Habe ich AD(H)S? - Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz - E-Book

Habe ich AD(H)S? E-Book

Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

AD(H)S bei Erwachsenen? Wurde bisher kaum erkannt, noch seltener diagnostiziert und vor allem in seiner Bedeutung vollkommen unterschätzt. Tatsächlich leiden 50-60 % der als Kind von AD(H)S Betroffenen auch im Erwachsenenalter noch unter den typischen und weniger typischen Symptomen, die sie in ihrer Lebensgestaltung mitunter erheblich beeinträchtigen. Viele können den Scheinwerfer ihrer Aufmerksamkeit nicht lange fokussieren und sind leicht ablenkbar. Hinzu kommen Symptome wie Hyperaktivität, Verträumtheit und fehlende Impulskontrolle. Dieser Ratgeber holt AD(H)S endlich aus der zu klein gewordenen Nische, denn längst ist klar: Die Betroffenen sind viele und mit diesem Buch erhalten sie eine wirksame Anleitung zur Selbsttherapie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 256

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Unsere eBooks werden auf kindle paperwhite, iBooks (iPad) und tolino vision 3 HD optimiert. Auf anderen Lesegeräten bzw. in anderen Lese-Softwares und -Apps kann es zu Verschiebungen in der Darstellung von Textelementen und Tabellen kommen, die leider nicht zu vermeiden sind. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Impressum

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

GU ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Franziska Daub

Lektorat: Silke Panten

Bildredaktion: Nele Schneidewind

Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Sabine Skrobek, Stephanie Reindl

eBook-Herstellung: Jie Song

ISBN 978-3-8338-9114-4

1. Auflage 2023

Bildnachweis

Coverabbildung: iStockphoto

Fotos: Adobe Stock, iStockphoto

Syndication: www.seasons.agency

GuU 8-9114 09_2023_02

Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

www.facebook.com/gu.verlag

Garantie

LIEBE LESERINNEN UND LESER,

wir wollen Ihnen mit diesem E-Book Informationen und Anregungen geben, um Ihnen das Leben zu erleichtern oder Sie zu inspirieren, Neues auszuprobieren. Wir achten bei der Erstellung unserer E-Books auf Aktualität und stellen höchste Ansprüche an Inhalt und Gestaltung. Alle Anleitungen und Rezepte werden von unseren Autoren, jeweils Experten auf ihren Gebieten, gewissenhaft erstellt und von unseren Redakteur*innen mit größter Sorgfalt ausgewählt und geprüft. Haben wir Ihre Erwartungen erfüllt? Sind Sie mit diesem E-Book und seinen Inhalten zufrieden? Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung. Und wir freuen uns, wenn Sie diesen Titel weiterempfehlen, in ihrem Freundeskreis oder bei Ihrem Online-Kauf.

KONTAKT ZUM LESERSERVICE

GRÄFE UND UNZER VERLAG Grillparzerstraße 12

Wichtiger Hinweis

Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung der Verfasserin dar. Sie wurden von der Autorin nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Sie haben AD(H)S oder denken, Sie könnten davon betroffen sein? Sie wollen die Herausforderungen von AD(H)S meistern und die Stärken, die AD(H)S mit sich bringt, maximal nutzen?

Erfahren Sie in diesem Ratgeber,

welche Symptome auf AD(H)S hindeuten und wie Sie diese in den Griff bekommen,welche Auswirkungen AD(H)S auf Ihre Partnerschaft,Ihre Finanzen und Ihren Beruf hat und was Sie tun können, um endlich in jedem Lebensbereich Ihr volles Potenzial auszuschöpfen,wie Sie die Diagnose erhalten und die richtige Behandlung für Ihre individuellen Bedürfnisse finden können,warum sich auch hinter Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen AD(H)S verbergen kann und wie Sie sowohl Ihre AD(H)S als auch die Begleiterkrankung behandeln können,wie Sie mit Ihrer Impulsivität umgehen und Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen verbessern können,wie Sie Ordnung und Struktur in Ihren Alltag bringen undso vieles mehr.

Der umfangreiche Ratgeber zur Selbsthilfe für Erwachsene mit AD(H)S von der gefragten, erfahrenen und selbst betroffenen AD(H)S-Spezialistin Dr. med. Neuy-Lobkowicz.

Ich widme dieses Buch all meinen Patientinnen und Patienten, die mich so viel über AD(H)S gelehrt haben. Mein besonderer Dank gilt meinem Mann Dr. Franz Lobkowicz, der mir immer mit Geduld und Verständnis zur Seite steht und der auch dieses Buch mit so vielen Anregungen und kritischem medizinischem Sachverstand begleitet hat.

EINLEITUNG

Es ist so oft das Leben, das uns Erfahrungen verschafft. Wir haben dann die Wahl, diese Erfahrungen als Leid oder als Herausforderungen zu sehen, an denen wir wachsen können. Seit nunmehr 30 Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema AD(H)S und seit 25 Jahren insbesondere mit AD(H)S bei Erwachsenen. Für mich ist AD(H)S eine spannende Art zu sein. Ich sehe es einerseits als Geschenk, weiß aber aus eigener Erfahrung, dass es auch immer wieder eine Herausforderung sein kann.

Ich bin nicht ganz zufällig mit diesem Thema in Kontakt gekommen. Zwei meiner fünf Kinder sind von klein auf von der hyperaktiven Form von AD(H)S betroffen, ein weiteres von der Mischform. Ich bin unendlich dankbar, dass ich zu einem frühen Zeitpunkt verstanden habe, mit welchen Problemen meine Kinder zu kämpfen hatten, und dass ich sie dadurch immer darin unterstützen konnte, ihre besondere Art zu verstehen und etwas Gutes daraus zu machen. Natürlich, es gab anstrengende und harte Zeiten für uns alle – Tränen, Geschrei, Konflikte und viele Auseinandersetzungen. Doch ich wusste stets, dass meine Kinder mich nie ärgern wollten und auch nicht faul waren, wenn sie auf meine endlosen Bitten hin zum Beispiel mal wieder ihr Zimmer nicht aufräumten. Ich wusste, sie litten erblich bedingt unter Motivationsstörungen und kamen oft nicht in die Gänge.

Woher ich das wusste? Weil ich selbst betroffen war. Ich bin ebenfalls mit hyperaktiver AD(H)S zur Welt gekommen und war zudem oft schnell gelangweilt und durchweg chaotisch. Als Mutter sah ich es plötzlich allerdings zusätzlich von der anderen Seite. Oft genug habe ich mich gefühlt, als wollte ich störrische Kamele antreiben. Ich war regelmäßig zermürbt von den ewig gleichen Diskussionen über die alltäglichsten Dinge, sei es darüber, Hausaufgaben zu machen, das Zimmer aufzuräumen, Familiendienste einzufordern oder Zähne zu putzen.

Heute kann ich sagen, dass meine Kinder für mich großartige Lehrer waren. Sie haben mich dazu gezwungen, Klarheit, Gelassenheit und Struktur zu lernen. Sie haben mich immer wieder herausgefordert, konsequent zu handeln und mich nicht beirren zu lassen. Zudem haben sie mir immer auch einen Spiegel vorgehalten – denn oft genug verlangte ich in meiner Mutterrolle zunächst Dinge von ihnen, die ich selbst nur schwer einhalten konnte (Stichwort Aufräumen). Immer wieder hat die Impulsivität meiner Kinder zudem auch in mir heftige Gefühlsreaktionen hervorgerufen, die ich vorher so bewusst nie wahrgenommen hatte.

Ich habe das Glück, trotz (oder vielleicht auch wegen) meiner hyperaktiven AD(H)S hochfunktional zu sein. Ich habe mein Abitur gemacht und Medizin studiert. Meine Lehrer und Professoren gingen recht unterschiedlich mit meiner Eigenart um. Bis heute bin ich dankbar dafür, dass es mir meine Lehrer in der Schule erlaubt haben, den ganz und gar langweiligen Unterricht zu ertragen, indem ich ihnen allen Norwegerpullover strickte. Unterrichtsstunde um Unterrichtsstunde saß ich da, klapperte mit meinen Stricknadeln und bestand trotzdem jede Klassenarbeit. Im Prinzip hatten meine Lehrer keine Wahl, denn ich wäre sonst vor Langeweile und motorischer Unruhe schlicht ausgeflippt. Heute weiß ich: Ich habe mein Abitur bestanden, weil es mir erlaubt wurde, anders zu sein, und weil meine Lehrer mit meiner ungestümen Art und meiner Spontaneität umgehen konnten.

Auf der Universität war das dann schon anders. Ich habe auch in den Vorlesungen gestrickt. (Wie soll man es auch sonst einen ganzen Vormittag sitzend in einem übervollen Hörsaal aushalten?) Ich weiß noch genau, dass sich ein Kommilitone deshalb einmal über mich beschwert hat. Ich hätte ihm dafür am liebsten meine Stricknadeln in den Bauch gerammt. Auch der Professor meinte mehr als einmal, dass aus mir wohl nie eine gute Medizinerin würde, wenn ich in der Vorlesung stricke, statt ihm gebannt zuzuhören … Er verstand nicht, dass ich ihm nur zuhören konnte, weil ich strickte.

Meine Kinder halfen mir schließlich auch dabei, zu verstehen, warum ich es auch heute noch schaffe, chaotisch zu werden, wenn ich nicht aufpasse, warum ich mir oft zu viel Arbeit auflade oder einfach damit Probleme habe, langweilige Arbeiten zu erledigen. Ohne gute Fachkräfte würde ich keine Steuererklärung zustande bringen und keine Kassenabrechnung machen können. Dafür kann ich aber ganz andere Sachen, zum Beispiel Bücher schreiben, total verrückte Einfälle haben und spontan und intuitiv sein, was vielleicht wiederum andere Menschen nicht so gut können. Mir fallen die lustigsten und unmöglichsten Sachen ein und dank meiner Begeisterungsfähigkeit und meiner spontanen Einfälle erlebe ich nicht selten vollkommen ungewöhnliche Situationen.

Meine jüngste Tochter kann die Geschichte erzählen, wie wir sie in Italien einmal an der Tankstelle vergessen haben. Bis heute treibt sie mir mit dieser Geschichte einerseits die Schamesröte ins Gesicht. Andererseits können wir aber auch herzlich darüber lachen, weil es einfach eine dieser total typischen AD(H)S-Situationen war. Meine Tochter hat im Übrigen keinen bleibenden Schaden davongetragen; vielmehr haben sie sämtliche Tankstellenangestellte so lange mit Eiscreme versorgt, bis es uns gelungen war, die nächste Ausfahrt zu nehmen und zurückzufahren. Die töchterliche Rache besteht seitdem darin, diese ganz und gar unmögliche Geschichte jedem zu erzählen und unser Missgeschick in jeder erdenklichen Situation auszubreiten. Zum Glück konnten wir uns das alles erklären und verzeihen. Und zum Glück konnten wir unsere Gefühlsausbrüche, unsere emotionalen Dramen und unsere kreativen chaotischen Verhaltensweisen verstehen und erklären. Wir sind weiterhin eine hochemotionale chaotisch liebevolle Großfamilie. Acht Enkelkinder bereichern das Gefühlschaos mit der ihnen eigenen kindlichen und ungestümen Art mittlerweile zusätzlich.

Ich verdanke meinen Kindern meine Spezialisierung auf AD(H)S bei Erwachsenen. Sie haben mich dazu animiert, mich schon früh intensiv mit dem Thema AD(H)S auseinanderzusetzen. Es ist für mich bis heute immer wieder ein großes Geschenk, dass ich vielen von AD(H)S betroffenen Menschen helfen konnte und immer noch kann. Ich danke all meinen Patientinnen und Patienten, dass ich so viel mit ihnen über AD(H)S lernen durfte. Sie haben mir über all die Jahre einen unendlichen Erfahrungsschatz geschenkt.

Ich schreibe dieses Buch als Betroffene, als Mutter, als Fachärztin und als Dozentin. Ich halte viele Vorträge zum Thema AD(H)S und ich werde nicht müde, auch bei meinen Kollegen, bei Fachärzten und Psychotherapeuten immer wieder darauf zu verweisen, dass AD(H)S das dankbarste Krankheitsbild in der Psychiatrie ist. Bisher ist AD(H)S bei Fachärzten und Psychotherapeuten leider nicht ausreichend in seiner Bedeutung erfasst und verstanden. Es ist überdies immer wieder erstaunlich, dass so viele Menschen eine Meinung zu AD(H)S haben und doch nur wenige auch wirklich Ahnung und vertiefte Kenntnisse besitzen. So wird gerne einmal behauptet, dass AD(H)S eine von der Pharmaindustrie erfundene Krankheit sei oder dass AD(H)S nur durch falsche Erziehung entstehe.

Ich möchte in diesem Buch aufklären, was AD(H)S ist und welche aktuellen Forschungsergebnisse wir zur Entstehung von AD(H)S haben. Ich möchte insbesondere viele Anregungen und Tipps geben, wie man gut mit AD(H)S leben und wie es Menschen mit AD(H)S gelingen kann, ihre Stärken zu stärken und ihre Schwächen zu schwächen. Ich wünsche allen AD(H)S-Betroffenen, dass sie rechtzeitig eine Diagnose erhalten, richtig behandelt werden und einen guten Weg mit ihrem Anderssein finden.

Zu verstehen hilft so sehr dabei, die eigene Lebensgeschichte und all das, was im Leben passiert ist, besser einzuordnen. Zu verstehen hilft auch dabei, sich selbst mehr zu akzeptieren. Und ganz wichtig: Zu verstehen hilft dabei, die AD(H)S-spezifischen Probleme anzupacken und sich anderen besser erklären und eine Gebrauchsanweisung für sich geben zu können.

GEBRAUCHSANWEISUNG FÜR DIESES BUCH

Ich möchte mit diesem Buch eine Art »Betriebsanleitung« für AD(H)S schaffen. Mein Anliegen ist es, dass es AD(H)S-Betroffenen besser gelingt, ihr Potenzial zu leben.

Hierfür habe ich Ihnen in Teil III dieses Buches, »Mit AD(H)S leben«, eine Toolbox mit wertvollen Merksätzen und hilfreichen Tipps zusammengestellt. Mein Tipp: Stellen Sie sich Ihre eigene Toolbox zusammen. Schreiben Sie sich jeden Merksatz, der für Sie hilfreich sein könnte, auf Post-its und legen Sie diese in Ihre persönliche Toolbox oder kleben Sie sie an Orte, an denen Sie sich immer wieder daran erinnern lassen können, etwa an den Badezimmerspiegel oder die Eingangstür. Veränderung lässt sich nicht wie ein Lichtschalter anknipsen. Nicht nur die Erkenntnis ist entscheidend, sondern die tägliche Umsetzung. AD(H)S-Betroffene haben auch meist kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Sie wissen, was sie verändern müssten, aber sehr schnell sind diese Erkenntnisse wieder unmerklich verschwunden und erneut haben sich alte Gewohnheiten ins Leben geschlichen.

Ich möchte Sie zu der »Immer-öfter-Strategie« ermutigen. Es wird nicht alles auf einmal klappen, auch wenn es so einfach erscheint. Nur in der täglichen Übung und mit der Nachsicht, dass Rückschritte und Rückfälle zum Leben dazugehören, werden Sie Ihre AD(H)S in den Griff bekommen. Das Buch soll Ihnen dabei helfen, alte dysfunktionale Gewohnheiten durch bessere Gewohnheiten zu ersetzen, mit denen Sie ein erfolgreicheres und glücklicheres Leben für sich selbst erschaffen können. Was Sie dazu brauchen, sind Geduld, freundliche Beharrlichkeit und Verständnis für Ihr Anderssein.

AD(H)S zu haben, bedeutet, dass viele Plagegeister durch das Leben der Betroffenen spuken und in jeden Bereich ordentlich hineinfunken können. Es geht darum, diese Plagegeister zu entpersonalisieren. Dieses Buch soll Ihnen dabei helfen, Ihre Perspektive zu wechseln: weg von »Ich bin unfähig« und hin zu »Ich habe AD(H)S und habe es bisher nicht gewusst«. Es ist nicht Ihr Scheitern, mit dem Sie Freundschaft schließen können, sondern Ihre neurobiologische Besonderheit. Nicht Sie sind verantwortlich für all die Niederlagen und das Scheitern, sondern Ihre AD(H)S hat Ihnen viele Probleme bereitet. Die Anregungen in diesem Buch werden Sie dabei unterstützen, nicht weiter gegen sich zu kämpfen, sondern zu lernen, sich zu akzeptieren. Sie werden lernen, sich dafür wertzuschätzen, dass Sie nie aufgegeben haben und dass Sie jetzt wissen, warum Sie so viele Schwierigkeiten in Ihrem Leben hatten.

Je besser Sie die AD(H)S-Plagegeister kennenlernen, desto besser wird es Ihnen gelingen, sie in Schach zu halten. Je mehr Sie AD(H)S auch als Geschenk begreifen können, desto besser werden Sie die Stärken der AD(H)S nutzen können. Je mehr Sie in der Lage sind, mit AD(H)S Frieden zu schließen, und je mehr es Ihnen gelingt, den täglichen Kampf mit AD(H)S zu beenden, desto glücklicher und erfolgreicher werden Sie sein.

Dazu ist es notwendig, dass Sie Ihr negatives Selbstkonzept über Bord werfen. Versuchen Sie, AD(H)S als große Herausforderung zu sehen. Sie können AD(H)S nicht einfach loswerden. Es gehört zu Ihnen, und es wird Sie für den Rest Ihres Lebens begleiten. Sehen Sie es als Herausforderung, mit den Karten, die Sie bekommen haben, ein gutes Spiel zu spielen. AD(H)S bedeutet keine schlechten Karten fürs Leben, es sind nur schwierige.

Sie werden auf Ihrem Weg auf viele Hindernisse treffen. Lassen Sie sich nicht davon entmutigen, dass Ihnen der AD(H)S-Plagegeist in Ihrem Leben immer wieder begegnen wird. Ich wünsche Ihnen eine gehörige Portion Humor – denken Sie daran, dass niemand verrücktere Situationen erlebt und mehr Katastrophen produziert als AD(H)S-Betroffene. Andererseits hat kein anderer Mensch diese Stehaufmännchenqualitäten und die Fähigkeit, aus total verrutschten und misslungenen Situationen wieder aufzustehen wie der Phönix aus der Asche.

Ich bin immer wieder tief beeindruckt über die Kreativität der AD(H)Sler in Bezug auf Problemlösungen. Sie sind Master of Disaster, aber es wird mit ihnen nie langweilig und ihre Originalität und Kreativität hat auch einen großen Zauber. Sie sind innovativ, manchmal wahre Ideenmaschinen. Oft sind sie selbst erstaunt über ihre Geistesblitze. Auch haben sie ein großes Improvisationstalent. Sie haben häufig eine gute lebenslange Übung darin, ihre eigenen Versäumnisse, Vergesslichkeiten und Unterlassungen in originelle Darstellungen zu verpacken.

Ich persönlich habe bei dem Thema AD(H)S ganz viel über mich selbst gelernt und ich weiß auch, dass es immer wieder bestimmte Themen gibt, die in meinem Leben auftauchen. Ich würde meine AD(H)S aber nie hergeben, denn damit habe ich auch ganz besondere Fähigkeiten, die mein Leben sehr bereichern.

Was ist AD(H)S?

Fangen wir mit dem Positiven an: Was macht AD(H)S-Betroffene besonders? Sehr viel! Sie sind keine Spießer, sondern Individualisten, die sich immer wieder neu erfinden. Die Stehaufmännchenqualitäten sind ihre Resilienz. Sie sind schillernde Persönlichkeiten mit vielen Facetten. So sind sie selbst immer wieder erstaunt über all ihre Einfälle, Handlungen und Gefühle, die sich Ausdruck verschaffen. Sie können sich spontan begeistern für Dinge, die sie nicht für möglich gehalten haben, und überraschen sich selbst damit immer wieder. Sie können wirklich für eine Sache brennen und dann Berge versetzen. Kaum jemand kann hartnäckiger an einer Sache dranbleiben, wenn sie diese wirklich interessiert. Sie leben belohnungsorientiert und mit dem unbändigen Willen, ihre Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Das Leben soll Spaß machen, und nur für Spaß lohnt sich Anstrengung. Es ist ein Leben im Hier und Jetzt, und nicht auf Vergangenheit und Zukunft ausgerichtet.

AD(H)S-Betroffene haben einen hohen, manchmal übersteigerten Gerechtigkeitssinn, für den sie auch bereit sind, zu kämpfen. Dabei scheuen sie nicht davor zurück, sich für andere einzusetzen. Sie fragen sich zwar oft nicht, ob auch andere ihre Vorstellung von Gerechtigkeit unterstützen, aber sie führen ihren Kampf mit Mut und Einsatz. AD(H)S-Betroffene sind risikofreudig und furchtlos und können Grenzen ausloten, manchmal unter Einsatz ihres Lebens. Dabei können sie einen erstaunlichen Wagemut und Eifer entwickeln, wenn es darum geht, die Grenzen des eigenen Potenzials auszuschöpfen. Sie sind die Extremsportler, die Abenteurer, die Revolutionäre. Sie sind die Freidenker. Sie können ein unglaubliches Durchhaltevermögen aufbringen, wenn die Ziele spannend sind und die Belohnung attraktiv. Sie sind dann auch bereit, zu kämpfen und Opfer zu bringen.

Auch haben sie oft eine besondere Sicht auf die Welt. Sie nehmen andere Dinge wahr als ihre Mitmenschen, und sie nehmen andere Perspektiven ein. Eigentlich braucht jedes Unternehmen AD(H)Sler. Sie sind die Ideengeber, können »out of the box« denken, brennen für Neues und Aufregendes, sind Trendscouts. Sie können sich immer wieder neu erfinden, improvisieren und sich für neue Aufgaben und Ideen begeistern. Wahrscheinlich waren sie schon in der Mehrzahl unter den ersten Auswanderern nach Amerika, denn wer sonst sollte schon damals den Mut gehabt haben, sich auf ein klappriges Schiff zu begeben, um irgendwo im Niemandsland an Land zu gehen, ohne zu wissen, was sie dort erwartet?

AD(H)S-Betroffene haben oft eine unbändige Kraft. Allerdings können sie diese Kraft nicht immer effektiv einsetzen. Es ist, als würde man einen Porsche-Motor in einen kleinen Polo einbauen. Wird dann das Gaspedal betätigt, heult der Polo auf und gibt sein Bestes – stellt jedoch schnell fest, dass der Porsche-Motor einfach zu viel Power hat. Dieser Polo ist weder auf so viel Speed eingestellt, noch hat er die nötige Bremsleistung.

AD(H)S-Betroffene haben oft großen Einfallsreichtum und eine beeindruckende Erfindungsgabe. Ihr assoziativer Denkstil kann sehr intuitiv und kreativ sein. Im Gegensatz dazu fällt ihnen lineares und analytisches Denken schwer. Ihre Intuition kann genauso beeindruckend sein wie ihre Fähigkeit zur Improvisation. Dies gilt auch für Ausreden, in denen sie Meister sind, wenn mal wieder etwas danebengegangen ist. Ihre Flexibilität ist groß, es gelingt ihnen immer wieder, sich, auf neue Situationen einzustellen, sich neu zu erfinden. AD(H)Sler sind oft getrieben, auf der ständigen Suche nach Abwechslung, Erregung, Spannung und Herausforderung. Mit dem Mittelmaß sind sie unzufrieden. Sie suchen nach der allumfassenden Lösung. Die Suche nach der Lebensformel und dem immerwährenden Glück ist leider meist nicht erfolgreich. Sie bleiben trotzdem bei der Überzeugung: Genug ist nie genug.

AD(H)Sler sind oft gute Katastrophenmanager, denn wenn die Hütte brennt, können sie mit klarem Verstand gute Entscheidungen treffen. In monotonen Situationen können sie dann eher kopflos werden und darüber nachsinnen, wie sie wieder Action in ihr Leben bringen können. AD(H)S-Betroffene haben eine erstaunliche Bandbreite an Gefühlen, die ganz schnell wechseln können. Das Gleiche gilt für ihr Selbstvertrauen. In einem Moment fühlen sie sich unbändig stark und glauben, alles erreichen zu können. Im nächsten Moment ist das Selbstwertgefühl wie ein Taschenmesser zusammengeklappt. Dann überkommt sie die Überzeugung, dass sie im Leben noch nie etwas erreicht haben oder dass sich die Welt gegen sie verschworen hat. AD(H)S-Betroffene sind immer wieder für Überraschungen gut. Sie handeln spontan und unkonventionell. Sie schaffen oft das Unerwartete, sowohl im negativen als auch im positiven Sinne.

Die typischen AD(H)S-Kernsymptome

Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung; erhöhte Ablenkbarkeit, Sprunghaftigkeitinnere Unruhe und GetriebenheitChaos, desorganisierte ArbeitsweiseSchwierigkeiten, Dinge zu planen, Entscheidungen abzuwägen, aus Erfahrungen zu lernenPriorisierungsprobleme, das heißt Unfähigkeit zu sehen, was wichtig und was unwichtig ist; Schwierigkeiten, den Überblick zu behaltenVergesslichkeitMotivationsstörung, vor allem dann, wenn etwas keinen Spaß macht; »Aufschieberitis«; Aufgaben werden nicht zu Ende gebrachtLeben im Hier und Jetzt, ohne die Konsequenzen der eigenen Handlungen zu bedenkenmangelnde Selbstdisziplin und Zuverlässigkeit; wichtige Sachen werden nicht angepackt, stattdessen liegt der Fokus auf kurzfristigem Spaßfalsche Zeiteinschätzung, Probleme mit Pünktlichkeitschnelle Stimmungswechsel, emotionale Dysregulationhohe Sensibilität für Kränkungen und AblehnungBetroffene fühlen sich schnell angegriffen und können dann impulsiv reagieren und die Kontrolle über ihre Gefühle verlierenUngeduld, Betroffene wollen sofort immer allesinstabiles Selbstwertgefühl, Selbstzweifelhoher Gerechtigkeitssinndaraus resultierend Schwierigkeiten mit Mitmenschen und berufliche Problemeerhöhtes Risiko, im Laufe des Lebens weitere körperliche und seelische Begleiterkrankungen zu entwickeln

DIE DREI AD(H)S-TYPEN

Es gibt verschiedene Typen von AD(H)S im Erwachsenenalter. Der hyperaktive Typ ist den meisten bekannt.

AD(H)S steht für …

… Aufmerksamkeitsdefizit-/(Hyperaktivitäts)störung und bezeichnet im Vergleich zu neurotypischen Menschen eine Verhaltensstörung, die durch Auffälligkeiten in Bezug auf Aufmerksamkeit und Konzentration, Impulsivität sowie körperliche Unruhe gekennzeichnet ist.

DER HYPERAKTIVE TYP

Während ein Kind mit der hyperaktiven Form von AD(H)S noch der klassische Zappelphilipp ist, nicht still sitzen und sich nicht an Regeln halten kann, zeigt sich die Symptomatik bei Erwachsenen diskreter. Sie haben gelernt, sich zu beherrschen, behalten aber ihre innere Unruhe, ihr Getriebensein, das Gefühl, unter Strom zu stehen und nicht abschalten zu können, bei. Man bemerkt die Hyperaktivität oft nur noch an dem Wippen der Füße oder an den Fingern, die ständig in Bewegung sind und an irgendetwas herumspielen. Hyperaktive Erwachsene müssen häufig herumlaufen, weil sie Ruhe nicht aushalten. Warten zu müssen oder im Stau zu stehen, fällt ihnen richtig schwer. Sie kritzeln oder malen, wenn ihnen langweilig wird, oder brauchen etwas zum Spielen, um ihre nervöse Unruhe zu verbergen. Viele leiden unter nächtlichem Zähneknirschen, weil sie auch im Schlaf immer noch so viel Anspannung haben. Manche kauen Fingernägel, reißen sich die Haare aus oder müssen dauernd Pickel ausdrücken. All das ist Ausdruck ihrer inneren Anspannung. Im Kindes- und Jugendalter ist die hyperaktive AD(H)S bei Jungen deutlich häufiger als bei Mädchen. Weil er für Mitmenschen auffälliger ist, wird dieser Typ auch öfter diagnostiziert.

DER UNAUFMERKSAME TYP

Weniger bekannt, aber trotzdem bedeutend, ist der unaufmerksame Typ der AD(H)S. Im Kindes- und Jugendalter zeigt sich diese Form häufiger bei Mädchen, wird jedoch oft nicht erkannt, was weitreichende Folgen für die Betroffenen hat. Unaufmerksamkeit, erhöhte Ablenkbarkeit und Antriebsstörungen sind unauffällig. Die Betroffenen wirken verträumt, uninteressiert und erschöpft. Sie driften mit ihrer Aufmerksamkeit ab, ihre Gedanken wandern, sie verlieren sich in Tagträumen, leben in der Welt von Fantasy, gelesenen Büchern oder Serien und scheinen so manchmal nicht richtig hier auf dieser Welt zu sein. Oft sind sie auch zu langsam und umständlich. Sie brauchen lange, um Entscheidungen zu treffen. Wenn sie in ihren eigenen Traumwelten leben, bekommen sie vieles um sie herum gar nicht mit. Dadurch sind ihre Aufnahmefähigkeit, ihre Konzentration und damit natürlich ihre Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt. Sie sind in der Schule oft brav, schüchtern, zurückgezogen und viel zu langsam. Bis sie die Situation richtig erfasst haben, ist sie schon vorbei. Das, was sie gerne gesagt hätten, fällt ihnen zu spät ein. Sie können sich oft auch schlecht zur Wehr setzen und sich nicht gut selbst behaupten. Ihre Leistungen sind schlechter, als es ihrem Potenzial entspricht. Sie neigen dazu, sich schneller zurückzuziehen und zu resignieren. Im Laufe des Lebens ist ihr Risiko für die Entwicklung von Depressionen und Ängsten besonders hoch.

Fehlende Diagnose bei vielen Frauen

Der unaufmerksame Typ hat eine hohe Relevanz, weil er eher unbekannt ist und nicht so eindeutig erkannt wird wie der hyperaktive Typ. Da er vermehrt Frauen betrifft, werden Frauen deutlich seltener auf AD(H)S diagnostiziert, wodurch ihnen eine wertvolle Therapieoption entgeht. Im Erwachsenenalter fallen diese Frauen oft mit Depressionen oder Angststörungen auf – die darunter liegende AD(H)S wird dann erneut weder erkannt noch richtig behandelt.

DER KOMBINIERTE TYP

Im Erwachsenenalter sehen wir am häufigsten den Mischtyp aus hyperaktivem und unaufmerksamem Typ. Jeder AD(H)S-Betroffene hat seine ganz individuelle AD(H)S. Der eine hat mehr Probleme mit der motorischen Unruhe, der nächste mit Impulsivität, ein anderer mit Unaufmerksamkeit. Die jeweilige Ausprägung der Kernsymptomatik der AD(H)S ist höchst verschieden und kann im Laufe des Lebens auch wechseln. So kann ein hyperaktiver AD(H)Sler im späteren Leben durchaus vorwiegend eine AD(H)S des unaufmerksamen Typs haben und umgekehrt. Warum das so ist, ist unbekannt.

DIE KERNSYMPTOME EINER AD(H)S

Schauen wir uns nun einmal die bereits erwähnten AD(H)S-Kernsymptome im Detail an.

AUFMERKSAMKEITS- UND KONZENTRATIONSSTÖRUNG 

AD(H)S-Betroffene tun sich schwer damit, längere Zeit konzentriert zu bleiben. Das gilt besonders für Routineaufgaben und tägliche Pflichten. Es fällt ihnen ungeheuer schwer, sich mit Aufgaben zu beschäftigen, die sie langweilig finden und die keine sofortige Belohnung versprechen. Man kann es so erklären, dass AD(H)S-Betroffene den Scheinwerfer ihrer Aufmerksamkeit nicht lange auf etwas richten können, was sie nicht wirklich fesselt. Unglücklicherweise betrifft das recht viele Aufgaben am Tag. Der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit ist, bildlich gesprochen, auf einem wackeligen Kugelgelenk montiert und bei der kleinsten Ablenkung bewegt sich dieser Scheinwerfer in Richtung des neuen Reizes. Wir nennen das auch Reizoffenheit. Jeder neue Reiz der Außenwelt, sei er auch noch so unwichtig, führt zu einer sofortigen Ablenkung. Tätigkeiten werden so immer wieder unterbrochen und oft nicht bis zu Ende ausgeführt. Dadurch kommt es zudem zu Vergesslichkeit, Sprunghaftigkeit und Zerstreutheit, was bei Kindern zu Schulproblemen und bei Erwachsenen zu Problemen am Arbeitsplatz führen kann. AD(H)Sler springen also ständig mit ihrer Aufmerksamkeit hin und her. Sie bemerken es meist nicht einmal, denn sie kennen es nicht anders. Sie machen deshalb viele Flüchtigkeitsfehler. Selbst wenn sie einen guten Gedanken haben, kann dieser sofort von einem neuen unwichtigen Gedanken verdrängt werden und es gelingt AD(H)S-Betroffenen dann oft nicht mehr, sich an den wichtigen Gedanken zu erinnern.

Trotz guter Intelligenz kann es aufgrund dessen sein, dass AD(H)S-Betroffene weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Es werden oft deutlich schlechtere Schulabschlüsse erzielt, als dies mit ihrer Intelligenz möglich gewesen wäre. Manchmal wird nicht einmal ein Schulabschluss erreicht, was die Lebenskarriere maßgeblich beeinträchtigt. Es fällt den Betroffenen schwer, Wissen gezielt abzurufen, und so bringen sie inkonstante Leistungen. Ihr Gehirn speichert nicht zuverlässig ab und gibt auch nicht zuverlässig gelerntes Wissen wieder preis.1

Aus der Praxis

Mia möchte für ihre Klausuren lernen, aber sie schafft es nicht länger als zehn Minuten bei der Sache zu bleiben. Sie muss immer wieder aufstehen, sich einen Kaffee machen, auf die Toilette gehen, schauen, was in den sozialen Medien gepostet wird, oder zum Kühlschrank laufen und sich etwas zu essen zu holen. Zudem nervt es sie, dass der Nachbar dauernd bohren muss. »Die Baustelle, wie lange gibt es die eigentlich schon?«, denkt sie sich. »Der könnte doch auch abends bohren. Die Kita nebenan wird auch immer lauter. Warum müssen Kinder denn so laut schreien? Machen die denn heutzutage keinen Mittagsschlaf?« Immer wieder versucht sie anzufangen, verliert aber den Fokus – und schon schaut sie wieder etwas im Internet nach, was gar nicht mit ihrer Klausur zu tun hat. Immer wenn sie versuchen will, sich auf ihr Thema zu konzentrieren, fallen ihr tausend Sachen ein und ihre Gedanken hüpfen von einem Thema zum nächsten: »Gestern Abend, wie hat Paul das gemeint, als ich mit ihm diskutiert habe? Irgendwie war Lina schlecht drauf, habe ich etwas falsch gemacht? Mit wem könnte ich mich eigentlich heute Abend treffen? Ach ja, Mama habe ich auch schon lange nicht mehr angerufen. Das letzte Mal hatten wir so eine komische Stimmung, warum war das eigentlich so? Heute regnet es schon wieder. Blöd, ich wollte doch Sport machen …«

Spontan können AD(H)S-Betroffene eindrucksvolle »Geistesblitze« und Erkenntnisse haben, aber auf Knopfdruck will das AD(H)S-Gehirn nicht arbeiten. Es ist oft ein Anarchist, es möchte sich nicht an Regeln halten, nicht einfach funktionieren. Die Stärke der AD(H)S-Gehirne liegt in der Spontaneität, die manchmal an Genialität grenzen kann – nur halt leider nicht dann, wenn es notwendig wäre.

Erstaunlich ist, wie hervorragend sich AD(H)S-Betroffene auf etwas konzentrieren können, wenn es sie interessiert. Hier können sie Höchstleistungen erbringen. Man fragt sich oft, wieso manche schwierigen Dinge so brillant gelingen und so einfache, aber uninteressante Dinge einfach nicht bewältigt werden. So schwanken AD(H)Sler nicht selten zwischen Null-Bock-Haltung, intellektuellem Tiefflieger, intellektuellem Überflieger und Workaholic.

AD(H)S-Betroffene lassen sich aber nicht nur leicht vom dem ablenken, was um sie herum passiert, sondern auch von ihren eigenen Gedanken: Die hüpfen und springen nämlich ständig in ihrem Kopf herum. Manche Betroffene fühlen sich dann, als hätten sie »Spaghetti im Kopf«, andere haben Gedankennebel. Beides verhindert einen klaren Gedanken. Das kann sich regelrecht zu einem »neuronalen Schneegestöber« auswachsen, in dem tausend Gedankenblitze herumflitzen, die nicht zu Ende gedacht werden können. Gedanken poppen auf, enden im Nichts, Unwichtiges schiebt sich in den Vordergrund, sei es das Piepsen eines Vogels, das Ticken einer Uhr oder das Handygespräch eines Unbekannten. Und dabei soll die Bachelorarbeit fertig werden.

Wir sehen: AD(H)S-Betroffene haben keine Reizfilter. Sie nehmen alles gleichzeitig und gleich stark wahr. Das führt dazu, dass sie schnell von Reizen oder auch von Gefühlen überwältigt werden. Wenn zu viel um sie herum passiert und zu viele Eindrücke auf sie einströmen, werden sie schnell reizüberflutet. Das erhöht ihre innere Anspannung, sie können darauf gereizt, kopflos und impulsiv reagieren. Ein Weihnachtsmarkt mit seinen Lichtreizen, Gerüchen, dem Gedränge und verschiedenen Musikquellen kann sie so irritieren, dass sie ausrasten. Viele AD(H)S-Betroffene wissen aber gar nicht, warum sie in diesen Situationen Spannungen entwickeln und gereizt reagieren.

INNERE UNRUHE UND GETRIEBENHEIT

AD(H)S-Betroffene fühlen sich häufig innerlich unruhig und angespannt. Oft fällt es ihnen nicht einmal mehr auf, weil sie es nicht anders kennen, als unter Strom zu stehen und sich getrieben zu fühlen. Immer auf dem Sprung und bereit, sich zur Wehr zu setzen, fällt es ihnen oft schwer, zu entspannen und Ruhe zu finden. Besonders die Hyperaktiven unter ihnen brauchen viel Action und Bewegung.

PRIORISIERUNGSPROBLEME

AD(H)S-Betroffene nehmen Reize gleich wichtig wahr. Das AD(H)S-Gehirn kann nur schwer zwischen wichtigen und unwichtigen Reizen unterscheiden. Das bedeutet, dass AD(H)S-Betroffene oft gar nicht wissen, welche Aufgabe zuerst erledigt werden müsste. Ohne Priorisierung ist es oft schwer, Entscheidungen zu treffen. Wenn alle Argumente gleich wichtig sind, kann man nicht erkennen, welche Kriterien Vorrang haben sollten. Da kann es schon ein Problem sein, sich beim Blick auf eine lange Speisekarte in einem Restaurant für ein Gericht zu entscheiden. Das Besondere an AD(H)S ist, dass das Gehirn zum einen viel mehr Reize wahrnimmt und diese zum anderen ohne Priorisierung verarbeitet. Mit so viel aufgenommener Information kann sich dann das Gefühl des Brainfog einstellen, das Gefühl im Nebel zu stehen.

VERGESSLICHKEIT

Auch auf das Erinnern ist einfach kein Verlass. Vieles wird kurzfristig vergessen, besonders Aufgaben, die man dringend erledigen müsste. Man geht ins nächste Zimmer, um etwas zu holen. Dort weiß man oft nicht mehr, was man holen wollte, oder dass man überhaupt etwas holen wollte. Dann wieder kann man sich an Vorkommnisse glasklar und präzise erinnern, die ganz unwichtig sind. Auch hier ist wieder das Problem, dass nichts verlässlich berechenbar ist. Mancher AD(H)Sler kommt zu der Erkenntnis, dass die größte Unbekannte in seinem Leben er selbst ist. Das stresst nicht nur andere, sondern auch den Betroffenen. Geistesblitze und gute Einfälle verschwinden im Dschungel der vielen Gedanken, wenn sie nicht sofort umgesetzt und aufgeschrieben werden. Die Vergesslichkeit ist Betroffenen oft selbst sehr peinlich. Sie erleben es als schamhaft, wenn sie erneut eingestehen müssen, dass sie etwas einfach wieder verbummelt oder vergessen haben.

MOTIVATIONSSTÖRUNG