Haifische kommen nicht an Land - Karin Bruder - E-Book

Haifische kommen nicht an Land E-Book

Karin Bruder

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Beschreibung

Joaquín ist zwölf und ziemlich pfiffig, aber in der Schule war er nie. Er hätte auch gar keine Zeit dazu wegen seiner vielen Jobs. Er arbeitet als Kaffeepflücker, Mangoverkäufer und Friedhofsgärtner, und ohne sein Geld käme die Familie kaum über die Runden. Joaquín lebt auf Ometepe, einer Insel im Nicaraguasee. Das Ufer ist sein Tellerrand, über den er nie hinaus geblickt hat. So sagt das jedenfalls Rosa, dieses Mädchen aus Deutschland, das er auf einigermaßen abenteuerliche Weise kennengelernt hat. Rosa hat schon die ganze Welt bereist, sie hat Geldscheine in den Hosentaschen, sehr blonde Haare und Augen so hell wie ein See. Joaquín ist fasziniert - auch von der Aussicht, ein wenig von Rosa zu profitiren. So ergattert er einen Traumjob bei ihrem Vater, der als Ethnologe das Leben auf der Insel erforscht und Interviews gegen Bezahlung führt. Joaquín steht begeistert Rede und Antwort und im Überschwang erfindet er auch ein bisschen was dazu. Bis Antonio, der Sohn des Hoteliers, ihn bei Rosa anschwärzt. Tief gekränkt von den Zweifeln an seiner Rechtschaffenheit, will er nur noch weg von Ometepe! Joaquín büxt aus und macht Erfahrungen, die sein Leben verändern.

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Karin Bruder

Haifische kommen nicht an Land

Peter Hammer Verlag

Ich danke Monika und Michael Höhn, deren Arbeit und Bücher mich zu diesem Roman inspiriert haben, und verneige mich vor ihrem Engagement. Großen Dank schulde ich auch meinen Erstlesern, Liane Tittes, Jürgen und Ines Bruder.

für Joaquín und seine Schwestern

Womit Joaquín sein Essen verdienen wollte

Die Insel: Ometepe, das Land: Nicaragua. Ein alter Mann, drei Kinder, ein Pferd, ein Friedhof. Dazu etwa zwei Dutzend verstreut liegende Gräber. Grasbewachsene Hügel mit und ohne Holzkreuz für die Armen, gemauerte Gräber für die Reichen. Hell glänzen die weißen Kacheln der Grabpodeste: Die Reichen haben sich ein Dach über ihr Grab bauen lassen. Zum Schutz. Für ihre weißen Westen.

»Hau ab!« Joaquín bückte sich, hob einen Stein auf, zielte und traf. »Du hast hier nichts zu suchen.«

Das Pferd zuckte, trat einen Schritt zurück. Vertreiben ließ es sich nicht. Das Gras war hoch hier, so hoch wie auf keiner Weide. Da musste schon mehr passieren, bevor es fortging.

»Hörst du nicht?« Joaquíns Wut war noch nicht verraucht.

»Warst du das?« Er trat ans Grab seines Vaters. Das schlichte Holzkreuz stand schief. Joaquín zog es heraus. Entfernte Erdkrumen.

Manuel Villa stand auf dem Kreuz. Dazu das Geburtsjahr. Und das Sterbedatum, auf die Stunde genau. An den Geburtstag des Vaters hatte die Großmutter sich nicht erinnern können. Das Jahr aber war bekannt, 1982. Im vierten Jahr der Revolution war der Vater geboren worden. Aufbruchzeiten. Gute Zeiten, hatte die Großmutter gesagt. Doch ihr jüngster Sohn war nur neunundzwanzig Jahre alt geworden.

Joaquín stellte das Kreuz wieder auf, rammte es in den Boden, beschwerte den Pfosten mit zwei Steinen und drückte sie mit den Füßen ins Erdreich.

»Was meinst du, Amigo«, er winkte seinen Freund heran, »lassen sich Tote und Pflanzen von Pferden stören? Seit Monaten versuche ich einen Papayabaum zu pflanzen. Ich vermute, Pepes Gaul frisst die Pflänzchen ab.«

»Tote lassen sich von gar niemandem stören. Pflanzen schon.« Die Antwort kam sofort, flog knapp über Joaquíns Kopf hinweg. Sein Freund Pablo hatte von der Arbeit nicht aufgeschaut.

»Und Außerirdische?«, verlangte Joaquín zu wissen. »Was glauben Außerirdische, wenn sie mit ihren Fernrohren hinunterschauen und diese Hügel und Kreuze sehen?«

Erneut bekam Joaquín eine brummige Antwort.

»Außerirdische denken nicht. Viel zu heiß da oben.« Endlich richtete sein Freund sich auf. Lachend stützte er sich auf die Schaufel, wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Noch heißer als hier.«

Mit den ersten Geräuschen hatte die Sonne zugebissen. Hatte ihre kräftigen Zähne in den neuen Tag geschlagen. Und nur ein lahmer Wind schaute vorbei. Auf dem Friedhof war das Schaben der Schaufeln zu hören. Kein Blatt rieb sich an seinem Nachbarn, kein Ast summte. Jetzt ruhte auch die letzte Schaufel. Joaquín schaute sich um. Er hatte Hunger. Richtigen Hunger, der sich mit Wasser nicht mehr überlisten ließ.

»Können wir endlich los?«, fragte er die anderen. Zu viert waren sie zurückgeblieben, um das Grab zuzuschütten: Der krumme Pepe mit dem Silberhaar, der ihnen sagte, was zu tun war, Pablo, José und er.

»Ihr müsst noch die Blumen verteilen«, verlangte Pepe. Er war steinalt, bestimmt älter als der Friedhof selbst. Er kannte jeden Stein, er kannte jeden Hügel. Selbst wenn der Name auf dem Kreuz verwittert war, wusste er, wer dort begraben lag.

Unter dem neu errichteten Hügel lag Tio Gustavo. Vorgestern war er gestorben. Die Erde, auf die die Jungen die Kränze und Blumen legten, war dunkel und herrlich krümelig. Sie war gestern erst ausgehoben worden. Gestern hatten sie zu dritt gearbeitet, heute hatten sie zu dritt gearbeitet. Pablo, José und Joaquín. Die Arbeit war schwer gewesen. Auch jetzt schwitzten die Jungs, wischten sich mit dem Ärmel den Schweiß ab. Pepe hatte nur gute Ratschläge erteilt und Anweisungen gegeben. Jetzt endlich sollte es die Belohnung für all die Mühe geben. Sie würden sich die Hände waschen und zur Familie von Tio Gustavo gehen. Sie würden sich dort so richtig satt essen.

»Können wir endlich los?«

Zufrieden betrachtete Joaquín die Sträuße. Sie leuchteten in kräftigem Rot, Gelb und Weiß. Richtig schöne Blumen, für einen der reichsten Männer des Dorfes. Ein einzelnes Spruchband flatterte im Wind. Auf weißem Grund waren mit goldenen Buchstaben Lügenworte gedruckt worden.

Ich trauere um meinen gelibten Mann – Emilia Clara Banderas Cruz

Ein e fehlte im Wort geliebten. Jeder im Dorf wusste, dass Emilia und ihr Mann nicht glücklich gewesen waren und nur deshalb gemeinsame Kinder hatten, weil die Schwiegermütter sie jedes Jahr mehrmals in ihrem Schlafzimmer einsperrten.

In ein paar Wochen sollte eine erhöhte Steinplatte gegossen werden. So wie bei den anderen Reichen aus dem Dorf. Joaquín hatte gefragt, ob er bei dieser Arbeit auch mitmachen dürfe. Aber Pepe hatte abgewunken.

»Grünschnabel, du. Diese Arbeit mache ich lieber mit Roberto.« Es stimmte, Joaquín hatte noch nie mit Beton gearbeitet. Er hatte auch noch nie Fliesen verklebt. Aber er hatte gesehen, wie Männer Zement, Sand und Wasser vermischten. Ein dickflüssiger Brei war entstanden, den sie mit Schaufeln in die Zwischenräume der Holzvertäfelung einfüllten. Später war eine steinharte Mauer entstanden.

Ich werde ihn in ein paar Wochen noch einmal fragen, nahm Joaquín sich vor. Soll die Erde sich erst einmal senken. Jetzt wird gegessen. Ich werde mir den Magen so richtig vollschlagen. Mit Hühnchen und gefüllten Blätterteigpasteten und eisgekühlter Limonade. Joaquín musste nicht lange darüber nachgrübeln, welches Essen die Familie Banderas wohl auftischen würde. Es gab ja doch immer das Gleiche. Und doch war das Gleiche so köstlich, dass sich in seinem Mund jede Menge Speichel sammelte. Rasch schluckte er ihn hinunter, schob ihn dorthin, wo eine Höhle darauf wartete, gefüllt zu werden. Seit gestern Abend hatte er nichts mehr gegessen.

»Los, Amigos!«, rief er seinen Freunden zu. »Wer als Erster beim Ausgang ist.«

»He, ihr räumt mir erst noch die Schaufeln weg«, rief der krumme Pepe ihnen hinterher. »Sonst setzt es was.«

Doch das war eine leere Drohung. Die schwere Arbeit hatten sie erledigt, während er in aller Seelenruhe Wasser für sein Pferd geholt hatte. Sie hatten Schaufel um Schaufel Erde aus der Tiefe befördert, während er im Schatten eines Kalebassenbaums zum Himmel hochgeschaut und die Wolken bewundert hatte. Nun sollte er wenigstens das Werkzeug reinigen und aufräumen.

Wodurch Joaquín aufgehalten wurde

Joaquín erreichte nicht wie geplant als Erster das Eisentor. Mitten im Lauf fing ihn eine Wurzel ein, er stolperte, fiel hin und schlug sich das Knie auf. Nicht weiter schlimm. Joaquín war es gewohnt, bei Regen auszurutschen, auf trockenem Laub wegzuschlittern, einem Lastwagen auszuweichen und dabei in den Graben zu rutschen. Seine Beine erzählten zahlreiche Geschichten von Stürzen, Kletterpartien und wagemutigen Überholmanövern. Und auch jetzt hörte er dem Schmerz eher wie einem nörgelnden Bruder zu. Nur dass der ihn diesmal auszulachen schien. Ha, wie ungeschickt du bist, wie dumm du dich anstellst. Rennst so schnell, dass du nicht auf den Weg achtgibst. Und was hast du davon? Letzter bist du geworden.

»He, wartet auf mich, Amigos!«

Es galt also aufzustehen, den Schmerz zum Schweigen zu bringen, die Wunde notdürftig mit Spucke zu reinigen und den anderen hinterherzuhumpeln. Keinesfalls durfte er das Essen verpassen. Seinen Lohn für zwei Tage Arbeit.

»José, Pablo?«

Wo waren sie denn? Joaquín blickte sich um. Das gab’s doch nicht. Seine Freunde schienen sich einen Spaß daraus zu machen, ihm vorauszueilen. Hatten sie ihn missverstanden? Er hatte doch bis zum ›Tor‹ gesagt. Oder etwa nicht?

»Verflixt und zugenäht. Wenn ihr ohne mich anfangt«, schimpfte er los, »dann rede ich kein Wort mehr mit euch.«

Ein lächerlicher Wutanfall, es war ja niemand mehr da, der ihm zuhören konnte. Egal, seufzte Joaquín und humpelte weiter.

Doch an diesem Tag schien sich die Welt im Kopfstand zu üben. Joaquín war noch keine zehn Schritte auf der Hauptstraße unterwegs, als ein Wagen neben ihm hielt. Reifen quietschten. Feiner Sand, der sich zwischen den Pflastersteinen gesammelt hatte, flog verärgert hoch. Ein Jeep stand da. Mitten auf der Straße. Nicht besonders groß und doch etwas Besonderes. Schwarz, glänzend wie Holzkohle, nagelneu. Keine einzige Beule zu entdecken und auch keine Schmutzränder. Nur feiner Staub auf den Kotflügeln. Vom Himmel war er gefallen. Und zwei Engel stiegen aus. Ein blondes Mädchen und ein Mann. Gringos. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Fremde, die ihm den Weg abschnitten. Neugierde und der Wunsch zu fliehen begannen sich in Joaquíns Kopf zu bekämpfen.

»Hola, sollen wir dich mitnehmen?«, sprach der Mann. Auch er blond. Gelbhaarig wie eine reife Sonne. Solche Haare konnte man im Laden kaufen. Joaquín war ein paarmal in der Provinzhauptstadt gewesen. In einem Friseurladen hingen dichte Haarbüschel, in Rot, Schwarz und Sonnengelb.

»Warum?«, fragte Joaquín und wunderte sich. Darüber, dass der Fremde seine Sprache sprach, darüber, dass dieser Mensch ihn voller Mitleid ansah.

»Du bist verletzt.«

Joaquín besah sein Knie, als hätte er keine Ahnung von der Verletzung. Als wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass er deshalb humpelte. Mit den Fingern wischte er das Blut weg. Wischte auch Dreck in die Wunde. Schließlich sah er wieder auf. Das Mädchen hatte kein Wort gesagt. Starrte ihn nur an. Mit viel Neugierde im Blick. Kein Mitleid. Ich bin kein Schwächling, dachte Joaquín. Ich werde wegen so einer Kleinigkeit nicht in ein Auto steigen. Vielleicht nehmen sie mich mit und verkaufen mich an der nächsten Straßenecke. Der Schmerz kehrte in Joaquíns Bein zurück. Gringos war alles Mögliche zuzutrauen. Es kursierten zahlreiche Geschichten über sie. Nicht alle konnten wahr sein. Niemand besaß mehr als ein Auto, wenn er nicht Taxiunternehmer oder Großgrundbesitzer war. Unmöglich. Und kein Mensch würde sich drei Häuser bauen, um jeweils nur ein paar Wochen darin zu wohnen. Diese Geschichten mussten erfunden worden sein. Joaquín merkte, dass der Weiße auf eine Antwort wartete. Aber ihm fiel beim besten Willen keine ein.

»Wir bringen ihn zum Arzt!« Der Mann drehte sich um, winkte das Mädchen heran. Sprach, als wäre Joaquín nicht mehr anwesend. Sprach jetzt in einer fremden Sprache. Die voller Zischlaute war. Und Joaquíns Ohren verletzen wollte.

Zu zweit kamen sie auf ihn zu. Von rechts und links schoben sich Hände unter seine Achseln. Joaquín stöhnte. Das blonde Mädchen war mit ihrem Knie gegen seines gestoßen. Sie war jung und tollpatschig wie ein Affenbaby.

»Es gibt hier keinen Arzt«, rief Joaquín gequält. »Ihr lügt. Lasst mich los! Was wollt ihr von mir?«

Was Joaquín befürchtete

Augenblicklich wich das Mädchen zurück. Nicht aber der Mann. Der packte noch fester zu, zog Joaquín zum Wagen.

»Wo wohnen deine Eltern? Wir müssen ihnen Bescheid sagen.«

»Bei mir ist niemand zu Hause«, erwiderte Joaquín rasch. Und erschrak über seine Worte. Die Großmutter war immer daheim. Aber Wegelagerern durfte man nie und nimmer die Wahrheit erzählen.

»Was wollen Sie von mir?«, wiederholte Joaquín.

»Was wohl?« Der Mann sprach nicht mit ihm, schaute das Mädchen an. »Es dauert nicht lange, wir nehmen ihn mit. Oder was meinst du?«

»Er kann hinten rein.«

Eine Tür ging auf. Mit hinten schien die Rückbank gemeint zu sein. Dorthin schob ihn der Blonde und Joaquín erschrak erneut. Da saß bereits ein Opfer. Saß mutterseelenallein auf der Rückbank. Ein Mädchen, fast schon eine Frau. Sie stammte aus dem Nachbardorf. Joaquín kannte sie vom Sehen. Das Mädchen war schwanger. Ihr großer Bauch berührte die Vorderlehne. Die Beine waren gegrätscht, spreizten den Rock. Warum nur hielt sie die Augen geschlossen? Warum nur kauerte sie mehr, als dass sie saß? Deutlich hörte er sie stöhnen. Da wusste er was los war: Ein Kind wollte auf die Welt kommen.

»Wir fahren nach Moyogalpa«, drängte der Mann und schob Joaquín zu dem Nachbarmädchen auf die Rückbank. »Wir nehmen dich zur Krankenstation mit.«

»Hilfe!«, rief Joaquín und schaute sich nach allen Richtungen um. Noch nie hatte er die Dorfstraße so verlassen gesehen. Warum hatten seine Freunde nicht auf ihn gewartet? Und wo war Pepe? Tio Pepe mit den Säbelbeinen konnte ihn unmöglich überholt haben. Er war noch mit seinem Pferd und dem Werkzeug beschäftigt. Alle anderen aber saßen um das Festmahl herum und schlugen sich die Bäuche voll. Prosteten sich zu und erzählten sich Geschichten über den Toten. Wie gut er gewesen war, wie lustig, wie spendabel. Joaquín stellte sich einen langen Tisch vor, der im Halbschatten der Veranda aufgestellt worden war. Teller reihte sich an Teller. Hohe Gläser waren mit köstlicher Limonade gefüllt. Platten mit den feinsten Speisen standen in der Tischmitte. Für die Brotkörbe und das Obst war kein Platz mehr gewesen.

»Ich will zum Haus der Familie Banderas«, protestierte Joaquín. »Sie wohnen am Ende des Dorfes. In dem gelben Haus.«

Seine Worte flutschten, stolperten kein einziges Mal. Dennoch waren sie kaum zu verstehen. Wurden von hechelndem Fremdatem übertönt. Zwei Autotüren flogen ins Schloss, kurz danach brummte der Motor los. Nicht die Straße bewegte sich, sondern die Menschen und ihr Wagen. Die Nachbarin neben ihm stöhnte jetzt laut, sie schlug die Augen auf. Sie war hübsch. Vielleicht sechzehn Jahre alt. So alt wie meine Cousine Elisabeta, dachte Joaquín. Fremde Finger suchten nach seiner Hand. Sie waren feucht, krallten sich an ihm fest. Es tat weh. Doch er sagte nichts.

Wir werden entführt, stellte Joaquín trocken fest. Und vielleicht ermordet. Was für eine tolle Geschichte. Da wird unser Dorf und das Nachbardorf und die ganze Insel was zu schwätzen haben. Stoff für hundert Tage und hundert Nächte. Joaquín stellte sich die Schlagzeilen in den Zeitungen und die Berichte im Fernsehen vor. Und spürte, wie sich vor Vorfreude seine Wangen verfärbten. Mama aber, auch die Großmutter und meine Geschwister werden um mich trauern. Meine Freunde werden bereuen, dass sie mich im Stich gelassen haben, und bittere Tränen vergießen. Ein schönes Spektakel wird das geben. Nur schade, dass ich nicht dabei sein kann. Irgendwann werden sie mich für tot erklären müssen. Meine Beerdigung stelle ich mir einzigartig, aber bescheiden vor. Natürlich. Keine Blumen, keine Musik. Ein schmaler Sarg wird in die Erde sinken. Nie ist man bei der eigenen Beerdigung anwesend, das ist ungerecht. Meine Familie wird ein Festmahl ausrichten. Und das Dorf wird sich den Bauch vollschlagen.

Joaquín erwachte aus seinem Tagtraum. Schüttelte sich. Das geht nicht, wurde ihm bewusst. Keinesfalls. Wenn ich nicht mehr mitarbeite, kann Mutter nur wenig Reis kaufen. Und noch weniger Bohnen als sonst. Und das bisschen wird sie nicht anbieten können.

Joaquín wusste, dass seine Mutter Geld versteckte. Neben dem Bett der Großmutter befand sich eine Öffnung im Mauerwerk, dort hinein stopfte die Mutter, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, schmale Geldscheine. Doch er wollte nicht, dass dieses Geld für ihn ausgegeben wurde. Ich werde jetzt die Tür öffnen und hinausspringen. Eine Beerdigung können wir uns nicht leisten.

»Ich darf nicht sterben«, rief der Junge und drückte den Türgriff.

Wie ein Unglück an Fahrt gewinnt

Joaquíns Mut konnte nicht erprobt werden. Denn die Tür mit dem matt glänzenden Kunststoffüberzug ließ sich nicht öffnen. Schien verriegelt. Ihm wurde abwechselnd warm und kalt. Im Inneren des Wagens lief die Klimaanlage. Dass es so etwas gab, hatte er gehört. Erlebt hatte er es noch nicht. Sie wollten ihn wie ein Fischfilet einfrieren.

»Ich muss raus!« Der Wagen fuhr nicht schnell, es wäre nicht besonders gefährlich gewesen hinauszuspringen. Warum nur hielten sie ihn fest? Joaquín rüttelte und rüttelte. Das Schloss gab nicht nach. Sowieso konnte er nur mit einer Hand arbeiten. Die andere wurde immer noch fest umklammert. Von dieser unglücklichen jungen Nachbarin. Deren Nasenspitze und Fingerknöchel sich weiß verfärbten.

»Wenn du so weitermachst, wirst du so weiß wie unsere Entführer«, murmelte Joaquín. »Die haben einen wirklich schönen Fang gemacht. Haben dich und dein Baby erwischt. Zwei in einem Sack. Sie werden den doppelten Preis verlangen. Babys sind begehrt. Aber wozu brauchen sie mich? He, kannst du mir das sagen?«

Die junge Frau antwortete nicht. Feiner Schweiß lag auf ihrem Nasenrücken, als würde in ihrem Inneren eine Suppe kochen. Bestimmt war sie ebenso unglücklich oder empört wie er. Immer fester wurde ihr Griff, immer stärker traten die Adern an ihrer Stirn hervor.

»Sag, wozu brauchen sie mich?« Noch während Joaquín auf dem Gedanken kaute und auf Antwort wartete, begegnete ihm ein zutiefst angestrengter Blick. Im Rückspiegel beobachtete ihn ein besorgtes Augenpaar. Auch das blonde Gringomädchen hatte sich umgedreht.

»Wir tun dir nichts, du dummer Junge«, sprach sie ihn an. Ihr Spanisch klang hart. Das störte ihn nicht. Ihn störte die kratzig klingende Beleidigung. Dummer Junge. Meinte sie damit ihn, Joaquín?

»Wir fahren zum Arzt. Und los, hier ist ein Taschentuch. Damit kannst du ihr das Gesicht trocknen.«

Endlich begriff Joaquín, wofür er gebraucht wurde. Er sollte sich um die Schwangere kümmern. Damit konnte er leben. Dennoch weigerte er sich, nach dem Taschentuch zu greifen. Beleidigt sein war in diesem Fall keine schlechte Eigenschaft, sondern angebracht. Fand er. Hätten sie ihm das nicht in aller Ruhe erklären können? Hätten sie ihm nicht die Chance einräumen müssen, zwischen einer Extrafahrt und dem Lohn für viele Stunden Arbeit abzuwägen?

Nein, keine Beleidigungen kamen über seine Lippen. Dabei lagen hübsche Sätze zwischen seinen Zähnen. Lagen dort, wo ein Stück Pastete hätte liegen sollen.

Ich habe Hunger!

Immer noch und immer mehr.

Falls das jemanden interessiert.

Weil ihr mich um meinen Lohn betrogen habt.

Das bedeutet: Du kannst mich mal!

Wisch ihr doch selbst den Schweiß ab!

Joaquín sagte nichts dergleichen. Aber er verschränkte den einen freien Arm vor der Brust.

Was bestimmt merkwürdig aussah. Denn einen Arm kann man nicht verschränken. Er merkte es an der Reaktion des blonden Mädchens. Ihre Mundwinkel wanderten nach oben. Die Lippen spitzten sich zu einem Lächeln, ihre Augen strahlten wie die Blütenkelche des Storchenschnabels. Und dann wurde ihr Mund geöffnet, sie lachte ihn aus.

»Was guckst du so beleidigt?«, lachte sie. »Kannst du nicht nett sein? Einfach nur nett. Wir sind doch auch nett zu dir. Los, mach schon. Siehst du nicht, wie sie leidet?«

Ja, das sah Joaquín. Und deshalb sprang er über seinen Schatten. Nahm Arm und Hand von der Brust und tat, worum er gebeten wurde. Allerdings zögerlich. Mit unendlich langsamen Bewegungen ergriff er das Taschentuch. Zunächst wischte er sich selbst den Schweiß von der Stirn. Dann betupfte er das Gesicht der jungen Frau. Und weil das nicht zu reichen schien, tat er etwas, was er von seiner Großmutter gelernt hatte. Er begann wie ein Papagei zu plappern. Die ganze restliche Fahrt über schlüpfte er ins Großmutterkostüm und redete beruhigend auf die Schwangere ein. Machte keine einzige Pause. Wartete auch nicht auf eine Antwort oder höfliche Gegenfragen, sondern setzte seine Stimme sprudelnd ein, plätscherndes Wasser, das von Stein zu Stein hüpft und über alle Widerstände hinwegfließt.

»Wie heißt du? Wie alt bist du? Hast du schon einen Namen für dein Baby?«, begann er. Und fuhr dann fort:»Was wird es wohl werden, was glaubst du, ein Mädchen oder ein Junge? Ein Junge wäre schön. Der ist stark und kann später Geld verdienen. Ein Mädchen ist aber auch nicht schlecht, das kann dir bei der Hausarbeit helfen. Wirst du bei den Eltern leben oder wird dir dein Geliebter ein Haus bauen?«

»Was redest du da für Blödsinn?«, unterbrach ihn das blonde Gringomädchen. Doch er beachtete sie nicht. Schließlich gab es etwas zu tun. Joaquín redete und redete und schaute nur auf, wenn das Auto abbremste. Weil eine Kuh auf der Straße stand oder ein Hund zu alt war und lange brauchte, um sich zu erheben. Ab und zu musste der Autofahrer einen großen Bogen fahren, weil der Straßenbelag uneben war. Und einmal wollten zwei Hunde partout nicht aufstehen. Waren wohl müde und hatten sich mitten auf der Straße zu einem Schläfchen verabredet. Und dennoch erreichten sie viel schneller als gedacht die ersten Gebäude von Moyogalpa.

Erst kamen die Hütten der Armen, dann die etwas stabiler gebauten Steinhäuser und schließlich fuhren sie durchs Zentrum, hielten vor der Markthalle.

Joaquín suchte nach dem Friseurladen mit den gelben und roten und schwarzen Haaren, aber er konnte sich nicht daran erinnern, an welcher Ecke er den Laden gesehen hatte.

»Sag, wo hast du deine Haare gekauft?«, fragte er deshalb das blonde Mädchen.

Warum Mädchen Macht besitzen

Das weiße Mädchen mit den gelben Haaren hieß Rosa. Das fand Joaquín so lustig, dass er sich zu schämen vergaß. Denn natürlich schaute sie verwundert.

»Meinst du die wären unecht? In Deutschland haben viele Menschen blonde Haare. Ich heiße übrigens Rosa. Und wie heißt du?«

Joaquín lachte und lachte.

»Aber wenn du weiß bist, warum nennen sie dich dann Rosa? Wenn du echte goldfarbene Haare hast, warum haben sie dich nicht nach der Sonne benannt?«

»Willst du jetzt reden oder aussteigen?«

Sie stiegen aus. Der Mann zuerst, dann Joaquín, dann Rosa und zu dritt halfen sie der Schwangeren aus dem Wagen. Die schien keine Angst zu haben, sondern freute sich auf den Arzt. Jetzt dämmerte Joaquín, von welchem Arzt die Fremden gesprochen hatten. In der Stadt gab es eine Krankenstation. Und auch das wusste er, obwohl er noch nie da gewesen war, sie lag gegenüber der Markthalle.

Bis zur Tür begleitete er die Schwangere, dann ließ er sie los.

»Viel Glück, für dich und dein Kind.« Joaquín drehte sich um und wollte gehen.

»Wohin willst du?«, fragte der Gringomann.

»Nach Hause.«

»Aber du musst dich verbinden lassen.«

»Warum?«

»Weil du blutest.«

»No!« Das Nein kam schnell und laut. Doch das schien niemand zu interessieren. Weder die Fremden, noch die Menschen, die sich nach ihnen durch die schmale Tür des mehrstöckigen Hauses drückten. Mehrstöckige Häuser waren auf Ometepe selten. Joaquín konnte sich nicht erinnern, dass er je eines betreten hatte. Eine Treppe war ihm fremd. Er wollte da nicht hoch. Er wollte heim. Doch da sagte Rosa einen Kurzsatz.

»Du Feigling«, sagte sie.

Und er stieg, ohne zu murren, die Treppen nach oben. Mit hochrotem Kopf.

Warum weiße Mädchen anders sind

Längst war sein Knie desinfiziert und verbunden. Längst hatte man Cristina, so hieß das Nachbarmädchen, das Mutter werden wollte, hinter einem Vorhang versteckt. Hinter diesem Vorhang erklangen seit geraumer Zeit die allermerkwürdigsten Töne. Rhythmisch pochende Töne, wie von einer großen Trommel. Rosa hatte Joaquín zwar erklärt, dass das die Herztöne des ungeborenen Kindes seien, doch das musste man nicht glauben.

Joaquín fasste Rosa an die Nase, wollte herausfinden, ob sie log. Die Nase war trocken. Im Raum war es angenehm kühl. Ein Deckenventilator sorgte dafür, dass die Luft sich im Kreis drehte. Es roch nach Reinigungsmittel, scharf, ätzend. Hier konnte man es aushalten. Rosa und Joaquín saßen auf blauen Plastikstühlen, die wie eine Perlenkette im schmalen Flur der Krankenstation aufgestellt worden waren. Bestimmt zehn Patienten oder mehr hatten keinen Sitzplatz gefunden, mussten stehend warten. Regelmäßig kam eine Putzfrau vorbei, sie tunkte den Wischmopp in einen Eimer, schüttete grüne Flüssigkeit über den Mopp und begann, den Boden zu wischen. Die Wartenden hoben ihre Beine an und ein kleines Beinballett begann. Sobald unter dem Stuhl geputzt worden war, glitten die Beine wieder hinunter. Jede halbe Stunde spielte die Putzfrau dieses Spiel mit ihnen. Zwei Durchgänge hatten die beiden bereits erlebt. Dadurch wurde ihnen das Warten nicht lang. Rosas Vater war im Zimmer der Ärztin verschwunden, eine Besprechung fand dort statt. Warum Joaquín immer noch nicht nach Hause gehen durfte, obwohl er doch verbunden worden war und andere Patienten seinen Platz benötigten, wusste er nicht. Er wusste so vieles nicht. Er ahnte aber, dass Rosa und ihr Vater ihn nicht entführt hatten. Sie wollten ihm etwas schenken. Den schönsten Verband der Welt. Joaquín war es nicht gewohnt, etwas geschenkt zu bekommen. Angst hatte nach ihm gegriffen, als die Ärztin sich um ihn zu kümmern begann.

»Nein«, hatte er gestottert, und nochmals: »Nein! Ich kann das nicht bezahlen.«

Doch jetzt war er froh, dass sein Knie so hübsch aussah. Wie etwas sehr Wertvolles.

Im Dorf werde ich gehörigen Eindruck schinden. Bestimmt werden sie mit mir mitfühlen. Und meine Freunde werden sich daran erinnern, dass sie ohne mich zum Leichenschmaus gerannt sind. Sie werden mir bei nächster Gelegenheit etwas abgeben. Sie stehen in meiner Schuld. Hoffentlich wissen sie das auch.

Dass Joaquín schon wieder ans Essen dachte, war nicht verwunderlich. Bei aller Aufregung, bei allem Neuen, das er heute erfahren und erlebt hatte, war ein Grundgefühl gleich geblieben: Richtig glücklich kann man nur sein, wenn der Magen nicht knurrt.

»Hast du Hunger?« Tatsächlich, Rosa schaute auf seinen Bauch, dann in sein Gesicht. »Bei dir, wie sagt man das, da bellt etwas. Ein kleiner Hund vielleicht. Hast du einen perro da drin?«