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Sämtliche Romane, Erzählungen und alle Zusammenarbeiten mit anderen Autoren. Die fantastischen Meisterwerke des amerikanischen Kultautors zum günstigen Komplett-Preis. Insgesamt 102 Geschichten in ungekürzten, unverfälschten Übersetzungen. Dieses eBook enthält nicht die Illustrationen von Timo Wuerz. Stephen King: »Der größte Horrorautor des 20. Jahrhunderts ist H. P. Lovecraft – daran gibt es keinen Zweifel.« Michel Houellebecq: »Wir beginnen gerade erst, Lovecrafts Werk richtig einzuordnen, auf gleicher Ebene oder sogar höher als das von Edgar Allan Poe. Auf jeden Fall als ein absolut einzigartiges. (…) Jede seiner Geschichten ist ein Stück unverblümter und zähneklappernder Furcht.« Clive Barker: »Lovecrafts Werk bildet die Grundlage des modernen Horrors.« Band I Das Tier in der Höhle Der Alchemist Die Gruft Dagon Polaris Jenseits der Mauer des Schlafes Das Gedächtnis Der Übergang des Juan Romero Das weiße Schiff Das Verderben, das über Sarnath kam Die Aussage des Randolph Carter Die grüne Wiese Ibid Der schreckliche alte Mann Der Baum Die Katzen von Ulthar Der Tempel Die Fakten über Arthur Jermyn und seine Familie Die Straße Celephaïs Aus dem Jenseits Nyarlathotep Das Bild im Haus Die Dichtkunst und die Götter Ex Oblivione Stadt ohne Namen Iranons Suche Das Mond-Moor Der Außenseiter Die anderen Götter Die Musik des Erich Zann Re-Animator Das schleichende Chaos Hypnos Was der Mond bringt Azathoth Der Hund Die lauernde Furcht Der Schrecken von Martin's Beach Die Ratten im Gemäuer Band II Das Unnennbare Das Fest Vom Wolf, der Gespenster fraß Asche Die geliebten Toten Gefangen bei den Pharaonen Das gemiedene Haus Taub, stumm, und blind Das Grauen in Red Hook Er In der Gruft Der Nachkomme Kühle Luft Der Ruf des Cthulhu Pickmans Modell Der silberne Schlüssel Das seltsame Haus hoch oben im Nebel Zwei schwarze Flaschen Das letzte Experiment Das uralte Volk Band III Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath Der Fall Charles Dexter Ward Die Farbe aus dem All Das Geschöpf im Mondlicht Das Grauen von Dunwich Band IV Geschichte des Necronomicon Der Fluch des Yig Die elektrische Hinrichtungsmaschine Der Flüsterer im Dunkeln Der Hügel Die Falle Das Haar der Medusa Der Schatten über Innsmouth Band V Berge des Wahnsinns Träume im Hexenhaus Das Grauen im Museum Der Mann aus Stein Durch die Tore des silbernen Schlüssels Das Ding auf der Schwelle Der böse Geistliche Das Buch Tötet das Ungeheuer! Der Schatz der Zauber-Bestie Flügel des Todes Der Faustkampf am Ende des Jahrhunderts Der Baum auf dem Hügel Der Zauber des Aphlar Band VI Aus Äonen Der Schatten aus der Zeit Jäger der Finsternis Bis zur Neige Sterbende Universen Die Bedrohung aus dem Weltraum Das Tagebuch des Alonzo Typer Das Grauen auf dem Friedhof Die versiegelte Urne Das Nachtmeer In den Mauern von Eryx Die Exhumierung Bothon Die Diener Satans Vier Uhr
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Seitenzahl: 3800
Veröffentlichungsjahr: 2020
Impressum
Eine Festa Originalausgabe
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild & Illustrationen: Timo Wuerz
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-889-6
www.Festa-Verlag.de
Inhalt
Das Tier in der Höhle
Der Alchemist
Die Gruft
Dagon
Polaris
Jenseits der Mauer des Schlafes
Das Gedächtnis
Der Übergang des Juan Romero
Das weiße Schiff
Das Verderben, das über Sarnath kam
Die Aussage des Randolph Carter
Die grüne Wiese
Ibid
Der schreckliche alte Mann
Der Baum
Die Katzen von Ulthar
Der Tempel
Die Fakten über Arthur Jermyn und seine Familie
Die Straße
Celephaïs
Aus dem Jenseits
Nyarlathotep
Das Bild im Haus
Die Dichtkunst und die Götter
Ex Oblivione
Stadt ohne Namen
Iranons Suche
Das Mond-Moor
Der Außenseiter
Die Anderen Götter
Die Musik des Erich Zann
Re-Animator
Das schleichende Chaos
Hypnos
Was der Mond bringt
Azathoth
Der Hund
Die lauernde Furcht
Der Schrecken von Martin’s Beach
Die Ratten im Gemäuer
Das Unnennbare
Das Fest
Vom Wolf, der Gespenster fraß
Asche
Die geliebten Toten
Gefangen bei den Pharaonen
Das gemiedene Haus
Taub, stumm und blind
Das Grauen in Red Hook
Er
In der Gruft
Der Nachkomme
Kühle Luft
Der Ruf des Cthulhu
Pickmans Modell
Der silberne Schlüssel
Das seltsame Haus hoch oben im Nebel
Zwei schwarze Flaschen
Das letzte Experiment
Das uralte Volk
Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath
Der Fall Charles Dexter Ward
Die Farbe aus dem All
Das Geschöpf im Mondlicht
Das Grauen von Dunwich
Geschichte des Necronomicon
Der Fluch des Yig
Die elektrische Hinrichtungsmaschine
Der Flüsterer im Dunkeln
Der Hügel
Die Falle
Das Haar der Medusa
Der Schatten über Innsmouth
Berge des Wahnsinns
Träume im Hexenhaus
Das Grauen im Museum
Der Mann aus Stein
Durch die Tore des silbernen Schlüssels
Das Ding auf der Schwelle
Der böse Geistliche
Das Buch
Tötet das Ungeheuer!
Der Schatz der Zauber-Bestie
Flügel des Todes
Der Faustkampf am Ende des Jahrhunderts
Der Baum auf dem Hügel
Der Zauber des Aphlar
Aus Äonen
Der Schatten aus der Zeit
Jäger der Finsternis
Bis zur Neige
Sterbende Universen
Die Bedrohung aus dem Weltraum
Das Tagebuch des Alonzo Typer
Das Grauen auf dem Friedhof
Die versiegelte Urne
Das Nachtmeer
In den Mauern von Eryx
Die Exhumierung
Bothon
Die Diener Satans
Vier Uhr
Quellen und Übersetzer
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Das Tier in der Höhle
Die entsetzliche Schlussfolgerung, die sich meinem verwirrten und zögerlichen Verstand allmählich aufgedrängt hatte, war nun schreckliche Gewissheit. Ich war verloren, vollkommen, hoffnungslos verloren in den gewaltigen und labyrinthischen Tiefen der Mammuthöhle. In welche Richtung ich mich auch wendete, nirgends konnten meine angestrengten Augen einen Gegenstand ausmachen, der mir als Hinweis für einen Weg nach draußen hätte dienen können. Dass ich nimmermehr das gesegnete Licht des Tages und die schönen Hügel und Täler der herrlichen Außenwelt sehen würde, daran konnte mein Verstand mittlerweile nicht mehr zweifeln. Ich verlor jegliche Hoffnung.
Doch da ich mein ganzes Leben lang philosophische Studien betrieben hatte, empfand ich eine gewisse Befriedigung über mein gefasstes Verhalten, denn ich hatte schon häufig darüber gelesen, dass Opfer ähnlicher Situationen in eine irre Raserei geraten, doch ich selbst blieb davon verschont – ich verharrte ruhig, sobald mir klar bewusst wurde, dass ich die Orientierung verloren hatte. Die Vorstellung, dass ich wahrscheinlich viel zu weit vom Weg abgekommen war, um von einem Suchtrupp entdeckt zu werden, brachte mich ebenfalls keine Sekunde aus der Fassung. Wenn ich also sterben musste, grübelte ich, dann war diese schreckliche und zugleich majestätische Höhle mir als Grabstätte ebenso willkommen wie jeder Friedhof, und diese Vorstellung hatte eher etwas Beruhigendes als etwas Verzweifeltes.
Der Hunger würde mir zum Verhängnis werden, dessen war ich mir sicher. Einige Menschen, das wusste ich, waren unter diesen Umständen wahnsinnig geworden, doch ich spürte, dass mir ein solches Ende nicht beschieden sein sollte. An meinem Verhängnis trug allein ich die Schuld, denn ich hatte mich ohne Wissen unseres Führers von der übrigen Besichtigungsgruppe getrennt und über eine Stunde lang die verbotenen Wege der Höhle erforscht, und jetzt war ich nicht mehr in der Lage, den Rückweg durch die wirren Windungen, die ich durchlaufen hatte, zu finden.
Das Licht meiner Taschenlampe verblasste bereits; nicht mehr lange, und mich würde die völlige, fast greifbare Schwärze der Eingeweide der Erde umfangen. So stand ich im fahlen, unsteten Licht und stellte müßige Überlegungen über die genauen Umstände meines bevorstehenden Endes an. Ich erinnerte mich an die Berichte über die Kolonie der Schwindsüchtigen, die sich in dieser gigantischen Grotte niedergelassen hatte, um an der vermeintlich heilsamen, reinen Luft der unterirdischen Welt, den gleichmäßigen Temperaturen und der friedlichen Stille zu genesen, doch die stattdessen ein merkwürdiger und grausiger Tod ereilt hatte. Ich hatte die Überreste ihrer grob gezimmerten Hütten gesehen, als wir mit der Besuchergruppe daran vorbeigingen, und mich gefragt, welchen unnatürlichen Einfluss ein langer Aufenthalt in dieser gewaltigen und stillen Höhle auf jemanden wie mich, der gesund und kräftig ist, ausüben würde. Und jetzt, so sagte ich mir finster, hatte ich die Gelegenheit, diese Frage zu beantworten, vorausgesetzt, dass der Mangel an Nahrung mich nicht zu schnell aus diesem Leben beförderte.
Während die letzten, zitternden Strahlen meiner Taschenlampe vergingen, fasste ich den Entschluss, bei der Suche nach einem möglichen Ausweg jeden Stein umzudrehen und keine Möglichkeit zu entkommen außer Acht zu lassen. Als Erstes nahm ich alle Kräfte meiner Lunge zusammen und stieß mehrere laute Schreie aus, in der vergeblichen Hoffnung, dadurch den Führer auf mein Los aufmerksam zu machen. Doch noch während ich schrie, wusste ich bereits, dass meine Bemühungen sinnlos waren und dass meine von den unzähligen Wällen des schwarzen Labyrinths verstärkte und zurückgeworfene Stimme von keinen außer meinen Ohren vernommen wurde.
Doch dann wurde meine Aufmerksamkeit abrupt auf etwas anderes gerichtet, denn ich glaubte, das Geräusch sanfter, sich nähernder Schritte auf dem felsigen Boden der Höhle zu hören.
Sollte ich so schnell Rettung finden? Waren all meine schrecklichen Vorahnungen also müßig gewesen? Hatte der Fremdenführer mein eigenmächtiges Entfernen von der Gruppe bemerkt und suchte er mich jetzt in diesem Irrgarten aus Sandstein? Als diese freudigen Gedanken in mir aufstiegen, wollte ich erneut rufen, um schneller gefunden zu werden, als sich beim Lauschen meine Freude innerhalb eines Augenblickes in Entsetzen verwandelte, denn mein gutes Gehör, das in der völligen Stille der Höhle noch an Schärfe gewonnen hatte, trug meinem betäubten Verstand das unerwartete und erschreckende Wissen zu, dass diese Schritte nicht wie die eines sterblichen Menschen klangen. In der unweltlichen Stille dieses unterirdischen Reiches hätten die Schritte des gestiefelten Fremdenführers wie scharfe, durchdringende Schläge klingen müssen. Diese Laute klangen jedoch sanft und verstohlen, wie von den Pfoten einer Katze. Bei genauerem Hinhören schien es mir außerdem, als vernähme ich die Schritte von vier statt von zwei Füßen.
Ich war nun überzeugt, dass ich durch meine Rufe ein wildes Tier, einen Berglöwen vielleicht, auf mich aufmerksam gemacht hatte, der zufällig in dieser Höhle umherstreunte. Vielleicht, so überlegte ich, hatte der Allmächtige ein schnelleres und gnädigeres Ende als das Verhungern für mich vorgesehen. Doch in meiner Brust regte sich der nie völlig unterdrückte Selbsterhaltungstrieb, und obwohl eine Flucht vor der sich nähernden Gefahr für mich bloß ein härteres und langwierigeres Ende bedeutete, war ich dennoch fest entschlossen, mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.
So sonderbar das auch erscheinen mag, mein Verstand vermochte dem sich nähernden Besucher ausschließlich böse Absichten zu unterstellen. Daher verhielt ich mich ganz still, in der Hoffnung, dass sich das unbekannte Tier in Ermangelung eines Geräusches, das es zu mir zu führte, ebenso verlaufen würde wie ich – und so an mir vorbeilaufen würde. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die seltsamen Schritte kamen stetig näher, da das Tier offenkundig meine Witterung aufgenommen hatte, was in einer von allen äußeren Ablenkungen freien Atmosphäre wie der in dieser Höhle zweifellos selbst aus großer Entfernung möglich war.
Da ich mich also gegen einen unheimlichen und unsichtbaren Angriff aus dem Dunkeln wappnen musste, sammelte ich tastend die größten Felsstücke ein, die in meiner Nähe auf dem Höhlenboden lagen. Ich nahm in jede Hand eines, um sofort reagieren zu können, und wartete ergeben auf das, was unausweichlich geschehen musste. In der Zwischenzeit näherte sich das scheußliche Tapsen der Pfoten. Das Verhalten der Kreatur war sehr merkwürdig. Die meiste Zeit über schienen die Schritte die eines Vierfüßers zu sein, der sich mit einem seltsamen Mangel an Einklang zwischen den Vorder- und Hinterläufen bewegte, doch mehrmals meinte ich, dass gelegentlich nur zwei Füße für das Vorankommen sorgten.
Ich fragte mich, mit welcher Tiergattung ich es gleich zu tun haben würde; es musste sich, stellte ich mir vor, um ein unglückliches Geschöpf handeln, das seine Neugier, einen der Eingänge zu der fürchterlichen Grotte zu erkunden, mit lebenslanger Haft in den unendlichen Weiten bezahlte. Es ernährte sich wohl von den augenlosen Fischen, Fledermäusen und Ratten der Höhle, sicherlich auch von den gewöhnlichen Fischen, die bei jedem Hochwasser des Green River hereingespült werden, die ihn über verborgene Wege mit den Gewässern in der Höhle verbinden.
Ich füllte mein entsetzliches Warten mit grotesken Mutmaßungen darüber aus, welche körperlichen Veränderungen das Höhlenleben bei dem Tier ausgelöst haben mochte, und erinnerte mich an einige örtliche Überlieferungen, die darüber berichteten, wie grausig die Schwindsüchtigen ausgesehen hatten, die nach langem Aufenthalt in der Höhle gestorben waren. Dann fiel mir plötzlich ein, dass ich, selbst wenn ich mich erfolgreich gegen meinen Gegner wehren konnte, niemals seine Gestalt sehen würde, denn meine Taschenlampe war doch längst erloschen und Streichhölzer trug ich keine bei mir.
Die Anspannung in meinem Hirn wurde unerträglich. Meine aufgewühlte Fantasie beschwor die abstoßendsten und grässlichsten Erscheinungen aus der mich umgebenden Finsternis herauf, die mich regelrecht körperlich anzugreifen schien. Näher, näher kamen die furchtbaren Schritte. Ich hatte das Gefühl, einen durchdringenden Schrei ausstoßen zu müssen, doch selbst wenn ich diesem Drang nachgegeben hätte, wäre meine Stimme wohl kaum dazu in der Lage gewesen. Ich stand wie versteinert, auf die Stelle genagelt. Ich bezweifelte, ob mein rechter Arm im entscheidenden Moment wirklich fähig war, dem sich nähernden Wesen den Gesteinsbrocken entgegenzuschleudern. Nun war das stete Tapp-tapp der Schritte nahe – jetzt ganz nahe. Ich konnte den mühsamen Atem des Tieres hören, und angsterfüllt, wie ich war, bemerkte ich doch, dass es aus beträchtlicher Entfernung hergekommen sein musste und deshalb erschöpft war.
Mit einem Mal brach der Bann. Meine rechte Hand, von meinem immer verlässlichen Gehör geleitet, warf mit ganzer Kraft den spitzen Kalkstein ins Dunkel, in die Richtung, aus der das Atmen und Tapsen kam. Es ist erfreulich, berichten zu können, dass der Stein beinahe sein Ziel erreichte, denn ich hörte das Wesen zur Seite springen und wieder landen, wo es dann zu warten schien.
Ich zielte wieder und warf den zweiten Stein, dieses Mal mit mehr Erfolg, denn mit Freude hörte ich, wie das Geschöpf, den Geräuschen nach, zusammenbrach und offenbar regungslos liegen blieb. Die große Erleichterung, die mich durchströmte, überwältigte mich fast und ich taumelte zurück gegen die Wand. Es atmete noch, ein schweres, keuchendes Ein- und Ausatmen – ich hatte die Kreatur also nur verwundet. Und nun versiegte all mein Verlangen, das Geschöpf näher zu untersuchen.
So etwas wie bodenlose, abergläubische Angst überfiel jetzt mein Gehirn, und ich näherte mich weder dem Körper noch warf ich weitere Steine nach ihm, um es ganz zu töten. Stattdessen rannte ich so schnell ich konnte in die Richtung, die mir in meinem aufgelösten Zustand als die erschien, aus der ich gekommen war. Plötzlich vernahm ich ein Geräusch oder besser: eine regelmäßige Abfolge von Geräuschen. Einen Moment später klangen sie wie eine Reihe hastiger, metallisch klackender Schritte. Dieses Mal konnte es keinen Zweifel geben. Es war der Fremdenführer.
Und dann rief und schrie ich, brüllte, schrie vor Freude, als ich auf der Höhlendecke über mir das schwache, glimmende Licht sah, von dem ich wusste, dass es die Reflexion einer näher kommenden Taschenlampe war. Ich lief los, dem Licht entgegen, und noch ehe ich begreifen konnte, was ich tat, lag ich auf dem Boden, dem Fremdenführer zu Füßen, umarmte seine Stiefel und plapperte trotz meiner üblichen Zurückhaltung, auf die ich bisher so stolz gewesen war, überaus unsinnig und idiotisch daher, sabberte meine ganze schreckliche Geschichte hervor und überschüttete meinen Retter gleichzeitig mit Bekundungen meiner Dankbarkeit.
Irgendwann kam ich wieder halbwegs zu mir. Dem Fremdenführer war bei der Ankunft der Gruppe am Höhlenausgang mein Fehlen aufgefallen, und so hatte er im Vertrauen auf seinen eigenen intuitiven Orientierungssinn alle Nebengänge durchsucht, die von der Stelle ausgingen, wo er zuletzt mit mir gesprochen hatte, und nach einer ungefähr vierstündigen Suche hatte er mich jetzt gefunden.
Nachdem er mir dies erzählt hatte und als ich durch das Licht der Lampe und durch seine Gegenwart meine Fassung wiedererlangte, dachte ich an das sonderbare Tier, das ich dicht hinter mir in der Finsternis verwundet zurückgelassen hatte, und ich schlug vor, dass wir mithilfe der Taschenlampe herausfanden, was für ein Lebewesen da eigentlich mein Opfer geworden war. So verfolgte ich meinen Weg zurück zu dem Ort des grausigen Erlebnisses, dieses Mal von einem Mut erfüllt, der daher rührte, dass ich einen Begleiter hatte. Bald erkannten wir ein weißes Etwas. Es lag auf dem Boden und war noch bleicher als der schimmernde Kalkstein. Wir näherten uns vorsichtig und stießen gleichzeitig einen Ruf des Erstaunens aus, denn von allen widernatürlichen Ungeheuern, die wir beide in unserem Leben je gesehen hatten, war dies mit weitem Abstand das sonderbarste.
Es schien ein sehr großer menschenähnlicher Affe zu sein, womöglich aus einem Wanderzirkus entlaufen. Seine Behaarung war schneeweiß, was zweifelsohne auf einen Ausbleicheffekt durch das lange Dasein in der tintenschwarzen Höhle zurückzuführen war – sie war aber auch überraschend spärlich; eigentlich wuchsen die Haare nur auf dem Kopf in größerer Menge, dort aber so lang und voll, dass sie überreichlich über die Schultern strömten. Das Gesicht konnten wir nicht erkennen, da das Geschöpf auf dem Bauch lag. Die Winkel, in denen die Gliedmaßen lagen, waren sehr eigenartig, erklärten allerdings ihren abwechselnden Gebrauch, der mir zuvor aufgefallen war, als die Bestie mal alle viere, mal nur zwei Beine zur Fortbewegung benutzt hatte. Die Spitzen der Finger oder Zehen mündeten in langen Krallen, die denen von Ratten glichen. Die Hände oder Füße waren nicht zum Greifen geeignet, eine Tatsache, die ich dem langen Aufenthalt in der Höhle zuschrieb, der, wie ich bereits erwähnte, auch für die dem ganzen Körper eigene, fast unirdische Weiße verantwortlich war. Einen Schwanz konnten wir nicht entdecken.
Es atmete nur noch sehr schwach. Der Fremdenführer griff nach seiner Pistole, um die Kreatur zu erlösen, als sie unverhofft einen Laut von sich gab, der ihn dazu brachte, die Waffe unbenutzt zu Boden fallen zu lassen. Dieser Laut lässt sich nur schwer beschreiben. Er entsprach nicht den üblichen Lauten einer uns bekannten Affengattung, und ich fragte mich, ob diese ungewöhnlichen Laute vielleicht die Folge eines langen, völligen Verstummens sein konnten, das jetzt durch Empfindungen gebrochen wurde, die der Anblick des Lichtes in ihm erweckte – etwas, das dieses Wesen seit seinem Einstieg in die Höhle wahrscheinlich nicht mehr gesehen hatte. Es stieß diese Laute, die ich mit einer Art dunklem Schnattern umschreiben will, weiterhin leise aus.
Mit einem Mal schien der Körper des Tieres von einem neuen Funken Energie durchdrungen zu werden. Die Pfoten zuckten krampfhaft, die Gliedmaßen zogen sich zusammen. Mit einem Ruck rollte der weiße Leib sich herum und zeigte uns sein Gesicht.
Einen Moment lang war ich angesichts der Augen, die sich uns nun offenbarten, so von Entsetzen erfüllt, dass ich sonst nichts wahrnahm. Sie waren schwarz, diese Augen, tief pechschwarz, und sie bildeten einen scheußlichen Kontrast zu der schneeweißen Behaarung und Haut. Wie auch bei anderen Höhlenbewohnern, lagen sie tief im Schädel versunken und wiesen keinerlei Iris auf. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass sie zu einem Gesicht gehörten, das weniger vorspringend war als das eines durchschnittlichen Affen und auch viel haarloser, dafür war die Nase recht ausgeprägt. Während wir den unglaublichen Anblick, der sich uns bot, in uns aufnahmen, öffneten sich die wulstigen Lippen und gaben mehrere Laute von sich, dann brach das Geschöpf tot zusammen.
Der Fremdenführer packte mich am Ärmel meines Mantels und zitterte so heftig, dass die Lampe unheimlich zuckende Schatten an die Wände warf.
Ich regte mich nicht, stand wie festgefroren, die entsetzten Augen auf den Boden vor mir gerichtet.
Die Angst ließ nach und wandelte sich zu Staunen, Verblüffung, Mitleid und Ehrfurcht, denn die Laute, die das gequälte Geschöpf dort auf dem Kalksteinboden von sich gegeben hatte, hatten uns die grausige Wahrheit enthüllt. Die Kreatur, die ich getötet hatte, das sonderbare Tier in der unergründeten Höhle, war zumindest in früheren Zeiten einmal ein MENSCH gewesen!!!
Der Alchemist
Hoch oben auf dem grasbewachsenen Gipfel eines Berges, dessen Seiten zum Fuße hin mit den knorrigen Bäumen urzeitlicher Wälder bewachsen sind, steht das alte Schloss meiner Ahnen. Jahrhundertelang haben seine Zinnen sich bedrohlich über die wilde und zerklüftete Landschaft erhoben und dem stolzen Geschlecht, dessen ehrwürdiger Stammbaum sogar noch älter ist als die moosbewucherten Schlossmauern, als Heim und Festung gedient.
Diese alten Türme, von Generationen an Stürmen gezeichnet und unter dem langsamen und doch machtvollen Zugriff der Zeit zerbröckelnd, stellten im Zeitalter des Feudalismus einst eine der gefürchtetsten und bedeutendsten Bastionen in ganz Frankreich dar. Die mit Gusserkern versehenen Brustwehren und erhöhten Zinnen haben Baronen, Grafen, ja selbst Königen getrotzt, und in den weitläufigen Räumen hallte nie der Tritt eines Eroberers wider.
Doch seit diesen glorreichen Zeiten hat sich alles verändert. Armut, die nur knapp über der Stufe der ärgsten Not lag, gekoppelt mit einem alten Familienstolz, der die Bekämpfung dieser Armut durch kommerzielle Geschäfte unterband, hat die Abkömmlinge unseres Geschlechts davon abgehalten, das Anwesen im ursprünglichen Glanz zu erhalten. Die aus den Mauern fallenden Steine, die ungepflegte Vegetation der Parks, der ausgetrocknete und staubige Burggraben, die schlecht gepflasterten Höfe, die wackligen Türme, die einsackenden Fußböden sowie die von Würmern zerfressene Wandvertäfelung und die ausgeblichenen Gobelins im Innern – dies alles erzählt die düstere Geschichte geschwundener Größe. Im Laufe der Zeit überließ man zuerst einen der vier großen Türme dem Verfall, dann einen weiteren, bis schließlich der traurige Rest der einstmals mächtigen Herren dieses Anwesens nur noch einen Turm bewohnen konnte.
In einem der riesigen und finsteren Gemächer dieses verbliebenen Turmes erblickte ich, Antoine, der Letzte aus dem Hause der unglückseligen und verfluchten Grafen von C–, vor 90 langen Jahren das Licht der Welt. In diesen Mauern und draußen in den dunklen, schattigen Wäldern, den wilden Schluchten und Grotten unten auf dieser Bergseite, brachte ich die ersten Jahre meines geplagten Lebens zu.
Meine Eltern habe ich nie kennengelernt. Mein Vater wurde im Alter von 32 Jahren, einen Monat vor meiner Geburt, durch einen herabfallenden Stein erschlagen, der sich irgendwie aus einer der verrotteten Brustwehren des Schlosses gelöst hatte. Und da meine Mutter bei meiner Geburt starb, lagen die Obhut und meine Erziehung allein in den Händen des letzten verbliebenen Dieners, eines alten, vertrauenswürdigen und überaus intelligenten Mannes, der, wenn ich mich recht entsinne, Pierre hieß. Ich war ein Einzelkind und der aus dieser Tatsache erwachsende Mangel an Gesellschaft wurde noch verstärkt durch die eigenartige Sorgfalt, die mein alter Vormund darauf verwandte, mich von den Bauernkindern fernzuhalten, deren elterliche Gehöfte hier und da auf den Ebenen am Fuße des Berges verstreut lagen. Damals erklärte Pierre mir diese Einschränkung damit, dass ein Junge von solch edler Abstammung wie ich nicht mit solchem Gesindel verkehren dürfe. Mittlerweile kenne ich den wahren Grund dafür: Ich sollte die üblen Geschichten über den schrecklichen Fluch nicht hören, der angeblich auf unserem Geschlecht liegt – Geschichten, die sich die schlichten Gemüter in den Nächten mit gesenkten Stimmen im Schein ihrer Herdfeuer erzählten und immer weiter ausschmückten.
Derart einsam und auf mich selbst beschränkt, verbrachte ich die unzähligen Stunden meiner Kindheit über den uralten Folianten der von Schatten beherrschten Bibliothek des Schlosses, oder ich streifte ziellos durch den ewigen Staub des gespenstischen Waldes, der den Fuß der Bergflanke bedeckte. Es lag wohl an einer derartigen Umgebung, dass ich schon früh zur Melancholie neigte. Besonders die Studien, die sich dem Dunklen und Verborgenen der Natur widmen, zogen mich in ihren Bann.
Über meine eigene Familie ließ man mich merkwürdig wenig in Erfahrung bringen, doch das wenige, was ich herausfand, hat mich wohl stark bedrückt. Vielleicht war es anfangs nur die ausgeprägte Zurückhaltung meines alten Lehrers, mit mir über meine väterlichen Ahnen zu sprechen, die in mir ein Grauen erweckte, sobald mein großer Name erwähnt wurde. Doch mit der Zeit, als ich dem Kindesalter entwuchs, konnte ich unzusammenhängende Gesprächsfetzen, die ungewollt über Lippen kamen, die sich der drohenden Altersschwäche nicht mehr erwehren konnten, wie Teile eines Puzzles zusammensetzen und kam damit einem gewissen Umstand näher, der mir schon immer merkwürdig erschienen war, aber nun einen nebulösen Schrecken gewann. Besagter Umstand war der frühe Tod, der alle Grafen meines Geschlechts getroffen hat. Bislang hatte ich dies auf eine naturgegebene Kurzlebigkeit der Familie zurückgeführt, doch nun grübelte ich lange über diese vorzeitigen Tode nach und fing an, sie mit den Fantastereien des Alten in Verbindung zu bringen, der häufig von einem Fluch sprach, der seit Jahrhunderten verhindere, dass die Träger meines Titels älter als 32 Jahre würden.
Zu meinem 21. Geburtstag überreichte der alte Pierre mir ein Familiendokument, von dem er behauptete, es sei seit vielen Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt und von jedem Besitzer weitergeführt worden. Der Inhalt war überaus bestürzend und schon die flüchtige Lektüre bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen. Zu dieser Zeit war mein Glaube an das Übernatürliche fest und tief verwurzelt, ansonsten hätte ich die unglaubliche Erzählung, die sich vor meinen Augen entfaltete, wohl voller Spott abgetan.
Das Dokument führte mich zurück ins 13. Jahrhundert, als das alte Schloss, in dem ich wohnte, noch eine gefürchtete und uneinnehmbare Festung gewesen war. Es berichtete von einem besonderen alten Mann, der einst auf unserem Anwesen gewohnt hatte, eine Person mit beachtlichen Fertigkeiten, obgleich er nicht viel mehr als ein Bauer war: Man nannte ihn Michel – wegen seines üblen Rufes wurde er für gewöhnlich mit dem Beinamen Mauvais, der Böse, versehen. Er hatte für eine Person seines Standes ungewöhnliche Studien betrieben, nach dem Stein der Weisen und dem Elixier des ewigen Lebens gesucht, und er soll die grausigen Geheimnisse der schwarzen Magie und Alchemie gekannt haben. Michel Mauvais hatte einen Sohn namens Charles, ein Jüngling, der in den verborgenen Künsten ebenso beschlagen war wie sein Vater und den man deshalb Le Sorcier, den Zauberer, nannte. Dieses Paar, das von allen ehrbaren Menschen gemieden wurde, verdächtigte man der scheußlichsten Praktiken. Vom alten Michel hieß es, er habe sein Weib dem Teufel geopfert, indem er es bei lebendigem Leibe verbrannte, und dem gefürchteten Gespann wurde auch das ungeklärte Verschwinden vieler kleiner Bauernkinder in die Schuhe geschoben. Und doch zeigten Vater und Sohn in ihren finsteren Charakteren einen hellen Sonnenstrahl der Menschlichkeit: Der böse Alte liebte seinen Sprössling abgöttisch und der Jüngling brachte seinem Erzeuger eine mehr als übliche Zuneigung entgegen.
Eines Nachts wurde das Schloss auf dem Hügel von größtem Aufruhr ergriffen, denn der junge Godfrey, der Sohn des Grafen Henri, war verschwunden. Ein Suchtrupp unter der Führung des panischen Vaters drang in die Hütte der Hexenmeister ein und traf dort auf den alten Michel Mauvais, der gerade mit einem großen Kessel beschäftigt war, in dem es heftig brodelte. Ohne Beweis, einzig erfüllt von unbeherrschter Wut und Verzweiflung, packte der Graf den alten Zauberer, und als er seinen mörderischen Griff endlich wieder löste, war sein Opfer tot. In der Zwischenzeit verkündeten frohe Diener, sie hätten den jungen Godfrey in einer entlegenen und ungenutzten Kammer des großen Gebäudes gefunden – der arme Michel war umsonst ermordet worden.
Als der Graf und seine Begleiter sich von der bescheidenen Unterkunft des Alchemisten abwandten, trat zwischen den Bäumen die Gestalt des Charles Le Sorcier hervor. Das erregte Geplapper der Knechte in seiner Nähe verriet ihm, was geschehen war, doch zuerst zeigte er keinerlei Regung über das Los seines Vaters. Dann schritt er langsam auf den Grafen zu und sprach mit gedämpfter, aber schrecklicher Stimme den Fluch aus, der fortan auf dem Hause der C– liegen sollte:
»Möge kein Edler deines mörderischen Stammes
ein höheres Alter als du erreichen!«
So sprach er und lief plötzlich zurück in die schwarzen Wälder, doch zuvor hatte er ein Fläschchen mit farbloser Flüssigkeit aus seiner Tunika genommen und es dem Mörder seines Vaters ins Gesicht geschleudert – und war hinter dem tintenschwarzen Vorhang der Nacht verschwunden.
Der Graf starb ohne jeden Laut und wurde am nächsten Tag begraben, kaum älter als 32 Jahre seit der Stunde seiner Geburt. Von seinem Mörder fand sich keine Spur, obschon Scharen von rohen Bauern unablässig die benachbarten Wälder und das Weideland um den Berg durchstöberten.
Die Zeit und das Fehlen einer warnenden Stimme ließen bei der Familie des verstorbenen Grafen die Erinnerung an den Fluch verblassen und als Godfrey, der unschuldige Auslöser der ganzen Tragödie und jetziger Träger des Titels, im Alter von 32 Jahren auf der Jagd durch einen Pfeil getötet wurde, gab man sich keinen weiteren Gedanken als denen der Trauer über sein Verscheiden hin. Doch als Jahre später der nächste junge Graf, sein Name war Robert, in einem nahe liegenden Feld tot aufgefunden wurde, ohne dass ein Grund dafür ersichtlich war, flüsterten die Bauern sich zu, dass ihr Herr doch erst vor Kurzem seinen 32. Geburtstag gefeiert hatte – und nun war er einem frühen Tod erlegen. Louis, der Sohn Roberts, ertrank im selben schicksalhaften Alter im Burggraben, und so verlief die unheimliche Chronik weiter durch die Jahrhunderte: Henri, Robert, Antoine und Armand, alle wurden aus einem glücklichen und ehrenhaften Leben gerissen, kurz bevor sie das Alter ihres unglückseligen Ahnherrn zum Zeitpunkt seiner Ermordung erreicht hatten.
Mir blieben höchstens noch elf Jahre zu leben, wurde mir von den gerade gelesenen Worten versichert. Mein Leben, das ich bislang wenig wertgeschätzt hatte, erschien mir nun mit jedem Tag kostbarer, mit dem ich tiefer und tiefer in die Mysterien der geheimnisvollen Welt der schwarzen Magie eindrang. So isoliert, wie ich lebte, hatte die moderne Wissenschaft keinerlei Einfluss auf mich genommen, und so arbeitete ich wie im Mittelalter, tief versunken in dämonologische und alchemistische Lehren wie dereinst der alte Michel und der junge Charles. Doch so viel ich auch las, ich konnte keinerlei Erklärung für den sonderbaren Fluch finden, der auf meinem Geschlecht lag. In seltenen rationalen Stunden ging ich gar so weit, nach einer natürlichen Erklärung zu suchen, indem ich die frühen Tode meiner Ahnen dem finsteren Charles Le Sorcier und seinen Nachfahren zuschrieb, doch bei sorgfältigen Nachforschungen fand ich heraus, dass keinerlei Nachkommen des Alchemisten bekannt waren. Deshalb verfiel ich wieder auf die okkulten Studien und versuchte weiterhin, einen Zauber zu finden, der meine Familie von dieser grausigen Bürde befreien würde. Einen festen Entschluss hatte ich bereits gefasst: Ich würde niemals heiraten, und damit, da es ja keinen weiteren Familienzweig gab, würde ich den Fluch mit mir ins Grab nehmen.
Kurz vor meinem 30. Geburtstag wurde Pierre von dieser Welt abberufen. Allein bestattete ich ihn unter den Steinen des Innenhofes, über die er im Leben so gern geschlendert war. Somit verblieb ich als einziges menschliches Geschöpf in der großen Festung und in meiner vollkommenen Einsamkeit wehrte mein Geist sich allmählich nicht mehr gegen das bevorstehende Ende und versöhnte sich beinahe mit dem Schicksal, das so viele meiner Vorfahren getroffen hatte.
Ich brachte nun einen Großteil meiner Zeit damit zu, die verfallenen und verlassenen Hallen und Türme des alten Schlosses zu erforschen, die ich in meiner Jugend aus Furcht gemieden hatte. Pierre hatte mir erzählt, dass einige davon seit mehr als vier Jahrhunderten durch keinen menschlichen Fuß mehr betreten worden waren. Merkwürdig und erschreckend waren viele der Gegenstände, die ich dort vorfand. Ich erblickte Mobiliar, das vom Staub der Jahrhunderte bedeckt und von der ewigen Feuchtigkeit vermodert war. Überall, in einer Fülle, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, hingen Spinnweben und mächtige Fledermäuse flatterten mit ihren knochigen und unheimlichen Flügeln durch alle Winkel des unbewohnten Halbdunkels.
Ich führte gründlichst Protokoll über mein genaues Alter, bis hin zu den Tagen und Stunden, denn jede Schwingung des Pendels der großen Standuhr in der Bibliothek wischte einen Teil von meiner verfluchten Existenz hinweg. Am Ende näherte ich mich dem Zeitpunkt, dem ich mit solchen Ängsten entgegengesehen hatte. Da die meisten meiner Ahnen, kurz bevor sie das genaue Alter von Graf Henri zum Zeitpunkt seines Todes erreicht hatten, aus dem Leben gerissen worden waren, blieb ich jeden Moment auf mein unbekanntes Ende gefasst. Ich wusste nicht, auf welch sonderbare Art der Fluch mich heimsuchen würde, doch ich hatte den Entschluss gefasst, dass er in mir zumindest kein feiges oder untätiges Opfer vorfinden sollte. Mit neuem Eifer widmete ich mich weiter der Erforschung des alten Schlosses und seiner Räume.
Es geschah bei einem meiner längsten Forschungsgänge durch den verlassenen Teil des Schlosses, dass es zum entscheidenden Ereignis meines Lebens kam – nur Tage vor der verhängnisvollen Stunde, von der ich glaubte, dass sie die äußerste Grenze meines irdischen Daseins markierte, jenseits derer ich keinerlei Hoffnung auf ein Weiteratmen zu hegen brauchte. Den Großteil des Morgens hatte ich damit verbracht, halb eingebrochene Treppen in einem der verfallensten der alten Türme hoch- und runterzulaufen. Im Laufe des Nachmittags war ich dann in die unteren Etagen hinabgestiegen und im Keller auf einen Raum gestoßen, der entweder ein mittelalterliches Verlies oder ein später angelegtes Lager für Schießpulver zu sein schien.
Als ich langsam den salpeterverkrusteten Durchgang am Fuß der letzten Treppe durchschritt, wurde der Steinboden sehr feucht, und bald offenbarte das Licht meiner flackernden Fackel, dass eine nackte, mit Wasserflecken übersäte Mauer mir den Weg versperrte. Als ich mich wieder umwandte, fiel mein Blick auf eine kleine Falltür mit ringförmigem Griff direkt neben meinen Füßen. Ich bückte mich und nach einiger Anstrengung gelang es mir, die Falltür zu öffnen – darunter verbarg sich eine schwarze Öffnung, aus der widerliche Dämpfe aufwirbelten, die meine Fackel sprühen ließen. In diesem unsteten Licht enthüllte sich der Anfang einer Steintreppe.
Sobald die Fackel, die ich in die abstoßende Tiefe hielt, hell und gleichmäßig brannte, machte ich mich an den Abstieg. Es waren viele Stufen und sie führten zu einem engen, mit Steinplatten gefliesten Durchgang, der sich tief unter der Erde befinden musste. Dieser Durchgang erwies sich als sehr lang und er endete vor einer massiven Eichentür, die von der allgegenwärtigen Feuchtigkeit überzogen war und sich allen Versuchen, sie zu öffnen, unnachgiebig widersetzte. Nach einer Weile stellte ich meine Bemühungen ein und ging schon zurück zur Treppe, als mir eine der tief greifendsten und unerträglichsten Erschütterungen widerfuhr, die der menschliche Geist zu ertragen vermag. Ohne Vorwarnung hörte ich, wie die schwere Tür sich hinter mir langsam und knarrend in ihren rostigen Angeln öffnete.
Meine unmittelbaren Empfindungen darauf waren nicht zu deuten. An einem Ort wie diesem, den ich für völlig verlassen gehalten hatte, mit einem Beweis für die Gegenwart eines Menschen oder eines Geistes konfrontiert zu werden, löste in mir ein Grauen jenseits jeder Beschreibung aus. Als ich mich endlich umdrehte und der Ursache des Geräuschs gegenüberstand, müssen meine Augen bei dem Anblick, der sich ihnen bot, förmlich aus ihren Höhlen gefallen sein: Dort im uralten gotischen Türrahmen stand eine menschliche Gestalt.
Es war ein Mann mit einer Schädelkappe und einem langen, mittelalterlichen Umhang von dunkler Farbe. Sein Haar und der wallende Bart waren tiefschwarz und unglaublich lang gewuchert, seine Stirn höher als bei gewöhnlichen Menschen, seine Wangen eingesunken und tief von Falten zerfurcht. Seine Hände waren lang, klauenartig und verknöchert und von einer so tödlichen, marmornen Blässe, wie ich sie noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Seine Gestalt, mager wie ein Gerippe, stand sonderbar gebückt und wirkte verloren in den weiten Falten seiner eigentümlichen Kleidung. Doch am merkwürdigsten von allem waren seine Augen, zwei Höhlen voll abgründiger Schwärze, voller tiefgründiger Weisheit und zugleich unmenschlicher Heimtücke. Der Blick dieser Augen richtete sich nun auf mich, zerschnitt meine Seele in ihrem Hass und bannte mich fest an der Stelle, an der ich stand.
Endlich sprach die Gestalt mit einer grollenden Stimme, die mir mit ihrem dumpfen Klang voll lauernder Rachsucht durch und durch ging. Die Sprache, die diese Gestalt benutzte, war jene niedere Form des Latein, das die gebildeteren Menschen des Mittelalters gebraucht hatten und mir durch meine Studien der Werke alter Alchemisten und Dämonologen vertraut war.
Die Erscheinung sprach von dem Fluch, der über meinem Geschlecht schwebte, und verkündete mir mein bevorstehendes Ende. Sie hielt sich bei dem Unrecht auf, das mein Ahnherr an dem alten Michel Mauvais begangen habe, und redete schadenfroh von der Rache des Charles Le Sorcier. Sie berichtete, wie der junge Charles in die Nacht entkommen und Jahre später zurückgekehrt sei, um den Erben Godfrey, der sich gerade dem Alter seines Vaters bei dessen Ermordung näherte, mit einem Pfeil zu töten. Anschließend sei Charles heimlich auf das Anwesen zurückgekehrt und habe sich unbemerkt in der schon damals verlassenen unterirdischen Kammer niedergelassen, in deren Eingang der grausige Erzähler nun stand; wie er Robert, den Sohn von Godfrey, auf einem Feld gepackt und ihn gezwungen habe, Gift zu schlucken, sodass er im Alter von 32 Jahren starb, um den rachsüchtigen Fluch aufrechtzuerhalten.
Es blieb mir allein überlassen, mir die Lösung des größten aller Rätsel auszumalen, wie nämlich der Fluch seit jener Zeit erfüllt worden war, da Charles Le Sorcier doch naturgemäß gestorben sein musste, denn der Mann schweifte jetzt ab und berichtete über die profunden alchemistischen Studien der beiden Hexenmeister, Vater und Sohn, und sprach vor allem von den Forschungen Charles le Sorciers an einem Elixier, welches dem, der davon trank, ewiges Leben und ewige Jugend verlieh.
Die Begeisterung schien einen Moment lang die schwarze Feindseligkeit aus seinen schrecklichen Augen zu verdrängen, doch jetzt kehrte der verteufelte Blick schlagartig zurück und mit dem schaurigen Zischen einer Schlange hob der Fremde eine Glasphiole, offensichtlich in der Absicht, mein Leben so zu beenden, wie Charles le Sorcier 600 Jahre zuvor das meines Ahnen beendet hatte.
Mein Selbsterhaltungstrieb löste den Bann, der mich bislang reglos gehalten hatte, und ich schleuderte die schon ersterbende Fackel in Richtung der Kreatur, die mein Leben bedrohte. Ich hörte, wie das Fläschchen unschädlich auf den Steinen des Durchgangs zerbrach, während die Tunika des seltsamen Mannes Feuer fing und alles in gespenstisches Licht tauchte. Der Schrei voller Angst und ohnmächtigem Hass, den der verhinderte Meuchelmörder ausstieß, war zu viel für meine ohnehin erschütterten Nerven – ich verlor das Bewusstsein und fiel vornüber auf den schleimigen Boden.
Als ich endlich wieder zu mir kam, war alles in fürchterliche Dunkelheit gehüllt, und als ich mich an das Geschehene erinnerte, schreckte ich vor der Vorstellung zurück, noch mehr zu sehen; doch schließlich siegte die Neugierde. Wer, so fragte ich mich, war dieser Mann des Bösen, und wie war er ins Innere des Schlosses gelangt? Weshalb wollte er den Tod von Michel Mauvais rächen und wie war der Fluch durch all die Jahrhunderte seit der Zeit des Charles Le Sorcier aufrechterhalten worden?
Die Furcht vieler Jahre glitt von mir ab, denn jetzt wusste ich, dass der, den ich niedergestreckt hatte, die Gefahr des Fluches verkörperte. Nun, da ich erleichtert war, brannte ich darauf, mehr über die finsteren Umstände zu erfahren, die mein Geschlecht seit Jahrhunderten heimgesucht und meine Jugend zu einem fortwährenden Albtraum gemacht hatten. Ich war fest entschlossen, mehr herauszufinden, tastete in meiner Tasche nach Feuerstein und Stahl und zündete die unbenutzte Fackel an, die ich noch bei mir trug.
Zuerst fiel das neue Licht auf die verkrümmte und verbrannte Gestalt des geheimnisvollen Fremden. Die scheußlichen Augen waren jetzt geschlossen. Angeekelt wandte ich mich von diesem Anblick ab und betrat die Kammer hinter der gotischen Tür. Dahinter fand ich, was allem Anschein nach das Laboratorium eines Alchemisten war. In einer Ecke lag ein gewaltiger Haufen strahlendes gelbes Metall, das im Schein der Fackel herrlich funkelte. Es mag Gold gewesen sein, doch ich nahm mir nicht die Zeit, um es zu untersuchen, war ich doch noch seltsam betäubt von dem, was ich durchgemacht hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befand sich eine Öffnung, die hinaus in eine der vielen Schluchten des dunklen Bergwaldes führte. Erstaunt wurde mir klar, wie der Mann sich Zugang zum Schloss verschafft hatte.
Ich machte mich auf den Rückweg. Ich wollte an den sterblichen Überresten des Fremden mit abgewandtem Gesicht vorbeigehen, doch als ich mich dem Leichnam näherte, glaubte ich ein leises Geräusch zu hören, als wäre der letzte Lebensfunke doch noch nicht erloschen. Entsetzt drehte ich mich um, um die verkohlte und verschrumpelte Gestalt am Boden zu betrachten.
Mit einem Male öffneten sich die schrecklichen Augen, schwärzer noch als das verbrannte Gesicht, weit aufgerissen, mit einem Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermochte. Die aufgeplatzten Lippen versuchten Worte zu formen, die ich kaum verstand. Einmal hörte ich den Namen Charles Le Sorcier und glaubte die Worte ›Jahre‹ und ›Fluch‹ aus dem verzerrten Mund zu vernehmen. Dennoch gelang es mir nicht, diese Bruchstücke sinnvoll zu verbinden. Die pechschwarzen Augen funkelten mich wegen meiner offenkundigen Dummheit erneut boshaft an, und obwohl ich wusste, dass mein Gegner machtlos war, erzitterte ich bei diesem Anblick.
Plötzlich sammelte der Elende seine allerletzten Kräfte und hob den grässlichen Kopf von dem feuchten und eingesunkenen Steinboden. Und während ich vor Angst erstarrt danebenstand, fand er seine Stimme wieder und schrie mir im Sterben die Worte zu, die mich seither Tag und Nacht verfolgen.
»Narr!«, kreischte er. »Errätst du mein Geheimnis nicht? Hast du kein Hirn, um zu erkennen, welcher Wille über sechs lange Jahrhunderte hinweg den schrecklichen Fluch auf deinem Geschlecht erfüllt hat? Habe ich dir nicht von dem großen Elixier des ewigen Lebens erzählt? Weißt du denn nicht, wer das Rätsel der Alchemie löste? Ich sage dir, ich war’s! Ich! Ich! Ich habe 600 Jahre lang gelebt, um meine Rache zu vollziehen, denn ich bin Charles Le Sorcier!«
Die Gruft
In Verbindung mit den Ereignissen, die zu meiner Gefangenschaft in diesem Refugium für die Geisteskranken führten, ist mir bewusst, dass meine derzeitige Situation natürlich Zweifel an der Glaubwürdigkeit meiner Erzählung aufkommen lassen wird. Es ist eine unglückliche Tatsache, dass ein Großteil der Menschheit in seiner geistigen Sichtweite zu eingeschränkt ist, um mit Geduld und Intelligenz jene vereinzelten Phänomene zu erforschen, die nur von einigen wenigen psychologisch Feinfühligen gesehen und gefühlt werden und die außerhalb der alltäglichen Erfahrungen liegen. Menschen mit höherer Intelligenz wissen, dass zwischen dem Realen und dem Irrealen keine scharfe Grenze verläuft und dass wir nur durch feine, individuelle, körperliche und geistige Sinne alle Dinge um uns herum so erfassen können, wie wir es tun. Doch der nüchterne Materialismus der Bevölkerung verdammt die erhellenden Blitze des Verstehens, die manchmal den gewöhnlichen Schleier durchdringen, der vor der klaren Wahrnehmung hängt, als Wahnsinn.
Mein Name ist Jervas Dudley und ich bin schon als Kind ein Träumer und Visionär gewesen. Reichtum enthob mich der Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit, und weil ich mich für die üblichen Studien und gesellschaftlichen Zerstreuungen meiner Bekannten nicht eigne, habe ich schon immer in Bereichen geweilt, die nicht so recht zur sichtbaren Welt gehören. Meine gesamte Jugend habe ich mit uralten und wenig bekannten Büchern verbracht und mit dem Durchstreifen der Felder und Wälder in der Umgebung des Familiensitzes. Ich glaube nicht, dass das, was ich in diesen Büchern las oder was ich in diesen Feldern und Wäldern erblickte, dem entsprach, was andere Jungen gewöhnlich lasen oder dort sahen. Aber allzu viel darf ich nicht darüber erzählen, da ein ausführlicher Bericht die grausamen Verleumdungen über meinen Geisteszustand bestätigen würde, die ich manchmal belausche, wenn die durchs Haus schleichenden Pfleger miteinander tuscheln. Es reicht mir, die Geschehnisse zu schildern, ohne Ursachen zu erklären.
Ich habe gesagt, dass ich meine Jugend abseits der sichtbaren Welt verbrachte, doch ich habe nicht gesagt, dass ich sie dort allein verbrachte. Das sollte kein menschliches Wesen tun, denn wenn es ihm an der Gesellschaft der Lebenden fehlt, zieht es unausbleiblich die Gesellschaft von Dingen an, die nicht – oder nicht mehr – lebendig sind. In der Nähe meines Hauses liegt eine einzigartige, bewaldete Talsenke, in deren dämmriger Tiefe ich einen Großteil meiner Zeit zubrachte – lesend, grübelnd, träumend. Auf diesen moosbedeckten Hängen habe ich als kleines Kind meine ersten Schritte getan und um ihre grotesken, gichtigen Eichenbäume die ersten fantastischen Einfälle meiner Kindheit gewoben. Die Dryaden, die über diese Bäume wachten, kannte ich sehr gut und oft habe ich ihre wilden Tänze in den schwankenden Strahlen des abnehmenden Mondes beobachtet – doch über solche Dinge sollte ich jetzt nichts sagen. Ich will nur von dem einsamen Grab im dunkelsten Unterholz der Hänge berichten, dem verwilderten Grab der Hydes, einer alten und ehrwürdigen Familie, deren letzter direkter Nachfahre schon viele Jahrzehnte vor meiner Geburt in seine schwarze Tiefe zur Ruhe gebettet worden war.
Diese Gruft besteht aus uraltem Granit, der durch den Nebel und den Regen vieler Generationen verwittert und farblos geworden ist. Das Bauwerk wurde in die Flanke des Hügels gegraben und ist deshalb nur vom Eingang her sichtbar. Die Tür, eine schwere, drohende Steinplatte, hängt in rostigen Angeln und wird auf besonders unheimliche Weise mit schweren Eisenketten und einem Vorhängeschloss einen Spaltbreit offen gehalten, wie es vor einem halben Jahrhundert der grässlichen Mode entsprach. Der Wohnsitz des Geschlechtes, dessen Angehörige hier in Särgen ruhen, hat einst den Abhang gekrönt, in dem die Gruft sich befindet, ist aber schon vor langer Zeit nach einem Blitzschlag den Flammen zum Opfer gefallen. Der Brand hatte einen Mann das Leben gekostet.
Die älteren Bewohner der Umgegend sprechen zuweilen leise und ängstlich über den mitternächtlichen Sturm, der dieses finstere Herrenhaus zerstörte, und spielen dabei in einer Art und Weise auf den »Zorn Gottes« an, die in späteren Jahren meine ohnehin schon große Faszination für die von Wald verfinsterte Grabstätte noch verstärkte. Als der letzte der Hydes an diesem Ort der Schatten und Stille bestattet wurde, hatte man den Sarg mit seinen traurigen Überresten aus einem fernen Land gesandt, in das die Familie nach dem Brand des Anwesens zurückgekehrt war. Niemand ist mehr übrig, um Blumen vor das Portal aus Granit zu legen, und nur wenige sind mutig genug, sich den bedrückenden Schatten zu nähern, die das verwitterte Gestein sonderbar zu umfangen scheinen.
Ich werde nie den Nachmittag vergessen, als ich zum ersten Mal auf das halb verborgene Totenhaus gestoßen bin. Es war im Hochsommer, als die Alchemie der Natur die waldige Landschaft in eine lebendige und geradezu überschäumende grüne Masse verwandelte und einem die Sinne mit den wogenden Meeren feuchten Grüns und den unergründlichen Gerüchen des Bodens und der Vegetation berauschte. In solchen Umgebungen verliert der Geist seinen festen Halt, Zeit und Raum werden bedeutungslos und unwirklich, und der Widerhall einer vergessenen vorzeitlichen Vergangenheit drängt sich beharrlich in das betörte Bewusstsein.
Den ganzen langen Tag hindurch hatte ich die mystischen Haine der Talsenke durchwandert, Gedanken nachgehangen, die ich hier nicht zu beschreiben brauche, und mit Wesen in Verbindung gestanden, die ich nicht benennen muss. Als zehnjähriges Kind hatte ich bereits viele Mysterien wahrgenommen, die der Allgemeinheit unbekannt sind, und war in gewisser Hinsicht schon merkwürdig reif für mein Alter. Als ich mir einen Weg durch dichtes Dornengesträuch gebahnt hatte und plötzlich vor dem Eingang der Gruft stand, war mir überhaupt nicht bewusst, was ich gerade entdeckt hatte. Die dunklen Blöcke aus Granit, die so sonderbar offen stehende Tür und die Begräbnisreliefs über dem Eingangsbogen erweckten in mir keinerlei Assoziationen der Trauer oder des Schreckens. Über Gräber und Grüfte wusste ich viel, stellte mir auch einiges darunter vor, doch wegen meines eigentümlichen Gemüts hatte man mich bislang von Friedhöfen ferngehalten. Das seltsame Steinhaus am bewaldeten Hang weckte nun mein Interesse und ließ mich Vermutungen anstellen und das kalte, feuchte Innere, in das ich vergebens durch die so verlockend offene Tür spähte, enthielt für mich keinen Hinweis auf Tod und Verwesung.
Doch in diesem Augenblick der Neugier wurde das irrsinnige, unvernünftige Verlangen geboren, das mich in diese Hölle der Inhaftierung gebracht hat. Angespornt von einer Stimme, die von der abscheulichen Seele des Waldes gekommen sein muss, entschloss ich mich dazu, der schwerfälligen Kette zum Trotz in die lockende Finsternis einzudringen. Im schwindenden Licht des Tages rüttelte ich an den rostigen Hemmnissen, um die steinerne Tür aufstoßen zu können, versuchte meine kleine Gestalt durch den bereits vorhandenen Spalt zu zwängen, doch keinem dieser Vorhaben war Erfolg beschieden.
Anfangs nur neugierig, war ich jetzt besessen, und als ich im tiefer werdenden Zwielicht nach Hause kam, hatte ich den hundert Göttern des Haines längst geschworen, dass ich eines Tages einen Weg in die schwarzen, kalten Tiefen finden würde, die mich zu rufen schienen – koste es, was es wolle. Der Arzt mit dem eisengrauen Bart, der mich jeden Morgen in meinem Zimmer aufsucht, sagte einmal zu einem Besucher, dass dieser Entschluss den Anfang meiner tragischen Monomanie bezeichnete, doch ich will die endgültige Entscheidung darüber meinen Lesern überlassen, sobald sie alles gehört haben.
Die Monate, die auf meine Entdeckung folgten, brachte ich mit fruchtlosen Versuchen zu, das komplizierte Vorhängeschloss der einen Spaltbreit offenen Gruft aufzubrechen, sowie mit vorsichtig formulierten Nachfragen über Art und Geschichte dieses Bauwerks. Mit den bekanntlich empfänglichen Ohren eines kleinen Jungen brachte ich einiges in Erfahrung, doch eine mir eigene Heimlichtuerei hielt mich dazu an, niemandem von meinem Wissen oder meinem Entschluss zu erzählen. Vielleicht ist es erwähnenswert, dass ich überhaupt nicht überrascht oder entsetzt war, als ich vom Zweck der Gruft erfuhr. Meine recht originellen Vorstellungen über das Leben und den Tod hatten mich dazu gebracht, den kalten Lehmboden auf unbestimmte Weise mit dem atmenden Körper in Zusammenhang zu bringen, und ich spürte, dass die große und düstere Familie aus dem niedergebrannten Herrenhaus irgendwie in dem steinernen Raum, den ich erforschen wollte, repräsentiert wurde. Das Gerede über unheimliche Riten und gottlose Ausschweifungen, die in vergangenen Tagen in der alten Halle stattgefunden haben sollten, verstärkte noch mein Interesse an dem Grab, vor dessen Eingang ich jeden Tag stundenlang saß. Einmal hielt ich eine Kerze in den offenen Spalt, konnte aber nichts erkennen außer einigen feuchten Treppenstufen, die nach unten führten. Der Geruch des Ortes stieß mich ab und verhexte mich zugleich. Ich fühlte, dass ich ihn schon kannte, aus einer Vergangenheit jenseits aller Erinnerung, sogar jenseits meines Verweilens in dem Körper, den ich heute bewohne.
Im Jahr nach meiner Entdeckung des Grabes stieß ich im büchergefüllten Speicher meines Elternhauses auf eine wurmzerfressene Übersetzung von Plutarchs Parallelbiografien. Als ich über das Leben des Theseus las, beeindruckte mich besonders der Abschnitt über den großen Stein, unter dem der jugendliche Held die Hinweise auf seine Bestimmung finden sollte, sobald er erst alt genug war, um dessen enormes Gewicht anzuheben. Diese Legende zügelte meine brennende Ungeduld, endlich die Gruft zu betreten, gab sie mir doch das Gefühl, dass die Zeit dafür noch nicht reif sei. Später, sagte ich mir, würde ich kräftig und klug genug sein, um die schwer verkettete Tür ganz leicht zu öffnen, aber bis dahin musste ich mich einfach mit dem abfinden, was der Wille des Schicksals zu sein schien.
Also saß ich nicht mehr so oft vor dem feuchten Portal und nutzte den Großteil meiner Zeit für andere, wenn auch ebenso sonderbare Unternehmungen. Gelegentlich stand ich des Nachts ganz leise auf und stahl mich ins Freie, um auf den Kirchhöfen und Begräbnisstätten spazieren zu gehen, von denen meine Eltern mich bislang ferngehalten hatten. Was ich dort tat, sollte ich besser nicht sagen, da ich mir mittlerweile der Realität gewisser Dinge nicht mehr sicher bin – ich weiß allerdings, dass ich an den Tagen nach einem solchen nächtlichen Streifzug die Menschen meiner Umgebung mit der Kenntnis über Themen verblüffte, die seit vielen Generationen nahezu vergessen waren. So schockierte ich nach einer solchen Nacht die Gemeinde mit einer eigenartigen Ansicht über das Begräbnis des reichen und berühmten Gutsherrn Brewster, eine Persönlichkeit der Lokalgeschichte, der im Jahre 1711 bestattet worden ist und dessen Schiefergrabstein, auf dem ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen zu sehen war, allmählich zu Staub zerfiel. In einem Moment kindischer Fantasie schwor ich nicht nur, dass der Bestatter Goodman Simpson dem Verstorbenen vor der Beerdigung die Schuhe mit den Silberschnallen, die Seidenhose und die Kniestrümpfe aus Satin gestohlen habe, sondern auch, dass der Gutsherr selbst nicht völlig leblos gewesen sei und sich am Tag nach der Beerdigung in seinem erdbedeckten Sarg mehrmals umgedreht habe.
Doch der Wunsch, das Grab zu betreten, ließ mich nie los. Es gab sogar einen zusätzlichen Anreiz durch die unerwartete genealogische Entdeckung, dass ich mütterlicherseits eine zumindest schwache Verbindung zur als ausgestorben geltenden Familie Hyde aufwies. Als letzter Träger meines väterlichen Namens war ich auch gleichzeitig der letzte Nachkomme dieser älteren, geheimnisvollen Linie. Ich fühlte nun immer stärker, dass das Grab mir gehörte, und fieberte dem Tag entgegen, an dem ich endlich durch die steinerne Tür treten und die schleimbedeckten Steinstufen in die Dunkelheit hinabsteigen würde. Ich gewöhnte mir jetzt an, an der leicht geöffneten Pforte andächtig zu lauschen, und wählte für diese sonderbare Wache die mitternächtliche Stille, meine liebsten Stunden.
Als ich volljährig wurde, hatte ich in dem Dickicht vor der moderbefallenen Fassade im Hang eine kleine Lichtung geschaffen und der Vegetation gestattet, diesen freien Raum wie die Wände und das Dach einer Gartenlaube zu umwachsen. Diese Laube war mein Tempel, das verschlossene Tor mein Schrein, und hier lag ich auf dem moosbedeckten Boden und hing sonderbaren Gedanken und sonderbaren Träumen nach.
Die Nacht der ersten Offenbarung war ziemlich schwül. Ich muss vor lauter Erschöpfung eingeschlafen sein, denn als ich die Stimmen hörte, fühlte ich mich, als wäre ich gerade erwacht. Ich zögere, von ihren Betonungen und Akzenten zu sprechen. Über ihre Eigenschaften will ich mich nicht äußern, doch ich kann zumindest sagen, dass sie in der Wortwahl, der Betonung und der Aussprache beklemmend abweichend klangen. Jede Färbung des neuenglischen Dialekts schien in diesem schattenhaften Zwiegespräch vernehmbar zu sein, von den groben Silben der puritanischen Kolonisten bis hin zur klaren Rhetorik, wie sie vor 50 Jahren gesprochen wurde, wenngleich mir diese Tatsache erst später bewusst wurde.
Damals wurde meine Aufmerksamkeit auf ein anderes Phänomen gelenkt, ein so flüchtiges Phänomen, dass ich keinen Eid schwören möchte, ob es auch wirklich stattfand. Ich glaubte beim Erwachen kurz wahrzunehmen, wie in dem eingesunkenen Grabmal hastig ein Licht gelöscht wurde. Ich erinnere mich nicht, dass mich das mit Staunen oder Panik erfüllte, aber ich weiß, dass ich mich in jener Nacht stark und dauerhaft verändert habe. Als ich nach Haus kam, ging ich geradewegs zu einer verrotteten Truhe auf dem Speicher, und in dieser fand ich den Schlüssel, mit dem ich am nächsten Tag ohne Weiteres das Hindernis aufschloss, gegen das ich so lange erfolglos angestürmt war.
Im sanften Glühen des späten Nachmittages betrat ich das Grabgewölbe in dem verlassenen Hang zum ersten Mal. Ein Zauber lag über mir und mein Herz hüpfte so vor Freude, dass ich es kaum beschreiben kann. Als ich die Tür hinter mir schloss und im Licht meiner einsamen Kerze die feucht getropften Stufen hinabschritt, schien ich den Weg zu kennen. Obgleich die Kerze in dem erstickenden Brodem des Ortes flackerte, fühlte ich mich in der schimmligen Leichenhausluft merkwürdig zu Hause.
Ich sah mich um und betrachtete die vielen Marmorplatten, auf denen Särge – oder die Überreste von Särgen – standen. Manche waren versiegelt und gut erhalten, andere so gut wie verschwunden, nur ihre silbernen Griffe und Tafeln lagen noch inmitten merkwürdiger Haufen von weißlichem Staub. Auf einer dieser Tafeln las ich den Namen von Sir Geoffrey Hyde, der 1640 aus Sussex hergekommen und hier wenige Jahre danach gestorben war. In einer auffälligen Nische befand sich ein recht gut erhaltener, leerer Sarg, darauf stand ein einzelner Name, der mich zugleich zum Lächeln und zum Schaudern bewegte. Ein kurioser Impuls trieb mich dazu, auf den breiten Marmorstein zu klettern, meine Kerze auszulöschen und mich in die leere Kiste zu legen.
Im grauen Licht der Morgendämmerung schwankte ich aus dem Grabgewölbe ins Freie und verschloss die Türkette wieder hinter mir. Ich war nun kein junger Mann mehr, obwohl erst 21 Winter meinen fleischlichen Leib hatten frösteln lassen. Einige früh aufgestandene Dorfbewohner, die mir auf meinem Heimweg begegneten, schauten mich eigenartig an. Sie wunderten sich offenbar über die Anzeichen eines derben Gelages bei jemandem, der für seine nüchterne und zurückgezogene Lebensführung bekannt war. Erst nach langem und erfrischendem Schlaf ließ ich mich vor meinen Eltern blicken.
Hernach suchte ich das Grab jede Nacht heim. Ich sah, hörte und tat Dinge, an die ich mich niemals erinnern darf. Meine Sprechweise, seit jeher für Einflüsse aus der Umwelt anfällig, war das Erste, was sich dem Wandel unterwarf, und schon bald fiel den Leuten meine so plötzlich altertümlich klingende Sprache auf. Später prägten eine seltsame Kühnheit und ein Übermut mein Verhalten, bis ich mich unbewusst wie ein Mann von Welt aufführte, was überhaupt nicht zu meiner lebenslangen Zurückgezogenheit passte. Meine bisherige Einsilbigkeit wich dem gewandten Charme eines Chesterfield oder dem gottlosen Zynismus eines Rochester. Ich offenbarte jetzt eine eigentümliche Bildung, die so gar nicht den absonderlichen mönchischen Lehren entsprach, über denen ich in meiner Jugend gebrütet hatte, und ich bedeckte die Vorsatzblätter meiner Bücher mit lockeren, spontanen Sinnsprüchen, die an Gay, Prior und die lebhaftesten Gelehrten und Verseschmiede aus der Zeit des Augustinus erinnerten. Eines Morgens beim Frühstück löste ich beinahe eine Katastrophe aus, als ich mit imitierter angesäuselter Stimme eine fröhliche, weinselige Ballade des 18. Jahrhunderts zum Besten gab, ein Stück georgianischer Verspieltheit, die in keinem Buch zu finden ist und ungefähr so lautete:
Kommt her, meine Freunde, den Krug voll mit Bier,
Und trinkt auf das Jetzt, solang’ wir noch hier;
Häuft auf dem Teller den Braten zum Genuss,
Denn Speis und Trank vertreiben jeden Verdruss:
So füllt euch das Glas,
Denn das Leben ist Spaß;
Wenn ihr tot seid, bleibt auf ewig geschlossen das Fass!
Anakreons Nase war rot, so heißt es manchmal;
Doch wenn man feiert, ist das völlig egal.
Gott verdamm’ mich, ich bin lieber hier und rot,
Als weiß wie ’ne Lilie und seit Tagen schon tot!
Ach, Betty, mein Schatz,
Gib mir ’nen Schmatz;
In der Hölle ist für Wirtstöchter wie dich doch kein Platz!
Der junge Harry sitzt da, steif wie ’n Backfisch,
Mitsamt Perücke fällt er wohl bald untern Tisch,
Doch füllt die Pokale, reicht sie nur weiter –
Lieber unterm Tisch als im Grabe voll Eiter!
Also zecht und furzt,
Stillt euern Durst;
Sechs Fuß in der Erde ist es euch sowieso wurst!
Hol mich der Teufel! Ich kann gar nicht mehr geh’n,
Ja verdammt, kaum noch reden und steh’n!
Hör, Wirt, hey Betty, ich schlaf hier bei euch beiden;
Bei meiner Frau darf ich heut gewiss nicht bleiben!
So reicht mir die Hand
Und gebt mir ’nen Stand,
Doch bin ich fröhlich, solang’ ich weil’ in diesem Land!
Etwa zu dieser Zeit entwickelte ich meine derzeitige panische Angst vor Feuer und Gewitter. Solche Dinge waren mir zuvor völlig gleichgültig, doch nun hegte ich ein unbeschreibliches Grauen davor und verkroch mich in die innersten Winkel des Hauses, sobald der Himmel mit einer elektrischen Entladung drohte. Ein beliebter Zufluchtsort während des Tages wurde der verfallene Keller des niedergebrannten Herrenhauses, und in meiner Fantasie malte ich mir aus, wie das Bauwerk wohl zu seinen Glanzzeiten ausgesehen hatte. Einmal verwirrte ich einen Dorfbewohner, indem ich ihn voller Gewissheit zu einem niedrigen Zwischenkeller führte, von dem ich wusste, obwohl er seit vielen Generationen verborgen und vergessen war.
Schließlich geschah, was ich schon lange befürchtet hatte. Meine Eltern, bestürzt über das veränderte Benehmen und Auftreten ihres einzigen Sohnes, unterzogen alle meine Streifzüge einer fürsorglichen Beobachtung, die in eine Katastrophe zu münden drohte. Ich hatte mit niemandem über meine Besuche im Grab gesprochen und seit der Kindheit mein geheimes Ziel mit religiösem Eifer bewacht, doch nun sah ich mich dazu gezwungen, sorgfältig auf meinen Weg durch den Irrgarten der bewaldeten Talsenke zu achten, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Den Schlüssel zum Grabgewölbe trug ich an einem Band um meinen Hals, und nur ich wusste davon. Ich nahm niemals etwas von den Dingen, auf die ich in den Mauern des Grabmals stieß, mit heraus.
Eines Morgens, als ich aus dem feuchten Grab heraustrat und die Kette des Portals mit nicht allzu sicherem Griff verschloss, bemerkte ich in einem nahe gelegenen Dickicht das gefürchtete Gesicht eines Beobachters. Nun war sicher das Ende nahe – meine Laube war entdeckt und das Ziel meiner nächtlichen Wanderungen enthüllt.
Der Mann sprach mich nicht an, also hastete ich nach Hause, um belauschen zu können, was er meinem besorgten Vater wohl berichtete. Würden meine Streifzüge jenseits der verketteten Tür nun der ganzen Welt bekannt gegeben? Kann man sich mein freudiges Erstaunen vorstellen, als ich hörte, wie der Spion meinen Vater flüsternd darüber informierte, ich hätte die Nacht in der Laube vor dem Grab verbracht, meine schlaftrunkenen Augen auf den Spalt gerichtet, wo das verriegelte Portal offen stand?
Durch welches Wunder war der Späher derart getäuscht worden? Nun war ich davon überzeugt, dass mich eine übernatürliche Macht beschützte. Erkühnt durch diesen vom Himmel geschickten Umstand ging ich wieder ganz offen zum Grabgewölbe, denn ich vertraute darauf, dass niemand mein Eindringen beobachten konnte. Eine Woche lang kostete ich ungeniert von den Wonnen der Leichenfledderei, die ich nicht beschreiben muss, als die Sache geschah und man mich in dieses verfluchte Heim des Kummers und der Eintönigkeit schaffte.
Ich hätte mich in jener Nacht nicht hinauswagen sollen, denn in den Wolken brodelte der Donner und aus dem fauligen Sumpf auf dem Grund der Senke stieg ein höllisches Phosphoreszieren. Auch der Ruf der Toten war anders. Statt des Grabes im Hügel rief mich der verkohlte Keller auf der Spitze des Abhangs, winkte mir der Dämon, der dort hauste, mit unsichtbaren Fingern.
Als ich aus dem dort befindlichen Hain auf die freie Fläche vor der Ruine trat, sah ich im nebligen Mondschein etwas, das ich unterschwellig schon immer erwartet hatte. Das bereits vor einem Jahrhundert abgebrannte Herrenhaus bot sich dem entzückten Blick wieder in stattlicher Höhe dar, jedes Fenster prachtvoll erhellt von zahllosen Kerzen. Über die lange Einfahrt rollten die Kutschen des Bostoner Großbürgertums heran und aus den benachbarten Anwesen kamen zu Fuß große Gruppen von Edelleuten mit gepuderten Perücken. Ich gesellte mich zu dieser Schar, obgleich ich wusste, dass ich eher zu den Gastgebern als zu den Gästen gehörte.
Im Innern brandeten Musik und Gelächter durch den Saal und in jeder Hand schimmerte ein Weinpokal. Mehrere der Gesichter erkannte ich wieder, doch ich kannte sie besser in ihrem welken, von Tod und Zerfall zerfressenen Zustand. Inmitten einer wilden und ungezügelten Menge war ich der Wildeste und Hemmungsloseste. Die grässlichen Blasphemien strömten mir fröhlich über die Lippen und bei meinen schockierenden Ausbrüchen würdigte ich weder ein Gesetz Gottes noch der Natur.
Mit einem Mal krachte ein Donnern, das selbst das Lärmen unseres schweinischen Aufruhrs übertönte, durch das Dach und brachte die ausgelassene Gesellschaft zu ängstlichem Schweigen. Rote Flammenzungen und brennende Hitzeböen verschlangen das Haus. Die Säufer flohen schreiend in die Nacht, schreckensbleich über das Heranziehen einer Verheerung, die jede Grenze der ungezügelten Natur zu überschreiten schien. Als Einziger blieb ich zurück, von einer kriechenden Furcht, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte, an meinen Stuhl gefesselt.
Und dann ergriff ein zweites Grauen von meiner Seele Besitz. Falls ich bei lebendigem Leibe verbrannte und der Wind meine Asche in alle vier Himmelsrichtungen verwehte, würde ich niemals in der Gruft der Hydes beigesetzt! Stand mein Sarg denn nicht schon für mich bereit? Hatte ich denn nicht das Recht, in aller Ewigkeit unter den Nachfahren von Sir Geoffrey Hyde zu ruhen? O doch! Ich würde mein Totenerbe einfordern, selbst wenn meine Seele dafür durch die Jahrhunderte streifen musste, auf der Suche nach einer neuen körperlichen Hülle, um meinen Platz dort in der leeren Nische des Grabgewölbes einzunehmen. Jervas Hyde wird niemals das traurige Los des Palinuros teilen!
Als das Trugbild des brennenden Hauses verblasste, fand ich mich schreiend und wie toll um mich schlagend in den Armen zweier Männer wieder, einer davon war der Spitzel, der mir zum Grab gefolgt war. Es regnete in Strömen, und über dem Horizont im Süden zuckten die Blitze des Gewitters, das sich erst kurz zuvor über uns entladen hatte. Während ich schrie, man solle mich gefälligst in mein Grab legen, stand mein Vater daneben, das Gesicht von Sorge zerfurcht, und ermahnte mehrmals meine Häscher, mich so sanft wie möglich zu behandeln. Ein geschwärztes Loch auf dem Boden der Kellerruine verriet einen heftigen Blitzeinschlag, und dort erspähte eine Gruppe neugieriger Dörfler mit Laternen eine kleine, altmodische Kiste, die der Blitz ans Licht befördert hatte.