#hackingmydepression - Maarten Hemmen - E-Book

#hackingmydepression E-Book

Maarten Hemmen

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  • Herausgeber: Storytone
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

"350 Millionen psychisch erkrankte Menschen, unnötig, wenn ihr mich fragt, wir können es so viel besser machen, für so viele Menschen. Ich sehe täglich das Leiden, und es bringt mich um, ich muss nicht unbedingt auf die große Bühne, aber irgendwie habe ich keine Wahl. Ich muss sprechen, ich muss schreien, toben, ich muss gehört werden." Auf den ersten Blick ist Maarten der geborene Siegertyp. Groß, blond, sportlich, topfit und Holländer! Jahrgangsbester als Drummer am Konservatorium in Rotterdam, Taekwando-Kämpfer in Auswahlteams und erfolgreicher Musikproduzent. Von außen betrachtet ein Mensch auf der Sonnenseite des Lebens. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Maarten ist manisch depressiv. Was von außen paradox erscheint, bestimmt sein Leben zwischen massiven Ups und Downs. In seinem Buch #hackingmydepression teilt er seine tiefsten Gedanken und seine manchmal unkontrollierbaren Stimmungen. Aber es gibt auch viel Hoffnung wie er sich seiner Krankheit stellt und versucht durch Sport, Meditation und neuen Denkansätzen den Geistern in seinem Kopf habhaft zu werden. In seinem autobiographischen Buch #hackingmydepression widmet sich Maarten Hemmen offen und selbstreflektiert der größten Herausforderung seines Lebens. Dem Umgang mit seiner Depression. Ein Suizidversuch bildet eine elementare Zäsur in seinem Leben und er beginnt seine Depressionen zu akzeptieren und Strategien für die Bewältigung zu entwickeln. Ein Buch, das dabei hilft Depressionen zu verstehen, aber auch mit Ihnen umzugehen.

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Seitenzahl: 227

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#hackingmydepression

Maarten Hemmen

Storytone

Originalausgabe

© 2022 Storytone

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung:

Saida Ibrahimava

Lektorat, Layout & Satz:

Sandra Krichling, Max Bäumker & Matthäus Cygan

ISBN 978-3-9824547-2-6

Inhalt

Cover

Title

Copyright

Inhalt

„Deutschland, wir müssen reden.“

Vorwort

Mein Name ist Maarten Hemmen

Neue Wege

Abriss-Birne

Eine Woche Sofa

Therapie?

Die Treppe

Kaltes Polen

Zurück nach Hause

Meine Regeln

Social Media?!

„Deutschland, wir müssen reden“

„Atme, junger Padawan“

Draußen spielen

Heldenreise Teil 1

Heldenreise Teil 2

Ich habe ein Tagebuch zu dieser Challenge geführt.

#deutschlandwirmüssenreden

„Deutschland, wir müssen reden.“

Vorwort

„Mein Name ist Maarten Hemmen.“

So fange ich mittlerweile meistens an, wenn ich öffentlich spreche oder Workshops gebe, wenn ich meine Geschichte erzähle, eine Geschichte, die traurig ist, weil ich sie so lange mit mir rumtragen musste, weil ich lange unnötig schwer gelitten habe. Jetzt, wo ich spreche, wo ich das Tabu durchbreche, das wir in unserer Gesellschaft aufgebaut haben in Bezug auf Depressionen und andere psychische Probleme, geht es mir aber besser als je zuvor. Manchmal nimmt man sich was im Leben vor, wie zum Beispiel ein Buch über Depressionen zu schreiben. Haben noch nicht so viele vor mir gemacht (außer Professoren, die beschrieben, wie schlimm das alles ist). Man kann sich wenig abgucken, und die Frage, ob es überhaupt jemanden interessiert, ist auch noch nicht geklärt. Den Großteil meines Lebens habe ich mit Depressionen gekämpft. Vielmehr habe ich eigentlich mit mir gekämpft oder vielleicht sogar noch mehr dafür gekämpft, so wenig wie möglich ich zu sein. Mittlerweile glaube ich, dass man krank wird, wenn man das, was in einem steckt, ignoriert. In meinen Coachings und Retreats arbeite ich hauptsächlich daran, den Menschen wieder zuhören zu lassen. Sich selbst zuhören. Den Körper wieder spüren und kommunizieren lernen mit sich selbst. Es wird immer leichter sein, sich auf externe Einflüsse zu konzentrieren, aber du bist ein Leben lang mit dir, mit deinem Körper, deinem Geist! Also macht es Sinn, sie gut kennenzulernen.

Dieses Buch ist meine Geschichte, eine Biografie, wenn du magst. Es ist kein Fachbuch, kein Hilfe-zur-Selbsthilfe-Buch. Die Ereignisse sind so niedergeschrieben, wie ich sie erlebt habe. Im besten Fall kannst du mit meiner Geschichte etwas anfangen und für dich auf die Suche gehen. So, wie ich es tat.

Dieses Buch ist für meine Familie: Mama, Papa, Broeder, Zusje, alle, die bij hun horen en mijn eigen kleine Familie: Selam en Helina.

Mein Name ist Maarten Hemmen

Ich wurde geboren in Ter Apel, in Groningen, Holland. Im Übrigen darf man ruhig „Holland“ sagen und muss nicht immer „Die Niederlande“ sagen, weil wir sonst sauer werden. Um ehrlich zu sein, interessiert es, glaube ich, keinen Holländer, ob ihr Holland oder Niederlande sagt. Mittlerweile gibt es Ter Apel nicht mehr, weil keiner da mehr wohnen wollte. Und das sagt auch schon alles über Ter Apel aus. Ich bin geboren in einer Familie (wie die meisten) und habe zwei Eltern (wie auch die meisten von euch). Ich hab einen älteren Bruder, Thijs, und eine jüngere Schwester, Noortje. Mama heißt Frouk, Papa Erick. An meine frühe Kindheit kann ich mich kaum erinnern, aber ich weiß, dass wir irgendwann nach Assen gezogen sind. Vielleicht waren wir die Letzten, die Ter Apel verlassen haben. In Assen bin ich zur Schule gegangen.

Ich war nicht unbedingt auffällig in der Schule aufgrund meiner Leistung, ich war aber eigentlich gar nicht so dumm und bin gut mitgekommen. Auffällig war, dass ich zum Beispiel im Kreisgespräch sehr viele Fragen an andere Kinder stellte. Wenn sie von ihren Wochenenden erzählt haben, wollte ich unbedingt alles wissen. Welches Transportmittel sie benutzt haben, mit wem sie unterwegs waren, worüber geredet wurde, welche Gerüche sie wahrgenommen haben, bis hin zu, wie sich die Kinder in bestimmten Momenten gefühlt haben. Die armen Kleinkinder konnten noch nicht mal ihren Vornamen buchstabieren und ich durchlöcherte sie schon mit Fragen wie ein Hobby-Psychologe. „Maarten ist sehr interessiert an den anderen Kindern“, lautete eine Überschrift aus einem meiner Rapporte in der Grundschule, und das war ich auch tatsächlich. Ich wollte immer wissen, ob das, was ich fühle, auch von anderen wahrgenommen wurde. Vielleicht wollte ich eher wissen, ob es stimmt, dass ich teilweise spüren konnte, was die anderen Kinder spürten, oder wenigstens, ob sie das gleiche spürten wie ich.

Ich fühlte mich nicht sehr wohl auf meinem Platz in der Schule. Ich musste immer sitzen, obwohl ich stehen wollte. Ich musste leise sein und Sachen erledigen, obwohl ich so viele Fragen hatte. Ich durfte mich nicht so viel mit den anderen Kindern in meiner Gruppe unterhalten, wie ich es gern getan hätte, und musste lernen zu lesen, zu schreiben und zu rechnen.

Ich nahm als Kind schon extrem viel wahr. Lichtverhältnisse, Gerüche, Geräusche, Emotionen und sogar Energien. Viele dieser Eindrücke machten mir eigentlich Angst und ich glaube, dass kleine Gehirne nicht wirklich umgehen können mit so viel Information. Wer mich jetzt schon für esoterisch oder verrückt hält, den verweise ich gern bei einer Tasse Kaffee oder Tee auf über 100 Studien, die nachweisen, dass wir sehr viel mehr wahrnehmen können als wir denken. Dass wir diese Fähigkeit nur verloren haben in Hunderten von Jahren. 

Ich war ein sehr energetisches Kind und konnte schlecht stillsitzen oder Aufgaben erledigen, die ich für wenig sinnvoll hielt. Deswegen durfte ich schon früh viel Sport machen. Ich lernte schwimmen, da ich mehrmals fast kopfüber von irgendwelchen Brücken gestürzt war oder beim Enten füttern irgendwann bis zu den Knien im Wasser gestanden hatte. Meine Mama hatte Angst, dass ich irgendwann mal ertrinken würde, also Schwimmunterricht. Ich war ein schrecklicher Schwimmer, beziehungsweise war meine Aufmerksamkeit für den Schwimmunterricht nicht vorhanden, aber ich hatte eine Menge Spaß im Wasser (was verboten war in den 90er -Jahren). Es dauerte unglaublich lange, bis ich mein Seepferdchen bekam. Als Strafe oder Schutzmaßnahme von meiner Mutter musste ich weitermachen. Ich machte sieben weitere Schwimmdiplome und bin am Ende ein ziemlich guter Schwimmer geworden, ausschließlich weil ich gefühlte 15 Jahre Schwimmunterricht hatte. Später beim Surfen und am Strand hat es mir ein paarmal ziemlich gutgetan, dass ich Menschen aus den Wellen retten kann oder selbst gegen die Strömung wieder an Land komme.

Im Anschluss folgte das Turnen. Ich weiß nicht genau, warum, vielleicht, weil mein Vater früher lange geturnt hatte. Der Turnlehrer hieß Kees, ein typisch holländischer Name, und Kees sah ziemlich typisch holländisch aus, obwohl er ein wenig gedrungen war. Er hatte blonde Haare, einen blonden Schnurrbart und sehr viel Interesse an den Mädchen in der Gruppe. Ich mochte Kees überhaupt nicht! Er stand da wie ein General und brüllte uns immer an. Wir mussten zur Begrüßung auf der Matte stehen, als ständen wir in der Reihe bei der Armee. Dann haute er uns auf den Bauch, den Po oder die Beine und schrie: „Anspannen das Zeug!“ Ich wusste nie so recht, was von mir erwartet wurde, lernte aber sehr schnell von Kees, dass ich am besten nicht frage und einfach so tue, als wäre ich mit meiner Übung beschäftigt. Das Gebäude, in dem wir turnten, lag neben einem alten Friedhof, und damit fühlte ich mich auch sehr unwohl. Auf irgendeine Art und Weise spürte ich den Tod in diesem Gebäude. Ich konnte es riechen, obwohl man den Friedhof durch das Fenster nicht sehen konnte. Es fühlte sich dort an, als würde mir jemand oder irgendwas ständig die Kehle zukneifen. Aber das war Kees egal, er schrie weiter, und ich bat meine Mama etliche Male, nicht mehr turnen zu müssen. Irgendwann durfte ich aufhören damit.

Nach einer sportlichen Pause wählte ich Basketball, wo ich es später ins erste Team schaffte, das national und international um Titel spielte. Ich bin ehrlich gesagt kein Ausnahmetalent im Basketball. Ich kann gut verteidigen und mein Wurf ist nicht unbedingt schlecht. Was ich aber schon immer gut konnte, ist Bewegungen und ihre Ästhetik verstehen. Das mag komisch klingen, aber viel im Sport ist schönen Bewegungen gewidmet. Schau dir Michael Jordan mal an, aber wirf mir jetzt bitte nicht vor, ich würde mich mit dem greatest of all time vergleichen. 

Dann folgte meine größte Sportliebe: Taekwondo. Meine Mama fand es überhaupt nicht gut, dass ich immer bunt und blau nach Hause kam, aber ich finde, es ist die schönste Sportart, die ich je gemacht habe. Meine Trainer waren nicht unbedingt auf dem letzten Stand in Sachen Pädagogik, aber ich liebte das Training und den Sport über alles. 

Auch im Taekwondo verstand ich die Bewegungsästhetik sehr gut, und ich wurde besser und durfte in Almelo mit der Landesauswahl trainieren. Wir fuhren aus Zwolle mehrmals die Woche dorthin und ich überlegte mir, eine Karriere im Taekwondo einzuschlagen. 

Bei all diesen Sportarten gab es nur ein kleines Manko: In der Welt der Performance wird nicht viel über Gefühle gesprochen, und schon gar nicht über die Tabuthemen wie Angst oder Trauer. Ich hatte so wie in der Schule nur eine Wahl: alles wegdrücken und über Leistung Aufmerksamkeit erzielen und vor allen Dingen keine Fragen stellen. Wenn ich gewann, wenn ich „performte“, war alles gut. Wenn nicht, war ich unsichtbar, unwichtig, also gewann ich alles, fragte nichts, und gab nie auf. Dabei wollte ich, eigentlich genau wie früher, immer noch wissen, warum ich fühlte, was ich fühlte. Wenn ich ein Turnier gewonnen hatte oder einen Knock-out erzielte, beschäftigte ich mich mehr mit den Gefühlen des Gegners als mit dem Gewinnen. Nach etlichen Turnieren fuhr ich mit Tränen in den Augen nach Hause. Ich saß hinten im Auto mit all diesen Gefühlen, all diesen Fragen. Es gab für mich nur eine Option! Eine Option, die mir mehrmals das Leben gerettet hat: Kopfhörer auf und laut Musik hören!

Sie ist neben dem Sport meine zweite Liebe: die Musik. Wenn ich sehr unruhig war als Kind, bekam ich von meinen Eltern einen Kopfhörer auf. Einen riesigen alten AKG-Kopfhörer, bei dem der Schaum schon fast komplett weg war, und ich hörte Sting, Phil Collins oder Michael Jackson. Es waren die wenigen Momente, in denen ich ruhig und leise war.  Ich habe meine Eltern nie gefragt, aber jetzt, da ich selber weiß, wie anstrengend es sein kann, Eltern zu sein, schätze ich, dass ich tausende Stunden Musik auf die Ohren bekommen habe, damit meine Eltern ein wenig Ruhe hatten. Manchmal denke ich, meine Eltern wollten mich von allem erst mal abschrecken: Sport, Musik oder überhaupt von Hobbys. Ich fuhr mit meinem Vater in seinem Chevy Van, den er von der amerikanischen Firma, für die er arbeitete, bekommen hatte, und wir hörten knallend laut „In the air tonight“ von Phil Collins auf dem Weg zum Blockflötenunterricht. Es war sogar noch ein wenig schlimmer. Es war musikalische Früherziehung. Da spielten zwölf Kinder wie komplett Geistesgestörte auf Blockflöten, Handtrommeln und Glockenspielen und ein leicht überarbeiteter Früherzieher versuchte, die Gruppe im Zaum zu halten. Ich verstand damals nicht, und verstehe immer noch nicht, warum Kinder nicht einfach Tonleitern oder Alle meine Entchen auf einer elektrischen Gitarre lernen können, sondern unbedingt erst mal auf einer Blockflöte üben müssen. 

Die musikalische Früherziehung hinter mir gelassen, gab es vorerst eine lange Zeit nichts, also kein Musikunterricht. Ich hörte aber jeden Tag, so oft ich konnte, Musik. Meine Nachbarn, die Eltern von Sebastian, nahmen mir Kassetten mit Whitney Houston, Gloria Estafan und The Police auf. Alle anderen Kassetten bekam ich von meinen Eltern. Ich habe Musik schon immer so geliebt, weil die Emotionen, die Spannung, die Aggression, alles, was ich in mir spürte, in Form von Tönen vorkam. Es schallte in den Stimmen, Harmonien und Drum Fills zurück zu mir. Auf dem Weg zur Schule, im Urlaub, auf dem Rückweg, beim Einschlafen oder wenn ich bei Menschen zu Besuch sein musste, ich hatte immer meine Musik dabei. Sie hilft mir jeden Tag.

Irgendwann meinte ein Arzt, ich sollte Trompete spielen, weil ich als Kind Atemproblemen hatte und ein Blasinstrument würde meinen Lungen guttun. Also fuhren wir zum Tag der offenen Tür der lokalen Musikschule und dort gab es einen Raum mit einem Schlagzeug. Yes, ein Schlagzeug, Baby. Obwohl wir für ein anderes Instrument da sind, kann ich mich vom Schlagzeug nicht lösen, und nach ewig langem Gejammer darf ich es ausprobieren. Aber ehrlich gesagt liegt die Erinnerung so weit zurück, dass es auch so gewesen sein kann, dass ich so lange gejammert habe, bis Mama gesagt hat:

„Es reicht mir, wir fahren wieder nach Hause.“

Wie es auch gewesen sein mag, ich habe noch lange warten müssen, bis ich mein erstes Schlagzeug bekam.

Irgendwann, als ich ungefähr 14 Jahre alt war, bot unser Nachbar uns sein Schlagzeug an und ich durfte es in meinem Zimmer aufbauen. Ich einigte mich mit meinen Eltern, dass ich zwischen 16 und 18 Uhr spielen durfte, damit unsere Nachbarn nicht komplett verrückt werden würden. Ich habe ab diesem Moment gefühlt jeden Nachmittag für diese zwei Stunden meine Kopfhörer aufgesetzt und jede CD, die ich besaß, mitgespielt.

Als ich schon ein wenig spielen konnte, durfte ich zusätzlich zum Schlagzeugunterricht gehen.  Was so viel hieß wie, ich durfte eine Stunde lang nicht Musik spielen, sondern musste Notenlesen lernen und staubige Übungsbücher-Songs in verschiedenen Stilarten mitspielen. Ich war nicht sehr glücklich beim Schlagzeugunterricht, aber ich machte trotzdem weiter, weil ich das Schlagzeug liebte. Und als ich 16 oder 17 war, durfte ich in Zwolle, wo wir mittlerweile wohnten, an dem „vooropleiding“ (auch bekannt als Vorbereitungsjahr) am Konservatorium teilnehmen. Ich war hellauf begeistert, bis ich am Konservatorium war und ich unten im Keller noch mehr Notenlesen, Märsche mitspielen und langweilige Sachen machen musste. Ziemlich schnell nutzte ich jede Ausrede, um nicht mehr zum Konservatorium zu müssen, und ich glaube, dass ich irgendwann (wenn ich mich recht erinnere) auch nicht mehr eingeladen wurde, um die Aufnahmeprüfung zu machen. 

***

Inzwischen war es auf der Schule auch nicht viel besser, ich hatte immer noch extreme Probleme damit, still zu sitzen, und sah nicht ein, warum ich Sachen lernen sollte, die mich überhaupt nicht interessierten. Das habe ich von meinem Vater. Ich kriegte mich also ziemlich in die Haare mit verschiedensten Lehrern. Dass ich die Schule trotzdem abgeschlossen habe, habe ich zwei besonderen Menschen zu verdanken: meinem Deutsch-Lehrer Herr Hamming und meiner Holländisch-Lehrerin Frau van der Goot.

Als ich irgendwann im Deutsch-Unterricht mal wieder ein wenig zu deutlich anmerkte, dass ich alles ziemlich langweilig finde, fragte Herr Hamming mich, was los sei.

„Ich langweile mich“, antworte ich.

„Was würdest du denn lieber gerade machen?“, fragt er.

„Weiß nicht, Basketball spielen zum Beispiel“, sage ich.

Seine Antwort überrascht mich heute noch:

„Ja, dann hol dir einen Ball und spiele.“

Ich zweifele kurz und bin mir nicht sicher, was das zu bedeuten hat. Normalerweise ist, vor allem bei Lehrern, immer irgendwo ein Haken. Er würde mich doch nicht einfach so gehen lassen?

„Hauptsache, du bist fünf Minuten vor Ende der Unterrichtsstunde wieder hier.“

Ich stehe auf, laufe raus, hole mir einen Ball aus der Sporthalle und spiele draußen Basketball, bis fünf Minuten vor Ende des Unterrichts. Als ich wieder reinkomme, fragt Herr Hamming:

„Und wie war es?“

Ich bin immer noch ein wenig argwöhnisch und antworte:

„Ziemlich okay.“

„Schön“ meint er. „Hier sind die Hausaufgaben für diese Woche, wir sehen uns nächste Woche.“

Und das war es. Tatsächlich hat er mich einfach Basketball spielen lassen. Jahre später (vielleicht bei der Abschlussfeier der Schule) sprechen wir noch mal darüber und er meint:

„Ich sehe nicht ein, jemanden, der sich lieber bewegt, stundenlang Bücher lesen zu lassen und zum Rumsitzen zu zwingen. Das bringt doch gar nichts. Du warst immer gut genug in Deutsch, hast deine Hausaufgaben gemacht, das ist das, was zählt.“

Frau van der Goot ist ein Engel und sie hat außerdem zwei unglaublich hübsche Tochter. Auf die Ältere von den beiden hatte ich ein Auge geworfen. Genau in dem Moment, als ich eigentlich alles in der Schule schmeißen wollte, bekam ich sie als Mentorin. Sie sprach mit mir anders als die meisten Lehrer. Nicht von oben herab, nicht mit so viel Müssen und Zwang. Sie sprach mit mir fast so, als wären wir auf Augenhöhe. Das war sehr ungewöhnlich für viele Lehrer damals, und heute vielleicht auch noch.

„Ich verstehe, dass du keinen Bock auf die Schule hast, Maarten, aber ist es sinnvoll, jetzt kurz vor knapp aufzugeben?“ Sie schaut mich freundlich an. „Ich habe auch nicht immer Bock auf euch, wenn dir das weiterhilft.“ Ich lächele. „Wie kriegen wir es denn hin, dass du es mit so wenig Mühe oder Einsatz wie möglich hier fertig machst?“

Sie hat meine Aufmerksamkeit. Wir beschließen, dass ich die Fächer, in denen ich sehr gut bin, Sprache und Sport hauptsächlich, als Leistungskurse nehme, und die Fächer, die ich weniger beherrsche, Mathe zum Beispiel, als Nebenfächer.

„Und dann machst du es folgendermaßen: Du kommst am Montag und Mittwoch zu mir, kommst aber nicht in den Unterricht, sondern setzt dich in den Flur und studierst. Dann kannst du danach direkt zum Training und musst abends nichts mehr machen.“

So einfach kann es gehen. Ich schaffe die Schule, gerade so, aber ich bin frei zu tun, was ich möchte. 

Aber was möchte ich denn überhaupt?

In all der Zeit als Jugendlicher hat mich eigentlich nie eine Person gefragt, was ich möchte, was ich wirklich möchte, was ich wirklich spüre. Fast alle Erwachsenen wollten, dass ich mache, was sie wollten. Dann war alles gut. 

Ich trage immer noch tiefe Spuren davon, dass die meisten Erwachsenen nur lachten und mich für einen Spinner hielten, wenn ich zu erklären versuchte, wie ich die Welt sah. Die Welt zu einem besseren Ort machen, Menschen einen Ort bieten für ihre Gefühle und Fragen oder die Wale vorm Aussterben retten. Das kam schon damals nicht so gut bei den meisten an und heute immer noch nicht.

In der „vooropleiding“ vom Konservatorium in Zwolle habe ich zwar gemerkt, dass ich Musik liebe, aber ich wollte mich nicht vier Jahre mit Märschen und Musiktheorie quälen. Ich war mir nicht sicher, was ich eigentlich möchte. Sport war durch, Musik anscheinend nicht wirklich eine Option.

Meine Mama, die selbst als Grundschullehrerin angefangen hatte, fand es eine gute Idee, dass ich vielleicht auch Grundschullehrer werde. „Du bist doch so gut mit Kindern“, klingt wie ein gutes Argument, und so landete ich, nachdem ich ein paar handwerkliche Ausbildungen gemacht hatte, auf der PABO, der holländischen Institution für die Ausbildung von Grundschullehrern.  Ich hatte eine gute Zeit dort. Das hatte vor allem damit zu tun, dass viele Mädchen dort studierten. Sonst interessierte mich das Studium kaum. Außerdem hatte das Gebäude eine ähnliche Energie wie die Turnhalle, in der ich als Kind gewesen war, und ich wollte am liebsten immer schnell raus, wenn ich dort war. Die PABO war nicht mein Weg. Ich spürte einen immer größeren Widerstand in meinem Körper. Nachdem ich dann ein Praktikum in einer Grundschule in Apeldoorn absolviert hatte und nochmal an alles, was mir in der Schule gegen den Strich gegangen war, erinnert wurde, wusste ich, dass ich etwas anderes machen muss. Nachdem ich abgebrochen hatte, sprach ich mit einem meiner ältesten Freunde, Eelco Topper.

***

Eelco lernte ich kennen, als er mit meinem Bruder im Supermarkt gearbeitet hat, bei dem ich später auch angefangen habe. Eelco war Skater, Rapper und ich fand ihn ziemlich cool. Er hatte eine kleine Crew, mit der er oft skaten ging oder um die Häuser zog. Ich wollte unbedingt zu dieser Crew gehören und nervte ihn oft, wenn er sich mit meinem Bruder traf. Ich nervte ihn und seine Crew irgendwann so sehr, dass sie mich mitlaufen ließen, aber mich irgendwo ins Wasser schmissen. Und obwohl ich schon längst einen Schwarzgurt in Taekwondo besaß, fand ich die Jungs so cool, dass ich nichts unternahm oder mich rächen wollte. Eelco spielte Klavier. Zu Hause hatten seine Eltern einen Flügel stehen und sein Vater hatte ein kleines Studio in der Garage.

Irgendwann freundeten wir uns über Basketball und dann über Musik mehr an. Ich kam oft vorbei, um in der Garage Schlagzeug zu spielen oder zusammen an einer „Beatmachine“ zu sitzen und Beats zu bauen. Eelco zog irgendwann nach Utrecht, um Klavier am Konservatorium zu studieren. Als ich bei ihm zu Besuch war, erzählte er mir vom Konservatorium in Rotterdam, und dass es dort wohl eine ziemlich coole Abteilung gibt, wo man „Pop-Musik“ studieren kann. Bis dahin gab es auf den meisten Konservatorien nur „Leichte Musik“ zu studieren, was eigentlich Jazz ist, aber ein bisschen weniger strikt und verkorkst. Aber dort in Rotterdam ging es anscheinend wohl echt um Pop-Musik. Mein Interesse war geweckt und zusammen mit meinem Cousin Chiel fuhr ich nach Rotterdam zum Tag der offenen Tür, um mir die Pop-Abteilung anzuschauen.

Als wir ankamen, war ich ein wenig überrascht. Nachdem wir im Hauptgebäude des Konservatoriums an der Kruiskade waren, ein riesiges, helles und modernes Gebäude, näherten wir uns der Pop-Abteilung. Diese war ein wenig versteckt in einer Ecke an der Maas. Der frühere Veranstaltungsort und Proberaum-Komplex hieß „Waterfront“ und war ziemlich runtergekommen. Die alten Proberäume rochen nach Alkohol und kaltem Rauch und das Licht der Neonröhren machte es nicht unbedingt gemütlicher. Was mir aber direkt gefiel, war, dass aus allen Räumen Musik erklang und es so aussah, als würde hier viel moderne Musik praktiziert. Ich hörte HipHop-Beats, Rock-Gitarren und irgendwo eine Klavier-Ballade und eine Sängerin. Wir kamen im Raum der Schlagzeug-Abteilung an und dort spielten ein paar motivierte Jungs vor.

Es saß ein grauer, unfreundlich schauender Mann in der Ecke und betrachtete alles. Als ein junger Bursche fertig war, sagte er, ohne ihm in die Augen zu schauen:

„Was willst du jetzt damit sagen?“ Der Junge schaute verwirrt in den Raum. „Ja, spielen und prügeln kann jeder, aber was willst du damit sagen?“

Er zuckte mit den Schultern und schaute den Jungen ein wenig verachtungsvoll an. Ich wusste nicht, ob ich ihn cool finden sollte oder eher nicht. Es spielte noch ein weiterer Junge vor. Der Mann unterbrach ihn, setzte einen seiner Schüler hinter das Schlagzeug und ließ ihn spielen. Irgendwie hatte ich nicht mehr so große Lust vorzuspielen und wir zogen weiter durch die Räume.

In den anderen Räumen herrschte eine super Stimmung. Es wurden Live-Beats gemischt, der Bassgitarren-Dozent sah freundlich und lustig aus, aber ich konnte nicht wirklich Bass spielen. Ich konnte noch nicht mal so gut Schlagzeug spielen, weil ich erst vor ein paar Jahren angefangen hatte. Wir fuhren zurück nach Hause und ich entschied für mich, dass es das Konservatorium einfach nicht sein soll.

***

Mit meinem Vater hatte ich als Kind ein schwieriges Verhältnis und ich würde lügen, wenn ich sage, es hätte mich nicht geprägt. Desto überraschender ist es wahrscheinlich, dass er heute mein Freund, Mentor, Supporter und größter Fan ist. Wir haben eine unglaublich tiefe und erfüllende Beziehung aufgebaut. Dafür haben wir beide kämpfen müssen. Mit unglaublich emotionalen Gesprächen, dem Durchleben von persönlichen Schicksalen, um einander verstehen und verzeihen zu können. Und um festzustellen, wie erschreckend ähnlich wir uns eigentlich sind. „Papa, ich liebe dich bis zum Mond und wieder zurück.“

Aber als Kind war ich anders, anders als meine Geschwister, anders als anderen Kinder, anders als mein Vater es kannte, und anders, als er es von seinen Eltern gelernt hatte. Ich war unruhig, unvorhersehbar, sozial und sehr sensibel. Mein Vater ist ein Mann weniger Worte und wiederholt nicht gerne, was er schon einmal gesagt hat. Ich war aber 90 Prozent des Tages in meiner eigenen Welt unterwegs und hatte dazu noch viele Unfälle. Er wusste nicht genau, wie er mit mir umgehen soll, und unser Verhältnis wurde über die Jahre immer schwieriger. Erst spät habe ich von meiner Mutter erfahren, dass er nächtelang wach gelegen, sogar geheult hat und sich wirklich Mühe gegeben hat, mich zu verstehen. Aber ich war wie ein Außerirdischer für ihn.

Ein lustiges Beispiel für unser Verhältnis, an das wir uns gerne an Weihnachten am Tisch erinnern, ist, als mein Vater mit mir zum Zirkus in der Grundschule fuhr. Ich muss so ungefähr vier oder fünf Jahre alt gewesen sein und saß neben einem Freund aus meiner Klasse. Aus dem Nichts fragte ich ihn:

„Hast du auch so eine Angst vor deinem Vater?“

Wenn ich mir jetzt selbst als Vater überlege, dass meine Tochter so was sagen würde, fühle ich mich ziemlich schlecht. Obwohl unser Verhältnis jetzt wunderbar ist, hat die fehlende Beziehung zu meinem Vater tiefe Spuren hinterlassen. Als Sohn will man, evolutionär bedingt, Bestätigung bekommen, von seinem Vater wahr- und ernst genommen werden. Söhne machen Sachen mit Vätern und wachsen daran. Das alles konnte mir mein Vater nicht wirklich bieten. Er distanzierte sich immer ein wenig mehr von mir, und ich wurde bestimmt auch nicht angenehmer in meiner Pubertät. Ich erinnere mich noch gut, wie es irgendwann, als ich auch mündiger wurde, am Tisch beim Abendessen richtig dicke Luft gab.

Es war einer dieser Gründe, warum ich mich irgendwann trotzdem entschied, die Aufnahmeprüfung für die Pop Academy am Konservatorium in Rotterdam zu machen. Ich hörte von Eelco, dass der alte Schlagzeugdozent ausgewechselt worden war, der unfreundliche Mann mit den komischen Kommentaren. Er war ersetzt worden durch niemand Geringeres als Hans Eijkenaar, einem der bekanntesten Schlagzeuger in Holland. Unter anderem bekannt durch Künstler wie Anouk, Trijntje Oosterhuis, Gino Vanelli und viele mehr. Also fuhr ich mit dem Auto vom Nachbarn, einem Bassisten und einem Pianisten aus Zwolle auf dem Rücksitz, nach Rotterdam, um vorzuspielen.

Neue Wege

Waterfront sah tagsüber anders aus. Ein wenig freundlicher, es roch auch nicht mehr so schlecht, jetzt eher nach Kaffee und Toastis.

Wir warteten unendlich lange im Flur. Ich mit meiner Snaredrum, den zusammengewürfelten Becken und meinen Schlagzeugsticks. Die anderen Jungs mit ihren Instrumenten. Ich war unglaublich nervös, ich spielte noch gar nicht lange und wusste nicht genau, was mich da in diesem Raum erwarten würde, ob sie freundlich waren oder nicht.

Wir wurden von Hans selbst reingelassen. Ein großer, muskulöser Mann mit hartem Gesicht, aber irgendwie gefiel er mir sofort.

„Maarten Hemmen?“

„Ja“, antwortete ich.

Wir durften aufbauen, während die Dozenten Kaffee holten oder eine Kippe rauchten, und ich schwitzte jetzt schon. Zusammen mit meinem Quartett hatte ich drei Stücke einstudiert. Es waren hauptsächlich Funk-Songs, weil ich einfach auf Groove stand.

Als Hans und die restliche Jury wieder reinkamen, wurden mir ein paar Fragen gestellt.

„Woher kommst du?“

Als ich geantwortet hatte, lachte Hans laut und sagte:

„Off all fucking places, Zwolle.“

Und obwohl ich sehr sensibel war, spürte ich, dass er es irgendwie gut meinte. Ich spielte das erste Stück vor und danach noch eines.

„Okay, ich habe genug gehört“, meinte Hans und stand auf.

Ich schaute ihn ein wenig ängstlich an.

„Darf ich mit dir noch ein paar Sachen checken?“, fragte Hans.

Ich nickte. Er schob mir ein paar Papiere auf meinen Notenständer. Er selbst setzte sich, sehr charakteristisch für ihn, wie ich später herausfand, mit viel Kraft auf meinen Beckenständer und lehnte sich zu mir. Ich spürte, wie mir ein wenig schlecht wurde, Notenlesen war schon immer meine riesige Schwäche und hat dafür gesorgt, dass ich in Zwolle monatelang nur Märsche üben musste. Ich raffelte vor mich hin und Hans unterbrach mich:

„Bist du nervös?“, fragte er freundlich.

„Ziemlich“, antwortete ich und er lachte.

„Alles entspannt, pass auf, ich helfe dir.“ Er erklärte ein paar simple Sachen und auf einmal verstand ich halbwegs, was auf dem Papier stand. „Gut genug für jemanden aus Zwolle“, scherzte er, als wir durch waren.

Nachdem wir vorgespielt hatten, musste ich zum nächsten Raum, um einen Theorietest zu machen, und obwohl ich ein wenig geübt hatte und schon immer gute Ohren hatte, war das erwartete Einstiegsniveau sehr hoch.