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Ein Mord, der Jahrzehnte überdauert: ein Kriminalroman mit Atmosphäre und Tiefgang. Eine Leiche ohne Namen. Ein abgelegener Strand auf der Île de Bréhat. Hauptmann Jean-Yves Toudic ahnt nicht, dass dieser Fund ihn tief in die Schatten der Geschichte führen wird. Gemeinsam mit der jungen deutschen Sprachassistentin Kristine Martensen beginnt er eine Spurensuche, die zurückführt in die Zeit der deutschen Besatzung und dunkle Verbindungen offenlegt, die bis in die Gegenwart reichen. Vor der rauen Kulisse der bretonischen Küste entfaltet sich ein spannungsreicher Krimi über Schuld, Erinnerung und stille Allianzen. Zwischen Sprachbarrieren, Verdächtigungen und emotionalen Gräben entsteht ein komplexes Ermittlungsnetz. Wer war der Tote? Und was verband ihn mit der Vergangenheit der Insel? Ein historischer Regionalkrimi, der unter die Haut geht, für alle, die Geschichte nicht vergessen können.
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Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2022
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FÜR
CHARLOTTE, LUISE, JOSS, PHINE, VALENTIN UND THERESE
29. AUGUST 1977 — AUF DEM WEG ZUR ILE DE BRÉHAT
9. JULI 1940 — AUF DER N 12 NACH GUINGAMP
29. AUGUST 1977 — EIN RÄTSELHAFTER FUND
10. JULI 1940 — DIENSTBEGINN IN GUINGAMP
29. AUGUST 1977 — SECHS AUGEN SEHEN MEHR
10. JULI 1940 — LA MER
30. AUGUST 1977 — ERSTE ERKENNTNISSE
14. JULI 1940 — LA FÊTE NATIONALE
31. AUGUST 1977 — BUZUG
31. AUGUST 1977 — ZURÜCK AUF DER INSEL
31. AUGUST 1977 — GETRENNTE ERMITTLUNGEN
1. SEPTEMBER 1977 — AUF DEN SPUREN DER BIO-KARTOFFELN
9. AUGUST 1941 — ALLTAG IN EINEM BESETZTEN LAND
13. AUGUST 1941 — ZWISCHEN RÉSISTANCE UND KOLLABORATION
2. SEPTEMBER 1977 — DER ROTE AUDI
17. AUGUST 1941 — EN FAMILLE
5. SEPTEMBER 1977 — KRISTINE
18. AUGUST 1941 — EIN FREUNDSCHAFTSDIENST
6. SEPTEMBER 1977 — DER RÜCKRUF AUS HANNOVER
19. AUGUST 1941 — HISTOIRE D’AMOUR
OKTOBER 1941 — ES WIRD HERBST
7. SEPTEMBER 1977 — EIN FENSTER GEHT AUF
8. SEPTEMBER 1977 — STUMME ZEUGEN
9. SEPTEMBER 1977 — DAS TAGEBUCH
12. SEPTEMBER 1977 — AUF DEM FRIEDHOF
13. SEPTEMBER 1977 — DER ANHÄNGER
14. SEPTEMBER 1977 — ÜBER STOCK UND STEIN
14. SEPTEMBER 1977 — EIN TRAGISCHER ZUFALL
EPILOG
Welch ein Postkartenpanorama eröffnete sich vor ihm durch die Frontscheibe seines Autos! Aber Jean-Yves Toudic, Capitaine und Leiter der Brigade der Gendarmerie Nationale von Paimpol, hatte zutiefst schlechte Laune. Der Grund oder besser die Gründe dafür? En Avant de Guingamp, sein heiß geliebter Heimatverein, war am gestrigen Sonntag in einem Fußballspiel der 2. Division mit 4:1 gegen Angers unter die Räder gekommen. Nach dem Zwischenstand von 0:3 hatte er voller Zorn das Stade Yves Jaguin von Guingamp verlassen. Das Ende der zweiten Halbzeit wollte er sich danach nicht mehr antun. Es reichte. Jetzt saß der Capitaine am folgenden Morgen um 10:30 Uhr in seinem dunkelblauen Dienstfahrzeug, einem Renault R 12, und schaute auf den Hafenanleger der Fähre zur Ile de Bréhat. In wenigen Minuten würde sein Fährschiff kommen. Lustlos biss er in sein Schinken-Tomaten-Baguette, das auf Grund der immer noch sommerlichen Temperaturen schon etwas durchgeweicht war. Gleich auf der Insel könnte er sich im Café du Bourg etwas Frisches zu essen gönnen. Er hatte schließlich noch einiges vor und ein kaum gefüllter Magen würde seine schlechte Laune noch steigern.
Hier auf dem Parkplatz an der Pointe de l’Arcouest standen an diesem Spätsommertag Ende August nur noch wenige Autos. Wie in jedem Jahr waren für die meisten Franzosen die Sommerferien mit dem 15. August, dem Fest- und Feiertag Mariä Himmelfahrt, bereits zu Ende gegangen. Wer jetzt noch eine Fähre auf die Insel nehmen wollte, kam zumeist aus Holland, Deutschland oder dem nahen England, was an den Autokennzeichen schnell zu erkennen war.
Zu den deutschen Touristen fiel Toudic ein, dass ab diesem Sommer 1977 extra für sie ein lokaler Radiosender im nahen Rennes jeden Mittag von 12:00 Uhr bis 13:00 Uhr Nachrichten und Informationen in ihrer Landessprache sendete. — Musste das wirklich sein? Gerade die älteren Leute hier in der Bretagne konnten sich noch zu gut an die schwere und demütigende Besatzungszeit unter den Deutschen erinnern.
Zum Glück waren wenigstens die zahllosen Touristen aus Paris bereits abgereist! Wie gerne lästerten sie doch über die „hinterwäldlerischen“ Bretonen. Nahte aber der 14. Juli, der Nationalfeiertag und damit der Beginn vieler Betriebsferien in ganz Frankreich, konnten diese Parisiens gar nicht schnell genug ihre Koffer packen und mit ihren Autos Richtung Westen, in die einzigartige Bretagne, brausen. Denn hier warteten über 1200 Kilometer Küste und damit sorgloser Strand- und Badespaß auf die erholungssuchenden Gäste aus der Hauptstadt. Auch die Culture Bretonne, die sorgfältig gepflegte und lebendige regionale Kultur mit ihren keltischen Wurzeln, zog die Pariser jedes Jahr von Neuem magisch an. Die Bretonen verstanden zu feiern auf ihren traditionellen Fest-Noz-Abenden hier im äußersten Westen Frankreichs. Nach der melancholischen Musik der Dudelsäcke und der sie begleitenden Schalmei war schon mancher Tourist regelrecht süchtig geworden, zumal dazu bis zum Morgengrauen in Gruppen ausgelassen getanzt und gefeiert wurde. In dieser in ganz Frankreich einzigartigen sommerlichen Atmosphäre der Bretagne konnten die Gäste aus der entfernten Hauptstadt den Alltagsstress hinter sich lassen, aus einer Metropole, die gerade im Hochsommer wegen der Millionen Touristen aus der ganzen Welt und der stickigen Luft unerträglich war.
Vor dem Chef des Kommissariats aus dem nahen Paimpol lag an diesem Augusttag eine polizeiliche Routineaufgabe auf der malerischen Kanalinsel im rauen Norden der Bretagne. Eigentlich hätte sich bei dem Gedanken, für einen Tag sein stickiges und verqualmtes Büro in der Rue Jean Moulin in Paimpol für diesen Außeneinsatz auf der Ile de Bréhat verlassen zu können, gute Laune einstellen müssen, aber neben dem verkorksten Fußballspiel vom Vortag nervte ihn noch sein Sohn Hervé, Schüler der Seconde im Lycée Auguste Pavie in Guingamp.
Gerade hatte das Gymnasium einen Blauen Brief nach Hause geschickt, aus dem hervorging, dass Hervé, Schüler der 10. Klasse, seinen Lehrern große Probleme bereitete. Deshalb sollten Toudic und seine Frau Françoise morgen, am Dienstag, um 16:00 Uhr bei Hervés Klassen- und Deutschlehrer, Monsieur Sévellec, im Lycée vorsprechen.
Als ob dies alles noch nicht genug wäre, bedrückte ihn ferner die Aussicht, heute Abend Gaëlle zu sehen, wie jeden Montagabend. Er musste endlich seinen ganzen Mut aufbringen und mir ihr sprechen.
Plötzlich tauchte die Vedette auf und erlöste ihn aus dem immer tieferen Eintauchen in dunkle Gedanken. Das kleine zwischen der Ile de Bréhat und der Pointe de l’Arcouest verkehrende Linienboot brachte nur ein Dutzend Passagiere von der Insel zurück auf das Festland. Langsam tuckerte es Richtung Anleger. Ein Matrose stand schon an der Bugspitze bereit, um gleich das Boot sicher an der Kaimauer zu vertäuen.
Toudic nahm aus dem Handschuhfach das bereits gelöste Ticket, ergriff auf dem Beifahrersitz seine abgewetzte, schwarze Aktentasche und stieg aus seinem Renault.
Nachdem er seinen Dienstwagen abgeschlossen und sein dunkelblaues Offiziersképi aufgesetzt hatte, ging er schnellen Schrittes über den Parkplatz in Richtung Anleger. Dabei grüßte er noch kurz nach links die nette junge Frau im Fahrkartenschalter, bei der er vor circa 20 Minuten sein Ticket erworben hatte. Hinter einer kleinen Schar von Mitreisenden mit Koffern, Fahrrädern oder kleinen Handwagen betrat Toudic als Letzter die Vedette Enez Vréhat. Auf dem Oberdeck fand er mühelos einen bequemen Sitzplatz unter dem ausgeblichenen Sonnensegel. Jetzt freute er sich auf die etwa fünfzehnminütige Überfahrt zur Insel. Nach der kurzen Überfahrt zur Ile de Bréhat würden ihn im Port Clos, dem im Süden der kleinen Insel gelegenen Hafen, die beiden Kollegen vom Gendarmerie-Außenposten Ile de Bréhat in Empfang nehmen.
Das Boot nahm langsam seine Fahrt auf und ließ den Hafen von l’Arcouest hinter sich. Toudic musste wieder an seinen Sohn Hervé denken. Er konnte gut verstehen, dass der Fünfzehnjährige, wenn er mittags gegen 16:00 Uhr oder 17:00 Uhr erschöpft aus der Schule kam, keine große Lust auf seine Hausaufgaben verspürte; aber ein Mindestmaß an schulischem Einsatz musste sein. Sonst könnte Hervé bald seinen Traum vom Abitur vergessen.
Er hatte schon mehrfach erwähnt, in die Fußstapfen des Vaters treten zu wollen. Als Voraussetzung zur Bewerbung als Offiziersanwärter bei der Gendarmerie Nationale galt aber das Abitur.
Schon zwei Wochen nach dem Schuljahresbeginn, der Rentrée, hatten sich mehrere Fachlehrer am Lycée über den Schüler Hervé Toudic beklagt, so dass Professeur Sévellec als Klassenlehrer tätig werden musste und die Eltern einbestellt hatte. Zwar arbeitete Toudics Frau Françoise als Schulbibliothekarin am Lycée Auguste Pavie, aber er war sich nicht sicher, ob sie deswegen in der Lage war, bei Hervés Lehrern ein gutes Wort für ihren Sohn einzulegen.
Zum Glück hatte das Schiff bereits den Port Clos, den Hafen der Insel, erreicht. In der kleinen Schar der dort wartenden Passagiere erkannte Toudic sofort die beiden Kollegen, die am Anleger bereits auf ihn warteten.
Auf ihrem morgendlichen Kontrollgang über die Insel hatten sie an der Nordspitze einen Toten gefunden.
Ganz ruhig und untertourig schnurrte der Zweizylindermotor der Zündapp KS 750 im Schritttempo über die Route Nationale 12 von Rennes westwärts Richtung Saint Brieuc. Das nagelneue Wehrmachtskrad wurde von dem Gefreiten Ernst Zielinski gesteuert. Konzentriert lenkte er die Maschine hinter einer endlosen Kolonne von Infanteristen her. Das Getriebe war so ausgelegt, dass im ersten Gang mühelos das Marschtempo der Fußtruppe gehalten wurde. Im Beiwagen saß der junge Leutnant Paul Sailer, mit einer Straßenkarte der Bretagne auf den Knien. Da sie am späten Nachmittag nach Westen und damit direkt in die langsam untergehende Sonne hineinfuhren, hatte er sich an dem heißen Julitag schon vor mehreren Stunden seine Sonnenbrille aufgesetzt. Zum Glück näherten sie sich an diesem 9. Juli 1940 langsam ihrem Ziel Guingamp, westlich von St. Brieuc. Deswegen deutete Leutnant Sailer seinem Fahrer mit dem linken Arm an, rechts ran zu fahren, um eine wohlverdiente Marschpause einzulegen.
Der Frankreichfeldzug war beendet und die ganze Bretagne seit dem 23.06.1940 in deutscher Hand. Seit Stunden hatten die beiden von ihrem Krad aus zerstörte französische Panzer und andere Militärfahrzeuge gesehen, die ausgebrannt links und rechts am Straßenrand der N 12 lagen, stumme Zeugen der schweren Kämpfe, die hier in der Bretagne noch bis vor wenigen Tagen getobt hatten. Auch anderes Kriegsgerät der Franzosen lag herrenlos am Straßenrand. Sailer hatte von Kameraden, die, im Gegensatz zu ihm, an den Kämpfen im Juni teilgenommen hatten, gehört, dass sich am Ende ganze Verbände des Feindes den Deutschen kampflos ergeben hatten und in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Deshalb kamen ihnen auf dem linken Fahrstreifen der N 12 lange Kolonnen von marschierenden französischen Kriegsgefangenen entgegen, darunter immer wieder Schwarz- und Nordafrikaner, Soldaten aus der Kolonialarmee Frankreichs. Die Wehrmacht hatte ihre geschlagenen Feinde anfangs einige Zeit in behelfsmäßigen Kriegsgefangenenlagern festgehalten. Nun mussten die armen Kerle noch bis Rennes laufen, um von dort aus per Bahn nach Osten, Richtung Deutschland, abtransportiert zu werden, einem unsicheren Schicksal entgegen.
Sailer verspürte fast so etwas wie Mitleid mit den erschöpften und demoralisierten Franzosen.
Zielinski bog an einer Einmündung nach rechts auf einen Feldweg ab. Etwa 20 Meter dahinter brachte er die Maschine zum Stehen. Sailer kletterte sofort aus dem Beiwagen und setzte seinen Stahlhelm ab, den er die ganze Zeit getragen hatte.
Zwei Stunden nach dem letzten Halt tat es gut, endlich ein paar Schritte auf dem Feldweg hin und her zu gehen und die müden Glieder dabei ausstrecken zu können. Der Leutnant hatte sich gerade mit Hilfe der Karte über ihren aktuellen Standort informiert und dabei festgestellt, dass ihr Ziel, Guingamp, nur noch etwa 45 Kilometer von ihnen entfernt lag. Diesen Ort würden sie leicht vor Anbruch der Dunkelheit erreichen. Es gäbe dann keine Schwierigkeiten, sich in der dortigen Kommandantur anzumelden und eine Unterkunft zugewiesen zu bekommen.
Aus der rechten Tasche seines Uniformrocks zog Sailer eine Packung Senoussi, öffnete sie und bot Zielinski zuerst eine Zigarette an. Beim Rauchen standen sie einen Moment lang schweigend nebeneinander und genossen die Stille. Heute Morgen hatten sie in Rennes ihre Dienstfahrt nach Westen angetreten und konnten auf der Nationalstraße anfangs zügig vorankommen. Erst gegen Mittag, kurz vor Lamballe, stießen sie erstmals auf vor ihnen langsam marschierende Kameraden. Ab da ging es auf ihrem Motorrad nur noch schleppend voran. Wegen des Gegenverkehrs durch die langen Kolonnen von französischen Kriegsgefangenen war ans Überholen kaum mehr zu denken.
Als Sailer seine Zigarette aufgeraucht und die Kippe auf den Boden geschmissen hatte, schaute er sich interessiert um. — Ja, er kannte Frankreich gut, so hatte er noch vor einigen Tagen gedacht. Aber was er hier in der kurzen Zeit und auf dem Weg von Rennes links und rechts der N 12 gesehen und beobachtet hatte, ließ sich mit seinem ursprünglichen Frankreichbild kaum in Einklang bringen. Sein Wissen darüber basierte bis jetzt auf Schulbüchern, dem Studium von Reiseliteratur und den Erzählungen der Alten, die 14/18 den „Großen Krieg“ an der Westfront mitgemacht und ihm so viel von dem Land und den „Franzmännern“ erzählt hatten. Auch sein Vater und einige seiner Lehrer in der Volksschule und danach auf dem Gymnasium mussten bei jeder sich bietenden Gelegenheit anfangen, davon zu berichten. Erst vor einer Woche hatte ihn sein Bataillons-Kommandeur von Freiburg nach Paris zu einem Lehrgang geschickt. Auf Grund seiner sehr guten Französischkenntnisse, die aus Sailers Personalakte hervorgingen, sollte der junge Offizier in seine kommende Aufgabe eingewiesen werden: Das 6. Aufklärungsbataillon mit Sitz in Guingamp brauchte dringend einen Dolmetscher.
Auch Zielinski hatte in der Zwischenzeit seine Zigarette aufgeraucht und betrachtete voller Stolz und mit Kennerblick die am Rande des Feldwegs stehende Zündapp. Das graue Leder der beiden Packtaschen glänzte in der Abendsonne. Darin hatten Zielinski und der Leutnant heute Morgen vor ihrem Aufbruch aus Rennes ihr karges Marschgepäck verstaut. Die feldgrau gespritzte Maschine war nach der heutigen Fahrt etwas eingestaubt. Morgen in Guingamp würde er Zeit finden, sie wieder auf Hochglanz zu polieren.
Die perfekte Pflege eines ihm anvertrauten Fahrzeugs hatte er schon in der Automechanikerlehre im Fuhrpark der Brauerei Paul Kipke in Breslau gelernt. Nach seinen drei Lehrjahren übernahm ihn die Firma 1932. Kurz vor seiner Einberufung als Reservist zur Wehrmacht im August 1939 durfte er im Personalbüro noch eine kleine Urkunde und eine Geldprämie für zehn Jahre treue Dienste bei Kipke entgegennehmen. — Was war nicht alles seitdem in den letzten neun Kriegsmonaten passiert, vor allen Dingen beim Einmarsch in Polen!
Nur Weniges davon würde er bei seinem ersten Heimaturlaub seiner Verlobten Hedwig erzählen können.
Hedwig arbeitete im Lohnbüro bei Kipke und seit einer Weihnachtsfeier ihrer Brauerei von vor zwei Jahren waren sie ein festes Paar. Eigentlich wollten sie dieses Jahr Weihnachten heiraten. Zielinski ging jetzt ganz nah an die Zündapp heran und überprüfte nochmals den Sitz des Reservereifens, der am hinteren Ende des „Bootes“, wie die Kradfahrer den Beiwagen liebevoll nannten, angeschraubt war. Alles schien in Ordnung zu sein.
Die Flügelschraube zur Befestigung des Ersatzreifens hatte er gestern vorsichtshalber noch einmal nachgezogen und die beiden links und rechts am Beiwagen verzurrten Reservekanister vorschriftsgemäß aufgefüllt.
Sailer und Zielinski gehörten ursprünglich einer motorisierten Heereseinheit an, die in einer Kaserne im Norden Breslaus beziehungsweise im nahen Liegnitz beheimatet war. Doch der Krieg hatte sie hierher ganz in den Westen Frankreichs, in die Bretagne, verschlagen. Erst gestern in Rennes war der Gefreite dem Leutnant als persönlicher Fahrer vorgestellt und zugeteilt worden. Seitdem hatten sie noch nichts Privates miteinander besprochen. Beide horchten auf, als sie das abendliche Angelusläuten einer Dorfkirche in der Ferne vernahmen. Nach dem Ende des Glockenläutens hörte man das Brüllen von Kühen und metallisches Klappern, das von einer Weide herrührte, die einige hundert Meter weg von ihrem Krad liegen musste.
Obwohl Sailer ein Großstadtkind aus Breslau war, kam ihm diese typische Abendstimmung auf dem Land so vertraut vor: Während seiner Schulferien durfte er regelmäßig seinen Onkel Georg besuchen, der am Fuß des Riesengebirges mit seiner Familie eine kleine Landwirtschaft betrieb. Als Feriengast machte er sich auf dem Hof der Verwandten nützlich. Sailer kannte sich deshalb mit der schweren Feldarbeit und dem Versorgen der Tiere auf einem Bauernhof aus.
Der Leutnant drängte langsam zur Weiterfahrt. Sie durften ihr heutiges Ziel, Guingamp, nicht zu spät erreichen.
Ein letztes Mal vor dem Wiederaufbruch gen Westen wollte er den Rundumblick und die abendliche Ruhe genießen.
Links und rechts des Feldwegs und soweit das Auge reichte, erkannte er knorrige Apfelbäume, an denen fast reife Früchte hingen, wahrscheinlich zum Mosten bestimmt. Parallel dazu und als Schutz der Weiden und Ackerflächen vor Sturm und Regen verlief jeweils eine circa 1,50 Meter hohe Mauer aus aufeinander gestapelten Feldsteinen. Im Schatten der Mauern hatten sich kräftige Ginsterbüsche ausgebreitet, die jetzt in knallgelber Blüte standen.
Plötzlich zog eine immer näher auf sie zu kommende Staubwolke das Interesse der beiden Deutschen auf sich. Hufgetrappel und das Knirschen von eisenbereiften Wagenrädern kündigten die baldige Vorbeifahrt eines Pferdegespanns an. Sailer und Zielinski traten instinktiv zur Seite. Vor ihren Augen tauchte ein riesiges hellbraunes Zugpferd auf, das vor einen groben einachsigen Wagen gespannt war. Auch Zielinski, der sich mit Pferden auskannte, war über diesen Koloss von Pferd erstaunt. Die stämmigen Brauereipferde bei Kipke, mit denen die Bierkutscher ihre Getränke ausfuhren, waren bei weitem nicht so schwer wie das Pferd, das gerade in leichtem Trab an ihnen vorbeizog.
Auf dem Kutschbock des Einspänners erkannte Sailer vorne links einen Bauern, mit einer abgewetzten Joppe bekleidet und einer karierten Schlägermütze auf dem Kopf.
In seinem rechten Mundwinkel hing ein erkalteter Zigarettenstummel. Neben ihm saß eine Bäuerin, wahrscheinlich seine Frau. Beide waren mittleren Alters, aber Sailer kamen sie sehr verhärmt vor, wahrscheinlich bedingt durch die harte Arbeit, die sie von Kindesbeinen an täglich verrichten mussten.
Wenn das plötzliche Auftauchen und die Vorbeifahrt des Pferdefuhrwerks nicht so schnell passiert wären, hätte Sailer noch die Zeit gehabt, diese Szene mit seiner Leica III zu fotografieren. Man hatte sie ihm heute Morgen als Dienstapparat gerade erst ausgehändigt. — Schade!
Vor allen Dingen die Tracht der Bäuerin erregte seine Aufmerksamkeit: Ihr hohes weißes Spitzenhäubchen auf dem Kopf, mit den beiden nach unten hängenden Schläfenbändchen, die dunkle Bluse und das mit großen Blumenmustern dezent verzierte Schultertuch hätten ein bemerkenswertes Motiv abgegeben. Das daraus entstandene Foto wäre ein ideales erstes Lebenszeichen aus der Bretagne an seine Familie in Breslau gewesen.
Nur kurz hatte die Frau neugierig vom Kutschbock aus auf die beiden Deutschen heruntergeschaut, als sie von ihrem Mann scharf angefahren wurde. Eingeschüchtert wandte sie ihren Kopf zur anderen Seite. Sailer hatte kein Wort von dem verstanden, was der Bauer gerade seiner Frau zugerufen hatte. Das musste wohl Bretonisch sein, diese alte keltische Sprache, die traditionellerweise hier auf dem Lande gesprochen wurde, vor allen Dingen im Westen der Bretagne. Er würde in den nächsten Wochen und Monaten viel Zeit haben, Näheres über diese ihm bisher unbekannte Sprache und Kultur in Erfahrung zu bringen. Seine Ausbilder hatten gerade auf dem einwöchigen Vorbereitungslehrgang in Paris schon einiges über den besonderen Charakter der Bretagne berichtet.
In der Zwischenzeit erreichte das Fuhrwerk die Einmündung zur N 12 und blieb hier stehen. Der Bauer schaute kurz nach links und rechts. Nach einem lauten Peitschenknall und einem energischen »Allez!« setzte sich das Gefährt wieder behäbig in Bewegung und verschwand nach und nach auf der gegenüberliegenden Seite der Nationalstraße auf einer schmalen Landstraße in Richtung eines kleinen Dorfes. Von dort musste vorhin das Angelusläuten gekommen sein. Gerne hätte Sailer auch die Zeit gehabt, sich die auf der Ladefläche sitzenden kleinen Kinder der Bauern etwas näher anzuschauen. Waren es drei oder vier gewesen? Durch die hölzernen Gitterstäbe der Bordwand des Wagens hatte er sie nur schemenhaft wahrgenommen, eingezwängt zwischen mehreren Milchkannen sitzend.
Als Sailer sich jetzt seinen Stahlhelm wieder aufsetzte, holte Zielinski den Zündschlüssel des Motorrads aus seiner linken Hosentasche hervor. Er steckte ihn in das Zündschloss am oberen Rand des Scheinwerfers, öffnete den Benzinhahn und trat beherzt den Kickstarter durch. Sofort setzte sich der noch warme Boxermotor der Zündapp regelmäßig tuckernd in Gang.
Sailer hatte in der Zwischenzeit wieder seinen Platz im Seitenwagen eingenommen. Die Fahrt auf der N 12 Richtung Guingamp konnte weitergehen. Heute Morgen waren die beiden beim Studium der Straßenkarte schon zu dem Ergebnis gekommen, dass sie noch vor Guingamp unbedingt eine Tankstelle ansteuern mussten. Jetzt, gegen 18:20 Uhr, durchquerten sie auf der N 12 einen kleinen Ort kurz vor Saint Brieuc namens Yffiniac. Am Ortsausgang erkannten sie die kleine Dorftankstelle, inzwischen von der Wehrmacht requiriert.
Zielinski steuerte die Zündapp nach rechts und bremste vor einer kleinen Holzbaracke ab. Umgehend zeigte sich ein junger deutscher Soldat in einem ölverschmierten grauen Arbeitskittel. Unaufgefordert hielt ihm Sailer aus dem Beiwagen heraus sein Soldbuch und den Fahrbefehl entgegen. Der Soldat schaute kurz auf die beiden Dokumente, legte diensteifrig seine Hand an den rechten Rand seiner Feldmütze und schleppte zwei Zehnliterkanister Benzin heran. Zielinski füllte umgehend den 23-Liter-Tank der Maschine damit wieder auf. Die beiden Reservekanister waren für den Notfall reserviert. Sie konnten ihre Fahrt fortsetzen. Seit heute Morgen bereits hatte Sailer bemerkt, dass kaum Fahrzeuge mit französischen Kennzeichen unterwegs waren. Zum einen schien es hier in der Bretagne wenig Autos zu geben und außerdem war das Benzin schon seit September 1939 und dem Beginn des Krieges für Zivilisten rationiert worden. Doch fielen ihm hier und da abgestellte und verwaiste PKW auf, augenscheinlich zwangsweise stillgelegt und auf Kanthölzer oder kleine Stapel aus Steinen aufgebockt. Die deutsche Wehrmacht würde sich bestimmt bald dafür interessieren.
Rasch durchquerten sie die Departements Hauptstadt Saint Brieuc. Kurz vor dem westlichen Ausgang der Stadt bemerkte Sailer rechts neben der N 12 an einer dieser hier typischen Kirchen aus grob behauenem grauen Granitstein ein Kriegerdenkmal aus dem Krieg von 14/18. Davor standen zwei französische Gendarmen, rauchend und entspannt auf die Rahmenstange ihrer Dienstfahrräder gestützt. Als das Krad an ihnen langsam vorbeifuhr, grüßten sie lässig durch Handanlegen an ihr Képi. Sailer grüßte militärisch korrekt zurück.
Aber hatte er nicht gerade einen Anflug von Spott auf ihren Gesichtern erkennen können?
Daran musste er sich wohl gewöhnen. Er und seine Kameraden waren schließlich nicht als Gäste, sondern als Okkupanten in Feindesland gekommen.
Gleich hinter St. Brieuc brachte das Hinweisschild „Guingamp — 36 Kilometer“ Sailer wieder auf andere Gedanken. — Na endlich!
Zielinski gab noch einmal Vollgas, zumal die gut asphaltierte Landstraße vor ihnen völlig frei war. Es machte ihm sichtbar Spaß, jetzt kurz vor dem Ziel einmal alles aus dem 26 PS starken Motor der Zündapp herauszuholen. Während der Fahrt schaute der Gefreite ab und zu nach rechts auf den im Beiwagen sitzenden Leutnant. Sailer war tatsächlich eingeschlafen. Kein Wunder nach dieser langen und beschwerlichen Fahrt und für Stunden eingezwängt in dem Beiwagen. Hinter einer scharfen Rechtskurve und einem kleinen Hügel tauchte endlich Guingamp vor ihnen auf. Überhastet schaltete Zielinski in einen kleineren Gang, was der Motor mit einem lauten Aufheulen quittierte. Sofort war Sailer wieder hellwach. Unter den zahlreichen in deutscher Sprache gehaltenen Hinweisschildern am Straßenrand machte der Leutnant das Schild „Kommandantur“ aus und gab seinem Fahrer per Handzeichen den Befehl, jetzt die N 12 nach rechts zu verlassen. Langsam rumpelte die Maschine über das grobe und holprige Kopfsteinpflaster der Chaussee. Vor ihnen lag das kleine Städtchen Guingamp. Neugierig schaute Sailer auf die Reste einer Jahrhunderte alten Stadtmauer, die noch keinen richtigen Blick auf die dahinter liegende kleine Provinzstadt freigab. Nur der hohe Turm einer stattlichen Kirche zeichnete sich bereits deutlich ab.
Kurz bevor Zielinski die Zündapp durch das schmale östliche Stadttor steuerte, stellte sich bei Sailer ein Gefühl großen Glücks ein: Er, Leutnant Paul Sailer, stolzer Offizier der siegreichen deutschen Armee, 24 Jahre jung, freute sich auf das Abenteuer Guingamp!
»Bonjour, Monsieur le Capitaine!«
Die beiden am Hafen wartenden Gendarmen, Le Gall und Guillou, freuten sich sichtbar, ihren Chef zu sehen. Sie waren es, die ihn heute Morgen telefonisch alarmiert hatten. Ein Leichenfund auf der friedlichen Insel. Auch wenn bisher nichts auf ein Verbrechen hinwies, wollten sie gerne, dass sich ihr Hauptmann selbst ein Bild vor Ort machte. Nur in der Ferienzeit war der Polizeiposten auf der kleinen Insel Bréhat mit zwei Beamten aus Paimpol besetzt. Abwechselnd verrichteten zwei Gendarmen jeweils für einen Monat hier ihren Dienst. Im Gegenzug dafür bekam Toudic im Sommer personelle Unterstützung durch Polizisten aus anderen Teilen Frankreichs. Gerade in der Ferienzeit und einem Ansturm von 300.000 Touristen gab es in der quirligen Hafenstadt Paimpol für ihn und seine Leute besonders viel Arbeit. Bei der Diensteinteilung hatte Toudic nie Schwierigkeiten, aus der Gruppe seiner Feldwebel zwei Freiwillige für Bréhat zu finden. Diese vier Wochen Dienst auf der malerischen und nur drei Quadratkilometer großen Insel galten unter den Ordnungshütern eher als Urlaub. Obendrein vergoldeten ihnen noch ein lukratives Trennungsgeld und Tagesspesen die Zeit auf Bréhat.
Ihre Arbeit bestand lediglich darin zu überwachen, dass nicht ohne Erlaubnis am Strand geangelt wurde, oder Touristen, die mit ihren vélos über die spärlichen Inselwege rasten, in ihre Schranken zu weisen. Gelegentlich mussten die Gendarmen auch eingreifen, wenn Restaurantgäste die Zeche prellten oder Ausflügler am Souvenirladen Andenken ohne Bezahlung mitgehen ließen.
Ansonsten benutzten einige Fischer und Bauern auf dieser autofreien Insel Minitrecker. Der weitere Fuhrpark bestand lediglich aus einem kleinen Jeep für die Inselärztin, der gleichzeitig von den Pompiers, den Feuerwehrleuten, im Notfall benutzt wurde. Letztere verfügten auch noch über ein SAVIEM Löschfahrzeug und ein kleines Seenotrettungsboot.
Außerhalb der Ferienzeit kamen die etwa 350 ständigen Inselbewohner mühelos ohne flics aus. Aber von Mai bis September zog es hier Tausende von Gästen auf die „Blumeninsel“, wie Bréhat auch auf Grund ihrer farbenprächtigen Blumen- und Pflanzenvielfalt genannt wurde. Die meisten reisten mit dem Fährschiff als Tagesgäste an. Andere blieben länger. Sie fanden eine Unterkunft in den Inselhotels oder mieteten sich bei den Insulanern ein. Viele junge Leute zogen es vor, einfach ihr Zelt auf dem Campingplatz unweit des Hafens, aufzuschlagen. Wenn hier des Nachts zu laut gefeiert wurde, waren ebenfalls die beiden Gendarmen aus Paimpol gefordert.
Auch die Angehörigen der diensthabenden Beamten kamen gerne am Wochenende auf Besuch, aber nur als Tagesgäste. Es war schon schwierig genug, den beiden Polizisten ein winziges Büro und eine spartanische Unterkunft über dem kleinen Feuerwehrstützpunkt der Ile de Bréhat zur Verfügung zu stellen. Aber alles in allem ließ es sich als Polizist auf Zeit wirklich sehr gut aushalten auf diesem herrlichen Stückchen Erde, nur fünf Kilometer vom Festland entfernt.
»Bonjour, Messieurs!«, begrüßte Toudic seine beiden Kollegen freundlich.
»Was ist passiert?« Die beiden Gendarmen berichteten kurz darüber, wie sie heute Morgen gegen 7:30 Uhr auf ihrer Routinepatrouille über die Insel eine männliche Leiche gefunden hatten. Sie habe am Fuß des Leuchtturms Le Paon, an der Nordspitze Bréhats, am Strand gelegen. Nachdem sie den Fundort sorgfältig abgesucht, gesichert und im näheren Umkreis alles vorsorglich fotografiert hatten, sei der tote Mann mit Hilfe der Inselfeuerwehr zum Bourg de Bréhat, dem kleinen Siedlungszentrum der Insel, gebracht worden.
»Mon Capitaine, gehen wir am besten direkt zum Kühlhaus der Fischereigenossenschaft. Dorthin haben wir den Leichnam vorsichtshalber bringen lassen«, schlug Le Gall vor.
Die drei Gendarmen ließen den kleinen Hafen hinter sich. Mit einem lauten Signal des Schiffshorns verabschiedete sich gerade die Fähre, mit der Toudic vorhin angekommen war, und nahm ihre 15-minütige Rückfahrt Richtung Pointe de l’Arcouest auf. Toudic, Le Gall und Guillou stiegen am Ende des Hafengeländes ein gutes Dutzend Steinstufen hinauf. Oben angekommen, zogen die drei Uniformierten sogleich viele neugierige Blicke der Touristen auf sich. Vor ihnen lag Le Bourg de Bréhat, der Dorfmittelpunkt der Insel. Alles war Toudic so vertraut. Er besuchte seit vielen Jahren gerne die Ile de Bréhat, bisher aber immer privat. Er freute sich jedes Mal, hier zu sein, auf dieser einzigartigen Insel mit ihrem milden Klima, vom Golfstrom umspült. Schnellen Schrittes überquerten die drei Beamten den überschaubaren, aber sehr belebten Kirchplatz mit seinen Souvenirläden, einladenden Restaurants und Crêperien. Auch ein kleiner Supermarché befand sich hier.
Toudic schaute kurz sehnsüchtig auf den Außenbereich eines Restaurants, dessen Plätze, bestens beschirmt, allesamt besetzt waren. Es war Mittagszeit. Gerne hätte er sich dazu gesetzt und etwas Kaltes getrunken. Auch wäre es Zeit für einen frischen Salat gewesen. Erst jetzt bemerkte er, wie schwer ihm sein durchgeweichtes Sandwich von heute Morgen im Magen lag. Deswegen war es gut, ein paar Schritte zu laufen. Am rechten Rand des Marktplatzes lag die Mairie, das kleine hübsche Rathaus der Insel. Links oben über dem Eingang hing bewegungslos eine große bretonische Fahne.
Gwenn ha Du, weiß und schwarz, gestreift. Kein Lüftchen regte sich. Auch die daneben hängende Trikolore baumelte schlaff vom oberen Türrahmen herab.
»War sie nicht deutlich kleiner als die bretonische Flagge?«, fragte sich Toudic. Gerade hatten sich Le Gall und Guillou mit einem Taschentuch Schweiß von der Stirn abgewischt. Kein Wunder bei dieser Mittagshitze und in ihren dunkelblauen Uniformen, mit dem obligatorischen Dienstképi auf dem Kopf.
Auch Toudic fing an, sich ein schattiges Plätzchen sehnlichst herbeizuwünschen. Unter Platanen neben der Dorfkirche Notre Dame de Bréhat beobachtete er ein paar Insulaner beim Boule-Spiel. Diese sechs Bréhatins im Ruhestand mit ihren von Wind und Wetter gegerbten Gesichtern trugen Schirmmützen, langärmelige Hemden und lange helle Hosen aus leichtem Stoff. Natürlich wurde die ewige filterlose Gauloises in ihrem Mundwinkel auch während des Spielens nicht abgelegt. Von der Kirche mit ihrem nach oben offenen gemauerten Glockenturm schlug die Uhr jetzt drei Mal. 11:45 Uhr.
»Allez, on va prendre l’apéritif!«
Zeit für die alten Herren, die Kugeln einzupacken und aufzubrechen. Toudic blickte ihnen neidisch hinterher, wie sie den neben der Kirche liegenden Bar Tabac ansteuerten, um dort im kühlen Inneren ihren täglichen Aperitif zu trinken.
Endlich zeigte Le Gall nach links.
»Wir sind gleich da, mon Capitaine.«
Obwohl sich Toudic ganz gut auf der Insel auskannte, war ihm das Kühlhaus der Inselfischer noch nie aufgefallen. Es musste wohl neueren Datums sein. Sie bogen nach links ab und setzten unterhalb der auf einem kleinen Hügel gelegenen Kapelle Saint Michel ihren Weg durch ein Fleckchen Heidelandschaft fort. Etwa 200 Meter hinter Saint Michel und noch mit genügend Abstand zur schroffen und steilen Felsküste lag ein moderner Zweckbau mit Flachdach. Zwei kleine Traktoren mit Anhänger parkten davor. Von einem dieser Einachser bellte ein struppiger Schäferhundmischling die drei Männer wütend an. Zum Glück war er an dem kleinen Anhänger angekettet. Überall roch es stark nach Fisch.
Vor dem Eingang des Gebäudes döste ein junger Mann in einem blauen Overall, der auf einem knallbunten Campingstuhl saß. Als er die drei Gendarmen ankommen sah, schreckte er hoch. Le Gall hatte den jungen Feuerwehrmann heute Morgen angewiesen, den Eingang zu bewachen. Kein Unbefugter sollte Zugang zum Kühlraum bekommen.
»Salut, Madame le Docteur wartet drinnen schon auf Sie.« Der junge Pompier war erkennbar froh über das Ende seiner Mission.
Mit einem kurzen Kopfnicken ging Le Gall an dem Mann vorbei und öffnete wortlos die Eingangstür des Gebäudes. Die beiden anderen folgten ihm. Sie betraten eine größere Vorhalle. Links hingen Fischernetze an der Wand. In geräumigen Holzregalen stauten sich unterschiedliche Arbeitsutensilien für den Fischfang, wie Plastikbehälter in allen Größen und Formen, Fangkörbe sowie Kühlboxen aus Styropor. Neben dem letzten Regal lagerte noch ein kleines, ausrangiertes Beiboot aus hellem Hartplastik, das bestimmt bis vor kurzem zur Ausrüstung eines Fangbootes gehört hatte. Rechts war hinter einer Glasscheibe ein kleines Büro zu erkennen, in dem zwei Fischer mit der Sekretärin der Fischereigenossenschaft diskutierten. Die junge Frau schaute kurz auf und lächelte den drei Beamten freundlich zu. Die beiden Fischer schienen hingegen von den Gendarmen keine Notiz zu nehmen.
Am Ende der Vorhalle schob Le Gall eine schwere Schiebetür aus Milchglas auf. Sofort hörte man das dumpfe Brummen des Kühlaggregates. Eisige Luft schlug den Gendarmen entgegen. Überall grüne oder graue Plastikwannen. Hier stand der frisch eingelagerte Fang und wartete darauf, an Kunden auf der Insel oder im nahen Paimpol für gutes Geld verkauft zu werden. Aber auch im fernen Paris fanden frische Austern, Muscheln, Hummer und Meeresfische aus der Bretagne ihren reißenden Absatz. Wenige Augenblicke nach dem Betreten der Kühlhalle fing Toudic an zu frieren. Ein Temperatursturz von mehr als 40 Grad Celsius innerhalb von Sekunden. — Mon Dieu! In der Mitte der Kühlhalle erleuchtete ein Deckenstrahler in hellem Licht einen langen Holztisch, auf dem die unbekleidete Leiche lag. An der Kopfseite des Tisches stand die Inselärztin. Le Gall und Guillou hatten sie nach dem Auffinden des Toten heute Morgen um eine erste Begutachtung des Toten gebeten. Toudic ging auf sie zu, stellte sich vor und begrüßte per Handschlag die zierliche Frau mittleren Alters, Madame Prigent. Über ihrem Ärztekittel trug sie eine helle Gummischürze. Le Gall und Guillou schauten neugierig auf den Untersuchungstisch, blieben aber in respektvollem Abstand dazu stehen.
»Was können können Sie bereits sagen, Madame Prigent?«
»Der Mann müsste um die 60 Jahre alt sein. Rein äußerlich befand er sich in einem guten gesundheitlichen Zustand. Kein Übergewicht, 171 cm Körpergröße, guter Zustand der Zähne. An zwei Stellen sind schwere Kopfverletzungen deutlich zu erkennen. Wahrscheinlich hat er sie sich beim Sturz vom Felsen aus mehreren Metern Höhe zugezogen. Auf den ersten Blick deutet nichts auf eine Fremdeinwirkung hin.«
»Und der Todeszeitpunkt?«
»Vermutlich irgendwann gestern Abend«,
erwiderte Madame Prigent.
»Haben Sie sonstige Beobachtungen gemacht, Madame?«
»Dem Toten fehlen zwei Zehen, links der kleine, rechts die mittlere Zehe und…«
»Ja, Madame …»
»…unter drei Fingernägeln der rechten Hand habe ich kleinere Blutreste entdeckt. Vielleicht hat sich der Mann einfach nur gekratzt oder sie rühren vom Sturz her. Der Tote hatte keine Papiere bei sich. Seine Kleidung sehen Sie hier«. Dabei zeigte sie auf einen quadratischen metallenen Beistelltisch, der rechts neben dem großen Tisch stand.
»Das Fehlen der beiden Zehen erklärt auch, warum er orthopädische Schuhe trug. Brauchen Sie mich noch, meine Herren? Ansonsten warten ab 13:00 Uhr meine Hausbesuche bei mehreren Patienten auf mich.«
Toudic antwortete umgehend:
»Nein, wir haben uns ein Bild gemacht. Ich danke Ihnen für Ihre Mühen, Madame Prigent.«
Behände deckte die Ärztin eine helle Plastikplane über die Leiche und befreite sich danach von ihrer Schürze und ihrem Kittel. Darunter trug die dezent geschminkte Frau eine makellos weiße Bluse und eine helle Jeans. Ihr dunkles natürliches Haar, kurz geschnitten und nur von einigen silbernen Fäden durchzogen, rundete das Bild einer immer noch sehr attraktiven und sportlichen Frau um die 50 Jahre ab. Madame Prigent verstaute ihren Kittel und die Schürze in einem an der Wand stehenden Blechspind. Daraus entnahm sie ihren kleinen Rucksack und setzte sich eine modische Sonnenbrille im Peter-Fonda-Stil auf.
Beim Verlassen des Kühlraums versprach sie Toudic, ihm in den nächsten Tagen einen kurzen schriftlichen Bericht zukommen zu lassen. Auf Toudic hatte diese bemerkenswerte Frau mit ihren braunen Augen, ihrer warmen Stimme und ihrem festen Blick Eindruck gemacht.
Die drei Polizisten verließen ebenfalls den Kühlraum. Toudic bat die Sekretärin darum, den drei Polizisten für fünf Minuten das Büro zu überlassen. Die beiden Fischer hatten das Büro inzwischen verlassen. Die junge Frau nahm die Möglichkeit freudig an, jetzt gleich im Freien eine Zigarette rauchen zu können.
»Wie schätzen Sie die Lage nach dem Bericht von Madame Prigent ein, Messieurs?«, begann Toudic.
Ziemlich schnell waren sich die Beamten darüber einig, dass vor allen Dingen wegen der Blutspuren unter den Fingernägeln doch eine Obduktion in der Gerichtsmedizin durchzuführen sei. Toudic bediente sich des Telefons im Büro der Fischereigenossenschaft und rief bei der Präfektur in der Departements-Hauptstadt Saint Brieuc an. Nach einem kurzen Gespräch konnte er seinen beiden Kollegen Folgendes mitteilen: In gut einer Stunde würde von dort ein Hubschrauber der Gendarmerie Nationale den Toten abholen und zur Rechtsmedizin der Universitätsklinik in Rennes, dem Centre Hospitalier Universitaire (CHU), bringen.
Als die Sekretärin jetzt wieder ins Büro zurückkehrte, wies der Hauptmann sie an, den Kühlraum bis zum Eintreffen der Kollegen aus St. Brieuc zu verschließen.
Endlich draußen vor der Tür des Gebäudes der Fischereigenossenschaft angekommen, schlug Toudic Le Gall und Guillou vor, am Kirchplatz eine Mittagspause einzulegen.
Die beiden Beamten nahmen diesen Vorschlag ihres Chefs hoch erfreut auf.
»Nach der Mittagspause«, so kündigte Toudic an, »nehmen wir drei noch einmal den Fundort des Toten am Leuchtturm ganz genau unter die Lupe! — Vielleicht ergibt unsere Nachsuche mit sechs Augen doch noch etwas Neues!«
Nach ihrer Ankunft am Vorabend des 10. Juli in Guingamp hatten sich Sailer und Zielinski gegen 19:15 Uhr gleich in der örtlichen Kommandantur angemeldet. Dort erfuhren sie, wo sie in Guingamp Quartier beziehen sollten: Der Gefreite bekam ein Bett in der nahen Infanterie-Kaserne zugewiesen. Bis zu ihrem militärischen débâcle der französischen Armee vom Mai/Juni 1940 war hier das 48. Régiment d’Infanterie stationiert.
Auf Sailer wartete ein Zimmer in einem Haus in der Rue du Docteur Corson. Der Leutnant befahl seinem Fahrer, am nächsten Morgen um 11:00 Uhr vor der Kommandantur am Boulevard Clemenceau auf ihn zu warten. Zum Glück war Guingamp nur eine kleine Provinzstadt mit 6000 Einwohnern, so dass sich beide Soldaten hier schnell zurechtfinden würden. Sailer war die wenigen Schritte von der Kommandantur bis zur Rue du Docteur Corson zu Fuß gegangen. Neugierig hatte er sich auf seinem Weg in die neue Bleibe umgeschaut.
In dem Ort herrschte eine gespenstische Ruhe, nur kurz unterbrochen von einigen Fahrzeugen der Wehrmacht, die scheppernd über das Straßenpflaster rumpelten. Von den Einheimischen war jetzt gegen 19:35 Uhr und kurz vor dem allgemeinen Ausgangsverbot niemand zu sehen. Wahrscheinlich hielten sie immer noch den Kopf eingezogen und wollten abwarten, was die vor kurzem über sie gekommenen deutschen Besatzer vorhatten, dachte sich Sailer. Beim Überqueren der kleinen Place Saint Michel, kurz vor seinem Ziel, flog die Tür einer Bar auf und zwei junge Männer, die wild aufeinander einprügelten, platzten heraus. Der eine von ihnen blutete kräftig aus der Nase, der andere beschimpfte ihn wüst. Als sie jedoch den deutschen Soldaten sahen, ließen sie sofort erschrocken voneinander ab und verschwanden fluchtartig im Inneren der Kneipe. Deren Namen erfuhr Sailer durch das Schild über der Eingangstür: “Ty Jakez“. — »Klingt seltsam«, dachte sich der Leutnant.
Die Rue du Docteur Corson lag jetzt direkt vor ihm. Sie machte auf ihn gleich einen sympathischen Eindruck. Links und rechts standen Einfamilienhäuser aus grauem Granit oder braunen Natursteinen unterschiedlicher Größe und Färbung. Allen gemein war die Bedachung mit Ziegeln aus Schiefer. Die mehrheitlich sehr gepflegten Häuser standen direkt an der engen Straße und ließen keinen Blick auf die dahinter liegenden Gärten zu.
Wahrscheinlich waren die Grundstücke noch viel größer, als der Betrachter von der Straße aus vermuten konnte, dachte sich Sailer. Von der Place Saint Michel her kommend stieg die Straße leicht an. Als der Leutnant nach wenigen Metern einen parkenden VW-Kübelwagen auf der linken Straßenseite ausmachte, wusste er, dass er die Hausnummer 19 erreicht hatte. Kurz blieb er davor stehen. Aus seiner Heimat Breslau über Freiburg, Paris und Rennes hatte ihn der Krieg hierher verschlagen, ganz in den Westen Frankreichs, nach Guingamp, nach seinen ersten Eindrücken eine beschauliche Provinzstadt, von der er vorher noch nie etwas gehört hatte.
Zur Straße hin begrenzte ein geschmiedeter Zaun mit hohen schwarzen Streben und mit pfeilähnlichen Spitzen das Grundstück Nummer 19. Beim Betreten des Anwesens bemerkte Sailer über der schweren Außentür an der Straße die beiden in geschwungener Schrift gehaltenen Wörter „Ker Bugale“.