Haas von Klee - Joe Shepherd - E-Book

Haas von Klee E-Book

Joe Shepherd

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Beschreibung

Haas von Klee und der Fall Mea Lumina Ein irrer Zwerg, eine gigantische Killermaschine, die auf Hundebefehle hört, ein zartbesaitetes Moped namens Gisbert, ein armloser Anwalt und Schuhe die im Dunkeln leuchten. Die Abenteuer des Reporters, Haas von Klee und seiner Freunde, entführen uns in eine kleine blaue Welt, in der wenig normal, aber fast alles möglich ist.

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Seitenzahl: 288

Veröffentlichungsjahr: 2015

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für Betty

Mit schwüler Wärme kamen die letzten Tage des Sommers über die kleine blaue Stadt, wie ein Versprechen, das in diesem Jahr nicht mehr eingelöst werden musste. Das rege Treiben in den Gassen und Geschäften wich in den frühen Abendstunden einer ländlichen Gemütsruhe und während auf dem Rathausplatz der eine oder andere müde dem Feierabend zustrebte, hatte sich die Stadt an ihren hügeligen Ausläufern bereits bis zum völligen Stillstand beruhigt. An diesem unsichtbaren Grenzverlauf verloren jede hektische Aktion und jedes Gewinnstreben ihr Tempo.

Wer sich unter den Bewohnern dennoch die Mühe machte aus dem Tal hinaufzusteigen, dessen Blick ging über das endlose Mosaik verschachtelter, blauer Dächer und weit über die kleine blaue Stadt hinaus. Hier oben, nur wenige Gehminuten entfernt, erstreckte sich in der Abendsonne ein Labyrinth aus niedrigen Feldsteinmauern. Einige markierten die Grenzen der Wiesen und Äcker, andere folgten dem großen Feldweg, der sich trocken und steinig den Hügel hinaufschleppte. Stoppelige, verlassene Felder lagen links und rechts des Weges. Nun führte der Pfad gewunden weiter, bis hinauf zur Spitze der Anhöhe und endete dort bei einem kleinen gepflegten Hof.

Haas von Klee war auf dem Heimweg, und seine langen Ohren wippten im Rhythmus kurzer Sprünge den Hügel hinauf, als ihm auf halber Höhe der alte Sauerampel auf seinem Traktor entgegen kam. Der junge Bursche machte dem rasselnden Schlepper Platz und hob die Pfote zu einem kurzen Gruß. Sauerampel, sonst immer für ein Schwätzchen gut, nickte nur kurz, schaltete einen Gang hoch und rasselte an Haas vorbei. »Der hat es gut auf seinem Wagen«, dachte Haas. Die neu erworbenen Schuhe drückten doch noch etwas, aber es war ja nur noch ein kleines Stück den Hügel hinauf, dann würde er hinter der Kuppe schon die warmen Lichter des Hofes sehen können.

Hier war er zuhause. Den Abend würde er mit seinen bequemen Pantoffeln an den Füßen und einem Gläschen von Tante Zeldas selbstgebranntem Kräuterlikör auf der Gartenbank verbringen. Das hatte er sich verdient. Eigentlich war Haas hundemüde, denn er war an diesem Morgen schon sehr früh aufgestanden. Außerdem hatte er in der Nacht vor lauter Aufregung kaum schlafen können. Einen so guten Einfall wie am Vortag hatte er nämlich schon lange nicht mehr gehabt. Vielleicht konnte er so das Schlimmste, das auf sie zukommen konnte, noch verhindern. Haas war sicher, so konnte es klappen. Normalerweise hätte er für eine solche Tour Gisbert mitgenommen, aber er hatte das Gefühl gehabt, der Wald wäre nicht der richtige Ort für ihn. Gisbert war manchmal sehr sensibel.

In den ersten Strahlen der Morgensonne hatte er sich an diesem Tag angezogen und schnell einige Happen gefrühstückt. Dann war Haas von Klee den Hügel hinabgesprungen und unten angekommen, nahm er den Weg über die neue Holzbrücke. Dort wandte er sich nach links, und schon einige Hüpfer weiter war er im Schatten des Hohlweges verschwunden. Es hatte alles geklappt wie am Schnürchen. Wahrscheinlich bemerkte sowieso niemand, dass er tagsüber weg war. Tante Zelda vielleicht, aber die würde nicht fragen.

So nahm er nun, am Abend, zufrieden mit sich selbst, den Weg zurück nach Hause. Zuerst war es Haas gar nicht aufgefallen, doch hier oben, neben der Dornenhecke, die den Weg ein Stück begleitete, wurde das Summen zu deutlich um es zu überhören.

»Die Grillen. So laut sind sie noch nie gewesen«, dachte Haas.

Es war ein weiches Summen, das allmählich stärker wurde.

»Sssss, Ssssssssssss Sssssssssssssssssss.«

Haas blieb stehen und lauschte.

Stille. - Selbst der Traktor war nicht mehr zu hören.

Alles war wieder ruhig. Nur der Wind lief säuselnd den Hang hinauf.

»Quatsch«, sagte er laut zu sich selbst, stampfte entschlossen mit dem Fuß auf und schüttelte den Kopf.

»Alles nur Einbildung.«

Fast war er oben am Hügel angekommen. Hier an der Wegkreuzung, an der neben der alten Buche eine geschnitzte Statuette den Wanderern die Richtung hinunter in die kleine blaue Stadt wies, kehrte das Summen plötzlich wieder.

»SSSSSSSSSS, SSSSSSSSSSSSSS, SSSSSSSSSSSSSSSSS.«

Lauter diesmal und warnender.

»Das sind doch keine Grillen. Das ist doch kein Zirpen, sondern eher ein Sirren.«

Haas schaute nach unten. Das Geräusch schien direkt aus dem Boden zu kommen. Unentschlossen blieb er neben der Mauer stehen, um den ungewöhnlichen Ton genauer zu lokalisieren, und genau in diesem Moment passierten zwei Dinge auf einmal: Von unten schoss ein grellroter Schein aus den Sohlen seiner Schuhe hervor, zuckte an seinen Hosenbeinen entlang und löste sich in einem ohrenbetäubenden Knall auf. Gleichzeitig wischte von rechts ein schwarzer Schatten in sein Blickfeld. Pfeilschnell hatten Haas’ Reflexe das Kommando übernommen. In einer einzigen fließenden Bewegung wirbelte er herum und duckte seinen Kopf unter einem furchtbaren Schlag hindurch. Mit lautem Zischen streifte der Knüppel eines seiner Ohren, schlug splitternd in die alte Statuette ein und köpfte den kleinen hölzernen Mann am Wegkreuz mitleidslos. Ohne recht zu begreifen, versuchte Haas einen rettenden Sprung in Richtung Baum. Hinter ihm der dunkle Schatten. Mit voller Wucht knallte er jedoch in Kaaders ausladende Statur, die mit erhobener Faust, groß wie eine Eiche, vor ihm aufragte. Nur einen Wimpernschlag später schoss ein Blitz, hell wie tausend Sonnen, durch sämtliche Serpentinen seines erschrockenen Haasenhirns.

Für einen Augenblick stand die Zeit still.

Dann warf das Schicksal seinen schwarzen Mantel über ihn, nahm Haas den Schmerz und schickte ihn in einen Zustand gnädigen Vergessens und tiefer Bewusstlosigkeit.

Am nächsten Tag war die kleine blaue Stadt in Aufruhr. Denn Haas von Klee war nicht irgendjemand. Haas von Klee war nämlich Reporter beim BB, beim Blauen Blatt, der örtlichen Wochenzeitung. Das Blaue Blatt war investigativneutral-unabhängig. Genau so unabhängig wie Haas, denn eine Festanstellung konnte ihm die Chefredakteurin bisher noch nicht bieten. Seine Chefin, die knurrige Victoria Fox, war auch gleichzeitig alleinige Inhaberin des Blattes. Sie wusste zwar, dass sie so manche gute Story nur der Schnüffelnase von Haas zu verdanken hatte, aber die kleine Zeitung war immer noch ein Verlustgeschäft für sie. Das war auch der Grund, warum das Blatt nur einmal in der Woche gedruckt wurde und jeweils am Montag erschien.

Dann war da beim BB noch Molly. Eine rundliche kleine Frau mittleren Alters mit einem aktendeckelgrauen Gesicht. Molly arbeitete erst seit kurzem und nur halbtags als Schreibkraft beim Blauen Blatt. Die andere Hälfte des Tages verbrachte sie mit organisatorischen Aufgaben im Rathaus. Zuerst wurde Haas nach seinem Verschwinden von Tante Zelda vermisst, bei der er wohnte. Sie hatte die Nachbarn gefragt und Sauerampel konnte berichten, er hätte Hass noch am Abend auf dem Weg von der Brücke zu seinem Haus gesehen. Nun war er also verschwunden. Bald schon wußte es die ganze Stadt. Sauerampel gehörte gewiss nicht zu der einsilbigen Sorte Bauer.

Bero, Nic und Ling, allesamt enge Freunde von Haas, saßen am Abend in der Halligalli-Bar und waren außer sich.

»Die ganze Nacht und den ganzen Tag ist Haas nun schon verschwunden«, sagte Nic besorgt.

Die hübsche Ling starrte stumm zu Boden, als könnte sie Haas irgendwo zwischen den wurmstichigen Dielen aufspüren. Auch heute war sie wieder etwas zu elegant gekleidet. Ihr Anzug aus schwarzer Seide hätte jeder festlichen Abendgesellschaft zu mehr Glanz verholfen, und er schien die perfekte Fortführung ihres seidig schimmernden Haares zu sein, das sie wie immer zu einem Zopf gebunden trug. Die pinkfarbene Schließe ihres Kragens, in der Form einer Lotosblüte war jedoch die pure Provokation in dieser rustikalen Umgebung. Auf Grund ihrer ostländischen Ausbildung verstand sie sich auf das Entschlüsseln von Duplizitätsgeheimnissen, einer alten Form der intellektuellen Problemarbeit. Und so arbeitete ihr Verstand bereits fieberhaft:

»Verlaufen-verschwunden, verhaftet-entführt,

ermordet-erstochen, erschossen-erwürgt.«

Ihre Synapsen zündeten mit der schnellen Drehzahl einer mit den Füßen betriebenen Nähmaschine. Doch sie drehten sich im Kreis:

»Betrunken-versunken, versackt-und-verpackt«.

Es führte zu nichts. Sie wollte gerade von vorne beginnen, da flog mit einem Krachen die Tür der Halligalli-Bar auf und der dicke Kaader klemmte im Rahmen. Er war in einen schweren Pelzmantel gehüllt, Marder oder Iltis. Darunter trug er einen dunklen Anzug mit feinen Nadelstreifen, der seiner Erscheinung den Versuch von Seriosität ermöglichte. Der obere Knopf seines hellgrünen Hemdes war offen, und die blutrote Lederkrawatte hing schlaff von seinem massigen Hals herab. Alles in allem ein Potpourri der Geschmacklosigkeit.

Groß, schwer, dumpf und wie immer verschwitzt, so stand Kaader einen Augenblick reglos im Eingang. Er machte in Import-Export, was immer das auch war. Kaader kannte jeden, und jeder in der Stadt kannte ihn. Er machte Geschäfte hier, verlieh etwas Geld dort und arbeitete seit Jahren daran, die kleine blaue Stadt ganz groß rauszubringen. Wenn er nur schon der neue Bürgermeister wäre, dann würde er diesen Schmalköppen hier schon Tempo machen! Kaader dampfte vor Wut, als er näher kam.

»Habt ihr das gehört? Jetzt haben sie es geschafft.« Er stampfte mit dem Fuß auf, um seinen Worten noch mehr Wirkung zu verleihen. »Jetzt haben sie den Bogen überspannt. Die Dolden waren es, das ist doch wohl klar.«

»Die Dolden?«, fragte jemand aus einer Ecke der Bar. »Ja, wer denn sonst ist hinter Schuhen her«, polterte Kaader. »Sie hatten es auf seine neuen Schuhe abgesehen und als der junge Herr von Klee sich wehrte - zapp - haben sie ihn gleich mitgenommen.«

»Schuhe?«, fragte Bero, der sich auch nach all den Jahren noch nicht klar war, was er von Kaader halten sollte.

»Schuhe, ja, die Dolden handeln mit Schuhen. Aber stehlen?« fragte er laut. »Warum sollten sie Haas denn die Schuhe stehlen?«

»Blödmann!« Der Dicke drehte sich um und blaffte Bero an, sodass die Gläser seiner alten Nickelbrille beschlugen. »Noch nie was von dem alten Mann gehört? Ach ja, Du bist ja von der Küste. Komm setz dich Junge und halt die Klappe.«

Bero hatte das Gefühl, dass ihn alle anstarrten. Er wurde rot, zupfte sich verlegen einen Fussel vom Ärmel seines blauen Pullovers und beschloss besser nichts mehr zu sagen. Es war schon spät und die Luft war voller Branntwein, Rauch und wirren Stimmen. Nic bestellte noch ein Malzbier.

»Einen Mann nur gibt es«, Kaader wurde noch lauter und blähte sich auf. »Nur einen, der die Kunst beherrscht!«

»Was soll denn das für eine Kunst sein?«, fragte Nic kleinlaut und nippte an seinem Glas. Der Bierschaum legte sich wie ein Bart unter seine Nase und ließ ihn etwas älter aussehen.

»Besondere Schuhe, magische Schuhe, Schuhe, die leuchten«, murmelte Kaader beschwörend. Jemand grölte: »Wie Scheinwerfer, oder was?«

»Damit ich besser sehe, wem ich in den Hintern trete«, schrie einer und fiel dann krachend vom Hocker. Die gesamte Halligalli-Bar lachte und grölte durcheinander.

»LaoJing«, sagte jemand aus der wenig beleuchteten, rauchigen Ecke des Raumes. »Die Stimme habe ich schon irgendwo gehört«, dachte Bero, konnte aber nicht sehen, wer es war.

»LaoJing«, und merkwürdig, es wurde plötzlich ganz still, als wäre es ein Zauberwort. »Es ist wahr«, sagte die Stimme. »Er ist der einzige, der diese Schuhe anfertigen kann. Er nennt sie Mea Lumina. Jetzt war auch Kaader für einen Moment still geworden.

Ling kombinierte: »versteckt-verdeckt, verr.…«

Sie mochte gar nicht weiter denken.

Wieder war es Kaader, der das Wort führte.

»Ist doch klar. Gestern hat man Haas über die Wiesen fortgehen sehen. Möchte wetten, er war beim alten Mann. Und abends hatte er plötzlich neue Schuhe an. Möchte wetten, das waren diese Lumindingsbumms und das Doldenpack hat ihn deswegen brutal überfallen, beraubt und verschleppt.«

»Mir ist das schon lange aufgefallen, wie sie einem immer auf die Füße glotzen«, rief einer. »Ja, die machen einem förmlich mit den Augen die Schnürsenkel auf«, krähte die dicke Köchin aus der Küche herüber.

»Das hättest du wohl gerne«, dachte Nic.

»Wir sollten dem Pack endlich mal zeigen, wo es langgeht. Was haben die überhaupt hier zu suchen?« Langsam kam Stimmung auf, und Bero wurde es immer mulmiger zu Mute. Jetzt kam Kaader erst in Fahrt, jetzt hatte er sie. Er sprang auf den Stammtisch, schob mit dem Fuß die Gläser beiseite und zeigte allen Anwesenden, dass er ein Meister der populistischen Rhetorik war.

So nahm der Abend seinen unschönen Lauf. Bero, Nic und Ling gingen bald darauf, ohne dass es jemand bemerkte, nach Hause. Nic war schlecht geworden von Kaaders überheblicher Art. Ling war müde vom Duplizieren und Bero war traurig und gleichzeitig sehr besorgt. Nicht nur über das Verschwinden ihres Freundes Haas, das war schlimm genug. Nein, hier braute sich etwas zusammen. Und Bero ahnte Schlimmes.

Kalt flackerten die Sterne am dunkelblauen Himmel als Bero plötzlich erwachte. Ein Betrunkener wackelte laut singend über die Hauptstraße. Sonst war es still. Er schlug die Decke zurück.

»Nichts zu hören, nichts zu sehen«, nur das Quietschen einer ungeölten Fahrradkette, das sich in der Ferne verlor.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er richtete sich auf und starrte lange gedankenverloren vor sich hin.

Das Mondlicht schien schräg durch die Rippen der halb geschlossenen Fensterläden und zeichnete das Muster eines Zebrafells auf den Holzboden.

Der nächtliche Sänger hatte aufgehört, vielleicht war er auch umgefallen.

Bero mußte wieder an seinen Freund Haas denken. Hatte er nicht gerade von ihm geträumt? Zuerst war er am allerwenigsten besorgt gewesen, denn Haas war nicht dumm und wußte immer, was er tat. Vielleicht war er auch einer heißen Story auf der Spur. Dass die Dolden ihn entführt haben sollten, wollte Bero einfach nicht glauben. Aber jetzt war er schon die zweite Nacht nicht nach Hause gekommen, und das mit den Schuhen war auch sehr merkwürdig.

»Mist«, sagte er leise, schloss die Augen und ließ sich zurück ins Kissen fallen.

Plötzlich stockte ihm der Atem.

Da war etwas verändert in seinem Zimmer. Irgend etwas war anders als sonst. Er wußte nicht, was es war, noch wo, doch er wusste genau, dass er es gerade gesehen hatte.

Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie der Raum im Dunkeln ausgesehen hatte. Kalter Schweiß stieg Bero ins Fell und er atmete mit flachen Stößen. Stück für Stück sah er sich im Gedächtnis noch einmal im Zimmer um. Der Nachttisch, auf dem sich Bücher über die Heilkräfte des Honigs stapelten, obenauf das Standardwerk: Entgiftungsmassage mit Honig. Wie hatte das Zeug in seinem Fell geklebt.

- HIER SCHIEN ALLES UNAUFFÄLLIG!

Die beiden grünen Stühle, die jetzt dunkelgrau wirkten.

- AUCH NORMAL.

Die Uhr an der Wand, beide Zeiger auf der Drei.

- OH SCHON SO FRÜH.

Der Schreibtisch, die Lampe darauf. Der Pokal vom Wettbewerb

Wettkochen mit Lachs.

- UNBEDENKLICH.

Das Fenst... . Die Lampe! Halt, die Lampe! Da war was.

Noch einmal ging er seine Beobachtung in Gedanken durch. »Die Lampe!« Schwarz sah er ihre Silhouette im Gedächtnis vor sich. Der Metallfuß, geformt wie eine zu groß geratene Goldmünze. Der Steg in elegantem Schwung hoch hinauf zum Schirm. Dieser aus grünem Glas und der gestreckten Form eines halbierten Brötchens. »Und was war das?« Oben vom Schirm hing etwas herunter, etwas langes, dünnes und Bero glaubte, einen Kopf erkannt zu haben, einen kleinen listigen Kopf mit einem dunkelgelben, verschlagen blickenden Auge. Bero presste die haarigen Fäuste unter der Decke zusammen, sein Herz raste.

Er dachte an die Schlagzeile in der Morgenausgabe des Blauen Boten: »Bero von Schlange gebissen, Bero von Monster gefressen, Bero verschwunden, ja, Bero auch verschwunden!« Er dachte an Haas. Und noch ehe er es selbst begriff, schoss er hoch aus dem Bett, riss im Sprung die Decke mit sich und stürzte sich auf Tisch, Lampe und Monster.

Miss Ling erwachte sehr früh in ihrem Turm. Die Sonne schien ihr auf die Nase und ihr linker Fuß war etwas kalt geworden, weil er unter der Decke hervor lugte. Verschlafen sah sie zum Nachttisch hinüber, wo ihr goldener Glückskatzenwecker ihr fröhlich zuwinkte. Zwei Minuten später stand sie unter der Dusche. Sie seifte sich ein, sie duschte sich ab und griff nach dem Handtuch. Als Ling sich die Seife aus den Augen wischte, fand sie das Tuch etwas rauh. Hatte sie bei der letzten Wäsche etwa den Weichspüler vergessen?

Außerdem entdeckte sie bei näherem Hinsehen Taschen und Knöpfe an diesem Handtuch.

»Ja alle roten Teufel. Was soll denn das?«, schrie sie und sprang aus der Dusche. Während Ling noch kreuz und quer durchs Bad stolperte, klopfte es heftig an der Tür. Wilde Flüche in ihrer Muttersprache wurden gefolgt von einem etwas verzweifelten:

»Ich komme ja schon.«

Notdürftig bekleidet mit dem was sie eben noch für ein Handtuch gehalten hatte, sprang sie zur Tür - und riss sie auf.

Mit großen Augen stand Bero vor ihr und wackelte mit einer Hand, von der etwas Grünes herabhing.

»Ling?!«

Sagte Bero erstaunt.

»Ling, Ling, was...?«, stammelte er.

»Ling, Ling, Ling, das hört sich ja an wie ´ne Glocke zu Weihnachten. Was ist los, hast du noch nie eine Ostländerin im Badetuch gesehen?«

Miss Ling war etwas ungehalten. Noch immer hatte sie Seife in den Augen und ihr schwarzes Haar, das sonst so sorgsam zu einem Zopf gebunden war, klebte ihr kreuz und quer am Kopf. »Ling, wo hast du denn die Weste von Haas her? Das ist doch die orange-gestreifte Weste von Haas!?«

Ling bekam allmählich das Gefühl, dass dieser Tag etwas merkwürdig begann. Langsam sah sie an sich herunter.

»Haas´ was? Weste? Ja was mach ich denn mit Haas ´ Weste?« Sie konnte es nicht fassen. Bero stand mit großen, wissenden Augen vor ihr und wackelte mit dem Daumen durch ein Loch in dem herunterhängenden Strickteil in seiner Hand.

»Du hast die Weste in deinem Haus gefunden, oder?«

Doch was wie eine Frage von Bero klang, war eher eine Feststellung. »Und ich hab´ das hier gefunden, oder besser gesagt, erlegt!«

Er hielt etwas hoch, das wie eine Socke aussah.

Von der Wand löste sich langsam ein Wassertropfen, fiel herab auf einen Vorsprung und lief mit vielen anderen seiner transparenten, kleinen Brüder in einem schmalen Rinnsal die Felswand hinab. Hinunter zu der Pfütze, in der Haas mit einem besockten und einem nackten Fuß stand. Bis vor einer Stunde hatte noch ein Rest von kaltem Sternenhimmel über dem dunklen Schacht gestanden, in dem er sich befand. Jetzt kündigte fahles Morgenlicht den neuen Tag an, und der schien auch nicht besser zu werden als der Gestrige. Langsam setzte er sich wieder auf den einzigen Stein, der aus dem Wasser ragte und senkte den Kopf in seine nassen Pfoten. Klar hatte er sofort versucht, aus diesem Loch herauszuklettern. Es waren ja nur zwei bis drei Haasenlängen bis oben. Er war gesprungen. Einmal, dreimal, zehnmal, aber es war nicht zu schaffen. Haas war zu klein, um sich an der gegenüberliegenden Wand abzustützen, und überhaupt waren die Wände viel zu glatt und glitschig. In zahllosen Bahnen krochen kleine Rinnsale durchs Moos und rannen an den Wänden herunter. Obwohl er die Pfütze am Grund seiner Fallgrube sofort durchsucht hatte, konnte er seine Schuhe nicht finden. Nur einer seiner Schnürsenkel schwamm oben auf der trüben Brühe wie eine einsame kleine Wasserschlange. Er fischte ihn heraus und band sich das dünne lange Ding um sein Pfotengelenk. Lange sah er sich das Bändchen an. Das war also alles, was ihm geblieben war von seinen Wunderschuhen.

»Blöde Idee, das Ganze.« Also, was bleibt einem cleveren kleinen Langohr übrig, wenn es alles versucht hat? Von Klettern bis Springen, sogar mit angelegten Ohren, und nichts hatte geklappt? Richtig, er ruft um:

»Hiiiiiiiilfe!« Und zwar so laut und so lange er nur kann. Doch nach Stunden musste auch Haas begreifen, dass ihn hier niemand hören würde.

Wenn er doch nur wüsste, wie er hierher gekommen war. Und wo es lag dieses Hier. Sein Kopf war leer und so sehr er auch überlegte und versuchte sich zu erinnern. Die letzten Tage waren wie gelöscht. Sein Kopf war so leer wie sein Geldbeutel an jedem Monatsende. Haas stand noch immer unter dem Schock der Geschehnisse. Außerdem hatte er schreckliche Kopfschmerzen. Ärgerlich betastete er die Wunde an seinem Hinterkopf. Das Fell war völlig verklebt, aber sie hatte wenigstens aufgehört zu bluten.

Er stöhnte leise, lehnte den Kopf an das weiche Moos und dämmerte bald darauf hinüber in einen tiefen, unruhigen Schlaf.

Es war Montagmorgen und Nic saß trübsinnig vor seinem Frühstück. Gerade hatte er das Blaue Blatt aufgeschlagen, das pünktlich wie jede Woche auf seiner Fussmatte gelegen hatte.

»SPITZENREPORTER HAAS ENTFÜHRT«,

stand in großen roten Buchstaben auf der ersten Seite.

»Undurchsichtige, fremde Volksgruppe unter Verdacht,«

Er strich sich durch seine stacheligen Haare und las weiter.

»In den späten Nachmittagsstunden des vergangenen Samstags soll ein Mitarbeiter dieses Blattes, der Reporter Haas von Klee, in der Nähe seines Hauses mit Gewalt entführt worden sein. Bisher unbestätigten Gerüchten zufolge werden einige, seit kurzem in der Stadt weilende Dolden dringend der Tat verdächtigt. Ein glaubwürdiger Zeuge gab an, Herrn Hass vorgestern kurz vor Sonnenuntergang auf dem Weg zu seinem Haus gesehen zu haben. Dort kam er jedoch niemals an. Sachdienliche Hinweise, bla, bla, bla … .«

Verärgert schlug Nic die Zeitung zu und seinem Frühstücksei den Kopf ab. Wo war nun wieder der Salzstreuer hingekommen? Die frühe Sonne schien im flachen Winkel durch die Butzenscheiben seines Küchenfensters und zeichnete ein breites Band aus aufgewirbelten Staubkörnchen in die Luft. Gerade wollte er seine Scheibe Toast in den lauwarmen Fluten seines Kaffees baden, als es klopfte.

»Pakeeetpooost«, rief jemand von draußen.

»Komme, ich komme schon!« Müde schlurfte er zur Eingangstür und öffnete sie einen Spalt breit.

»Sind Sie Herr Nic?«, fragte der Mann in der gelben Uniform. Das ebenfalls gelbe Fahrrad, Marke Biciclette, hatte er an die Ligusterhecke gelehnt. Auf der Mütze des Boten prangte das typische Posthörnchen, groß wie ein Geweih, in den Morgenhimmel.

»Was steht denn da?«, fragte Nic ärgerlich und zeigte auf sein Namensschild an der Tür.

Der Bote schob sich das gestrickte Posthörnchen nach hinten ins Genick und kratzte sich am freigewordenen Haaransatz.

»Geduld ist die Kunst, nur langsam wütend zu werden«, sagte er ruhig und grinste Nic unverschämt an.

Ohne zu antworten, nahm der ihm das Päckchen ab und warf einen kurzen Blick auf das Etikett.

»Hey, das ist ja gar nicht für mich, sind Sie blind Mann?«

»Nee, das ist für Herrn von Klee, aber mein Boss meinte, weil der doch im Moment verhindert ist, sozusagen, und es nicht annehmen kann, sollen Sie es nehmen. Ein Postamt ist schließlich kein Warenlager. Mein Boss sagte, Sie sind befreundet miteinander. Oder nicht?«

»Ja, bin ich«, antwortete Nic missmutig und quittierte den Empfang mit drei schwungvollen Buchstaben. Er ging hinein, warf die Schachtel achtlos in den Lehnstuhl und begann, das Frühstücksgeschirr vom Tisch zu räumen.

Ling und Bero klopften erst gar nicht. Türen waren in der kleinen blauen Stadt eigentlich nie abgeschlossen, das lohnte sich nicht. Sie marschierten geradewegs am Postboten vorbei durch Nics Flur und in seine Wohnküche. Bero trug Haas´ Weste und hatte sich, obwohl es ihn einige Überwindung gekostet hatte, die Socke über die Nase gestülpt. Ling meinte, das sähe besonders bedeutungsvoll aus.

»Nic«, sagte er etwas durch die Nase, »fällt dir was auf?«

»Du hast einen Schnupfen«, antwortete Nic, ohne sich umzusehen.

»Quatsch, wir haben endlich eine Spur!«

Mit großen Worten und wilden Gesten erzählten sie ihm von der letzten Nacht.

»Die Socke, die Weste, das alles sind Zeichen.«

»Zeichen? Was für Zeichen?«, stieß Nic hervor.

»Ja, Zeichen von Haas!« Bero überschlug sich nun fast. »Er will uns auf seine Spur bringen!« Jetzt wurde Nic langsam wach.

»Aber wie hat Haas die Spur gelegt, wenn er doch wie vom Erdboden verschluckt ist?«, fragte er, füllte den Kaffeekessel noch einmal auf, stellte ihn auf den Herd und entzündete die Gasflamme.

»Das ist ja das Geheimnisvolle.« Ling nahm sich eine Tasse aus dem Schrank und obwohl sie seit drei mal drei Jahren hier im Westland lebte, fragte sie sich immer noch, warum hier die Tassen ein Ohr hatten.

Ling war bestimmt nicht weise, wenn sie mit ihrer Brille auch vielleicht ein bisschen so aussah. Aber manchmal hatte sie Ideen, die durchaus zu gebrauchen waren. Denn kaum hatte der heiße Kaffee seine Wirkung getan, schnackte es in ihrem Kopf und sie kam mit einer Lösung, die so einfach wie genial war:

»Es hat ihm jemand geholfen. Unser kleiner schlauer Haas hat die Götter um Hilfe gerufen und die haben in ihrer unendlichen Güte einen Boten geschickt«, sagte sie. Und Ling fand, dass sich das sehr ostländisch anhörte.

Nic strich sich wieder mit der Hand durch seine Stacheln, runzelte die Stirn und sah sie mitleidig an. »Wenn man sich den Müll mal wegdenkt, mit dem du deine Erleuchtung verpackt hast, ist der Gedanke gar nicht so schlecht.«

Bero war jetzt in seinem Element. Als Ex-Seemann kannte er sich mit Zeichen aus, und er wußte: »Zeichen brauchen nicht nur Sender, sie brauchen auch Empfänger.« Das war schon mal klar. Wer der Sender war, wussten sie nicht. Die Empfänger jedenfalls waren sie alle drei.

»Aber Zeichen müssen auch vom Empfänger verstanden werden, sonst sind sie keine Zeichen. Sonst sind sie nur Quatsch«, murmelte Bero. »Sonst ist eine Socke nur eine Socke.«

»Und ein Anker nur ein Anker«, meinte Nic kleinlaut und sah dabei auf Beros alten Pullover. Der rote Anker darauf war das Zeichen der Seeleute.

Nic fragte sich, wie man am frühen Morgen schon so aufgekratzt sein konnte. Er jedenfalls musste sich erst noch einmal hinsetzen. Er nahm seinen Kaffee und ließ sich in den alten Lehnstuhl fallen. Das heißt, er wollte sich gerade fallen lassen, aber etwas war da im Weg. Das blöde Päckchen, das konnte er nun gar nicht gebrauchen. Nic legte es zur Seite, konnte aber nicht umhin doch noch einmal einen Blick darauf zu werfen. Im selben Moment war er hellwach. Fast hätte er den heißen Kaffee, von dem er eben einen Schluck genommen hatte, über seinen blauen Pyjama gespuckt.

»Mich trifft der Schlag«, sagte er überrascht.

»Dieser LaoJing hat Haas ein Päckchen geschickt!«

»Mach es auf, mach es auf«, riefen die anderen im Chor. Und schon stürzten sie sich auf das Päckchen.

»Stopp«, rief Bero und hielt die Beiden zurück. »Es gehört uns nicht und vielleicht ist was gefährliches drin. Besser ich horche erstmal dran.« Vorsichtig nahm er das Päckchen, drehte es um und schaute es sich von allen Seiten prüfend an. Es war nicht sehr groß, etwa nur so lang wie ein Schuhkarton. Allzu schwer war es auch nicht, und das Packpapier drumherum schien fast neu zu sein. Bero schüttelte es leicht, legte das Ohr daran und horchte.

»Hört ihr das?«, fragte er, und schaute in die Runde. Bero schüttelte erneut. »Es klackert so komisch«.

»Wie eine Bombe?«, fragte Nic, der schon vorsorglich hinter dem Lehnstuhl in Deckung gegangen war. Bero hob den Karton über seinen Kopf, um darunter zu sehen. Dann schüttelte er noch einmal, dieses Mal fester.

»Stell die Kiste hin, oder bist du lebensmüde?«, schrie Ling. Und im gleichen Moment rutschte das Päckchen Bero auch schon aus der Hand.

Blitzschnell in seinen Reaktionen bekam er es noch einmal kurz zu fassen - aber nur mit zwei Fingern.

Wieder rutschte es weg.

Und dann war es auf dem Weg zu Nics steinernem Küchenboden.

Es musste schon Mittag gewesen sein, als Haas wieder erwachte, denn die Sonne stand nun fast senkrecht über dem ausgefransten Kreis, durch den er den Himmel sehen konnte. Er lehnte an der harten Felswand und blickte hinauf. Ein kleiner Ausschnitt von Blau war alles, was er sah.

»Verdammte Haasensch… .« Sein Fell starrte vor Schlamm, und seine Füße waren runzelig wie der Bauch einer hundertjährigen Kröte.

Laut fluchend patschte er mit der flachen Pfote auf das braune Brackwasser. Er fragte sich, wie lange er nun schon in diesem Loch saß, und sein Magen gab ihm laut knurrend die Antwort. Haas konnte es nicht fassen. So ziemlich alles war feucht, und was nicht feucht war, war richtig nass. Modriger, abgestandener Geruch stieg ihm in die Nase.

Er schnupperte.

Unbegreiflich dieser Geruch, unbeschreiblich, und doch erinnerte er Haas an irgendetwas. An irgendetwas Unangenehmes. An irgendetwas Fauliges. Und plötzlich fiel es ihm wieder ein. So wie ein fieses Insekt, das einem in den Kragen und unters Hemd krabbelt, schlich die Erinnerung Stück um Stück zurück in sein Bewusstsein. Und das war gar nicht schön. Kaaders muffiger, ranziger Anzug. Dieser unangenehme Geruch war die letzte Wahrnehmung in Haas´ Nase gewesen. Er war voll in diesen Muff geprallt und dann waren ihm die Lichter ausgegangen..

»Das war es. Kaader war es.«

Manchmal hatte die Nase doch das beste Gedächtnis. Haas hatte ja gewusst, dass mit Kaader nicht zu spaßen wäre. Aber als er sich aufmachte, dem einmal genau auf den Zahn zu fühlen, war mit dieser Härte und Rücksichtslosigkeit sicher nicht zu rechnen. Vielleicht war er doch noch zu naiv gewesen. Immerhin hatte die Idee mit den Schuhen gut funktioniert. Auch wenn es ihm nun nichts mehr nützte. Er erinnerte sich an den grellen Schein, der von ihnen ausgegangen war. Und auch an das Summen, das er in seiner Unerfahrenheit für das Zirpen der Grillen gehalten hatte. Er hätte gewarnt sein müssen.

Ling hatte sich flach auf den Boden geworfen und Nic war vollständig unter dem Lehnstuhl verschwunden. Doch nichts war passiert. Und noch überraschender, nichts war explodiert.

Als Nic wieder hinter dem Stuhl auftauchte, riss Bero auch schon das Packpapier auf.

»Feiglinge«, sagte er mit gespielter Verachtung.

Auch Ling rappelte sich wieder auf und wartete neugierig, was nun zum Vorschein kommen würde. Als Erstes gab es einen Stoffbeutel zu sehen. Er schimmerte grün und violett wie Seide, hatte eine bestickte Borte und war mit einer roten Kordel verschlossen. Bero zog den Beutel auf und schaute vorsichtig hinein.

Begleitet von einem langgezogenen »Iiiieeeehhh!« verzog er voller Abscheu das Gesicht und ließ den Beutel augenblicklich fallen. »Da muss was ganz ekeliges drin sein«, sagte er. »Das stinkt ja wie verwesendes Yak«

Da Nic von eher langer Gestalt war, musste er sich tief bücken, um den Beutel aufzuheben. Vorsichtig zog er die Kordel auf und schnupperte, schaute die anderen fragend an, schnupperte wieder und griff grinsend in den Beutel. Langsam zog er die Hand mit dem Inhalt aus dem geheimnisvollen Beutel zurück. Sofort erkannten sie die abgetretenen blauen Stoffturnschuhe von Haas. Es roch zwar immer noch, aber wirklich gefährlich war es nicht.

Und dann fanden sie den Zettel. Er war hellblau, klein und kariert. Am oberen Rand hatte er eine ausgerissene Reihe winziger Löcher. Etwa so einer, wie man ihn von Notizblöcken abreißt. Darauf waren merkwürdige kleine Bilder mit Strichen gezeichnet. Da war ein Männchen an einem Zaun zu sehen, ein Topf mit einem Deckel drauf und Tiere. Allerdings hatten die Tiere viel zu viele Beine.

»Was soll denn das?«, fragte Nic in die Runde. »Was sind denn das für blöde Bilder?«

»Keine Bilder«, sagte Ling und sah ihn scharf an. »Schriftzeichen ostländischer Art. Das ist doch ganz einfach.«

»Das hier, zum Beispiel«, sie deutete mit dem Finger auf das Männchen am Zaun, »bedeutet Schuh oder Schuhe. Und dies hier heißt: große Gefahr. Jetzt wartet mal, dann lese ich es komplett vor.«

»Da bin ich aber gespannt.« Nic nahm in der Aufregung noch einen Schluck aus seiner Tasse und verzog das Gesicht. Der Kaffee war eiskalt. Bero putzte inzwischen seine Nickelbrille mit der Socke von Haas.

Ling kniff die Augen hinter ihrer runden Brille zusammen und sah nun konzentriert auf den kleinen, karierten Zettel.

»Ehrenwerter Herr Haas«, las sie dort. »Nun, da Sie fort sind, und ich mir die Zeit nahm, noch einmal über Ihre Bitte nachzusinnen, erscheint es mir unverantwortlich, dass ich Sie mit den Schuhen fortgehen ließ. Sie können nicht wissen, in welch große Gefahr Sie sich durch den Besitz der Mea-Lumina-Schuhe bringen könnten. Werter Herr, es heißt: Wer die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd. Ich hoffe für Sie, dass Ihre neuen Schuhe nicht nur die Wahrheit ans Licht bringen. Ich hoffe ebenso inständig, dass Sie auch schnell damit laufen können, sollte dies notwendig sein. Und ich fürchte, das wird es.« Ling machte eine Pause und sah Nic und Bero vielsagend an.

Dann fuhr sie fort:

»In der Hoffnung, dass Sie von Ihrem überaus kühnen Plan Abstand nehmen mögen, sende ich Ihnen mit diesem Päckchen Ihre alten Schuhe zurück. Ich hoffe inständig, dass diese Sie in eine friedvolle Zukunft tragen werden. Die Mea- Lumina-Schuhe aber senden Sie mir bitte unverzüglich wieder zurück. Denn, wie wir im Osten sagen: Wer einen Fehler macht und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.

Ihr unbedeutender Freund LaoJing.«

Bero und Nic schauten sich höchst erstaunt an. Ling hatte einen trockenen Mund und nahm erst einmal einen Schluck aus Nics Kaffeetasse. Sie mochte kalten Kaffee ganz gerne.

Also stimmte es doch, das Gerücht. LaoJing schickte die alten Turnschuhe zurück. Damit war klar, dass Haas bei ihm gewesen war und auch, dass er das Haus des alten Mannes offensichtlich mit anderen Schuhen verlassen hatte. Mit besonderen Schuhen. Mit Mea-Lumina-Schuhen. Was immer das auch sein mochte.

»Und wo ist er nun, der dumme Kerl? Vergessen wir die Klamotten und die Zeichen. Am besten wir gehen direkt zu diesem LaoJing. Vielleicht weiß der, was hier gespielt wird.« Bero brachte die anderen abrupt in die Realität zurück.

In wenigen Augenblicken hatten sie ihre Jacken wieder angezogen und Nic packte einen Rucksack mit Haas´ Kleidungsstücken und allem nötigen Zubehör für eine kleine Expedition. Dann standen sie auch schon vor dem Haus. Endlich konnte man etwas tun. Endlich war das hilflose Warten vorbei. Jetzt ging es los.

»Ost oder West«, fragte Nic und zeigte nach Norden und Süden.

Bero zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Was hat denn Kaader abends in der Bar gesagt?«

Ling hatte bereits wieder mit dem Duplizieren begonnen. Nein, jetzt war es das Trigonizieren oder Quadrodieren oder sonst irgendetwas, was außer ihr keiner verstand.

»Norden-Orden-Wilde Horden,

Osten-Kosten-Ausguckposten.

Nein, besser so«, sagte sie. »Jetzt hab ich es:

Norden, Norden… - gehst Du nach Norden, könnt man dich morden.«

»Quatsch!« Bero ging dazwischen. »Was für ein Quatsch.«

Doch Ling ließ sich nicht beirren.

»Und gehst Du nach Osten, dann wirst du bald rosten.«

»Das stimmt,« rief Nic. »Im Osten regnet es fast immer.«

»Und gehst du nach Süden, wirst schnell du ermüden.«

»Stimmt auch, da geht‘s in die Berge und steil nach oben.«

Ling war nun nicht mehr ansprechbar.

»Doch gehst du nach Westen, scheint das noch am Besten.«

Kopfschüttelnd marschierte Bero los.

»Bekloppt, ihr seid beide total bekloppt. Ich bin mit Verrückten unterwegs. Also gehen wir jetzt nach Westen.«

»Herrlich, Herrlich.« Eine Doldenfrau im besten Alter und noch rundlicher als Dolden ohnehin meist sind, sprang aus ihrer Behausung und hüpfte quer über den von bunten Wagen gesäumten Platz. In der Mitte der Wiese stand ein Grüppchen kleiner, aber kräftiger grauer Esel wie Miniaturelefanten um ein Wasserloch herum.

»Herrlich, die neue Kollektion. Ravenna, Ravenna schau doch nur!« Und schon war sie in einem blau-grün gestreiften Wagen verschwunden. Ja, die Dolden, das war schon immer ein komisches Völkchen gewesen. Reisende Händler, solange man denken konnte. Klein, grau aber äußerst friedfertig, denn sie hatten nichts von dem, was wir Arme nennen würden. Nicht, dass sie das störte, sie hatten einfach keine und kannten es auch nicht anders. Und doch waren sie nicht ungeschickt oder gar wehrlos, hatten sie doch über Jahrtausende die Kampfkunst der freien Rede entwickelt und bis zur Perfektion geführt.