z.B. durch gezielte Interventionen, wie sie in diesem Band beschrieben werden. Damit wirksame Veränderungen angeregt werden, muss dann auch nicht ein ganzes Muster verändert werden, sondern es genügt meist, Unterschiede in einem oder mehreren Elementen oder Verknüpfungsstellen in ihm einzuführen. Da ja ein Muster sich als Ausdruck eines Wechselwirkungsnetzwerks darstellt, werden somit nicht nur die direkt veränderten Elemente des Musters erfasst, sondern in Wechselwirkung das ganze Muster.

Jedes System organisiert sich nach Regeln, welches die oben genannten Aufgaben und damit sein Überleben gewährleisten sollen. Ein Individuum wird als eingebettet in solche Interaktionsmuster gesehen. Der Sinn eines bestimmten Verhaltens und Erlebens lässt sich erst in diesem Kontext erfassen. Dies gilt auch für Symptome. Auch sie müssen in ihrem Beziehungskontext gesehen werden. Die Aktionen der Systembeteiligten wirken als Rückkopplungsschleifen wechselseitig aufeinander ein (interaktionelle Muster).

Ebenen der Musterbildung

Als relevanteste Ebenen der Musterbildung, auf denen sich individuelle Subjekte in interaktionellen Kontexten aufeinander beziehen, beeinflussen und ihr Erleben gestalten, können unterschieden werden (siehe auch z.B. Kriz 1992):

Die Ebene der inneren selbstrückbezüglichen Kommunikation/Beziehung mit sich selbst.

Die Ebene der „Außenwahrnehmungen“ der Subjekte: Wie werden andere und Kontextfaktoren interpretiert, bewertet, in welcher Relation zu sich selbst etc.?

Die Ebene des interaktionellen Austauschs (z.B. mit Regeln wie oben genannt).

Die Interventionen im Rahmen einer Beratung (insbesondere, wenn es um Krisen geht) sollten jeweils spezifisch auf eine oder mehrere dieser Ebenen abzielen (detaillierte Beschreibungen wirksamer Krisen-Interventionen, die aus diesen Überlegungen abgeleitet sind, finden sich in den verschiedensten, folgenden Methodenbeiträgen).

3.2 Wahrnehmung als individuell und autonom gestalteter Erlebnisprozess

Erleben wird konstruiert

Hypnosystemische Konzepte gehen davon aus, dass jedes Erleben, jede Wahrnehmung konstruiert wird, zum größten Teil auf unbewusster und unwillkürlicher Ebene. Sie gründen dabei ganz wesentlich auch auf den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung, welche die empirisch in der hypnosystemischen Beratung längst gemachten Erfahrungen durchgehend bestätigen.

Wie unsere Beispiele von erlebten Krisen (s.o.) zeigen, können es offensichtlich nicht allein die jeweiligen Situationsbedingungen selbst sein, die etwas für Menschen zu einer Krise machen. Ebenso wenig wie vermeintlich unbeeinflussbare innere unwillkürliche Prozesse. Denn je nachdem, wie Situationsbedingungen verarbeitet werden, kann ganz unterschiedlich auf sie geantwortet werden. Auch so, dass daraus sehr konstruktive Entwicklungsprozesse abgeleitet werden können. Jede Beratung muss deshalb unbedingt beachten und gewährleisten, dass die Betroffenen schnell und nachhaltig wieder eigene kompetente Handlungs- und Steuerungsfähigkeit erleben können.

Wir brauchen also systematische Konzepte, die verstehbar machen,

wie Menschen ihre Wahrnehmung und ihr Erleben internal und interaktionell aufbauen, sodass es zu einem Krisenerleben werden kann und

wie sie die benötigten Lösungskompetenzen (willentliche und vor allem unwillkürliche) wieder aktivieren können.

Kein Außenereignis kann bei einem Menschen bestimmen, was in seinem Erleben geschieht

Die Erkenntnisse der Autopoieseforschung (z.B. Maturana 1982; Maturana/Varela 1987) und generell der modernen Hirnforschung belegen, dass kein Außenereignis an sich letztlich bei einem Menschen bestimmen kann, was in seinem Erleben geschieht. „Das Ego ist … lediglich der Inhalt unseres phänomenalen Selbst-Modells (der innerlich autonom selbst organisierten Konstruktion eines Selbst) zu einem bestimmten Zeitpunkt, in genau diesem Augenblick (unsere eigenen körperlichen Empfindungen, unser emotionaler Zustand, unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen, Willensakte, Gedanken). Aber es kann nur deshalb überhaupt zum Ego werden, weil wir konstitutionell unfähig sind, erlebnismäßig zu erkennen, dass all dies lediglich der Inhalt einer Simulation in unserem Gehirn ist. Es ist nicht die Wirklichkeit an sich, sondern ein Bild der Wirklichkeit“ (Metzinger 2009, S. 23). Und weiter: „Alle empirischen Daten deuten mittlerweile darauf hin, dass der phänomenale Gehalt lokal determiniert wird, nicht einmal ansatzweise durch die Umwelt, sondern allein durch innere Eigenschaften des Gehirns. Außerdem sind die relevanten Eigenschaften immer dieselben, ganz gleich, ob Sie eine rote Rose betrachten, sich vorstellen oder davon träumen“ (ebenda, S. 26). „Das bewusste Gehirn ist eine biologische Maschine – ein Wirklichkeitsgenerator, der vorgibt, uns zu sagen, was existiert und was nicht existiert“ (ebenda, S. 38).

Solche Erkenntnisse haben mich veranlasst, vorzuschlagen, dass man eigentlich besser von „Wahr-Gebung“ (also selbst gegebene Konstruktion) anstatt wie üblich von „Wahrnehmung“ spricht (Schmidt 2001, 2004). „Wahrnehmung“ könnte eher suggerieren, dass wir die „Realität“ wie fotografisch abbilden. Kein kommunikatives Fremdangebot, so raffiniert es auch angelegt sein mag, kann jemand völlig dazu bringen oder zwingen, ein Angebot von außen gegen den eigenen Willen umzusetzen. Das hat z.B. für Beratungsprozesse und die Möglichkeiten von Beratern (aber auch für Verkaufs- und Werbeprozesse) eminente Bedeutung.