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Ein abgefackelter Daimler Double Six. Eine verkohlte Leiche im Kofferraum. Bestechung und Korruption auf höchster Ebene. Zwei hohe Beamte aus dem Landesbauministerium. Spurlos verschwunden. Welche Rolle spielen Donald Trump, Wladimir Putin, und Papst Franziskus? Annabelle und Rick Epple, der ehemalige Kommissar Klemens Maier und Andrea Wissler sowie Ernst Staudinger sehen sich mit skandalösen Vorgängen in der Landespolitik konfrontiert. Wird es ihnen gelingen, weitere Straftaten zu verhindern?
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2024
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F. K. Neyer
Gut geschmiert
Regionalroman
Das Buch
Ein abgefackelter Daimler Double Six.
Eine verkohlte Leiche im Kofferraum.
Bestechung und Korruption auf höchster Ebene.
Zwei hohe Beamte aus dem Landesbauministerium.
Spurlos verschwunden.
Welche Rolle spielen Donald Trump, Wladimir Putin,
und Papst Franziskus?
Annabelle und Rick Epple, der ehemalige
Kommissar Klemens Maier und Andrea Wissler
sowie Ernst Staudinger sehen sich mit
skandalösen Vorgängen in der Landespolitik
konfrontiert.
Der Autor
F. K. Neyer wurde im Jahr 1960 in einem kleinen Dorf im Schwabenland geboren. Er ist seit über 40 Jahren verheiratet und hat zwei Töchter. Nach der mittleren Reife 1977 war er zuerst in unterschiedlichen Bereichen tätig, bevor eine Ausbildung zum Programmierer es ihm ermöglichte in den frühen 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts in die aufstrebende IT einzusteigen. Nach Jahrzehnten in dieser Branche erfüllte er sich im vorgezogenen Ruhestand im Jahr 2022 einen langgehegten Wunsch und begann zu schreiben. Der vorliegende Roman ist bereits der Fünfte des umtriebigen Autors. Weitere werden folgen.
Impressum:
Texte: © Copyright by F. K. Neyer
Umschlaggestaltung: © Copyright by F. K. Neyer
Fotos: Pixabay
Dieses Werk ist ein Roman. Fiktion und Realität stellen eine untrennbare Einheit dar. Fakten sind im Rahmen der künstlerischen Gestaltungsfreiheit verändert worden. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Veröffentlichung darf in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen werden, außer nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Autors. Namen, Charaktere und Ereignisse sind entweder frei erfunden oder werden als fiktives Element verwendet. Die Orte sind teilweise namentlich genannt und sind real. Darüber hinaus ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen unbeabsichtigt und rein zufällig.
Verlag:
Friedhelm Neyer, Hauffstraße 21/1
73084 Salach
Vertrieb:
epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
E i n s
09. Januar 2023
Landesbauministerium Stuttgart
Vergangenheit
»Chef«, seine Assistentin, Claudia Bessemer, unterbrach den inoffiziellen Termin. Von Montag bis Freitag enthielt sein Outlook-Kalender in der Zeit von 11:30 Uhr bis 12.00 Uhr den Eintrag »Keep calm«, den er nach Möglichkeit immer wahrnahm, »hier ist ein Anrufer, der sich mit nichts abwimmeln lässt. Er sagt, es sei von eminenter Wichtigkeit, dass sie das Telefonat entgegennehmen. Darf ich ihn durchstellen?«
Regierungsdirektor Walter Knobloch, ein großer, durchtrainierter Mann in den Fünfzigern, dessen Statur man in einer Spezialeinheit vermutet hätte, seufzte genervt. Es hörte sich eher an wie das Schnauben eines Walrosses. Er wusste, dass sie ihn um diese Zeit nicht stören würde, wenn es keinen guten Grund dafür gäbe. Sie wusste, dass ihm diese halbe Stunde beinahe heilig war und er nur äußerst ungern darauf verzichtete. Es sei denn, es handelte sich um eine Angelegenheit, die ihr unschlagbares Gespür für Details als wichtig einstufte. Das schien hier der Fall zu sein. Automatisch prüfte er den Sitz der Krawatte und ebenso seine Frisur, obwohl ihn der Anrufer natürlich nicht sehen konnte. Soweit war die Digitalisierung im öffentlichen Dienst noch lange nicht. »Wer ist es denn, Bess?« wollte er wissen. Mir ihrem stillschweigenden Einverständnis nannte er sie vom ersten Tag nur Bess. Unter vier Augen natürlich nur. »Keine Ahnung«, antworte sie locker, »er hat keinen Namen genannt und zudem seine Nummer unterdrückt. Hat nur betont, dass es sehr wichtig für sie sei und nicht den geringsten Aufschub dulde. Sie sollten das Gespräch annehmen, denke ich.«
»In Gottes Namen«, antwortete er, »dann geben sie ihn schon ‘rein. Vielen Dank.« Sein meist freundliches Wesen sorgte dafür, dass Claudia Bessemer ihn seit ungezählten Jahren als Assistentin begleitete und noch nie daran gedacht hatte, eine andere Stelle anzunehmen. Auch dann nicht, wenn sie sich finanziell deutlich verbessert hätte. Sie war absolut loyal. Als Gegenleistung für ihre Treue ließ er ihr weitgehende Freiheiten. Arbeitszeit auf Vertrauensbasis. Hin und wieder ein zusätzlicher, freier Tag, den er immer irgendwie unterbringen konnte. Hier und da ein Blumenstrauß.
»Walter Knobloch«, meldete er sich selbstbewusst, gespannt, was denn so eminent wichtig sein sollte.
»Ist ihnen Oberregierungsrat Bauer bekannt?« der Anrufer nannte keinen Namen und kam sofort zur Sache. Knobloch musste sofort an eine bestimmte Person denken, als er die verzerrt wirkende Stimme mit leichtem schwäbischen Einschlag hörte. Er war sicher, den Anrufer zu kennen, konnte dessen elektronisch verfremdete Stimme aber niemandem zuordnen. Er nahm sich vor, Bess zu fragen, ob es ihr nicht ebenso ging.
»Wer sind sie?« blaffte er in den Hörer. »Weshalb wollen sie wissen, ob ich Bauer kenne? Ich warne sie. Sagen sie mir sofort, wer sie sind. Ansonsten ist dieses Gespräch beendet. Ich kann geeignete Maßnahmen ergreifen um sie zu identifizieren!«
Der Anrufer lachte. Gehässig, wie es Knobloch schien. »Es steht ihnen natürlich frei, dieses Telefonat zu beenden. Ich kann nicht verhindern, dass sie einfach auflegen. Es steht ihnen ebenso frei, mich zu identifizieren. Ich an ihrer Stelle würde das allerdings unterlassen. Ganz abgesehen davon, dass ihnen das nicht gelingen würde. Ich habe meinerseits geeignete Maßnahmen ergriffen, um eine Identifizierung zu verhindern. Es wäre zudem äußerst unklug und könnte unangenehme Konsequenzen haben. Für sie, Herr Knobloch. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie das ernsthaft in Erwägung ziehen. Bevor sie etwas tun, was sie später bitter bereuen, sollten sie abwägen, ob sich das lohnt.«
»Wollen sie mir drohen?« brauste der Regierungsdirektor auf. »Wer immer sie sind, sie scheinen nicht zu wissen, wer ich bin. Haben sie die geringste Ahnung, welche Schwierigkeiten ich ihnen machen kann und werde, wenn es erforderlich ist.«
Wieder lachte der Anrufer und fragte mit ironischem, aber weiterhin freundlichen Unterton, für wen er sich halte und ob er seinerseits wisse, mit wem er in diesem Moment rede. »Mein lieber Herr Dr. Knobloch, sie sitzen an dieser Stelle und führen ihren hochtrabenden Titel nur aus einem Grund. Weil sie das richtige Parteibuch haben und vor den richtigen Leuten einen Bückling gemacht haben und das immer noch tun. Um es etwas unhöflicher auszudrücken, sie sind ein schleimiger Arschkriecher. Solche Menschen sind mir zutiefst zuwider. Es ist mir trotzdem vollkommen gleichgültig, wem sie in den Allerwertesten kriechen. Das müssen sie mit sich selbst vereinbaren. Wenn sie das können, ist doch alles in Ordnung. Hören sie mir jetzt genau zu ...«
»Ich lege jetzt auf«, donnerte Knobloch erneut, »das muss ich mir nicht anhören! Was bilden sie sich ein?«
»... und unterbrechen sie mich nicht noch einmal«, er redete weiter, ohne Knoblochs Einwand zur Kenntnis zu nehmen, »sie wissen ebenso gut wie ich, dass sie nicht auflegen werden. Sie sind viel zu neugierig auf das, was ich ihnen zu sagen habe. Immerhin ist Neugier eine positive Charaktereigenschaft. Wenn es ihre Einzige ist, nun ja, schade ... egal, kommen sie in einer Stunde zur Freitreppe vor dem Landtag und gehen bis zu dem Fragment der Berliner Mauer. Dort werden sie erfahren, was sie wissen wollen. Nicht meine Identität, das sollte ihnen klar sein.«
Knoblochs Hand mit dem Telefonhörer schwebte dicht über der Gabel des altertümlichen Telefons. Er war kurz davor, das Gespräch zu beenden. Doch irgendetwas an der Stimme des unbekannten Anrufers hielt ihn davon ab. Die Frage, ob er Bauer kenne, hatte den Ausschlag gegeben. Es konnte sich nur um etwas Dienstliches handeln. Das konnte und durfte er nicht ignorieren. Nicht nach dem, was Bauer ihm vorhin an den Kopf geworfen hatte.
»Ich werde da sein«, sagte er kurz entschlossen, »wie erkenne ich sie?«
»Müssen sie nicht«, erwiderte der Unbekannte, »ich erkenne sie. Kommen sie einfach her. Und bitte, kommen sie allein. Das muss ich wohl nicht extra betonen.«
Ein Klicken in der Leitung. Der mysteriöse Anrufer hatte aufgelegt. Ein ganz und gar seltsames, fast bedrohliches Gefühl beschlich Knobloch. Er konnte niemand von seinem Außentermin informieren. Auch Bess nicht. Aus alter Gewohnheit ordnete er die Unterlagen auf seinem Schreibtisch in rechten Winkeln an. Griff nach seinem maßgeschneiderten Lodenmantel im Schrank und ging in sein Vorzimmer.
»Bess«, sagte er bemüht lächelnd, »ich bin kurz außer Haus. Es scheint sehr wichtig zu sein. Bin spätestens in einer Stunde wieder zurück.«
»Der Anrufer?« fragte seine Assistentin. Nicht neugierig, eher besorgt. Knobloch machte eine ablehnende Handbewegung. Claudia Bessemer wusste, dass ihr Chef nichts weiter dazu sagen würde. Das kam nur sehr selten vor. Er vertraute ihr hundertprozentig, dennoch gab es Dinge, die er ihr nicht anvertrauen konnte.
45 Minuten später
Walter Knobloch hatte sich entschlossen, einen Seitenausgang des Ministeriums zu benutzen, das an der so genannten Wullestaffel lag. Er nahm den gleichnamigen Steg über die Bundesstraße 14 und schlenderte an der Staatsgalerie und dem Planetarium vorbei. Ließ ohne einen Seitenblick sein eigentliches Ziel rechts liegen und huschte unter die weitgehend kahlen Bäume des Akademiegartens. Er wollte sich zunächst einen Überblick verschaffen. Möglicherweise war der Unbekannte schon da und wartete. So konnte er vielleicht einen Blick auf ihn werfen, ohne dass dieser ihn bemerkte. Mit federnden Schritten ging er in Richtung der Freitreppe vor dem Landtagsgebäude. Trotz des nasskalten Wetters blieb er einen Moment stehen und holte tief Luft. Sah sich unauffällig um. Nichts! Keine Menschenseele außer ihm selbst. Er ging weiter zu dem einzelnen Block aus der ehemaligen Berliner Mauer mit den verschmierten Graffiti »You are leaving the American Sector« und »Vous sortez du secteur americain«. Beide in fehlerhaftem Englisch und ebenso falschem Französisch. Ein schattenrissartiger Blick auf die Stadt Berlin mit dem Fernsehturm war laienhaft aufgesprüht worden. Immer noch niemand zu sehen. Wollte der Kerl in versetzen? Knobloch stromerte einmal bis zu der runden Freitreppe und wieder zurück. Von der Ladestation für E-Autos am Landtagsparkhaus kam jemand auf ihn zu.
»Herr Knobloch nehme ich an«, eine andere Stimme als die am Telefon. Höher und wesentlich weniger selbstbewusst. Fast schon unterwürfig. Ein Laufbursche, ein subalterner Mitarbeiter, sofern man in dieser ... Branche von Mitarbeitern redete.
Knobloch kam erst gar nicht auf die Idee, den Unbekannten nach seinem Namen zu fragen. Das wäre sinnlos. Der Anrufer war mit Sicherheit ein anderer. »Sie sind es nicht, der mich angerufen hat«, stellte er fest. Gespannt wartete er, was der Unbekannte von ihm wollte. »Das ist richtig«, antwortete der kleine, unscheinbare Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, »betrachten sie mich als Boten. Wenn sie wollen, können Sie mich Kurt nennen.«
Kurt war mehr als einen Kopf kleiner als der Regierungsdirektor. Insofern musste er sich nicht vor einem körperlichen Angriff in acht nehmen. Langer heller und etwas heruntergekommener Trenchcoat. Ein schwarzer Hut mit breiter, tief heruntergezogener Krempe und dunkelgrauem Band. Vor Nässe triefend. Kurt schien nervös zu sein. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Er musste schon längere Zeit im Regen gestanden haben. Vielleicht hatte er auch nur nasse Füße. Sein Gesicht war von dem ausladenden Hut weitgehend verdeckt. Knobloch würde ihn nicht zweifelsfrei identifizieren können. Falls das jemals erforderlich werden sollte. Na ja, Kurts Nase war stark nach unten gebogen.
Vermutlich kann der Kerl mit der Zunge in der Nase bohren, fuhr es Knobloch durch den Kopf. Er konnte sich ein bösartiges Grinsen nicht verkneifen.
»Hier bin ich«, eröffnete Knobloch die Unterhaltung mit ironischem Unterton, »würden sie bitte gleich zur Sache kommen. Was ist so wichtig, dass sie mich bei diesem Wetter hierher zitieren. Sie können sich denken, dass ich verdammt schlechte Laune habe. Es ist kalt. Ich friere wie ein nasser Hund und will mich nicht erkälten.«
»Einhunderttausend«, erwiderte der kleine Mann leise. Ohne seine Miene im geringsten zu verziehen. Wieder diese unterwürfige Stimme. Dieser Mann war definitiv der Lakai anderer. Vom wem? Das war die Frage.
»Einhunderttausend was? Was soll das heißen, was meinen sie?« Knobloch war verwirrt. Was sollte das bedeuten? Er konnte sich keinen Reim auf das einzelne Wort machen. Dabei war es doch so einfach.
»Ich bitte sie, Herr Regierungsdirektor«, bellte Kurt schärfer als erwartet, »spielen sie hier nicht den Unbedarften. Für solche Spirenzchen habe ich keine Zeit. Was wohl?« Seine Unterwürfigkeit war spurlos verschwunden und einer festen Stimme gewichen. »Wir bieten ihnen einhunderttausend Euro in bar an, wenn sie Hans-Jochen Bauer in Schach halten. Sie sind ihm gegenüber weisungsbefugt. Also verlangen sie die Herausgabe aller Dokumente von ihm, die er zusammengetragen hat. Das ist alles. Er wird wissen, worum es geht. Und bitte«, die Stimme des Kleinen war schneidender geworden, »denken sie nicht, dass sie uns hinters Licht führen können. Wir würden es sofort bemerken. Dann ...«, er ließ den Satz unvollendet. Eine eindeutige Drohung. Das war zuviel. Er ließ sich nicht bedrohen. Niemals. »Dann was?« blaffte er, »wollen sie mich umbringen, wenn ich nicht tue, was sie verlangen? Sie machen mir keine Angst. Sie nicht. Sie Mickerling.«
Er wusste, dass Anspielungen auf die Körpergröße eines Kontrahenten und auf dessen Statur nicht professionell waren. Er konnte jedoch nicht anders. Nicht in diesem Moment. Er mochte ein opportunistischer Parteigänger sein. Ein manchmal unausstehlicher
Kotzbrocken. Vielleicht war er nicht einmal der, für den ihn seine Umgebung hielt. Das wusste er. Es hatte ihn bisher nie gestört. Nur eines war er mit Sicherheit nicht – korrupt und bestechlich.
»Ich bitte sie, Herr Knobloch«, erwiderte Kurt süffisant grinsend, »weshalb sollte ich ihnen Angst machen wollen? Das erübrigt sich doch von selbst. Die haben sie in diesem Moment bereits. Ihr aggressiver Tonfall und ihr wenig professionelles Abschweifen ins Persönliche sagen mir mehr als genug. Seien sie einfach in drei Stunden wieder hier. Sie erhalten einen Umschlag mit dem Geld, ich bekomme die Dokumente von ihnen. Zug um Zug. Ein ganz normales Geschäft, wie es jeden Tag irgendwo auf der Welt abgewickelt wird. Auf Wiedersehen, Herr Regierungsdirektor. Wir sehen uns.«
Er wandte sich mit einem militärisch anmutenden Ruck um und ging davon. Dabei unverkennbar die Zithermelodie aus Der dritte Mann vor sich hin pfeifend.
Z w e i
11. Januar 2023
Bundesstraße 10
Vergangenheit
Irgendetwas lief hier gewaltig schief! Wutentbrannt trommelte er mit beiden Fäusten auf das mit überflüssigen Extras überfrachtete Lenkrad ein. Das vielstimmige Piepsen der Elektronik verlangte ultimativ, damit aufzuhören. Falls er diese Sonderfunktionen weiterhin nutzen wollte. Mühsam beherrscht öffnete er seine kribbelnden, pochenden Fäuste. Er riss sich die zu eng gebundene Krawatte herunter und zerrte die beiden obersten Knöpfe des weißen, inzwischen zerknitterten Hemdes aus den Knopflöchern. Kaum zu übersehende, dunkle, fast gelbe Schweißflecken hatten sich weit über die Achselhöhlen hinaus ausgebreitet. Wie zum Henker hatte es so weit kommen können? Was hatte er in seinen Überlegungen nicht berücksichtigt? Wo war 㼀er zu nachlässig, zu unvorsichtig gewesen? Er zermarterte sich das Gehirn. Analysierte seinen Plan erneut. Er konnte nichts entdecken, was ihn in die aktuelle Situation gebracht haben könnte. Der Plan war nach wie vor perfekt. Dennoch befand er sich jetzt in dieser Lage. Das dröhnende Drucklufthorn eines Sattelzuges, dem er offenbar zu nah gekommen war, riss ihn aus seinen Gedanken. Mit einer ruckartigen Bewegung versuchte er gegenzusteuern. Zu heftig. Jetzt kam ihm die Leitplanke auf der linken Seite gefährlich nahe. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und verringerte seine Geschwindigkeit. Dann hob er beschwichtigend beide Arme in Richtung des LKW-Fahrers. Der grinste nur, ließ erneut sein Horn gellen und den mit einem mindestens zehn Meter langen, tonnenschweren Stahlträger beladenen Plateau-Auflieger kurz hin und her schwänzeln.
So kann das nicht weitergehen ermahnte er sich ich muss anhalten und zur Ruhe kommen, bevor mich der nächste Lkw zerquetscht.
Er lenkte seinen Wagen auf die Standspur. Schaltete den Warnblinker ein und hielt mit zitternden Händen an. Eine Zigarette sollte helfen. Mit tiefen Zügen verschlang er den Glimmstängel und schnippte die Kippe durch das halb offene Fenster auf der Beifahrerseite. Auch wenn es nur eine Illusion war, das Nikotin schien ihn merkbar beruhigt zu haben. Nun musste er die Situation neu bewerten. Überstürzt hatte er vor weniger als einer Stunde sein Büro verlassen. Ihm wurde klar, dass er gar keine andere Wahl hatte, als ein paar Tage unterzutauchen, bis die Lage sich etwas beruhigt hatte. Seine Assistentin, er mochte die Bezeichnung Sekretärin nicht sonderlich, würde seine Abwesenheit decken. In den vielen Jahren, die sie inzwischen mit ihm arbeitete, in denen sie ihn auf jedem Schritt auf der Karriereleiter begleitet hatte, war sie nie zuvor derart verwirrt gewesen. Martina, seine Frau, konnte er nicht ins Vertrauen ziehen. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Sie mit hineinzuziehen, wäre in höchstem Maß unverantwortlich. Möglicherweise hörte man bereits seine Telefone ab. Er würde sie informieren, sobald er sein Ziel erreicht hatte. Sie würde es verstehen. Die belastenden Unterlagen hatte er ihr bereits gegeben. Sie würde wissen, wo sie diese verstecken musste. Als Backup. Falls diese leidige Angelegenheit noch mehr aus dem Ruder laufen sollte als sie es ohnehin schon getan hatte.
Er setzte den linken Blinker und fädelte sich, jetzt wieder konzentriert, in den dichter gewordenen Verkehr ein. An seinem Ziel angekommen würde er eine Möglichkeit finden, Martina ohne Risiko mitzuteilen, wo er sich aufhielt. Was er plante und vor allem, worum es ihm Detail ging.
Minuten später überholte er den Truck, der ihm den Panikanfall beschert hatte. Er konnte es sich nicht verkneifen, seinerseits anhaltend zu hupen. Er verließ die Bundesstraße 10 kurz hinter Deizisau, wechselte auf die Bundesstraße 313 und bog fünf Kilometer weiter auf die A8 in Richtung München ab. Vier bis fünf Stunden rechnete er für die vor ihm liegende Strecke. Falls er nicht in einen Verkehrsstau geraten würde. Er blieb auf der mittleren Spur und ließ den Audi mit hundertdreißig rollen.
In Gedanken ging er in die Vergangenheit zurück. Bei der geplanten Unterredung heute Morgen hatte er seinem Vorgesetzten die kompletten Unterlagen vorlegen wollen. Kaum zu widerlegende Beweise, die seinen zwei Tage zuvor geäußerten Verdacht belegten. Namen kannte er noch nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er die Drahtzieher identifizieren konnte. Er wusste noch nicht, ob Regierungsdirektor Walter Knobloch ihn ernst genommen hatte. Trotz des vereinbarten Termins war Knobloch nicht in seinem Büro gewesen. Er war nicht einmal im Haus. Schon auf dem Flur war ihm Knoblochs Vorzimmerdame entgegengekommen. Völlig aufgelöst hatte sie ihn gefragt, ob er wisse, wo der Regierungsdirektor sei. Sie telefoniere bereits den ganzen Morgen alle ihr bekannten Nummern ab. Niemand habe Knobloch gesehen.
»Herr Bauer«, hatte sie völlig aufgelöst gerufen, »der Chef ist spurlos verschwunden. Sein Wagen steht nicht am üblichen Platz in der Tiefgarage. Er ist heute Morgen nicht aufgetaucht. Er hat sich nicht krankgemeldet. Der Termin mit ihnen ist der Einzige heute.«
Sie redete ohne Punkt und Komma. Sagte, dass Knobloch gestern angekündigt habe, diesen Sumpf trockenzulegen. Sie habe keine Ahnung, wovon er geredet habe. Köpfe würden rollen. Diese Herrschaften würden ihn kennenlernen. Danach habe er sein Büro verlassen. Viel früher als üblich und sei nicht wiedergekommen.
»Nicht mit mir«, schrillte sie, »das kann ich ihnen versprechen, so wahr ich Walter Knobloch heiße! Das waren seine Worte, bevor er gegangen ist. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Auch zuhause ist er nicht aufgetaucht. Ich habe heute Morgen als Erstes mit seiner Frau telefoniert. Sein Status als Geheimnisträger der Stufe Ü3 ließ mir keine andere Wahl als die Polizei zu informieren. Stellen sie sich vor, der diensthabende Beamte hat sich geweigert, eine Vermisstenanzeige aufzunehmen. Noch nicht. Nicht vor Ablauf von 24 Stunden. Walter Knobloch sei ein freier Bürger, der seinen Aufenthaltsort selbst bestimmen könne. Solange es keine Hinweise auf ein Verbrechen oder eine Selbstgefährdung gäbe, müsse sie diese Frist abwarten. Ihr Hinweis auf Knoblochs Status habe den Polizisten nicht interessiert. Vermutlich wisse er nicht einmal, was Ü3 bedeutet.«
Erneut war er von einer Welle aus purer Angst überflutet worden. Offenbar hatte er mit seinen Nachforschungen in ein Hornissennest gestochen. Er fragte sich, wer zum Teufel einen Regierungsdirektor verschwinden lassen konnte? Einfach so. Vielleicht sogar damit durchkommen würde. Bauer glaubte nach wie vor nicht an eine Beteiligung Knoblochs.
»Ich kümmere mich darum, Frau Bessemer«, versuchte er, sie zu beruhigen, »versprochen. Niemand verschwindet spurlos. Ein Regierungsdirektor schon gar nicht. Innerhalb des Hauses sollten wir allerdings Stillschweigen bewahren. Soweit es möglich ist jedenfalls. Die Pferde scheu zu machen ist nicht zielführend. Verlassen sie sich darauf, dem Polizeibeamten mache ich Beine, der wird sein blaues Wunder erleben. Wo kommen wir denn da hin?«
Er wusste, dass er sich zuversichtlicher anhörte, als er war. Knobloch musste entführt worden sein. Es konnte nur mit diesen Nachforschungen zusammenhängen. Offenbar sollte die Herausgabe des belastenden Materials erzwungen werden. Er fragte sich, weshalb man Knobloch entführt hatte und nicht ihn. Schließlich war er derjenige, der diese Unterlagen hatte.
Wenn die Leute, die dahinter stecken, überlegte er, wissen, dass dieses Material existiert, müssten sie dann nicht auch wissen, dass Knobloch nicht wissen kann, wo sich die Unterlagen befinden? Natürlich kann ich Frau Bessemer das auf keinen Fall sagen. Ich würde sie in höchste Gefahr bringen.㼀 Wer außer mir kann noch von diesen Papieren wissen? fragte er sich weiter und beantwortete diese Frage sofort selbst. Die Personen, die damit unter Verdacht kommen. Aber das sind auch Beamte. Die greifen nicht zu solchen Mitteln. Es sei denn ... natürlich ... fuhr es ihm durch den Kopf, es gibt noch mehr Leute, die daran beteiligt sind. Außerhalb des Ministeriums. Die sind nicht so zimperlich.
Damit stand sein Entschluss fest, der ihn letztlich in diese Lage gebracht hatte. Er befand sich auf der Flucht vor den Leuten, denen er mit seinen Nachforschungen den Krieg erklärt hatte. Die ihn ebenso kaltstellen würden wie Knobloch. Wieder verzerrte sich sein Gesicht vor mühsam unterdrückter Wut. Es konnte und durfte nicht angehen, dass sich manche Leute alles erlauben konnten, nur weil sie in einer scheinbar unanfechtbaren Position waren und glaubten, unantastbar zu sein. Weil sie von der Politik geschützt wurden. Das durfte nicht sein. Dafür würde er sorgen. Er wusste noch nicht, wie er das anstellen sollte. Er wusste nur, dass er es tun musste.
Zu seiner Erleichterung gab es einen Ort, an dem man ihn und mit ihm die Unterlagen, nicht suchen würde. Nur einen einzigen. Von dem niemand wissen konnte, außer seiner Frau. Dorthin war er unterwegs. So schwer es ihm auch fiel, er durfte Martina nicht informieren. Nicht jetzt jedenfalls. Der geeignete Zeitpunkt würde kommen. Martina würde verstehen, was ihn umgetrieben hatte. Sie war Juristin und mit allen Wassern gewaschen. Dass sie halb wahnsinnig vor Sorge war, musste er in Kauf nehmen. So leid es ihm tat. Auch das würde sie verstehen, wenn sie erst einmal die volle Tragweite der Geschichte erkannt hatte. In einigen Tagen vielleicht. Dass er erst Wochen später an seinem Ziel ankommen würde, konnte er nicht wissen. Wie auch?
D r e i
27. Januar 2023
Parkplatz TSV Adelberg-Oberberken
Vergangenheit
Der Wind seufzte leise, fast zaghaft. Kurz vor der Geisterstunde. Zunehmender Mond, der in knapp 㼀zwei Stunden hinter dem Horizont im Osten verschwinden würde. Noch im Sternzeichen Widder stehend. Eine Stunde vor dem Wechsel in den Stier. Letzter Tag des zugehörigen Elements Feuer. Der Erdtrabant malte bleiche Lichtpfützen in die Wasserlachen auf dem geschotterten Parkplatz. Die leicht diesige Luft schuf eine gespenstische Atmosphäre.
Das kleine Dorf lag wie ausgestorben auf der Höhe zwischen Fils- und Remstal. Jenseits der Landstraße 1147. In keinem der von hier aus sichtbaren Häuser brannte Licht. Geisterhaft zuckten die Scheinwerfer tief fliegender Flugzeuge, die sich bereits im Landeanflug auf den Flughafen befanden über den Himmel. Stuttgart-Echterdingen war nur dreißig Kilometer Luftlinie entfernt. Die letzten Frachtmaschinen dieses Tages. DHL, UPS und andere Transportunternehmen, die noch vor Mitternacht landen wollten, um ihre Fracht in der Region zu verteilen. Direkt am Vereinshaus des TSV Adelberg-Oberberken stand der Mannschaftsbus des Sportvereins. Vorsorglich hatte der verantwortliche Zeugwart ein Kabel aus dem Keller des eingeschossigen Hauses zu dem Fahrzeug gelegt. Ein Ladekabel, ohne das der alte Transporter bei diesen Temperaturen nicht anspringen würde. Direkt im 180-Grad-Bogen des Parkplatzes, wo ein Schild darauf aufmerksam machte, dass hier ein absolutes Halteverbot galt, stand eine Limousine ohne Kennzeichen mit undefinierbarer Farbe.
Ein stechender Geruch nach Benzin und eine schmierig-ölige Glocke aus Heizöl oder Diesel hing in der unbewegten Luft. Offenbar war das ganze Fahrzeug großzügig mit den Flüssigkeiten getränkt worden. Ein Blick in den Kofferraum hätte ferner vier volle Ersatzkanister mit je zwanzig Litern Benzin zutage gefördert. Eine mehr als explosive Ladung. Wie sich noch zeigen würde. An der etwas entfernt liegenden Zufahrt zum Parkplatz glühten in einem Wagen hin und wieder zwei Lichtpunkte auf. Unschwer zu erkennen, dass es sich um die Glutkegel zweier Zigaretten handelte.
Ein schwarzer BMW der Siebener-Reihe war hinter einer immergrünen, zwei Meter hohen Buchsbaumhecke abgestellt. Vom Dorf aus konnte man den Wagen nicht sehen. Ebensowenig wie die beiden Gestalten, die dort auf irgendetwas zu warten schienen. Der Fahrer eines auf der Landstraße vorbeifahrenden Wagens hätte sie vielleicht kurz wahrgenommen, dieser Beobachtung aber keine weitere Bedeutung zugemessen. Zu Fuß würde niemand hier vorbeikommen. Nicht um diese Uhrzeit. Es war eine Gegend, in der sich Fuchs und Hase respektvoll eine gute Nacht wünschten. Wie an jedem Samstagabend waren die wenigen Nachtschwärmer des Dorfes bereits auf der Piste und würden vor Ablauf von vier, fünf Stunden nicht zurückkommen. Ausreichend Zeit für das, was demnächst hier geschehen sollte.
Die große Glocke der evangelischen Dorfkirche erwachte leicht scheppernd zum Leben und meldete Mitternacht. Sie hatte im Lauf der Jahrhunderte einen Riss abbekommen. Wie auf Kommando beschrieben die beiden Leuchtpunkte einen parabelförmigen Bogen und landeten leise zischend in einer halb zugefrorenen Pfütze. Verglühenden Meteoriten nicht unähnlich. Zwei Gestalten stiegen aus und lehnten die Türen des Wagens an, um jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Das Dorf war hellhörig. Jenseits der L1147 lagen die dreigeschossigen Häuser, von denen man einen guten Blick auf den Parkplatz hatte. Der einzige Schwachpunkt des gewählten Standortes. Ein schlafloser Bewohner könnte das Vorhaben zum Scheitern verurteilen. Einer der beiden Männer nahm einen weiteren Kanister und zog in ausreichendem Abstand zum BMW eine großzügige Spur aus Benzin zu der Limousine.
»Wir müssen schnell arbeiten.«, flüsterte der Größere, »fünf Minuten, bis die ersten Lichter angehen. Maximal!«
Mit einem bedauernden Blick holte der andere sein Zippo aus der Hosentasche. Ein Souvenir aus Afghanistan, wo er gemeinsam mit einem Kollegen für Xe, der Nachfolgeorganisation von Blackwater, Jobs übernommen hatte. Meist waren örtliche Warlords die Zielpersonen gewesen. Sechsundvierzig bestätigte Abschüsse in den letzten sechzehn Jahren stellten eine überragende Bilanz dar. Wenn man bedachte, dass jeder einzelne Schuss ein Weitschuss gewesen war. Teilweise aus mehr als tausend Metern Entfernung. Er schnippte das Sturmfeuerzeug an und wartete. Beide gingen in aller Ruhe zurück zum BMW. Ein letzter Blick in alle Richtungen. Immer noch alles ruhig. Dann warf er das inzwischen gleichmäßig brennende Feuerzeug mit einem erneuten bedauernden Blick mit Schwung zielgenau an den Anfang der Benzinspur. Fast zu nahe. Der Kraftstoff fing sofort Feuer. Blitzschnell raste die Flammenspur auf die Limousine zu und setzte sie in Brand. Nach kaum zwei Minuten hatte das Feuer den ersten Kanister im Kofferraum erfasst.
WUUUSCHUSCH!
Eine grelle Stichflamme schoss in die Höhe. Die nahezu zeitgleichen Detonationen der explodierenden Benzinkanister donnerten durch die Nacht. Die im Innenraum verteilte Mischung aus Benzin und dem langsamer brennenden Diesel versorgte das Feuer mit zusätzlicher Nahrung. Zu spät! Keine Feuerwehr der Welt würde das Feuer rechtzeitig löschen können. Nicht schnell genug, um das, was sie in dem alten Double Six deponiert hatten, vor dem Feuer zu retten.
Zwei Minuten später driftete der schwarze 750i mit pfeifenden Reifen um eine Rechtskurve und raste auf einem schmalen Feldweg davon. Auf Höhe des über eintausend Jahre alten Prämonstratenserstifts bog der hochmotorisierte Wagen nach rechts auf die Landstraße ab. Eineinhalb Kilometer weiter, langsamer werdend, nach rechts in den Wald. Motor, Zündung und Licht aus.
Jetzt galt es abzuwarten. Der von der Straße aus nicht einsehbare, weitgehend unbekannte Parkplatz garantierte Sichtschutz nach allen Seiten. Selbst ein nächtlicher Spaziergänger würde den Wagen schon aus zehn Metern Entfernung nicht mehr sehen. Nach zwanzig Minuten ein näherkommendes Martinshorn. Später als erwartet. Weitere folgten. Zwei Streifenwagen preschten mit hochdrehenden Motoren und hektisch flackerndem Blaulicht auf der Landstraße vorbei. Gefolgt von mehreren Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr.
Ob die freiwillige Feuerwehr des Dorfes bereits am Brandort eingetroffen war, konnten sie von ihrem Standort aus nicht sehen. Es spielte keine Rolle. Zu retten war ohnehin nichts mehr. Einhundertfünfzig Liter brennendes Benzin und Diesel waren ein heißes Argument, dem weder eine freiwillige Dorffeuerwehr noch die Berufswehr aus der Kreisstadt viel entgegenzusetzen hatte. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Natürlich würden die Feuerwehrleute den brisanten Inhalt des Kofferraums entdecken. Die Kriminalpolizei, die bei jeder Brandstiftung die Ermittlungen übernahm, würde erst später auftauchen. Wie immer. Geschafft! Kurz überlegte einer der beiden Männer, ob es nicht doch besser gewesen wäre, das Corpus delicti auf den Vordersitzen zu platzieren. So oder so, die Ermittler würden nicht lange brauchen, um die Leiche im Kofferraum zu identifizieren. Das war von ihren Auftraggebern beabsichtigt. Um die vollständige Verbrennung zu verhindern, 㼀hatten sie den Körper in Seitenlage platziert und auch darauf verzichtet, ihn mit Benzin zu tränken. Jeder, der ihren Auftraggebern in die Quere kam, musste diese Warnung verstehen. In eigenem Interesse. Niemand konnte so dumm sein, das zu ignorieren. Wer der Tote im Kofferraum war, musste die beiden nicht interessieren und das tat es auch nicht. Sie hatten eine fünfstellige Summe kassiert. Der damit verbundene Job, den man ebenso wie den Abschuss eines Warlords in Afghanistan als mokraya rabota, also nassen Job, bezeichnen könnte, war wie beauftragt erledigt worden. Ihre Auftraggeber würden zufrieden sein. Die beiden würden umgehend unter das Radar der Behörden abtauchen, bis ein nächster Auftraggeber ihre Dienste benötigte. Erfahrungsgemäß würde das nicht allzu lange auf sich warten lassen. In ihrer Branche gab es keine Rezession. Niemals. Spezialisten ihrer Qualität wurden auf der ganzen Welt gebraucht. Immer. Bedauernd dachte einer der beiden an seinen Spotter[1], der schon vor Jahren das Zeitliche gesegnet hatte.
V i e r
28. Januar 2023
Anwesen Epple, Adelberg
Gegenwart
Tief durchatmend lehnte sich der 62-jährige Rick Epple in seinem Relaxsessel im Wohnzimmer zurück. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit konnte er schon sehr früh nicht mehr einschlafen. Irgendetwas hatte ihm den Schlaf geraubt. Kurz nach sechs Uhr war er aufgestanden. In der Hoffnung, vielleicht hier noch etwas Schlaf zu finden. Ohne Erfolg.
Nach einer Dusche schlüpfte er in seine üblichen Klamotten. Obwohl er nie Rücksicht auf irgendwelche Konventionen oder Modeerscheinungen nahm, würde man ihn niemals in alten, ausgeleierten Jogginghosen und schlabbrigen T-Shirts antreffen. Ein gewisses Niveau musste sein. Dunkle, oftmals schwarze Markenjeans aus einem leichten, elastischen Denimstoff und ein gut geschnittenes T-Shirt waren das Mindeste. Im Sommer stattdessen gern ein helles, locker fallendes Leinenhemd. Selbst bei offiziellen Anlässen, von denen es seit seiner Pensionierung ohnehin nicht mehr viele gab, würde er sich niemals eine Krawatte umbinden. Abgesehen davon, dass er alle Halsstricke längst entsorgt hatte. Wie immer umwehte ihn eine dezente Duftwolke aus Blue Stratos. Seinem seit Jahrzehnten bevorzugten Rasierwasser. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen anderen Duft benutzt zu haben. Das Eau de Toilette mit seiner Basisnote aus Ambra, Moschus, Vanille und Zeder mochte für die kommenden Sommermonate etwas zu schwer und süß sein, dennoch kam kein anderes infrage. Niemals. Auch das ein Ausdruck seiner sich kaum jemals ändernden Gewohnheiten. Wieder trug er seine weit über schulterlangen, leuchtend weißen Haare offen. Annabelle, seine Frau, hatte ihm schon vor einiger Zeit dazu geraten. Sein Scheitel sei in letzter Zeit auffallend breit geworden und habe den Status von Geheimratsecken längst überschritten. Zu breit, um die Haare noch nach hinten kämmen zu können. Warum auch nicht? Abschneiden würde er die in vielen Jahren gewachsene Haarpracht auf keinen Fall. Allenfalls fixierte er die langen Strähnen an der Seite mit einem Wet-Gel.
Mit schwarzen Haaren würde ich wie Francis »Mike« Rossi in der Frühzeit von Status Quo aussehen. Ein Stirnband samt Adlerfeder am Hinterkopf, dachte er ironisch lächelnd, würde mich zum Ebenbildvon Inschu-Tschuna, dem großen, alten Häuptling der Mescalero-Apachen und Winnetous Vater machen.
Seine gesund wirkende, dunkle Hautfarbe, die dem ständigen Aufenthalt im Freien geschuldet war, unterstrich das zusätzlich.
Die Tasse in seiner rechten Hand enthielt frisch gemahlenen, traditionell bei 94 Grad Celsius aufgebrühten Yirgacheffe. Arabica-Kaffeebohnen einer einzigen Plantage aus dem äthiopischen Hochland. Eine echte Spezialität. Gewöhnungsbedürftiger Geschmack nach gerösteten Nüssen und leicht angeröstetem Toast. Gewürzen wie schwarzem Pfeffer, Curry und Gewürznelken und einem kaum wahrnehmbaren Hauch von Paprika. Trotz des relativ niedrigen Koffeingehalts würde das Gebräu seine Lebensgeister in Schwung bringen.
Seine Frau Annabelle war zusammen mit Andrea, ihrer besten Freundin, die mit dem ehemaligen Kommissar Klemens Maier in der Einliegerwohnung wohnte, unterwegs, um ein paar dringend benötigte Dinge einzukaufen. Das Frühstück wollten die beiden in irgendeinem Bistro zu sich nehmen. Hatte sie ganz beiläufig erwähnt. Rick hatte keine Vorstellung davon, was Frauen unter dringend benötigt verstehen mochten. Mit Sicherheit Schuhe, die nach einmaligem Gebrauch bei den anderen Paaren im Keller und später in der Altkleidersammlung landeten. Klamotten, in denen sich seiner Ansicht nach kein normaler Mensch auf die Straße wagen würde. In dem kleinen Dorf, in dem Rick geboren war und wo sie beide seit Jahrzehnten wohnten, schon gar nicht. Annabelle und Andrea würden stundenlang unterwegs sein und kaum vor dem Abend zurücksein. Ein ganzer Tag sturmfreie Bude.
Der Winter glänzte weiterhin mit Abwesenheit. Rick war unschlüssig, womit er sich an diesem nebligen Tag Ende Januar beschäftigen sollte. Die Langeweile drohte von ihm Besitz zu ergreifen. Das sollte unter keinen Umständen passieren. Untätigkeit und Langeweile waren der Anfang des Altwerdens. Immer. Irgendetwas musste er unternehmen. Für eine Ausfahrt mit dem schwarzen 67er-Corvette-Cabrio war es zu kühl. Außerdem achtete er darauf, den über fünfzig Jahre alten Oldtimer nur im Sommer aus der Garage zu holen.
Vielleicht sollte ich ein paar Landschaftsaufnahmen schießen, überlegte er. Bei dem Nebel sollte derHerrenbachstausee ideale Motive bieten. Oder drüben im Kloster.In oder rund um die Ulrichskapelle.Eventuell könnte ich mal wieder das längst aufgelassene Munitionsdepot ein paar Kilometer hinter Unterberken vor die Linse nehmen, sinnierte er. Vielleicht entdecke ich endlich den Zugang zu den fast sagenumwobenen, unterirdischen Kavernen, von denen diese Urbexer ständig faseln. In denen vor Jahrzehnten die Atomsprengköpfe für die amerikanischen Minuteman-III-ICBM[2] gelagert worden sein sollen.
Die letzten Weihnachtsfeiertage hatten seine Frau und er zusammen mit ihren beiden Freunden in der Schweiz verbracht. Die von Annabelle vorgeschlagene, psychologische Schocktherapie für Klemens hatte wahre Wunder gewirkt. Nach Monaten heftigster Selbstanklagen war er endlich soweit gekommen zu akzeptieren, dass er nicht für den Suizid eines Mannes verantwortlich war. Eines Mannes, der neben zwei anderen Menschen seine eigene Tochter mit Gift getötet hatte. Er beschloss, Klemens zu fragen, ob er auf die angedachte Fototour mitkommen wolle. Vielleicht würden sie als Team den Zugang in dem verlassenen Depot entdecken, der bisher noch jedem verborgen geblieben war. Dass sie in diesem, eher unwahrscheinlichen, Fall Hausfriedensbruch begehen würden, kümmerte ihn nicht weiter. Falls sie überhaupt irgendetwas entdeckten, würden sie nichts entwenden. Nur Fotos. Mehr nicht.
Abgesehen davon, dachte er amüsiert, dass wir auch zu zweit einen irrtümlich zurückgelassenen Atomsprengkopf kaum schleppen könnten. So ein Monstrum wiegt bestimmt mehrere Hundert Kilogramm. Und – na ja – was sollten wir auch damit anfangen?
Im nächsten Moment erübrigte sich diese Überlegung. Klemens stürmte die Treppe herauf, klopfte der Form halber kurz an den Türrahmen und stolperte beinahe über die oberste Treppenstufe ins Wohnzimmer hinunter. »Schon gehört, Rick?« rief er außer Atem, »letzte Nacht ist drüben am TSV-Sportplatz ein Auto abgefackelt worden!«
Gelangweilt erwiderte Rick: »Dann waren das wohl die Martinshörner vergangene Nacht, die mich aus dem Schlaf gerissen haben. Hast du schon herausgefunden, was passiert ist? Woher weißt du das überhaupt? Wegner mal wieder?«
»Nicht direkt«, gab der frühere Hauptkommissar zu, »Staudinger hat vorhin angerufen. Angeblich hat die Karre lichterloh gebrannt. Es soll eine Menge Benzin im Spiel gewesen sein.«
»Also doch Wegner«, schmunzelte Rick, »woher sollte Staudinger sonst davon wissen? Gab es Verletzte? Irgendjemand, der etwas gesehen hat? Gibt es mehr als angeblich und anscheinend?«
»Nein«, antwortete Klemens, »um diese Zeit ist im Dorf noch keiner unterwegs. Trotzdem werden die Gerüchte, dass außer Benzin auch anderes verwendet wurde, nicht lange auf sich warten lassen.«
»Warum? Gibt es Spuren eines anderen Brandbeschleunigers? Weshalb sollte jemand was anderes als Benzin benutzen, um ein Auto abzufackeln, Klem? Ein voller Tank reicht doch vollkommen aus.«
»Keine Ahnung. Die Leute reden ohnehin. Mit oder ohne Tatsachen. Vielleicht wollten die Kerle sicherstellen, dass alles verbrennt. Was weiß denn ich.«
»Was sollte das sein? Drogen, Geld oder Waffen würde niemand auf die Art beseitigen. Eine Leiche vielleicht, ja«, schmunzelte er, »aber das wären nicht einmal Mafia-Methoden. Die Leute aus dem Süden spendieren ihren Opfern Betonschuhe. Außerdem wäre mir im Dorf noch keiner mit schwarzem Hut und Nadelstreifenanzug aufgefallen. Oder jemand, der ein Angebot macht, das man nicht ablehnen kann«, schob er in Anlehnung an einen bekannten Film schmunzelnd hinterher.
»Wie auch immer«, murmelte Klemens, »ich gehe gleich mal hinüber und sehe mir das an. Kommst du mit?«
»Klemens! Du bist seit zwei Jahren pensioniert! Das geht dich nichts mehr an. Du solltest deinen ehemaligen Job langsam loslassen. Wegner soll seine Arbeit machen. Du stehst so oder so nur im Weg herum«, erwiderte Rick grinsend, »andererseits, wenn du mich so fragst – warum nicht? Ein bisschen Abwechslung schadet uns nicht.«
F ü n f
28. Januar 2023
Parkplatz TSV Adelberg-Oberberken
Gegenwart
Abseits jeden Weges schlenderten die beiden über das nahezu vollständig zugewucherte Gelände des schon vor vielen Jahren aufgegebenen Campingplatzes. Der Parkplatz am Sportplatz war ihr eigentliches Ziel. Dass sich die Natur immer ihr Eigentum zurückholt, war hier offensichtlich. Nur noch vereinzelt waren die Parzellen der einstigen Stellplätze zu erkennen. Einzig die Wege befanden sich in gutem Zustand. Noch. Das Mehrzweckgebäude, in dem die Dorfjugend vor fünfzig Jahren mit österreichischen Schillingmünzen als Ersatz für das deutsche Markstück Billard gespielt hatte, stand nach einer vorübergehenden Nutzung als Cafè seit Jahren leer. Die letzten Pächter hatten zu lange gezögert, Inventar und elektrische Geräte rechtzeitig abzuholen. Andere waren schneller gewesen und hatten alles Brauchbare gestohlen.
Rick hatte nach der Schließung damals darüber nachgedacht, in das weiträumige Gelände zu investieren und einen Paintball-Parcours bauen zu lassen. Mit unwiderlegbaren Argumenten brachte Belle ihn davon ab. Die Zeit hatte ihr recht gegeben. Der damals schnell aufflammende Boom dieser Sportart ging schnell vorüber. Eine sechsstellige Summe hätte sich in Luft aufgelöst. Schon aus der Entfernung konnten sie den öligen, bitter-stechenden Rauch riechen. Dann sahen sie, was das Feuer von dem Wagen übriggelassen hatte. Auf der rechten Seite der Landstraße standen vier, fünf Dorfbewohner, die in dem Wohngebiet zu Hause waren, das von den alteingesessenen Dörflern von Anfang an Westwall genannt wurde. Tatsächlich erinnerten manche der flachen, geduckt dastehenden Bauten an die Bunkeranlagen an der westlichen Grenze Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Rick kannte die Leute seit Jahrzehnten. Die meisten waren gut im Dorf integriert, nur wenige schotteten sich vom ersten Tag an ab. Viele versuchten offenbar, einen Blick auf den Tatort zu erhaschen. Einer hatte auf dem Flachdach seines Bungalows eine Kamera auf einem Stativ montiert. Mit beeindruckend großen Teleobjektiv schoss er Aufnahmen, die man wahrscheinlich am nächsten Tag in der Zeitung sehen würde. »Na, habt ihr etwas gesehen?« rief er hinüber. Nur der Form halber. Antwort würde er keine bekommen. Die Leute hatten nicht einmal verstanden, was er gerufen hatte.
Der penetrante Geruch von heißem Metall, verbranntem Gummi und verschmortem Kunststoff legte sich wie ein zäher Film auf ihre Schleimhäute. An manchen Stellen stieg Qualm von dem kaum noch als Auto erkennbaren Haufen aus blasig verbranntem Blech auf. Der markante Kühlergrill, der auf den ersten Blick an die bekannte BMW-Niere erinnerte, war das Einzige, was das Feuer weitgehend verschont hatte. Warum auch immer. Rick sah auf den ersten Blick, dass hier keines der Fahrzeuge aus München in Flammen aufgegangen war. Es handelte sich ohne jeden Zweifel um ein Daimler Double Six Coupe.
Schade um den wunderschönen Oldtimer, dachte er, so einer würde mir auch gefallen. Wem der wohl gehört hat?
Die Landstraße in Fahrtrichtung Göppingen war durch einen querstehenden Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht und einigen rot-weißen Warnbaken abgesperrt worden. Die Gegenfahrbahn diente abwechselnd dem spärlichen Verkehr. Am Weg vor und hinter der Fußgängerunterführung standen Polizisten, die Neugierige abhalten sollten. Die Zufahrt zu den wenigen Firmen im Dorf war nur über die untere Einfahrt möglich. Ein weiterer Streifenwagen riegelte den Feldweg ab, der zum Brandort führte. Viele Schaulustige standen hinter den Absperrungen und versuchten, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Rick und Klemens stellten sich dazu. Neugier war eben doch ein starker Treibstoff.
Plötzlich hörte Rick hinter sich eine Stimme, die er unter Hunderten erkennen würde. Im ganzen Dorf gab es nur einen mit so einem Organ. Kratzig von zu vielen Zigarren, leicht verschwommene Aussprache. Chronisch lallend wäre die richtige Bezeichnung dafür. Eine säuerliche Fahne aus Birnenmost vermischt mit dem kalten, abgestandenen Rauch eines billigen Stumpens[3]. Nicht zuletzt der beißende Gestank nach Kuh- und Schweinemist, den sein Hintermann großzügig in der Umgebung verteilte. Rick wandte leicht angewidert den Kopf. Ehemals grüne, inzwischen undefinierbar verfärbte und dreckstarrende Arbeitshosen und ein ebensolcher Kittel. Bis über die Schäfte mit Kuhmist verschmierte Gummistiefel. Nicht zu vergessen der unvermeidliche Schaffschurz aus stabilem, braunem Rindsleder, wie das vor der Brust bis hinunter zu den Knien hängende Teil, bei den Schwaben genannt wurde. Rick konnte sich nicht erinnern, den Mann jemals in anderen Kleidern gesehen zu haben. Vermutlich trug er diese seit Jahrzehnten. Der Mann war in seiner Wahrnehmung schon alt, als er noch ein Junge gewesen war. Über neunzig Jahre alt musste er mittlerweile sein. Seinen Vornamen kannte niemand im Dorf. Er war nur der alte Lämmle. Unverwüstlich offenbar. In seinem unaussprechlich räsen[4] Most konserviert, könnte er leicht hundertzwanzig Jahre oder noch älter werden.
»I sag dir, Willi«, proletete Lämmle in seinem archaisch-schwäbischen Dialekt, bei dem selbst Rick hin und wieder passen musste, leicht lallend zu seinem Nachbarn, »die haben heut’ morgen eine Leich’ weggschaffd. Wahrscheinlich einer von den Brandstiftern. Nedd auffbassd beim Feuerle macha. Man sollte halt auffbassa, wenn man zündelt.«
Rick drehte sich um und sagte grinsend: »Lämmle, das hätte ich mir ja denken können. Wenn irgendwo etwas los ist, kann dr Lämmle nedd weit sein. Woher willsch du denn das wissen? Bist du dabei gewesen? Wieviel Most hasch denn heute schon gesoffen? Oder ist dein fürchterlicher Lall[5] noch von gestern?«
»Jetzt guck, der Herr Millionär«, nuschelte Lämmle undeutlich, »dass man dich auch mal außerhalb von deinem Palast sieht. Im Übrigen ist das mein Most und mein Lall, die gehen dich einen feuchten Kehricht an! Wenn es hochkommt.« Rick lachte und drehte sich zur Seite. Die Fahne, die der Alte verbreitete, war atemberaubend. Im wahrsten Sinn des Wortes. Er holte einmal tief Luft, atmete nur noch durch den Mund und erwiderte: »Oh Lämmle, lass’ gut sein. Ich will deinen Most doch gar nicht. Was war denn des mit der Leich’? Hast du das selber gesehen? Oder woher weißt du das?«
Lämmle erklärte Rick langatmig, dass er das von Paul gehört habe. Der sei sehr früh am Morgen unterwegs gewesen und habe gesehen, dass man einen abgedeckten Gegenstand auf einer Bahre weggebracht habe. Das könne nur eine Leiche gewesen sein. Paul habe vermutet, dass es sich um einen der Brandstifter handelte. Als gebürtiger Dörfler kannte Rick diesen Paul und die Geschichten, die er ständig verbreitete, natürlich auch. Lämmles Schwager, ein ebenso heruntergekommener und nur wenige Jahre jüngerer Zeitgenosse, sah alles durch eine versiffte Brille, deren Gläser so dick wie der Boden eines Mostglases waren. Dazu kam auch bei ihm der meist hoch stehende Mostpegel. Die Halluzination hätte nicht perfekter sein können. Jeder arabische Scheich hätte dessen Fantasien zur Fata Morgana ehrenhalber ernannt.
»Ha no«, lachte er, »wenn der Paul des gsagt hat, muss es ja stimmen. Dem geht nichts ‘naus. Nix für ungut, Lämmle.«
»Scho recht, Epple«, erwiderte Lämmle gutmütig, »wenn du willsch, kannsch mein neua Most probiera. Ich hab’ gerade das erste Fass angestochen. Tausend Liter. Komm einfach mal vorbei.« Rick vermied krampfhaft eine abfällige Grimasse, die ihm passend erschien. Er bedankte sich für die Einladung und dachte bei sich hoffentlich geht dieser Kelch an mir vorüber, ich will gern noch ein paar Jahre ohne Magengeschwür leben.
Er hoffte inständig, dass Lämmle die Einladung in ein paar Minuten vergessen haben würde. Rundweg ablehnen konnte und durfte er diese nicht. Das wäre einer tödlichen Beleidigung gleichgekommen. In solchen Angelegenheiten waren die Dörfler eigen. Sehr eigen sogar. Hätte er es doch getan, würden sie ihm das jahrelang nachtragen. Dafür würde schon der alte Lämmle sorgen. Er würde mit dem größten Vergnügen über Ricks Arroganz tratschen. Im Dorf nannte man ihn, nur hinter vorgehaltener Hand versteht sich, ohnehin den Herrn Millionär und seine Villa nur den Palast am Hallenbad.