Hallo Glück, dich gibt’s ja doch! - Jasmin Böhm - E-Book
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Hallo Glück, dich gibt’s ja doch! E-Book

Jasmin Böhm

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Beschreibung

"Vertraue ins Leben und die richtigen Türen öffnen sich." Lars Amend

»Soll das mein Leben sein?«, fragt sich Jasmin Böhm als sie nach einem Nervenzusammenbruch in der Badewanne aufwacht. In der Liebe versagt, im Job versagt, als Mutter versagt, hat die Alleinerziehende jegliche Hoffnung verloren. Bis ein fast vergessenes Versprechen am Sterbebett ihrer geliebten Mutter sie dazu bewegt, die Reißleine zu ziehen: Trotz finanzieller Hürden, Zukunftsängste und Gegenwind aus dem Familienkreis nimmt Jasmin all ihren Mut zusammen und kündigt ihre drei Jobs. Sie wagt einen Neuanfang, der ihr Leben für immer verändern wird. Mit ihrem zweijährigen Sohn im Anhänger begibt sie sich auf eine abenteuerliche Fahrradtour von Offenbach bis nach Südspanien. Während dieser Reise ins Glück gelingt es ihr, das kostbare Band zu ihrem Sohn noch enger zu knüpfen und dem Leben wieder voll zu vertrauen. Mit einem Vorwort von Lars Amend.

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Seitenzahl: 472

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Jasmin Böhm

Hallo Glück,

dich gibt’s

ja doch!

Wie ich mich nach einer Lebenskrise

zusammen mit meinem Sohn in ein

großes Abenteuer stürzte

Die Informationen in diesem Buch sind von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autorin bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

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Für meine liebe Mama

Originalausgabe

© 2022 Kailash Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Julia Becker

Umschlaggestaltung: ki 36, Daniela Hofner Editorial Design, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29755-8V002

www.kailash-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Prolog

1. Ist jedes Ende ein Anfang?

12. Mai 2021, Offenbach

Ich will nicht zur Mama!

2. Mut oder Angst: Ich habe eine Wahl!

13. Mai 2021, Maintal

Die richtige Richtung

13. Mai 2021, Frankfurt

Wohin jetzt?

18. Juli 2021, Offenbach

Kann ich wirklich gehen?

18. Juli 2021, Mühlheim

Wiederholt sich die Geschichte?

3. Aufbruch in eine neue Zeit

13. August 2021, Chalon-sur-Saône

Im Land der Liebe

14. August 2021, Jully-lès-Buxy

Langsam werden

14. August 2021, Savigny-sur-Grosne

Die größte Herausforderung: allein sein

4. Mama immer da

15. August 2021, Savigny-sur-Grosne

Momente für die Ewigkeit

15. August 2021, Savigny-sur-Grosne

Ziehen wir alles an, was geschieht?

15. August 2021, Salornay-sur-Guye

Die Höllenfahrt

16. August 2021, Saint-Igny-de-Vers

Bizarre Begegnungen

5. Die Vergangenheit holt mich ein

20. August 2021, Tournon-sur-Rhône

Wo ist mein Papa?

06. September 2016, Coimbra

Ohne jeden Halt

20. September 2016, Offenbach

Mamas letzter Tag

14. Januar 2017, Porto

Neustart in Portugal

02. März 2017, Porto

Im siebten Himmel

04. Juni 2017, Porto

Die ersten Zeichen

25. November 2017, Porto

Das Monster in ihm wächst

22. Dezember 2017, Mühlheim

Ich kann nicht gehen

22. Juni 2018, Porto

Ich brauche Hilfe

23. Juni 2018, Porto

Allein aus Scham und Angst

25. Dezember 2018, Mühlheim

Der letzte Schritt in die Freiheit

6. Blick nach vorn!

20. August 2021, Tournon-sur-Rhône

Komplett im Hier und Jetzt

21. August 2021, Bourg-lès-Valence

Ein einzigartiger Geburtstag

22. August 2021, La Voulte-sur-Rhône

Ermutigung to go

23. August 2021, Ancône

Eine harte Prüfung

23. August 2021, Orange

Wer nicht hören will, muss fühlen

7. Albtraum im Paradies

26. August 2021, La Couronne

Reichtum ist relativ

27. August 2021, La Couronne

Geht hier alles zu Ende?

28. August 2021, Martigues

Worum geht es wirklich?

07. September 2021, La Couronne

Alles ist gut, so wie es ist

8. Langsamkeit lernen

09. September 2021, La Couronne

Abschied und Neubeginn

29. September 2021, Platja dels Gossos

Eine neue Weite

9. Gelassenheit finden

30. September 2021, Canet de Mar

Die Leute reden lassen

11. Oktober 2021, Sagunt

Ein Shitstorm bricht los

11. Oktober 2021, El Puig de Santa Maria

Das Kind in mir

11. Oktober 2021, Valencia

Ein Geschenk des Himmels

12. Oktober 2021, Valencia

Next level!

13. Oktober 2021, Cullera

Ich vertraue meinem Bauch

16. Oktober 2021, Gata de Gorgos

Bei mir bleiben – egal, was kommt

10. Was bleibt am Ende einer Reise übrig?

23. Oktober 2021, Cartagena

Wir sind am Ziel!

29. Oktober 2021, Mülhausen

Muss ich zurück ins Hamsterrad?

03. Juli 2022, Frankfurt

Das kleine große Glück: ich selbst sein

Route

Danksagung

Vorwort von Lars Amend

Jasmin ist eine Frau, die man für ihren Mut und ihre Entschlossenheit einfach nur bewundern muss. In einer durch und durch formatierten Welt, die so viel von einem verlangt und einfordert und in der unser Lebensweg oftmals schon von der Gesellschaft vorgegeben wird, hat sie sich als junge und alleinerziehende Mutter entschieden, einen anderen Weg für sich und ihren Sohn zu gehen: Raus aus dem Hamsterrad und rein in die Welt. Raus aus der 9-to-5-Tretmühle und rein in das schönste Abenteuer ihres Lebens.

Als ich zum ersten Mal von Jasmin hörte, fand ich ihre Geschichte so besonders, dass ich sie direkt in meinen Podcast »Auf einen Espresso mit Lars Amend« eingeladen habe. Und selten habe ich so viel positives Feedback von meinen Hörerinnen und Hörern bekommen wie nach dieser Folge. Was Jasmin über ihre Trips durch Europa erzählt hat und was sie und ihr kleiner Junge dabei über sich, aber auch über den Sinn des Lebens gelernt haben, hat sofort die Herzen der Menschen berührt. Ich glaube, dass tief in uns allen diese Sehnsucht existiert, einfach mal das alte Leben hinter sich zu lassen, loszuziehen und Neues zu entdecken. Paulo Coelho hat einmal gesagt, dass Schiffe nicht dafür gebaut werden, um sicher im Hafen zu liegen, sondern um mit ihnen raus aufs Meer zu fahren und sich dort heldenhaft gegen die Wellen zu stemmen. Genau das macht Jasmin mit ihrem Sohn. Nur dass sie nicht mit einem Schiff, sondern mit einem Fahrrad durch die Welt fahren.

Beim Lesen ihres Buches musste ich immer wieder an meinen Vater denken, einen pensionierten Lehrer für Englisch und Französisch, der mir bereits früh folgende Worte mit auf meinen Weg gegeben hat: »In der Schule lernst du nicht sehr viel über das echte Leben. Ob ein Schüler eine 5 oder eine 1 hat, sagt nämlich nur wenig über die wahren Fähigkeiten dieses Menschen aus. Der einzige Ort, wo du wirklich etwas über das Leben lernst, ist das Leben selbst.«

In meinen Augen macht Jasmin ihrem Sohn mit all den gemeinsamen Abenteuerreisen das schönste Geschenk überhaupt: Sie verbringen Zeit zusammen, entdecken dabei fremde Kulturen, neue Länder und Menschen und können abends auf dem Zeltplatz mit Gewissheit sagen: »Das Wertvollste, was es gibt, kann man mit keinem Geld der Welt kaufen: Erinnerungen, die für immer bleiben.«

Ich kann mich vor Jasmin, die als alleinerziehende junge Mutter schon einige herbe persönliche Schicksalsschläge überstehen und u.a. den Tod eines geliebten Menschen verkraften musste, nur verneigen und mir wünschen, dass ihre Geschichte noch mehr Herzen auf der ganzen Welt erreicht.

In Liebe,

Lars

Prolog

Hätte man mir jedes Mal einen Euro überreicht, wenn ich den Satz »Du bist so stark« zu hören bekam, könnte ich heute an der Seite von Elon Musk ins Weltraum starten oder würde wie er Städte umbauen lassen, um mit meinem Luxusdampfer hindurchzuschippern. Okay, zugegeben ist das nun nicht gerade das Ziel meines Lebens, aber mit einem solchen Vermögen ließen sich ja noch ganz andere Dinge tun. Nur leider erhielt ich nie einen Euro für diese ständig wiederkehrende Aussage – vielmehr macht sie mich bis heute wütend. Meine Stärke wurde mir nicht etwa nachgesagt, weil ich einen Kampfsport ausübe, und auch nicht, weil ich immer im Armdrücken gewinne, nein, es ging vor allem um meine mentale Stärke. Die ist, so scheint es für alle, seit Jahren überdurchschnittlich ausgeprägt, eben wie die einer wahren Kämpferin. Doch mental stark zu sein und kämpfen zu können, hat in der Regel eine Geschichte, einen Grund. Oder sogar mehrere. Und die sind meistens alles andere als schön. Solche Gründe, die mich zum Kämpfen zwangen, gab es in meinem Leben so einige.

Das fing bereits in meiner Kindheit an, ohne dass mir dies zu damaliger Zeit auch nur annähernd bewusst gewesen wäre. Auf der einen Seite erlebte ich eine glückliche Kindheit, mit liebevollen Eltern, einem älteren Bruder, der für mich der Allergrößte war, einer Wohnung, in der es an nichts fehlte, vielen harmonischen Familienausflügen und glücklichen Sommerurlauben. Doch gleichzeitig gab es auf der anderen Seite die toxische Beziehung meiner Eltern. 21 Jahre lang gingen sie gemeinsam durch weit mehr Tiefen als Höhen, und ihre Beziehung stand jedes zweite Wochenende vor dem Aus. Immer wieder wurde uns die bevorstehende Trennung sonntagmorgens am Frühstückstisch aufs Brot geschmiert, aber umgesetzt wurde das Szenario Jahrzehnte nicht. Schon als ich noch keine acht Jahre alt war, klagten mir meine beiden Elternteile abwechselnd ihr Leid, ersparten mir kein Detail dieses Dramas. Anders als mein Bruder, der sich bei jedem Streit sofort zurückzog, war ich immer mittendrin, fungierte abwechselnd als Spielball, als tröstende Freundin oder Beschützerin. Viele Jahre waren überschattet von der großen Angst, dass sich meine Familie jederzeit in Luft auflösen könnte. Als ich 16 war, wurde diese Befürchtung dann schließlich Realität: Wenige Wochen nach dem Tod meines Opas zog meine Mutter plötzlich aus. Auch wenn es bereits all die Jahre zuvor angekündigt worden war, brach damals eine Welt für mich zusammen. Zur gleichen Zeit hörte meine Partnerin, mit der ich im Zweier ruderte und als erfolgreiches Athletinnen-Team bereits auf dem Weg zu einer großen Karriere war, ganz unerwartet mit dem Rudern auf. Ich konnte mir diesen Sport nicht ohne sie vorstellen und ließ meine Leidenschaft daher auch von einem auf den anderen Tag fallen. Von zehn Mal die Woche Training auf null war eine riesige Umstellung für mich und meinen Körper. Mein Vater kümmerte sich indes mit seinem gebrochenen Herzen um nichts anderes mehr, als eine neue Frau zu finden, so dass mein Bruder und ich ständig alleine zuhause blieben. Das alles fiel passenderweise in die Phase, in der für mich als Teenagerin die Welt ohnehin kopfstand, in der ich zwischen den Extremen lebte und unbedingt erwachsen sein wollte. Zu allem Überfluss bekam ich schließlich einen Tinnitus, gepaart mit Panikattacken und Migräne. Und das alles war nur der Anfang. Es folgten viele Jahre, in denen mich das Leben nicht schonte, in der die Trennung meiner Eltern, das Alleinsein, eine eigene toxische Liebesbeziehung, Krankheit und Tod mich auf die härteste Weise prüften und mich, wenn man so will, in Sachen Stärke bestens trainierten. Eines stand für mich nach all dem fest: Wenn ich später mal einen Partner haben und mit ihm eine Familie gründen würde, ich würde mich niemals trennen und meinen Kindern und mir damit ein solches Trauma zufügen. Ich würde alles anders machen.

Ist jedes Ende ein Anfang?

12.Mai 2021, Offenbach

Ich will nicht zur Mama!

Vorsichtig hebe ich meinen rechten Fuß über den Rand der Badewanne, tauche ihn von oben ganz langsam in das Wasser. Gerade so weit, dass die Zehen unter der Wasseroberfläche verschwinden. Ich halte kurz inne, meine Hände umklammern den Wannenrand, das Wasser ist so heiß, dass es einen brennenden Schmerz an meinen Zehen auslöst. Ich setze den ganzen Fuß hinein und ziehe den nächsten hinterher. Ich stehe starr in der Wanne, das Wasser reicht mir bis kurz unter die Knie. Wenn ich mich nicht bewege, das Wasser ganz stillsteht, ist die Hitze gerade so auszuhalten. Ich warte, gefühlt eine Ewigkeit, still und ohne Bewegung, bis sich mein Körper an die Temperatur gewöhnt hat. Dann lasse ich meinen gesamten Körper in die Wanne gleiten. Die ersten Sekunden sind immer die schönsten. Die wohlige Wärme, die mich umhüllt, gibt mir für kurze Zeit das Gefühl, dass es mir gut geht, dass die Welt in Ordnung ist. Doch bevor ich dieses Gefühl zu fassen kriege, ist es schon wieder verflogen. Ich strecke meine Hand zum Wasserhahn, der sich kühl anfühlt unter meinen Fingern, und lasse noch ein bisschen mehr von dem kochend heißen Wasser in die Wanne prasseln. Es dauert nicht lange, und ich spüre, wie sich die Hitze einen Weg zu meinen Beinen bahnt. Doch egal, wie oft ich diesen Vorgang wiederhole, wie sehr ich die Temperatur auch erhöhe, die Wärme kann nur meinen Körper, aber nicht mein Inneres erreichen.

Meine Gedanken kreisen wieder, in rasender Geschwindigkeit, immer und immer weiter, lauter und lauter. Sie intensivieren dabei den Schmerz mit jeder neuen Umdrehung. Bevor ich es vor Schwindel kaum ertrage, lege ich die Hände vor meine Augen. Ich halte kurz inne und lasse dann meine Finger mit großem Druck nach hinten durch mein Haar fahren. Laut atme ich ein und aus. Für einen kurzen Moment empfinde ich Wut. Wut auf mich selbst, aber vor allem auf mein beschissenes Leben. Ich bebe innerlich, die Unruhe ist kaum zu ertragen. »Warum?«, frage ich mich. Es ist wohl meine am häufigsten gestellte Frage. Ich könnte sie jeden Tag meines Lebens erneut stellen, wohl wissend, nie eine Antwort zu erhalten. Sie nimmt mir die Wut. Man könnte meinen, dass das gut wäre, aber das ist es nicht. Sie tauscht die Wut nur ein, gegen Trauer. Eine Trauer, deren Größe für mich kaum mehr zu messen ist. Der Kloß im Hals schmerzt unerträglich, er schnürt mir die Luft ab, und ich weiß, dass ich keine Chance mehr habe. Ich muss es zulassen und dieser Energie ihren Raum geben. Der Damm bricht, Tränen fließen meine Wangen herunter, finden ihren Weg weiter den Hals entlang, um sich schließlich im warmen Badewasser aufzulösen.

Ich weiß nicht, wie oft ich in meinem Leben schon in einer solchen Situation war, ich wünschte, ich könnte es noch zählen. Ich schäme mich für meine Gefühle, für all die negativen Gedanken, dafür, kein Glück zu empfinden, obwohl es mir doch eigentlich an nichts fehlt. Gleichzeitig weiß ich, dass auch meine negativen Empfindungen ihre Daseinsberechtigung haben. Ich weiß, dass dieser Zustand gerade temporär ist und morgen wieder besser sein kann, dass meine Gefühle nicht ich selbst sind, sondern kommen und gehen. Ich fühle mich allein gelassen mit alldem. Doch egal, wie viele Freunde mir ihre Hilfe anbieten, weiß ich doch: Es ist letztendlich mein Leben, und ich bin es, die aktiv werden muss, um etwas zu ändern. Doch wie viel Einfluss habe ich überhaupt auf mein Leben? Ich kann nichts daran ändern, alleinerziehend zu sein, es wird wohl kein Tag vergehen, an dem ich es mir nicht anders wünschte. Viel zu groß ist die Sehnsucht nach einer intakten Familie – bereits seit meiner frühen Kindheit. Ich wollte meinen Kindern das geben, was ich nicht hatte. Auf eine Weise habe ich meinen Sohn durch die Trennung von seinem Vater sicher vor vielem bewahrt, was mich als Kind gejagt hat. Trotzdem sieht mein Leben so anders aus, als ich es mir gewünscht, ja, als ich es mir einmal selbst versprochen habe. Bin ich schuld daran, dass es nicht so kam? Habe ich die falschen Entscheidungen getroffen? Nein. Ich bin meinem Herzen gefolgt, und mein Herz hat mich schließlich zu meinem größten Glück dieses Lebens geführt, zu meinem Sohn. Für nichts auf der Welt würde ich das anders haben wollen, und all das, was ich dafür in Kauf nehmen musste, würde ich immer und immer wieder in Kauf nehmen.

Die Frage ist nur: Was mache ich jetzt? Wie gestalte ich jetzt unser Leben? Soll es für immer so weitergehen? Emil von 9 bis 17 Uhr in der Kita, im Anschluss bis abends bei meiner Oma und ich währenddessen innerlich aufgefressen von der Sehnsucht nach ihm und dem Versuch, all die Rollen auszufüllen, die mir das Dasein mit vier parallelen Jobs abverlangt? Wie lange kann ich noch in der Schule die liebevolle Klassenlehrerin, in der Galerie die versierte Assistentin, in der Hochschule die angesehene Dozentin und bei meiner Doktormutter die begabte Doktorandin sein? Dann, wenn ich Emil abhole, die geduldige Mutter und zu guter Letzt noch die gründliche Hausfrau? Wie soll ein einziger Mensch all das schaffen? Nebenbei noch ein bisschen was als Fotografin dazuverdienen, sich ehrenamtlich im Kinderhospizverein engagieren, Sport machen, sich gesund ernähren, Freunde treffen, mich um meinen Vater und um meine Oma kümmern. Ist es nicht vollkommen selbstverständlich, dass ein Körper bei so einem Pensum irgendwann kapituliert, das Innere »Stopp« schreit und sich die mühsam einstudierten Rollen nicht mehr spielen lassen?

Wie gerne hätte ich diesen Vollzeitjob im Museum. Eine Stelle, bei der ich 100 Prozent geben kann, anstatt meine Kräfte auf tausend Baustellen aufzuteilen. Doch es bleibt offenbar dem Schicksal überlassen, ob ich je einen Weg zu diesem Leben finde. All meine Mühen scheinen völlig zwecklos zu sein. Ich kann nur noch auf ein Wunder hoffen. Doch was soll bis dahin passieren? Soll ich so weitermachen, Jahre unglücklich leben, die besten Jahre meines Sohnes verpassen, weil ich ihn kaum zu Gesicht bekomme, um irgendwann endlich den Job zu kriegen, der mich glücklich macht? Ist es das wert? Was ist, wenn dieser Traumjob nie kommt? Lohnt es sich zu kämpfen, oder gebe ich auf, wenn ich einen anderen Weg einschlage? Was ist mit meinem Traum vom Reisen und Schreiben? Kann ich, wenn ich all meine Träume aufgebe, trotzdem glücklich sein?

Es sind seit Tagen die immer gleichen Gedanken, die nie verschwinden, weil ich einfach keine Lösung finden kann. Seit Wochen, nein Monaten, hat sich die Spannung aufgestaut. Es war klar, dass das alles irgendwann nicht mehr zu bewältigen sein würde. Und trotzdem habe ich weitergemacht, was hatte ich schon für eine Wahl? Und jetzt bekomme ich die Quittung! Und nicht nur eine. Viele. Unmengen an Denkzetteln. Täglich werden es mehr. Die Galeriechefin kommuniziert nicht mehr wie sonst mit mir, ich weiß gar nicht mehr, was in der Galerie überhaupt vor sich geht. Kein Wunder, musste ich doch so oft in den letzten Wochen meinen Dienst absagen, weil Emil krank war. Die Schule nimmt mich immer mehr ein, mein Leben dreht sich nur noch um die Schüler:innen, ihre Eltern und die Kolleg:innen, und dabei habe ich gar keine Kapazitäten, um all die Konflikte und Probleme zu lösen. In meinem Postfach waren heute früh gleich zwei Absagen von Museen auf meine Bewerbungen und ließen all die Hoffnung auf ein besseres Leben verpuffen. Und zu allem Übel wurde heute auch noch die Präsentation meiner Doktorarbeit abgesagt. Die Professorin fand mein Exposé nicht gut genug, was ich ihr nicht verübeln kann, habe ich es doch mitten in der Nacht geschrieben.

Bevor ich losfuhr, um Emil aus der Kita abzuholen, öffnete ich dann noch einen Brief von meinem Anwalt und erfuhr, dass der Unfallgegner und dessen Versicherung sich weigern, für den Schaden aufzukommen. Dieser Unfall vor fünf Monaten, bei dem mir jemand die Tür abgefahren hatte, während ich Emil anschnallte, hatte mir gerade noch gefehlt. Seitdem fahre ich täglich 30 Kilometer mit dem Fahrrad von der Kita zu meinen Jobs, wodurch noch weniger Zeit für mich und Emil bleibt. Der Anwalt fragte, ob wir vor Gericht gehen wollen. Ich dachte nur: Ich habe keine Ahnung, mir ist das zu viel. Alles entgleitet mir. Mein ganzes Leben.

Als ich dann gemeinsam mit Oma in der Kita stand, kochte ich innerlich vor Wut, und meine Anspannung war auf einem neuen Höhepunkt. Emil war nicht zu mir gerannt, wie er es sonst für gewöhnlich tat, wenn er als Letzter abgeholt wurde. Er kam dann überhaupt nur widerwillig in meine Nähe. Und schließlich weigerte er sich, mit mir mitzugehen. Er schrie sich die Seele aus dem Leib und rannte immer wieder vor mir weg in die Arme seiner Erzieherin. Er hasst mich, dachte ich. Ich hatte Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Nur unter größter Anstrengung schaffte ich es, ihn in das Auto von Oma zu setzen und anzuschnallen. Die ganze Fahrt über schrie er: »Ich will nicht zur Mama!«, so dass Oma anbot, ihn mit zu sich zu nehmen. Ich verneinte. Ich dachte nur: Das geht nicht, er ist doch der Einzige, der mir gerade überhaupt noch helfen kann. Ich brauche seine Liebe! Ich fühlte mich in diesem Augenblick, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegreißen. Außerdem wollte ich Emil in diesem Zustand nicht gehen lassen. Doch sein Schreien wurde lauter und lauter, je mehr wir uns der Wohnung näherten. Meine Augen füllten sich bereits mit Tränen, die Schreie drangen geradewegs in mein Herz. Dann entschied Oma, dass er mit zu ihr kommt. Gegen meinen Willen. Sie hielt vor unserem Haus an. Rasend vor Wut stieg ich aus und rief:

»Dann nimm ihn halt zu dir, behalt ihn doch gleich, wenn hier eh niemand auf mich hört und ich so scheiße bin.«

Danach knallte ich die Tür zu und stürmte tränenüberströmt nach oben, wo ich mir die Badewanne einließ.

Ich lehne meinen Kopf nach hinten und tauche mit den Ohren und dem Mund unter Wasser. Meine Nase hat weiterhin die Möglichkeit, mich mit Sauerstoff zu versorgen. Meine Augen sind geschlossen. Ich spüre die kalte Badezimmerluft auf meinen Lidern. Ich frage mich, ob ich damals egoistisch gehandelt habe, als ich mich für Emil entschieden habe, obwohl ich bereits in diesem Moment wusste, dass wir zu zweit enden werden. Wird er später mal psychisch krank, weil er als Kind so viel fremdbetreut wurde, keinen Vater hatte und ständig für alles das Geld fehlte? Es ist doch absurd, dass sich auch heute noch so viele Menschen gegen Abtreibungen aussprechen, sich um das Wohl des Kindes sorgen, aber die Mütter dann, wenn sie das Kind behalten, oft völlig allein gelassen werden.

Wenn ich alles kündige, haben wir kein Geld mehr. Wenn ich alles so belasse, werde ich früher oder später schwer krank, weil kein Körper das auf Dauer durchstehen kann. Beide Szenarien scheinen für uns nicht gut auszugehen. Was für eine Wahl bleibt mir? Ist es nicht total unfair, dass ich vor solch einer Entscheidung stehen muss? Könnte es nicht mehr Unterstützung für Alleinerziehende geben? Wieso zahlen selbst kinderlose Paare weniger Steuern als ich? Wieso sitzt manch einer in seinem großen Büro, arbeitet weniger Stunden als ich, hat ebenso Kinder, aber jemanden, der sich ausschließlich auf den Haushalt und die Erziehung fokussiert, egal ob getrennt oder zusammen, und verdient dann auch noch das Zehnfache von dem, was ich bekomme? Kann das durch harte Arbeit und Fleiß gerechtfertigt werden? Ich war immer eine der Besten in der Schule, habe ein Stipendium für meine ausgezeichnete Masterarbeit erhalten und unzählige unbezahlte Praktika absolviert. Als faul kann ich mich nicht gerade bezeichnen. Würde es einem Mann in meiner Situation genauso ergehen? Geraten Männer überhaupt in eine solche Situation? Vielleicht liegt es auch daran, dass ich aus einer typischen Arbeiterfamilie komme, in der niemand geerbt hat und in der generationsübergreifende Traumata durchlebt und wiederholt wurden. Es scheint einfach keinen Ausweg zu geben. Ich fühle mich so ausgeliefert. Wie gelähmt. Und gleichzeitig kommen meine Gedanken nicht zur Ruhe.

Da schießt mir plötzlich diese Frage in den Kopf: Wenn ich jetzt sterbe, was wäre mein Wunsch? Mein Herz bebt, Energie durchströmt meinen gesamten Körper, möchte ihn dazu bringen, sich zu bewegen, aber das geht nicht, ich liege still und lausche nach innen. Was würde ich jetzt noch tun, wenn ich wüsste, dass ich heute sterben würde? Die Antwort ist eindeutig: Ich wünsche mir meinen kleinen Emil herbei, meine Familie und meine Freunde. Alle, die mir nahestehen. Ich will sie alle ein letztes Mal sehen, ich will sie alle umarmen, ihnen danken und sagen, wie wunderschön sie sind. Ich denke an meinen Vater und bereue es, den Großteil meines Lebens im Streit mit ihm gelebt zu haben. Ihm seit so vielen Jahren nicht mehr nahzustehen. Nie seinem Wunsch nachgekommen zu sein, ihm zu sagen, wie wichtig er für mich ist. Ich möchte ihm sagen, dass ich ihn all die Jahre immer nur vermisst habe. Ich denke an Emil, und es zerreißt mir das Herz, zu wissen, dass er ohne mich leben soll. Dass sein Leben von Schmerz geprägt sein wird und ich ihn nicht davor bewahren kann. Dass ich nichts von seinem Leben mitbekomme. Ihn nie mehr in die Arme nehmen kann. Nie mehr sein hübsches Gesicht küssen darf und nie mehr seinen kleinen Körper auf meinem Bauch schlafen spüre. Die Tränen fließen meine Wange herab. Es schmerzt so bitterlich, daran zu denken, ihn zurückzulassen. Ich will nicht ohne ihn sein. Er ist mein Leben. Und ich will leben. Ich will mit ihm leben. Es schnürt mir den Hals zu, und die Enge hinterlässt einen schmerzenden Stich. Dann frage ich mich: Wenn ich noch einen Monat Zeit hätte, was würde ich dann tun? Was würde ich mit meiner Zeit anfangen? Ich spüre Erleichterung in mir aufkommen und atme tief aus. Oh bitte, liebes Leben, schenke mir diesen Monat. Ich möchte alles anders machen! Ich würde kündigen. Sofort und ohne einen Zweifel. Ich würde meine Zeit Emil widmen. Meiner Familie und meinen Freunden. Ich würde glücklich sein. Draußen spielen, Skaten, die Natur genießen. Dinge tun, die mir Spaß machen. Tanzen, lachen, lieben. Dankbar sein, für alles, was ich habe. Ich habe alles, was ich brauche. Ich muss nur leben.

Ich öffne meine Augen, hebe den Kopf aus dem Wasser und richte mich auf. Morgen früh werde ich kündigen, und dann fahren wir im Sommer mit dem Fahrrad los. Ohne zeitliche Begrenzung. Egal, was passiert. Ich träume so lange schon von einer richtigen Reise mit Emil. Wir brauchen Zeit zusammen. Ein Abenteuer. Wir brauchen Raum zum Leben, jetzt und hier. Auch wenn ich kaum Geld habe. Ich schaffe das. Ich habe nur dieses eine Leben. Was nützen all meine Träume, wenn ich nicht versuche, sie in die Realität zu bringen? Ich ziehe den Stöpsel aus dem Abfluss, stehe vorsichtig auf, greife nach dem Handtuch, und dann laufe ich aus dem Badezimmer heraus in mein neues Leben.

Gehe mutig ins Unbekannte, denn was ist schlimmer: zu scheitern oder es nie probiert zu haben?

Mut oder Angst: Ich habe eine Wahl!

13. Mai 2021, Maintal

Die richtige Richtung

Mit einem unruhigen Gefühl fahre ich am nächsten Tag in die Schule. Zum ersten Mal scheint der Weg mit dem Fahrrad wie im Flug zu vergehen. In meinen Gedanken fuhr ich normalerweise morgens als Jassy Ulrich bei der Tour de France mit und legte täglich einen grandiosen Sprint hin. Heute wünschte ich, der lange Feldweg am Main würde nie enden. Doch vor mir werden die Umrisse der Häuser immer deutlicher, bis ich sie schließlich klar vor mir habe und nach Maintal komme. Noch eine letzte Ampel. Wo ich sonst täglich ungeduldig auf das rote Männchen starre, erstrahlt es heute gut gelaunt in Grün, als wollte es mir zurufen: »Freie Fahrt. Viel Glück!« Glück kann ich heute gebrauchen. Mein Magen rumort laut. Typisch, wenn ich nervös bin. Noch einmal rechts abbiegen, und da kann ich es bereits sehen, das graue Schulgebäude der Werner-von-Siemensschule. »Hallo Frau Böhm!«, ruft Lara aus der 2b mir fröhlich zu. Sie trägt ein gelbes Blumenkleid und hat ihre lockigen braunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. »Guten Morgen Lara, ich hole euch gleich vorne ab«, antworte ich ihr, während ich mein Fahrrad abschließe und ihr noch ein großes Lächeln schenke. Ich kann in ihrem Gesicht sehen, wie glücklich sie das macht. Seit Wochen sagt sie mir täglich, dass ich ihre Lieblingslehrerin sei, und beschwört, wie sehr sie mich möge. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mich das nicht genauso glücklich und auch ein bisschen stolz macht. Ein Gefühl von Schuld macht sich in mir breit, wissend, dass ich heute kündigen werde. Es fühlt sich seltsam an, das Schulgebäude mit dem Vorhaben zu betreten, das Ganze hier schon bald hinter mir zu lassen. Alles kommt mir an diesem Morgen schon fremder vor. Dabei ist doch nichts anders an den Mengen lauter Siebtklässlern, die sich in lachenden Gruppen Videos auf dem Handy ansehen, während ich mich wie jeden Morgen an ihnen vorbeischlängeln muss, dann vorbei an den bunten Bildern vom Malwettbewerb, den ich letztes Jahr in der Schule organisierte und dessen Ergebnisse seitdem in der Aula aushängen, dann rein in das weitläufige Lehrerzimmer, in dem sich meine Kolleg:innen am Kopierer tummeln. Aber ist hier heute nicht doch irgendetwas anders als sonst? Hing die Uhr da über den Regalen auch gestern schon schief? Irgendwie riecht es hier doch heute komisch. Möglichst unauffällig stelle ich mich in der Reihe meiner Kolleg:innen an, kopiere schnell die Aufgaben für den heutigen Tag, während bereits die schrille Klingel zum Schulstart ertönt. Schnell werfe ich mir den Rucksack über die rechte Schulter, klemme mir den Blätterstapel unter den linken Arm und laufe großen Schrittes aus dem Zimmer, durch die Aula, raus in den Pausenhof, um meine Klasse abzuholen.

Ich fühle mich mies gegenüber meiner Lieblingsklasse, als würde ich sie im Stich lassen. Meine große Challenge mit den Schüler:innen ist immer, eine Bindung zu jedem Einzelnen aufzubauen, und das habe ich geschafft. Das ist so viel wert. Und im Prinzip die Aufgabe, die mir an der Schule am meisten Spaß macht. Der Unterricht ist im Grunde nebensächlich für mich. Ich liebe es, mit den Kindern gemeinsam Konflikte zu lösen. Mit ihnen ihr eigenes Verhalten zu analysieren. Und es bewegt mich jedes Mal, wenn sie es schaffen, sich eigene Fehler einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen. Ihnen vor Klausuren Mut zuzusprechen und nach schlechten Noten ihr Selbstbewusstsein aufzubauen, macht mich froh. Mein Ziel war es immer, ihnen in dieser kurzen Zeit, die ich sie in ihrem Leben begleiten darf, die richtigen Werte näherzubringen und zu zeigen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Ich möchte, dass Schule ein Ort ist, an dem sich Kinder wohl fühlen, der vielleicht sogar eine Zuflucht vor ihrem Zuhause ist. Ein Ort, an dem es darum geht, wie man zu guten und glücklichen Erwachsenen wird und der Lehrinhalt eher nebenbei aufgenommen wird. Natürlich wurde ich in diesem Vorhaben immer wieder gestoppt, denn unser Schulsystem stellt ganz andere Faktoren in den Mittelpunkt des Schulalltags.

Die zwei Stunden mit der 2b vergehen wie im Flug. Sie arbeiten ruhig und konzentriert mit, und Moritz hat sich dermaßen gesteigert, dass es mich richtig glücklich macht. Es mangelt ihm einzig an Selbstbewusstsein, was mich kein bisschen mehr wundert, seit ich seinen Vater und dessen Erwartungshaltung an ihn kennengelernt habe. Ich habe den Eindruck, als würden viele Moritz’ Talent nicht sehen und seine Unsicherheit mit Desinteresse verwechseln. Es ist schon sehr auffallend, dass ich in jeder Klasse besonders an den als schwierig bekannten Schüler:innen Gefallen finde. Die, die keiner mag, die liebe ich. In meiner Lieblingsklasse brauchen ganz viele Kinder einfach mehr Sicherheit und Vertrauen in sich und die Welt. Wir alle kommen als reine Seelen hier an, aber das, was wir die Jahre darauf erfahren, bestimmt unser gesamtes weiteres Leben. Was können diese Kinder dafür, in ungünstige Lebensverhältnisse hineingeboren worden zu sein? Was wohl aus ihnen werden wird? Sie sind mir inzwischen so sehr ans Herz gewachsen, dass der Abschied einfach schmerzt. Ich weiß dennoch, dass es richtig ist zu gehen. Nichts steht über Emil und unserem Leben.

Vor dem großen Schritt der Kündigung hier in der Schule werde ich heute gleich noch den kleineren machen: In der Pause telefoniere ich mit der Galeriechefin. Ich sage ihr, dass ich mich in den letzten Wochen, als ich an dem Ausstellungskatalog arbeitete, ein bisschen außen vor fühlte, aber dass genau das auch zu einer Klarheit beitrug. Sie versichert mir, dass sie mich gar nicht bewusst aus dem Geschehen herausgehalten habe, und gibt mir zu verstehen, dass sie mich sehr gerne im Team behalten möchte. Sie kann bereits ahnen, was nun kommt, schließlich habe ich bereits letztes Jahr versucht zu kündigen, woraufhin sie umgehend versucht hatte, mich durch ein neues, sehr gutes Angebot doch zu halten. Heute ist es anders. Als ich sage, ich muss etwas ändern, reagiert sie verständnisvoll. Auf persönlicher Ebene kann sie das nachvollziehen, sie ahnt, was ich zu wuppen habe, als Alleinerziehende mit so vielen Jobs. Sie ist selbst Mutter und weiß, was das bedeutet. Daher bietet sie mir erneut an, weniger zu arbeiten. Ihr Bemühen ehrt mich. Aber dieses Mal möchte ich keine Kompromisse mehr eingehen. Jetzt oder nie, egal, wie sehr ich sie als Chefin leiden kann, egal, wie sehr mir die Arbeit Spaß macht, ich muss diesen Job beenden. Ich nehme all meinen Mut zusammen, stelle die Angst hintenan und spreche schließlich die erlösenden Worte aus: »Ich kündige.« Halleluja. Endlich. Dem hat sie nichts entgegenzusetzen. Wir verabschieden uns dann auch recht schnell voneinander. Es ist ja alles gesagt. Nach dem Telefonat atme ich erleichtert auf, und eine riesige Last fällt von meinen Schultern. Eine Sorge weniger. Dieses Kapitel ist nun beendet. Jetzt ist das nächste dran.

In der zweiten Pause mache ich mich hochnervös auf den Weg zur Schulleiterin. Ich vermeide den Weg durch das Lehrerzimmer und laufe lieber vom Schuleingang kommend in den Flur, der zum Büro der Direktorin führt. Zum Glück ist hier alles gerade wie leergefegt. Umso besser, ich möchte jetzt bloß niemanden mehr treffen, der mich in ein Gespräch verwickelt. Den Blick konzentriert nach unten gerichtet, hechte ich möglichst unauffällig an den offenen Türen der stellvertretenden Direktorin und des Konrektors vorbei, bis ich schließlich vor dem Büro von Frau Stiglitz stehen bleibe. Melanie scheint noch mit ihr in einem Gespräch zu sein. Ich kann ihre Stimmen von draußen hören, auch wenn ich ihre Worte nicht verstehe. Ungeduldig laufe ich zwei Meter nach rechts und wieder zurück, streiche meine Haare hinters Ohr und doch wieder nach vorn. »Du schaffst das, Jasmin«, spreche ich mir innerlich Mut zu, während ich von einem auf den anderen Fuß wechsle und meine schweißigen Hände an meiner Hose abwische. Man könnte meinen, ich stünde gerade vor dem Altar und würde gleich vor versammelter Mannschaft das Jawort sprechen müssen. »Es ist nur eine Kündigung, beruhige dich. Das machen Leute tagein, tagaus, und daran ist noch keiner gestorben«, versuche ich einen erneuten Anlauf, um meine extreme Nervosität zu mildern. Da kann ich die Stimme von Melanie bereits lauter und deutlicher hören, sie kommt näher, mein Herz bebt, es ist so weit, die Tür öffnet sich, Melanie kommt heraus und lächelt mir zu. Durch die halboffene Tür sehe ich die Schulleiterin an ihrem Schreibtisch sitzen, auf dem sich jede Menge Ordner und Bücherstapel türmen. Das sieht nach Arbeit aus. Klar, die Zeugnisse stehen an. Und ohnehin, das wusste ich ja, sie hat wie immer viel zu tun. Aber als sie aufschaut und mich sieht, lächelt sie, vielleicht merkt sie, wie wichtig es mir ist, und winkt mich direkt in ihr Zimmer. Da sitzen wir uns nun mit viel Abstand und weißen FFP2-Masken gegenüber, und meine Anspannung lässt sich kaum ertragen. Frau Stiglitz hingegen wirkt ruhig wie immer. Der Blick aus ihren braunen Augen ist trotz ihrer pink verzierten Brillengläser durchdringend. Obwohl sie einen Kopf kleiner als ich ist, wirkt sie vollkommen präsent und selbstbewusst in ihrem großen braunen Lederstuhl. Erwartungsvoll schaut sie zu mir herüber und sagt in ihrer lockeren Art: »Sie wollten mit mir sprechen, Frau Böhm?«

Oh Gott, wie kann ich meine Sache nur genauso locker rüberbringen? Es ist unmöglich. Das, was ich gleich sagen werde, wird auch ihre Lockerheit umgehend zunichtemachen und den Druck von mir zu ihr lenken. Ich habe unheimliche Angst vor dem, was jetzt kommt, und möchte sie nicht enttäuschen. Ich kann sie wirklich gut leiden, auch wenn ich nicht immer einer Meinung mit ihr war, hat sie etwas an sich, das mir gefällt, und ich glaube, diese Sympathie beruht auf Gegenseitigkeit. Wird sich das durch meine Worte gleich komplett ändern? Werden die nächsten Monate dann eine Qual für mich? Ist das Knarzen meines Stuhls wirklich so laut, oder kommt es mir nur so vor? Sieht sie mir die Nervosität an? Genug jetzt, komm zur Sache, Jasmin. Ich nehme all meinen Mut zusammen und sage: »Ja, ich wollte mit Ihnen reden«, dann muss ich erneut stocken, aber jetzt gibt es kein Zurück mehr, ich hole tief Luft und spreche weiter, »ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich kündigen möchte.« Es ist raus. Voller Spannung blicke ich in das verblüffte Gesicht der Schulleiterin. Der Raum scheint so still zu sein, dass ich schwören könnte, dass sie meinen schnellen Herzschlag hören kann. Warum kann ich nicht stillsitzen? Meine Nervosität steigt ins Unermessliche. Damit hat sie ganz offensichtlich nicht gerechnet, und ich kann ihr förmlich ansehen, wie sie nach Worten sucht. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, entgegnet sie: »Oh okay, das hatte ich jetzt nicht erwartet. Wie kommt’s, Frau Böhm? Das finde ich jetzt aber sehr schade.«

»Ich weiß, ich auch«, sage ich wahrheitsgemäß und spüre mein schlechtes Gewissen. »Es hat auch nichts mit der Schule, Ihnen oder der Klasse zu tun, sondern mit meinen persönlichen Umständen.« Ich zögere kurz, und dann ist sie wieder da, meine Klarheit, die ich gestern in der Wanne fand. »Ich möchte einfach mehr Zeit mit meinem Sohn verbringen«, sage ich mit fester Stimme, »ich weiß noch nicht, wie ich alles genau mache, aber ich habe auch in der Galerie gekündigt. Momentan ist es einfach alles zu viel.«

Sie schaut mich nachdenklich an und sagt: »Das verstehe ich. Und bedaure es trotzdem sehr. Sie haben das wirklich gut gemacht und werden uns hier sehr fehlen. Vielleicht kommen Sie ja doch irgendwann noch mal an die Schule zurück. Hier stehen Ihnen die Türen offen«, sie lächelt mir jetzt zu. So eine liebe Reaktion von ihr, die mir im Augenblick so guttut, hätte ich nicht erwartet.

»Ja. Danke«, ich atme tief ein und aus. »Wissen Sie, ich finde, hier in der Schule gibt es keine halben Sachen, entweder man lebt dafür, oder man lässt es. So wie ich das probiert habe, mit zwei weiteren Jobs und einer Doktorarbeit, geht es jedenfalls nicht, das ist mir bewusst geworden.«

»Ja, da haben Sie wohl recht«, sagt sie und nickt. »Dennoch: Ihre Klasse wird Sie sehr vermissen und wir, und da spreche ich sicherlich im Namen aller Kollegen, ebenso. Wir mögen zwar auch nicht immer einer Meinung gewesen sein«, sie zwinkert mir zu, »aber Sie haben immer offen und vor allem sachlich kommuniziert, und das schätze ich wirklich sehr an Ihnen.«

Ich spüre schon jetzt, wie sich eine große Erleichterung in mir ausbreitet und wie gut mir ihr Feedback tut. »Danke«, antworte ich, »das weiß ich sehr zu schätzen. Es gab sicherlich die ein oder andere Sache, die ich anders gemacht hätte. Aber ich bin ganz ehrlich, ich hätte in den letzten Jahren mit dem ganzen Corona-Wahnsinn auch nicht in Ihrer Haut stecken wollen. Man kann viel meckern, aber solange man nicht in der Führungsrolle steckt, hat man leicht Reden. Ich finde, Sie haben das wirklich gut gemeistert, und danke Ihnen, dass Sie immer ein offenes Ohr, auch für Kritik, hatten. Das ist nicht selbstverständlich, finde ich.«

»Ach Frau Böhm«, winkt sie beschämt ab, und doch kann ich sehen, wie gut ihr diese Worte tun. »Kommen Sie gerne als Quereinsteigerin zu uns zurück. Sie sind hier jederzeit willkommen.«

Genau das ist es, was sie so selten zeigt, ihre menschliche Seite, vielleicht als Schulleiterin auch nachvollziehbar. Aber das ist es, was sich die meisten Kolleg:innen von ihr wünschen. Wir verabschieden uns, und ich verlasse erleichtert und mit heiterem Gemüt das Zimmer. Ich habe es getan, ich habe gekündigt, und es war gar nicht schlimm, im Gegenteil, es war befreiend und schön. Noch am gleichen Tag verkünde ich es den Kolleg:innen, mit denen ich am meisten zu tun habe, wobei es mir bei Stefanie besonders schwerfällt. Sie hat mir so unglaublich geholfen, mich unterstützt, wo es nur ging. Sogar das Auto ihrer verstorbenen Mutter lieh sie mir nach meinem Unfall für zwei Wochen und erleichterte mir damit meinen Alltag ungemein. Sie ist solch eine liebe Seele, gefangen in ihrem eigenen Ehrgeiz, der ihr großes Helferherz antreibt. Das führt bei ihr zu etlichen Überstunden und lässt der Trauer um ihre Mutter kaum Raum. Zudem verdrängt die viele Arbeit auch die große Sehnsucht danach, mehr Zeit mit ihren beiden Zwillingstöchtern zu verbringen, die gerade mal ein Jahr alt sind. Sie hat volles Verständnis für meine Kündigung, auch wenn sie natürlich ebenfalls die blöde Situation für die Klasse sieht, die sich gerade so sehr an mich gewöhnt hat. Doch das ist nebensächlich, sie weiß genau so sehr wie ich, dass es die richtige Entscheidung für mich ist, und wir beide wissen auch, dass sie eigentlich ebenso kürzertreten müsste. Aussprechen wird es allerdings keine von uns.

13. Mai 2021, Frankfurt

Wohin jetzt?

Was für ein wunderschöner Tag! Passend zu meiner Laune scheint heute nach gefühlt jahrelangem Regenwetter endlich wieder die Sonne. Am Nachmittag schnappe ich mir Emil und fahre mit ihm und Maria mit dem Rad zum Skatepark. Die neben dem grünen Park liegenden Rampen sind noch leer, ein Wunder bei diesem Wetter. Schnell schnalle ich Emil aus seinem Anhänger, reiche ihm sein kleines Fahrrad, hole mein Skateboard vom Gepäckträger und fahre los. Was für ein Gefühl! Der Fahrtwind weht mir die Haare aus dem Gesicht und kühlt angenehm den Schweiß vom Fahrradfahren. Ich drehe zwei große schnelle Runden um den Park herum. Noch nie hat sich Skateboardfahren so leicht und frei angefühlt. Heute ist mir alles egal. Ob jemand blöd guckt, weil ich als Mama mit dreißig auf dem Skateboard rumfahre, ob ich vielleicht falle und mir irgendwas breche, es ist alles egal. Heute bin ich einfach glücklich.

»Es ist so krass«, bemerkt Maria lachend, während sie einen Kickflip übt und ihr das Skateboard schon wieder unter den Füßen wegfliegt. »Ich hab dich seit Ewigkeiten nicht mehr so gesehen. Und das nach einer Kündigung und wo du jetzt quasi ohne Sicherheiten dastehst.«

»Ja, ich fühle mich so dermaßen erleichtert!«, gebe ich zurück und spüre mein eigenes Strahlen im ganzen Körper. Der scheint heute wie mit dem Board verbunden zu sein. Es ist einer dieser Tage, an denen all das, was man über Monate verzweifelt geübt hat, endlich gelingt. »Es ist so befreiend zu wissen, dass bald alles vorbei ist und dieser ganze Stress endlich ein Ende hat«, rufe ich Maria zu und mache einen Shuvit und direkt im Anschluss einen Ollie. »Und dann noch diese Sonne heute und der leere Park, es ist so absurd, wie einfach eigentlich alles sein könnte.« Ich nehme Anlauf zur Rampe, gehe leicht in die Knie und drehe das Board oben auf den Hinter-Rollen, um mit Schwung wieder zurückzufahren. »Ich hab zwar keine Ahnung, was ich dann mache oder wovon ich lebe, aber heute interessiert mich das nicht, heute genieß ich einfach nur.« Ich lache.

»Ja, eins nach dem anderen«, entgegnet Maria und übt geduldig im sicher zwanzigsten Anlauf, ihr Board in der Luft zu drehen.

Einen so befreiten Nachmittag hatte ich Jahre nicht mehr. Auch Emil scheint die Stimmung zu spüren. Vergnügt rast er mit seinem Fahrrad über die Rampen und imitiert dabei laut die Feuerwehr. Die Dinge scheinen sich in eine neue, eine gute Richtung zu bewegen. Alles ist mit einem Mal so leicht.

Nur leider soll mir dieses Gefühl nicht lange erhalten bleiben. Bereits wenige Tage später ist die Stimmung nicht mehr ganz so ausgelassen. Etwas leichter als in der Zeit direkt vor der Kündigung fühle ich mich zwar immer noch, schließlich ist viel Druck von mir abgefallen. Doch jetzt, wo ich mich immer mehr von der mir selbst aufgeladenen Last befreie, rückt die Frage in den Vordergrund, wie es jetzt konkret weitergehen soll. Bewerbe ich mich weiter in Museen? Versuche ich mein Glück in der Verlagswelt? Mache ich parallel dazu mit Emil, so wie ich es mir an dem Tag in der Badewanne vorgenommen habe, eine Fahrradreise mit offenem Ende? Wenn ja, von welchem Geld, und wenn wir von Geld sprechen, wovon werde ich überhaupt leben, wenn ich mit der Schule in zwei Monaten aufhöre? Als ich noch kinderlos war, hätte mir so eine Situation nicht besonders viel Angst bereitet. Ich hätte einfach mein WG-Zimmer untervermietet, wäre losgereist und hätte mal hier und mal dort gejobbt, so wie ich es eben früher während meiner Semesterferien immer gemacht habe. Heute sieht meine Welt jedoch anders aus.

Es war allein schon ein knallharter Kampf, als Alleinerziehende diese Wohnung zu finden. Nur mit ihr konnte ich den Kitaplatz überhaupt annehmen, und nur mit einem Kitaplatz konnte ich mich für einen Job bewerben, denn ohne Betreuung lässt es sich eben auch nicht arbeiten. Doch für eine Wohnung brauchte ich wiederum einen Job und dafür die Betreuung, es war ein ewiger Kreislauf, und ich habe acht Monate gebraucht, bis ich ihn tatsächlich durchbrechen konnte. Durch Beziehungen kam ich an die Wohnung, deren Vermieter keinen Gehaltsnachweis verlangte. Zur gleichen Zeit hatte ich einfach viel Glück, weil an der Schule einer guten Freundin mehrere Lehrerinnen gleichzeitig in Mutterschutz gingen und dringender Bedarf an Lehrpersonal bestand. So konnte ich auch ohne Erfahrung dort als Lehrerin für Kunst starten, bekam mit der Zeit jedoch immer mehr Verantwortung und auch Arbeit, so dass ich nach einem Jahr schließlich als vorübergehende Klassenlehrerin eingesetzt wurde. Gleichzeitig erhielt ich noch den Job als Galerie-Assistentin und als Dozentin an der Hochschule. Dadurch war ich finanziell erst einmal abgesichert und konnte an meiner Promotion arbeiten.

Die Jobs wieder aufzugeben, ist das eine, die Wohnung ein ganz anderes Thema, ist es doch unser liebevoll eingerichtetes Zuhause, das mir nach all den Jahren unterwegs und ohne Halt so viel Sicherheit gab und immer noch gibt. Aber wie soll ich die Miete zukünftig bezahlen? In jedem Falle werde ich bald weitere Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen treffen müssen.

Es macht mir Angst, mich nun wieder dem Ungewissen hinzugeben. Ich beschließe, mir Unterstützung zu suchen, und buche eine Coaching-Session mit Kari. Sie ist eine enge Freundin aus Norwegen, die ich vor ein paar Jahren in Portugal kennengelernt habe. Wir stehen noch immer in Kontakt. Momentan arbeitet sie an einem neuen Coaching-Programm, das sie »Soul Purpose« nennt, und sucht dafür Testpersonen. Vielleicht kann sie mir irgendwie weiterhelfen oder mich in meinem Traum bestärken.

Als ich zwei Tage später am Abend mit ihr zoome und ihr von meinen Kündigungen und der Zukunftsangst berichte, fragt sie mich nachdenklich: »Wie würde dein Traumleben jetzt aussehen?«

Ich überlege kurz und entgegne dann: »Ich würde jetzt in den Sommerferien mit dem Fahrrad losfahren und ein paar Monate mit Emil durch Europa reisen, hätte vorher schon einen Buchvertrag und würde, wenn ich wiederkomme, dann erstmal von dem Geld für das Buch leben.« Wow, eigentlich habe ich doch schon einen genauen Plan, wundere ich mich selbst über meine Antwort.

»Und was hält dich davon ab?«, fragt Kari.

»Ich weiß nicht, vor allem Geld. Also, ich glaube, die Reise werde ich schon irgendwie machen, aber ich weiß ja nicht, ob es was mit dem Buchvertrag wird, und wenn nicht, stehe ich danach ganz ohne Geld da. Und vielleicht sollte ich mich auch lieber weiter für einen Job im Museum bewerben. Vielleicht verbaue ich mir sogar den Weg ins Museum, wenn ich jetzt diesen Weg mit dem Bücherschreiben einschlage, und gebe irgendwie den anderen Traum damit auf. Ach Kari, ich weiß es doch auch nicht«, sage ich lachend.

»Also hast du eigentlich ein Dilemma, weil du zwei Leben vor dir siehst. Einmal das Leben, in welchem du deine Doktorarbeit beendest und im Museum arbeitest, und einmal das Leben, wo du viel herumreist und Bücher schreibst. Wieso, glaubst du, ist dein Buch wichtig? Was willst du den Menschen sagen?«, fragt sie mich.

»Ich will zeigen, dass man auch als Alleinerziehende noch Abenteuer erleben kann«, erzähle ich. »Dass das Leben als Mama nicht aufhört und dass es auch andere Wege gibt, um mit dem eigenen Kind glücklich zu werden. Ich will anderen Mut machen, auf ihr Herz zu hören.«

»Und was willst du im Museum bewirken?«, fragt Kari daraufhin.

Ich zögere keine Sekunde: »Ich möchte auf Ungerechtigkeiten in der Welt aufmerksam machen. Auf andere Weise, als man in der Politik in der Lage dazu wäre. Ausstellungen können so viele Emotionen in den Besucher:innen wecken. Ich möchte Menschen in bestimmten Themen bilden und durch die Kunst für wichtige Sachverhalte sensibilisieren. Mit meiner Doktorarbeit möchte ich zum Beispiel über die Situation im Iran berichten und den iranischen Künstler:innen, vor allem den vielen Frauen, die sich seit Jahren gegen das Regime einsetzen, Gehör verschaffen. Sie Teil von der Kunstwissenschaft werden lassen.«

»Okay, also hast du auf der einen Seite insbesondere Eltern oder auch Alleinerziehende, vor allem Frauen, denen du helfen möchtest, und auf der anderen Seite möchtest du die Gesellschaft für politisch wichtige Themen sensibilisieren, um Menschen zu helfen, so zum Beispiel den Frauen im Iran. Richtig?«, fasst Kari präzise zusammen.

»Ja, genau«, sage ich.

»Also, irgendwo sind sich deine beiden Berufsmodelle dann doch im Kern ähnlich, auch wenn sie so unterschiedlich erscheinen. In beiden Fällen möchtest du anderen Menschen helfen.« Wieder einmal bin ich begeistert von Karis erhellendem Blick auf die Dinge.

»Ja, stimmt«, lache ich, »darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber ich weiß trotzdem nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Ich weiß ja auch gar nicht, ob ich die Wahl habe, schließlich kam ich jetzt schon seit Jahren nicht ins Museum, und ob’s in der Verlagswelt besser aussieht, sei dahingestellt.«

»Kann es sein, dass Reisen und Bücherschreiben dein innerer Wunsch ist und die Promotion mit der Museumsarbeit das, was du glaubst, was von dir erwartet wird?«, fragt Kari mich.

»Nein. Ich will das wirklich mit dem Museum. Mir macht das Spaß«, entgegne ich bestimmt.

»Okay, und was, glaubst du, bringt mehr Ansehen?«, bleibt Kari am Ball und lächelt dabei, als würde sie bereits wissen, wie meine Antwort ausfällt. Erwartungsvoll schaut sie mich mit ihren blauen Augen, die durch ihre gebräunte Haut noch mehr zum Strahlen kommen, von meinem Bildschirm aus an.

»Ja, okay, ich denke schon, dass man im Museum mit einem Doktortitel kultivierter erscheint, als wenn man herumreist und Bücher schreibt«, lenke ich lachend ein, »aber ich weiß nicht, ich mach das doch nicht für die Anerkennung. Mir macht das Spaß, das Ansehen ist vielleicht ein schöner Nebeneffekt. Allerdings nervt es mich eher, dass im Museum die Sprache immer so hochgestochen sein muss und alles so spießig ist.«

Wir sprechen noch eine ganze Weile über Geld und darüber, dass die Fahrradtour an sich gar nicht mein größter Traum ist, sondern das, was es mit sich zieht, das freie Leben und die Zeit mit Emil, danach vielleicht selbstständig zu arbeiten und weitere Jahre mit ihm zu reisen und dass die Tour vielleicht einfach der Anfang von etwas Großem ist. Letztendlich hinterlässt das Gespräch mit Kari jede Menge Fragen, aber auch ein Gefühl von Klarheit und vor allem Lust, mich dem Unbekannten zu stellen. Ich fühle mich, als wäre jetzt der Moment gekommen, mich einem neuen, noch unbekannten Weg zu öffnen.

Am gleichen Abend schicke ich mein Exposé an einen Literaturagenten, der mir empfohlen wurde, und entschließe mich, voller Vertrauen für diesen neuen Weg zu kämpfen. Schließlich ist am Ende nicht das Wichtigste, welchen Weg ich einschlage, Hauptsache, ich gehe. Ich kann doch nicht ewig an der Weggabelung stehen bleiben, unzufrieden, weil ich nicht vorankomme, dann dauernd in die gleiche Sackgasse laufen, wo ich bisher nur Absagen erhalten habe, wieder zurück zur Weggabelung pilgern und Trübsal blasen. Wenn der eine Weg nicht funktioniert, dann muss ich eben einen anderen finden, vielleicht führt er ja auch irgendwann in großem Bogen zu dem Ziel, zu dem ich anfangs wollte. Vielleicht führt er aber auch in eine völlig andere Richtung, die mir letztendlich viel besser gefällt und besser in mein Leben passt. In eine Richtung zu gehen, heißt auch nicht, dass ich nicht mehr die Möglichkeit habe, mich immer wieder für etwas anderes zu entscheiden. Das Leben ist noch so lang, und es wird noch so viel passieren, viele Dinge, auf die ich gar keinen Einfluss haben werde. Doch heute hier, da habe ich Einfluss und kann entscheiden, endlich loszugehen. Loszugehen in eine mir völlig unbekannte Welt. Es mag sich zwar beängstigend anfühlen, weil ich den Ausgang nicht kenne, aber gleichzeitig macht gerade dieser Aspekt das Leben doch so aufregend und lebenswert. Was wäre es für ein Leben, in dem wir jedes Ziel bereits vorher kennen würden?

18. Juli 2021, Offenbach

Kann ich wirklich gehen?

Die Schule ist endgültig vorüber, zumindest für mich, der Rest befindet sich in den Sommerferien. Wie zu erwarten, waren die letzten Wochen der pure Stress. Versetzungsgespräche mussten geführt, neue Förderpläne geschrieben, auf den letzten Drücker noch Klausuren konzipiert und anschließend korrigiert werden, sämtliche Zeugnisse mussten erstellt und Zeugnistexte geschrieben und zu guter Letzt noch Abschiedsgeschenke für das gesamte Kollegium und meine Klasse gebastelt werden. Doch neben all dem Stress war es auch besonders schön, vor allem mit meiner Lieblingsklasse, die mir die schönsten Bilder malte und die herzerwärmendsten Worte zum Abschied mitgab. Als ich ein paar der Kinder weinen sah, konnte ich nicht umhin, auch die ein oder andere Träne zu verdrücken. Sie waren mein ganzer Halt in dem vergangenen Schuljahr und haben dafür gesorgt, dass ich mich täglich auf etwas in diesem Job freuen konnte. Zu wissen, dass ich sie nicht mehr sehen werde und mich nicht mehr um sie kümmern kann, macht mich wehmütig, doch zum Glück bleibt kaum Zeit, darüber nachzudenken.

In fünf Tagen möchte ich meine Fahrradtour starten. Ein klares Ziel habe ich immer noch nicht, Marokko wäre cool. Mit dem Fahrrad auf einen anderen Kontinent fahren, wo uns eine völlig andere Kultur erwartet, fremde Gerüche, eine unbekannte Sprache, gastfreundliche Menschen, interessante Architektur und atemberaubende Landschaften, das wäre absolut magisch. Aber ob wir es wirklich so weit schaffen, ich weiß ja gar nicht, ob Emil Spaß an so einer riesigen Fahrradtour hat? Die im letzten Jahr, auf der wir fast vier Wochen durch Deutschland fuhren, war eine andere Nummer. Das war vertrautes Terrain. Der Zeitpunkt der Rückkehr war fix. Und wir hätten jederzeit in einen Zug steigen und in wenigen Stunden zu Hause sein können. Das war nicht mit einer Tour nach Marokko zu vergleichen, in der wir uns über Monate einfach mit offenem Ende treiben lassen können. Emil spricht oft von unserer Fahrradtour im letzten Jahr. Er möchte wieder »ein Zelt bauen« auf dem »Kämpiplatz«. Aber ob er glücklich sein wird, für so lange Zeit weit weg von seiner gewohnten Umgebung zu sein, werde ich erst dann sehen. Außerdem könnte sich die Pandemie jeden Tag wieder zuspitzen und unsere Tour blockieren. Ich habe es daher aufgegeben, die Route komplett durchzuplanen, darum geht es schließlich auch nicht. Auf Instagram habe ich eine junge Frau gesehen, auch um die 30, die ganz allein mit dem Fahrrad in Marokko unterwegs war. Sie war sogar wild campen, mitten in der Wüste und auf Bergen unter einem gigantischen Meer von Sternen. Die Bilder sahen umwerfend aus, aber das würde ich mich, vor allem mit Emil, nicht trauen. Ich sehe uns eher von Hostel zu Hostel fahren, und auch davor habe ich bereits Respekt. Denn laut den Erzählungen der Instagrammerin können wir uns auch in Marokko auf eine Aufmerksamkeit gefasst machen, wie ich sie aus kleinen Dörfern in Indien kenne. Sie erlebte zwar größte Gastfreundlichkeit, aber wurde auch alle paar Kilometer angehalten, weil es für die Menschen einfach völlig fremd ist, eine Frau allein mit dem Fahrrad durch ihr Land fahren zu sehen. Mit Anhänger und Kind werde ich wohl kaum mit weniger Interesse rechnen können, wahrscheinlich eher im Gegenteil.

Da Fahrrad fahren ohnehin schon anstrengend ist und diese ständige Aufmerksamkeit dann umso ermüdender sein kann, habe ich meinen Vater gefragt, ob er uns nicht auf den letzten Kilometern durch Marokko begleiten möchte. Er ist zuvor an der Algarve in Portugal, und unsere Ankunft an der Fähre im Süden Spaniens wäre ungefähr zeitgleich mit dem Ende seines Urlaubs. Er hat sich bisher noch nicht entschieden. Aber das macht auch nichts. Dann lassen wir uns einfach mal treiben und schauen, wo wir landen. Doch bis dahin muss ich erst einmal meine Liste mit Erledigungen abarbeiten. Es steht, wie üblich für mich vor einer Abreise, noch einiges an, und ich weiß mal wieder nicht, ob ich es alles in den letzten fünf Tagen schaffen kann. Vorher hätte ich dafür allerdings auch keine Zeit gehabt, da ich noch mit der Schule und dann mit dem Korrigieren der letzten Hausarbeiten meiner Student:innen beschäftigt war.

Aber das Wichtigste ist immerhin geschafft: Ich habe meine Wohnung inseriert und konnte sie für einen Monat untervermieten. So spare ich mir die teure Miete und kann das Geld für die Campingplätze ausgeben. Die Reisekasse ist auch durch eine andere glückliche Fügung jetzt voller als gedacht: An meinem vorletzten Tag in der Schule rief mich die Schulleiterin noch einmal zu sich ins Büro und teilte mir mit einem großen Lächeln im Gesicht mit, dass sie sich dafür eingesetzt habe, dass ich in den Sommerferien noch ausbezahlt werde. Das hätte ich mir mit meinem großen Engagement verdient. Damit habe ich absolut nicht gerechnet, war ich doch letztes Jahr in den Sommerferien sechs Wochen lang arbeitslos und musste mich mit Erspartem über Wasser halten. Durch dieses Geld bin ich jetzt für zwei Monate definitiv sicher. Dann sollte ich noch irgendwann meine Steuerrückzahlung erhalten, und mit etwas Glück bekomme ich rechtzeitig, bevor ich wieder zuhause bin, meinen Vorschuss für ein Buch und kann den Rest des Jahres mit Schreiben verbringen. Das wäre ein Traum.