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Noch naturgewaltiger, noch mutiger: Mit Jasmin Böhm die eigenen Ängste überwinden
Spiegel-Bestsellerautorin Jasmin Böhm begibt sich auf eine abenteuerliche Fahrradreise mit ihrem vierjährigen Sohn: dieses Mal hoch in den Norden, ans Nordkap. Hier, in der rauen Einsamkeit der wilden Natur, stellt sie sich jeden Tag aufs Neue ihren Ängsten und entfaltet dabei eine außergewöhnliche Stärke.
Mit dem beflügelnden Gefühl, dass sie nichts mehr aufhalten kann, trifft sie schließlich Entscheidungen, die ihr Leben vollkommen verändern. Ob beim Wildcampen, Wal-Geburtstag, bei Extremerfahrungen auf den Lofoten oder magischen Polarlichtern – wir erleben hautnah mit, wie Jasmin im Einklang mit der Natur ihre Ängste überwindet und bei sich selbst ankommt.
Mit ihrer persönlichen Geschichte möchte sie allen Mut machen, jede Herausforderung als Chance für persönliches Wachstum und Erfüllung zu nutzen. Getreu dem Motto: Das Leben ist ein Abenteuer, das nur darauf wartet, gelebt zu werden.
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Seitenzahl: 459
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhalt:
In ihrem zweiten Buch begibt sich Bestsellerautorin Jasmin Böhm zusammen mit ihrem Sohn Emil auf eine abenteuerliche Fahrradreise hoch in den Norden: ans Nordkap. In der rauen Einsamkeit der wilden Natur – ob beim Wildcampen, Wal-Geburtstag, bei Extremerfahrungen auf den Lofoten oder magischen Polarlichtern – stellt sie sich jeden Tag aufs Neue ihren Ängsten und entfaltet dabei eine außergewöhnliche Stärke. Mit dem beflügelnden Gefühl, dass sie nichts mehr aufhalten kann, trifft sie Entscheidungen, die ihr Leben vollkommen verändern und kommt schließlich bei sich selbst an.
Ein Buch, das uns allen Mut macht, innere Grenzen und Ängste zu überwinden.
Vita:
Jasmin Böhm, geboren 1990, ist Doktorandin der Kunstgeschichte, Soziologie-Dozentin und alleinerziehende Abenteuermama. In den vergangenen Jahren ist sie zur Vorreiterin für Fahrradreisen mit Kind geworden, als sie 12.000 km mit dem Fahrrad und ihrem kleinen Sohn quer durch Europa zurückgelegt hat. Aktuell befinden sich die beiden auf einer Reise ohne Flugzeug nach Australien, wo eine weitere Fahrradtour folgt.
Jasmin Böhm
Hallo ANGST,
ich mach’s jetzt doch!
Wie ich auf einer Abenteuerreise ans Nordkap den Mut zum Leben fand
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Für meinen mutigen Emil
Originalausgabe
© 2025 Kailash Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Dr. Diane Zilliges
Umschlaggestaltung: ki 36, Editorial Design, Münchenin
Foto: © Beatriz Rivera
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32966-2V003
www.kailash-verlag.de
Inhalt
Rückschau
1. Fahrt ins Unbekannte
März 2023, Offenbach
Letzter Tag im Kindergarten
April 2023, Mühlheim am Main
Aller Anfang ist schwer
April 2023, Hannover
Wie wohnt Deutschland?
2. Der Angst ins Auge blicken
Juni 2023, versteckt in der Wildnis zwischen Helsingborg und Göteborg, Schweden
Wild zelten allein mit Kind
Juni 2023, Geilo, Norwegen
Allein und abgeschottet in der Wildnis
Juni 2023, Norwegen
Ich gebe auf
3. An Herausforderungen wachsen
Juli 2023, Norwegen
Geburtstag im Himmel
Juli 2023, Norwegen
Steile Berge
Juli 2023, Norwegen
Vom Pech verfolgt?
4. Wer will und kann ich sein?
August 2023, Norwegen
Jakob und die Vögel
August 2023, Norwegen
Was mache ich hier eigentlich?
August 2023, Norwegen
Extremerfahrungen auf den Lofoten
5. Durch Menschen lernen
August 2023, Norwegen
Die Wikinger
August 2023, Norwegen
Geburtstag mit Walen auf dem Mars
August 2023, Norwegen
Magische Nordlichter
September 2023, Norwegen
Jetzt geht es los!
September 2023, Norwegen
Die Rettung der Sami
6. Abenteuer oder Wagnis? Die Angst als Mama
September 2023, Norwegen
Der gefährliche Tunnel unterm Meer
September 2023, Norwegen
Der Kampf mit heftigen Naturgewalten
7. Und was kommt jetzt?
September 2023, Norwegen
Die Macht der Gedanken
September 2023, Finnland
Ankunft am Nordpol
8. Angekommen
Oktober 2023, Mallorca
Erster Urlaub ohne Kind
9. Sich der Vergangenheit stellen
November 2023, Portugal
Zurück in Portugal
November 2023, Portugal
Wo sind wir zu Hause?
November 2023, Portugal
Ich bin kein Opfer mehr
November 2023, Portugal
»Ich will zu meinem Papa«
10. Freiheit
Dezember 2023, Marokko
Neujahr in Marokko
April 2024, Innsbruck
Aufbruch in neue Abenteuer
Rückschau
Warst du schon mal an einem Punkt, wo du dir dachtest: »Scheiße, was mach ich hier eigentlich?! Was ist das für ein beschissenes Leben?« Ich habe mich das vor drei Jahren ziemlich oft gefragt, war maßlos unzufrieden und hätte am liebsten einfach alles anders gemacht. Nur wusste ich nicht wie. Oder sagen wir es so: Ich wusste es, aber mir fehlte der Mut. Ich wusste es, aber war zugleich der Überzeugung, dass es für meine Situation keine Lösung gibt.
Vor drei Jahren war ich alleinerziehend, hatte drei Jobs, schrieb an meiner Doktorarbeit, wohnte in einer kleinen Zweizimmerwohnung in der Stadt, und gefühlt war ich immer pleite. Aber am schlimmsten war, dass neben dem täglichen Marathon zwischen Jobs, Doktorarbeit und Haushalt keine qualitativ wertvolle Zeit mehr für mein Kind übrig blieb. Von Zeit für mich selbst brauchen wir gar nicht erst anzufangen. Welche Mutter hat davon schon genug? Ich nannte meine Situation »das Überleben im Hamsterrad«. Denn solange ich weiterrannte, konnte ich mir Kita, Wohnung und Nahrung leisten, aber eine Verbesserung der Situation war nicht in Sicht.
Du kannst es dir wahrscheinlich bereits denken, irgendwann kam der Punkt, an dem nichts mehr ging. Wer kann denn auch solch ein Pensum auf Dauer aufrechterhalten? Eines Tages lief mir alles aus dem Ruder und zu allem Übel wollte genau dann mein Kind nach der Kita partout nicht mehr mit zu mir nach Hause kommen. Mein Mamaherz zerbrach. Die Uroma übernahm und ich lag weinend in der Badewanne und überdachte mein Leben.
Ich erinnerte mich an das Versprechen, das ich meiner Mutter am Sterbebett vor ein paar Jahren gegeben hatte: dass ich immer dem Glück folgen werde, egal wie das aussehen mag. Davon war ich zu diesem Zeitpunkt weit entfernt. Und dann stellte ich mir die alles verändernde Frage: Was wäre, wenn dies mein letzter Tag auf Erden wäre? Ich nahm die Frage todernst, malte mir die Situation so detailliert aus, als würde ich sie wahrhaftig erleben. Sie quälte mich und riss mich innerlich inzwei. Schluchzend und völlig aufgelöst wünschte ich mir nichts sehnlicher, als meinen kleinen Emil in die Arme zu schließen. Ich bereute es, mit meinem Vater so lange im Streit gelebt und so wenig Zeit für meine mir liebsten Menschen gehabt zu haben. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Ich wollte nicht sterben. Ich würde alles tun, um leben zu können.
Und dann stellte ich mir die Frage, was wäre, wenn ich doch noch einen Monat zu leben hätte. Was würde ich dann tun? Erleichterung und Dankbarkeit machten sich in mir breit. Und ich wusste in diesem Moment genau, was ich im Leben wollte. Ich würde kündigen, sofort und ohne Zweifel. Ich würde meine Zeit Emil widmen. Meiner Familie und meinen Freunden. Ich würde glücklich sein. Draußen spielen, skaten, die Natur genießen. Dinge tun, die mir Spaß machen. Tanzen, lachen, lieben. Dankbar sein für alles, was ich habe. Ich malte mir das schönste Leben aus, genauso wie ich es mir immer wünschte und wie ich es bereits meiner Mama am Sterbebett beschrieben hatte. Und dann wurde mir bewusst, dass ich gesund war und mein Leben selbst in der Hand hatte. Ich zog den Stöpsel, stieg aus der Badewanne und ging hinaus in ein neues Leben.
Zunächst kündigte ich meine drei Jobs, dann machte ich mich ohne Planung auf in ein riesiges Abenteuer mit meinem damals zweijährigen Sohn. Gemeinsam fuhren wir mit Fahrrad und Zelt bis nach Südspanien. Im Anschluss an diese Reise machte ich mich selbstständig, schrieb ein Buch über meine Erfahrungen und ging auf weitere Abenteuer, die ich bei Instagram mit vielen Menschen teilte. Nebenbei hielt ich Vorträge und unterrichtete Soziologie. So fuhren wir im nächsten Jahr wieder mit Fahrrad und Zelt los. Dieses Mal in Richtung Osten, erneut ein riesiges Abenteuer: von Deutschland bis nach Istanbul. Der inzwischen dreijährige Emil saß nur noch ab und an im Anhänger und konnte bereits kräftig mittreten. Zwischen diesen Reisen kamen wir immer wieder zurück nach Offenbach in unsere Zweizimmerwohnung und Emil ging wie gewohnt in den Kindergarten.
Aber war das wirklich das Leben, das wir uns wünschten? Es fühlte sich an, als hätte ich zwar den Absprung gewagt, aber würde immer noch mit einem Fuß zögernd auf der »alten« Seite verharren. Unfähig, mich endgültig zu lösen. Als hinge ich zwischen zwei Welten fest, zwischen der vermeintlichen Sicherheit, dem Leben, das die Allgemeinheit als richtig ansieht, und meinen eigenen Träumen, die sich nur für uns als Familie richtig anfühlen. Der Versuch, beide Welten miteinander zu verbinden, schien zum Scheitern verurteilt, und doch fehlte mir der Mut, mich vollständig zu lösen und mit voller Entschlossenheit das Neue zu wagen. Was aber hielt mich zurück?
1. Fahrt ins Unbekannte
März 2023, Offenbach
Letzter Tag im Kindergarten!
Der Handywecker klingelt. Heute stelle ich ihn nicht wie üblich achtmal hintereinander auf Snoozing, nein, heute schrecke ich direkt beim ersten Klingeln auf und hechte zur Küche. Keine Spur von Müdigkeit. Ich bin hellwach, als habe mein Körper die drei Stunden während des Schlafens nur auf den Moment gewartet, an dem er endlich aufstehen darf. Die Unordnung auf dem Küchentisch mit den vielen Papierschnipseln vom Basteln letzte Nacht ignoriere ich getrost. Dafür ist jetzt keine Zeit. Und wen interessiert schon, wie die Küche aussieht? Ein Pluspunkt vom Alleinleben mit Kind. Alles kann so lange liegen bleiben, bis Zeit dafür vorhanden ist, und das ganz ohne schlechtes Gewissen. Hastig hole ich das Obst und die Spieße und beginne mit der Arbeit. Das wird die Kinder freuen, denke ich mir und muss selbst ein bisschen schmunzeln, während mich die erste entstehende Raupe mit ihren großen Kulleraugen ansieht. Und auch die Eltern und Erzieherinnen können nichts daran aussetzen, hoffe ich. Es ist gesund. Ich habe nur regionales Obst ausgesucht. Bio natürlich. Die Geschenke sind nützlich und persönlich.
Ich darf heute bloß keinen Fehler machen. Wir haben nie richtig reingepasst. Wir, die gerne draußen leben, bei Wind und Regen im Zelt schlafen – und die Eltern, die Angst bekommen, wenn die Kinder ausnahmsweise mal die Räume verlassen und einen Ausflug in den einen Kilometer entfernten Stadtpark machen. Es sei zu windig, man solle doch mal an das Wohl der Allgemeinheit denken. Auch hier war ich wieder anderer Meinung. Ich denke, dass Kinder gerade dann krank werden, wenn 20 von ihnen in einem viel zu kleinen Raum eingesperrt sind. Ob beim Essen, bei den Regeln oder der mangelnden Bewegung und Frischluft: Überall vertrat ich andere Ansichten. Am schlimmsten aber war für mich das Sichtbarmachen des sozialen Status, was besonders beim Sport- und Musikangebot deutlich wurde. Es kostete zusätzlich und fand während der Betreuungszeiten statt. In meinen Augen unsozial den Kindern gegenüber, deren Eltern sich das nicht leisten konnten und die sich dann ausgeschlossen von der Gruppe anders beschäftigen mussten. So wie Emil. Es verging kein Tag, an dem ich nicht kopfschüttelnd das Kindergartengebäude verließ.
Es war ein ständiges Abwägen, ob ich meine eigenen Ansichten hintanstellen sollte, um meinem Kind nicht zu schaden – oder ob ihm genau das schaden könnte. Ich fragte mich lange, ob es sich überhaupt noch lohnte, ihn in einer anderen Einrichtung anzumelden, oder ob wir nicht einfach dauerhaft reisen gehen sollten, bis die Schule ruft. Alle rieten mir davon ab. Der Kindergarten sei essenziell für die kindliche Entwicklung. Ich sah das anders. Kindergarten kann wertvoll sein, aber als essenziell wichtig sah ich ihn nicht an. Waren wir auf Reisen, beobachtete ich, wie Emil aufblühte, viel lernte und ausgeglichener wirkte. Aber sobald wir zu Hause waren, kamen wieder von allen Seiten die Meinungen auf mich eingeprasselt. Als Mama wollte ich alles richtig machen. Ich konnte meinem Gefühl in dieser Frage nicht vollständig vertrauen. Ich hatte Angst. Angst, doch einen Fehler zu machen. Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. Angst, dass mein Kind ohne Kindergarten in seiner Entwicklung etwas fehlen würde. War am Ende vielleicht doch ich diejenige, die hier die falsche Meinung vertrat? Doch irgendwann wurde mir klar: Es waren gar nicht meine eigenen Ängste, sondern die Stimmen der anderen.
Die Entscheidung, Emil doch abzumelden, traf ich eines Tages spontan aus dem Bauch heraus. Wir kamen gerade von unserer Istanbul-Fahrradreise zurück. Einer Reise, so intensiv und abenteuerlich, aber vor allem voll von tiefer Gastfreundschaft. Wir waren noch richtig beflügelt, als wir zurück auf deutschem Boden standen, freuten uns über das gemütliche Bett, die saubere Toilette, den eigenen Kühlschrank und den Fakt, dass die kompletten 55 Quadratmeter nur uns gehörten. Nach Monaten im Zelt fühlten wir uns wie im Königspalast. Es war wunderbar! Die Stimmung war bestens und Emil war hoch motiviert, sofort wieder in den Kindergarten zu seinen Freunden zu gehen.
Nach seinem ersten Tag dort war er richtig aufgedreht, aber anstatt dass er runterfahren konnte, ging es am Mittag direkt zum Laternenbasteln und im Anschluss zu meinem Geburtstagsessen mit der Familie. Viel zu viel für ein vierjähriges Kind, das gerade in eine völlig neue Welt wiedereingetaucht war. Ich wollte ihm jedoch nicht das Basteln mit der Gruppe wegnehmen, aber auch nicht meinen Geburtstag allein ohne meine Familie verbringen. Ich hatte mich nach der Reise sehr auf meine Familie gefreut und bei einer Alleinerziehenden kommt allein zu Hause sowieso keine Geburtstagsstimmung auf. Also zogen wir das Programm durch. Es war ein kurzes Essen, aber für ihn war alles zu viel. Auch wenn er es nicht offen zeigte, konnte ich ihm das als Mama schnell ansehen.
Todmüde schleppte er sich am nächsten Tag erneut in den Kindergarten. Es habe alles super funktioniert, sagten sie mir später beim Abholen. Glück gehabt, dachte ich und war schon auf die Ladung Emotionen vorbereitet, die ich wahrscheinlich auf dem Nachhauseweg abbekommen würde. Wenn Kinder funktionieren müssen, halten sie meist all ihre Emotionen zurück und lassen sie erst raus, wenn sie sich wieder sicher fühlen können. Häufig bei den Eltern. An diesem Tag schien er sich jedoch erst einmal auf mich zu freuen. Überglücklich rannte er in meine Arme. Es war auch für mich noch ungewohnt, wieder so viele Stunden von ihm getrennt zu sein, und ich war froh, ihn wieder bei mir zu haben.
Wir wollten gerade zur Bank laufen, um Jacke und Schuhe anzuziehen, da hielt uns seine Erzieherin zurück und sagte ihm, er müsse das Lego noch aufräumen. Es wäre eine neue Regel, jedes Kind müsse eine Sache beim Gehen aufräumen, auch wenn es nicht damit gespielt hatte. Emil hatte noch nichts von der Regel gehört. Er verneinte, weil er nicht mit Lego gespielt habe und weil er nicht noch einmal reinwollte. Er schien sehr erleichtert, endlich mit mir heimgehen zu dürfen. Doch nun fing die Diskussion an. Zunächst gegen ihn, dann richtete sich die Erzieherin gegen mich. Ich könne hier die Auswirkungen unserer Reisen bestens miterleben. Dort würde es schließlich keine Regeln geben und nun sei er wieder zurück und müsse sich wie alle anderen an die Regeln halten. Er könne keine Sonderstellung haben. Innerlich tobte ich, denn bei uns auf Reisen gab es sehr wohl Regeln und nicht gerade wenige, aber sie werden von mir gut erklärt und von Emil bestens umgesetzt. Ohne Regeln würde unsere Art von Reisen gar nicht funktionieren. Auch fragte ich mich, ob alleinerziehenden Müttern die Strenge nicht häufig auch per se abgesprochen wird, weil dafür in vielen Köpfen nur die Väter verantwortlich sind. Ich sagte nichts. Sie war die Autoritätsperson für mich, und ich traute mich nicht, meinen Mund aufzumachen, auch wenn ich es mir wünschte. Ein Problem, das mich mein Leben lang begleitet.
Mein Kind wurde also zur Lego-Kiste gezogen und ich blieb perplex, aber stumm am Türrahmen zurück. Sah sie denn nicht, wie erschöpft der Junge nach seinem zweiten Tag war? War das nicht eigentlich eine Eingewöhnung? Er schrie und weinte so laut, wie ich es noch nie miterlebt hatte, während er sich energisch versuchte, aus ihrem Griff zu lösen. Seine Schreie drangen geradewegs in mein Herz, aber ich stand immer noch da und sagte nichts. In meinem Kopf rasten die Gedanken. Überreagierte ich? War ich zu empfindlich? Zu sensibel? Übertrieb ich? War das normal? Wäre ich eine der Helikoptermütter, wenn ich jetzt etwas sage? Mein Gefühl schrie in voller Lautstärke in mir, dass ich einschreiten und mein Kind beschützen solle: »Jasmin, du übertreibst nicht, das ist nicht richtig. Emil war noch nie so aufgelöst, du kannst das sehr gut einschätzen. Tu etwas, setz eine Grenze! Mach’s für dein Kind!«
Aber ich konnte nicht, ich stand da und sagte nichts. In der Zwischenzeit diskutierte sie weiter, und er rief weiter nach mir. »Emil, alles ist gut, mach das einfach schnell und wir gehen direkt nach Hause. Die anderen müssen das auch alle machen«, versuchte ich ihn zu beruhigen und die Situation zu entschärfen. Für einen kurzen Moment traf mein Blick den der Erzieherin und ich konnte die tiefen Augenringe unter ihrer Schminke erkennen. Ich fragte mich, ob sie das wirklich für richtig hielt oder einfach überlastet war.
Ob ich zu sensibel war oder nicht, ich empfand es als eine pädagogisch nicht überdachte Art, ein Kind dazu zu bewegen, eine Regel umzusetzen. Ich wusste aus meiner ehemaligen Arbeit in der Grundschule, dass man nur mit Ruhe und Empathie weiterkam, sobald man anfing zu schreien, wurden die Kinder eher lauter als leiser. Natürlich musste man sich souverän zeigen und konsequent sein, aber das ging auch in völliger Ruhe, und vor allem hätte ich nie ein Kind am Arm gezogen. Warum sollte die Pädagogik im Kindergarten eine andere sein?
Ich wollte zu Emil, aber sie sagte, ich solle vor der Tür warten. Ich rührte mich nicht von der Stelle. »Emil, ich bin bei dir, ich gehe nicht raus, mach das einfach schnell, alles ist gut. Ich sehe, dass du keine Lust hast und traurig bist, weil du zu mir magst, aber ich bin da«, versicherte ich ihm. Zu ihr konnte ich immer noch nichts sagen. Zu sehr brodelte es in mir. Ich wusste, dass sie überfordert mit der Gruppe war, ständig waren sie unterbesetzt, die Kinder extrem laut. Ich könnte diesen Beruf niemals ausüben, aber ich habe mich auch nicht dafür entschieden. Und Emil war selbst laut ihrer Aussage einer der ruhigeren Jungs. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sich diese Aktion gar nicht gegen ihn, sondern gegen mich richtete.
Immerhin schritten die anderen Kinder nun ein und sagten, dass er gar nicht mit Lego gespielt habe und es unfair sei. Es half nichts. Sie betonte immer wieder, dass sie später nicht die Sachen selbst aufräumen wolle. Verzweifelt warf er schließlich einzelne Lego-Bausteine in die Kiste und rannte dann erneut mit hochrotem Kopf völlig fertig zu mir. Doch auf dem Weg wurde er ein weiteres Mal am Arm festgehalten und zurückgezogen. Die Kiste sei noch nicht voll. Natürlich nicht, es war eine riesige Kiste und das Lego auf dem ganzen Boden verteilt. Emil war inzwischen komplett durch. Ich hatte ihn noch nie so aufgelöst erlebt. Immer wieder rief er nach mir. Er schrie so laut, wie ich es von ihm noch nie gehört habe. Bei uns ist es die meiste Zeit über völlig entspannt. Ich kannte solche Situationen nicht, und es versetzte mich regelrecht in einen Schockzustand, das mitzuerleben.
Nun kamen bereits all seine Freunde zusammen und räumten gemeinsam die Kiste für ihn ein, sodass Emil zu mir rennen und ich ihn trösten konnte. Ich konnte ihnen deutlich ansehen, wie bestürzt sie darüber waren, ihren Freund so zu erleben. In der Zwischenzeit wurden andere Kinder abgeholt, die nichts wegräumen mussten. Es war nicht zu übersehen, dass es sich hierbei um eine Lektion handelte. Und die richtete sich weniger gegen Emil als vielmehr gegen mich und unsere Reisen.
Es war wohl der Versuch, mir deutlich zu machen, dass ein Kind den Kindergarten mit all seinen Regeln benötige. Aber mir zeigte es genau das Gegenteil. Nach Monaten des friedlichen Umgangs miteinander, mit sachlichen Diskussionen, die stets in kürzester Zeit mit Empathie und Geduld zu einer Lösung geführt hatten, mit Regeln, die Emil ohne Widerwort umgesetzt hatte, wusste ich, das hier hatte nichts mehr mit meinen Werten zu tun. Und es hatte auch nichts damit zu tun, dass er zu viel Zeit nur mit mir verbringen würde, schließlich wurde mir von allen Seiten immer gesagt, wie wohlerzogen er doch sei und wie offen und rücksichtsvoll er mit anderen umgehe.
Endlich erwachte ich aus meiner Starre, machte meinen Mund auf und erklärte, dass Emil müde sei, es gestern ein sehr langer Tag gewesen sei und wir jetzt gehen würden. Die Erzieherin nickte und betonte noch einmal die Wichtigkeit von Regeln für Kinder. Ich ließ die Aussage stehen und ging.
Draußen angekommen, als das Adrenalin langsam von mir wich und sich mein Puls beruhigte, setzte ich mich mit Emil auf den Gehweg und tröstete und kuschelte ihn eine gefühlte Ewigkeit neben der stark befahrenen Hauptstraße in Offenbachs Innenstadt. Auf dem Boden sitzend, fühlte ich mich zurückversetzt in die Zeit unserer Fahrradtour. Auch wenn man sich in der Stadt nicht einfach so auf den Boden setzt, war mir in dem Moment alles egal. Jetzt gab es nur uns.
Mit etwas Abstand zur Situation hatte ich bald keinen Zweifel mehr daran, dass es nicht in Ordnung gewesen war, wie die Erzieherin mit der Situation umging. Ich hätte einschreiten dürfen und sogar müssen. Es wäre nicht übertrieben gewesen, wie mir ein Glaubenssatz seit meiner Kindheit stets in solchen Situationen vermittelte. Als Kind wurden mir häufig die Gefühle abgesprochen oder es wurde über sie gelacht, sodass ich heute bei negativen Gefühlen oft nicht in der Lage bin, mir selbst zu trauen oder anderen Grenzen zu setzen. Auch fühlte ich mich stark verantwortlich, die Gefühle meiner Eltern durch mein eigenes Verhalten zu regulieren, weil ich in jegliche Konflikte zwischen ihnen aktiv eingespannt war. Etwas in mir sieht es bis heute unbewusst als meine Aufgabe an, mich um das Wohlergehen von anderen zu kümmern, wobei ich jede feine Nuance ihrer Stimmung ganz genau wahrnehme und negative Emotionen von anderen kaum ertragen kann. Es liegt wohl noch ein langer Weg vor mir, bis ich dieses Verhalten vollends und in jeder Situation ablegen kann.
Ich entschuldigte mich ausgiebig bei Emil für mein Nichtstun, erzählte ihm von meinem inneren Kampf und wie schwer es mir fällt, in solchen Situationen zu entscheiden, ob mein Gefühl richtig ist. Dann versprach ich ihm, so etwas nie wieder zuzulassen. Mit roten Augen schenkte mir Emil ein Lächeln, nahm meine Entschuldigung an und legte seinen Kopf auf meine Schulter. Und ohne es ihm zu sagen, entschied ich, ihn endgültig abzumelden, egal was alle sagen würden. Der Erziehungsstil des Kindergartens lag einfach zu weit von meinem entfernt und unsere Reisen waren zwar geduldet, aber nicht gern gesehen. Somit stand meine Entscheidung fest, und als seine Mama wusste ich, dass es das Beste für Emil war, ihn vor unserer nächsten Reise ganz aus dem Kindergarten abzumelden.
Eine Unterhaltung reißt mich aus den Gedanken. Die Nachbarn oben sind inzwischen wach geworden. Sie frühstücken. Es ist so hellhörig, dass ich bei ihrem Gespräch zuhören kann. Manchmal fühlt es sich an, als wohne ich in einer riesigen WG, nur dass wir uns im Treppenhaus wieder fremd sind.
Ich schaue aufs Handy. 8:02 Uhr. Mist, denke ich mir, denn ich bin noch nicht ganz fertig. Trotzdem ist jetzt keine Zeit mehr, ich muss Emil dringend wecken, sonst schaffen wir es nicht rechtzeitig zur Kita. Jeden Morgen der gleiche Stress. Daran ändert sich wohl auch am letzten Tag nichts, denke ich und muss schmunzeln. Verschlafen folgt mir Emil in die Küche und ich demonstriere ihm stolz die vielen eingepackten Geschenke für seine Freunde sowie die lustigen Obstspieße. Seine Augen weiten sich, er grinst und ruft: »Mama, du bist die Beste! Den hier schenke ich Keylam.« Er zeigt strahlend auf einen Kritzeldino, an dem ein Foto und ein roter Wasserfarben-Handabdruck von ihm befestigt ist.
Keylam ist sein bester Freund. Mit ihm treffen wir uns seit Jahren regelmäßig und ich habe mich inzwischen auch mit seiner Mutter sehr gut angefreundet. Mit ihnen war es möglich, sich völlig spontan und auch am Wochenende, manchmal auch mit dem Vater gemeinsam zu treffen. Somit kamen über die letzten Jahre zwischen unseren Reisen viele schöne Begegnungen und eine intensive Freundschaft zustande. Wir werden sie wieder sehr vermissen. Aber Emil hat bei den letzten Reisen die Erfahrung machen dürfen, dass Keylam auch nach ein paar Monaten noch sein bester Freund sein wird. Eine Reise kann daran nichts verändern und das ist etwas, das ihm viel Sicherheit gibt.
Als wir schließlich fertig sind, rennen wir hastig zur Tür hinaus, die zwei Stockwerke hinunter, raus in den Hof und dann die Straße hoch. Ich mit großen Schritten, Emil mit seinen kurzen Beinen nebenher rennend. Ich habe zwei Teller mit Obstspießen auf dem Arm, die Tüte mit Geschenken am Arm baumelnd, auf dem Rücken den Rucksack mit Laptop für die Arbeit. Ein typisches Bild einer Mutter eben.
Ungeduldig warten wir wie jeden Morgen an der Ampel. Die Ampelphase scheint am Morgen grundsätzlich immer doppelt so lang wie am Nachmittag zu sein, da bin ich mir sicher. Die ersten Blätter zieren die Bäume, Osterglocken sprießen am Straßenrand in die Höhe. Der Frühling ist da. Endlich hat der Winter ein Ende, ich kann es kaum erwarten, auf unsere große Reise aufzubrechen. Die Ampel schaltet auf Grün. In Eile rennen wir über die Straße und dann rüber zum Kindergarten. Wir wohnen nur ein paar Hundert Meter entfernt. Wenn die Ampel gut funktioniert, schaffen wir es sogar in drei Minuten. Trotzdem kamen wir häufiger rennend als laufend an. Ich habe keinen Schimmer, was da bei mir verkehrt läuft, aber seit ich Mutter bin, ist Pünktlichkeit ein Fremdwort für mich. Als wir endlich die Kindergartentür erblicken, kommt wie jeden Morgen Martina mit ihrer Tochter Annabelle gestresst im Lastenrad angerast und wir müssen wie immer lachen, als wir uns entdecken. Wir sind nicht allein in unserem Chaos. Manche werde ich hier doch vermissen, denke ich.
Die Erzieherin hatte sich nach dem Lego-Vorfall letztes Jahr bei uns beiden aufrichtig entschuldigt, nachdem ich ein Gespräch mit der Leitung gesucht hatte. Seitdem hat sich unsere Beziehung komplett gewandelt, und sie war stets sehr bemüht, sodass Emil sie wieder in sein Herz geschlossen hat. Auch mir hat sie letzte Woche versichert, dass wir das Richtige machen würden. Sie hatte unsere letzten Reisen online mitverfolgt und meinte, sie sei sich sicher, dass es für Emils Entwicklung absolut positiv sei und die Erfahrungen und das Wissen kein Kindergarten der Welt bieten könne. Als ich diese Worte von ihr hörte, staunte ich zunächst sehr, doch als sie weitersprach, kam die Klarheit. Sie selbst sei im Dauerstress, gefühlt kurz vorm Burn-out und ihr großer Wunsch sei es stets gewesen, in den Süden auszuwandern.
Auch wenn sich dieser Vorfall klären lassen konnte, bin ich absolut erleichtert, dass es vorbei ist. Ich bin stolz, endlich diesen Schritt zu gehen. Einen Schritt weiter in die Richtung, in die mein Herz mich lenkt. Einmal mehr mache ich mich frei von den Gedanken der anderen und folge einzig meiner inneren Stimme. Wenn ich mich doch nur auch endlich trauen würde, die Wohnung zu kündigen und wirklich vollkommen in ein neues Leben mit Emil zu starten. Wenn ich doch endlich den vollen Absprung wagen würde und all die Ängste ablegen könnte. Aber jetzt wartet erst einmal unsere Fahrradtour ans Nordkap. Ein letztes Mal drücke ich nervös den Klingelknopf vom Kindergarten. Die Tür öffnet sich und damit schließt ein weiteres Kapitel unseres Lebens. Zeit für einen Neubeginn.
April 2023, Mühlheim am Main
Aller Anfang ist schwer
Müde schleppe ich mich zur Garage. Ich habe gestern bis spät in die Nacht hier noch am Fahrrad geschraubt. Man sollte meinen, dass ich nach drei großen Touren mittlerweile routiniert sein müsste, aber jedes Mal kommen neue Herausforderungen hinzu. In diesem Fall ein Tandem aus Fahrrad plus hinten angehängtes Kinderfahrrad, dazu ein Kindersitz und zwölf Taschen voll Kleidung und Equipment für 0 bis 30 Grad. Bisher waren wir nur im Warmen unterwegs, diese Reise ist etwas Neues und die anspruchsvollste und längste, die wir je gemacht haben. Ich habe die letzten Monate so viel vorbereiten müssen, dass ich mich inzwischen vollkommen ausgelaugt fühle und eigentlich dringend Urlaub benötige. Beste Voraussetzungen für unser Abenteuer! Aber ich weiß, dass sich das schon legen wird, sobald wir erst einmal losgefahren sind.
Die Tandemstange benutzen wir zum ersten Mal, sonst saß Emil immer im Anhänger, und es war eine Tortur, die richtige Halterung für mein Gravelbike zu finden. Noch schwieriger war allerdings, den Kindersitz neben den Satteltaschen zu montieren. Ich bin fast wahnsinnig geworden. Letztendlich kann ich nicht einschätzen, ob wir ihn benötigen werden, denn jedes Jahr ist Emil gefühlt ein neues Kind. Wird er überhaupt so lange auf dem Fahrrad sitzen können? Wird er im Kindersitz richtig schlafen, so wie sonst im Anhänger? Wird er den Regen ertragen, er ist schließlich nicht mehr vor ihm geschützt? Das sind alles Fragen, auf die ich noch keine Antworten habe. Wir werden es auf dem Weg herausfinden müssen.
Als ich mich endlich von meiner Oma verabschiede, wir zum ersten Mal aufs Fahrrad steigen und die Tulpenstraße hinunterfahren, merke ich umgehend, dass diese Reise nicht funktionieren wird. Mit voller Kraft umklammere ich den Lenker und versuche ihn unter größter Anstrengung gerade zu halten, aber es geht nicht. In riesigen Schlangenlinien fahren wir die Straße entlang, während Emil hinten lachend schreit. Eine Nachbarin schaut unserem Treiben zu und bricht ebenfalls in Gelächter aus. Ich kann es ihr nicht verübeln. Plötzlich steuern wir geradewegs auf ein parkendes Auto zu, und ich springe gerade noch rechtzeitig mit den Beinen ab, bevor wir mitten in das Auto hereingekracht wären. Erleichtert atme ich aus. Das war mehr als knapp. Meine Arme zittern.
»Mama, was machst du denn da?«, lacht Emil von hinten. »Kannst du nicht mehr Fahrrad fahren?«
»Nein, ich kann es wirklich nicht. Das Fahrrad ist jetzt so lang. Der Anhänger stand auf zwei Reifen, jetzt aber muss ich dich auf deinem Fahrrad mitbalancieren, und irgendwie hat das zwar ohne Taschen gut funktioniert, aber mit all unserem Gepäck bekomme ich es nicht hin«, erkläre ich Emil und schaue mich um, ob uns immer noch jemand beobachtet. Aber es ist niemand zu sehen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Emil besorgt.
»Ich weiß es nicht. Ich versuche, irgendwie runter zum Main zu kommen, da sind wenigstens keine Autos mehr, und ich hoffe, dass ich es dort mit etwas Übung besser hinbekomme.«
Erneut setze ich meinen Fuß auf das Pedal und stoße mich kräftig ab. Wieder fahren wir in riesigen Schlangenlinien die Straße entlang. Wie soll das nur funktionieren? Und dann startet diese Reise auch noch so anspruchsvoll wie noch nie. Wir haben gleich 2000 Höhenmeter auf den ersten 200 Kilometern zu bezwingen. Noch dazu saß ich Monate nicht mehr im Sattel, meine Kondition ist gänzlich verschwunden. Emil will nicht mehr im Anhänger sitzen, bereits auf der Fahrt nach Istanbul fuhr er täglich bis zu 30 Kilometer selbst mit. Er will inzwischen aktiv mitmachen. Es gibt keine andere Lösung, irgendwie muss es funktionieren. Diese Reise soll nämlich eine besondere werden. Wir fahren nicht nur unsere längste Strecke und zum ersten Mal im kühlen Norden, wir wollen dabei auch Spenden für den Kinder- und Jugendhospizverein, bei dem ich einst als Ehrenamtliche anfing, sammeln. Als ich Emil zeigte, wie weit hoch in den Norden wir fahren würden, rief er begeistert: »Juhu, wir fahren an den Nordpol zum Weihnachtsmann!« Und seitdem erzählt er jedem von unserer Reise zum Nordpol.
Als wir es nach langer anstrengender Fahrt endlich zum Main schaffen, fängt es an zu regnen. Nicht nur ein paar Tropfen, nein, der gesamte Himmel ergießt sich über uns. Als würde er zum Ausdruck bringen wollen, wie lächerlich unsere Idee ist. Aber wir kehren nicht um, auch wenn der Regen nicht mehr aufhört. Nach 30 Kilometern gibt mir das Leben ein weiteres Zeichen. Wir haben einen Platten. Am ersten Tag. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass wir das noch nie erlebt haben, tatsächlich ist uns das bei unserer ersten großen Reise mit dem Fahrrad auch schon passiert. Nur mit dem Unterschied, dass ich inzwischen problemlos den Reifen flicken kann. Also lade ich bei Starkregen den gesamten Zug und all unsere zwölf Taschen wieder ab, hänge das Fahrrad aus der Tandemkupplung und krame mein Flickzeug hervor. Ein Mann bleibt stehen und hilft. Immerhin ein Lichtblick. Dann geht es weiter. So ein beschissener Start. Nach 38 Kilometern treffen wir noch einmal meinen Vater in einem Café.
»Papa, ich schaff das nicht«, rufe ich in meiner Verzweiflung schon bei der Begrüßung draußen. »Dieses Tandem ist so scheiße! Ich kann kaum fahren.«
Verwirrt schiebt er mich zur Seite, nimmt mir den Lenker ab, setzt ein Bein über die Stange und stößt sich vom Boden ab. Doch anstatt zu fahren, fällt er sogleich zur Seite.
»Du bist doch verrückt!«, ruft er und schüttelt den Kopf. Dann versucht er es ein weiteres Mal, doch er kippt gleich wieder um. »Wie seid ihr denn hierhergekommen? Ich wusste gar nicht, dass ich Goliath als Tochter habe«, sagte er weiterhin kopfschüttelnd und versucht es wieder. Emil prustet laut los, und ich mache mir fast in die Hose vor Lachen, weil es zu komisch aussieht, wie mein sportlicher Papa es nicht schafft, mit dem Fahrrad loszukommen. Schließlich schiebt er es an die Hauswand vom Café und sagt: »Du musst das umpacken. Der Lenker hat viel zu viel Gewicht. Du musst die schweren Sachen hinten beim Sattel haben, dann wird das viel einfacher.«
»Okay. Das werde ich probieren.« Zumindest schimmert da eine neue Chance, dass unsere Reise doch noch stattfinden wird.
Als ich abends um halb zehn endlich völlig durchnässt nach sechs Stunden Dauerregen, einem Platten und einer Irrfahrt, weil ich beim Regen das Navi nicht mehr erkennen konnte, beim Haus meiner Freundin Johanna ankomme, spüre ich jeden Muskel in meinem Körper. Völlig erledigt fallen wir umgehend ins Bett.
Am nächsten Morgen stehe ich mit höllisch schmerzenden Armen auf und stelle umgehend die Waage mitten ins Wohnzimmer. Johanna selbst ist im Urlaub, hat mir aber den Schlüssel rausgelegt, und so haben wir alle Zeit der Welt, unseren Zug zu optimieren. Am liebsten würde ich einfach hier bei ihr bleiben und das Abenteuer absagen. Aber Emil freut sich viel zu sehr auf den Weihnachtsmann und ich muss es zumindest mit leichterem Lenker probiert haben. Also stelle ich die zwölf Taschen eine nach der anderen auf die Waage und versuche, die Gewichtsverteilung zu optimieren. 20 Kilogramm hingen gestern allein an meinem Lenker. Kein Wunder, dass meine Unterarme und Schultern solch einen Muskelkater haben. 83 Kilogramm wiegt alles zusammen. 83 Kilogramm ist also das Gewicht, das meine Arme schieben mussten, wenn es bergauf ging. Genau wie in den letzten Jahren. Zwar fällt dieses Jahr das Gewicht des Anhängers weg, aber die Tandemstange wiegt auch nicht gerade wenig, und dann mussten wir unsere gesamte Ausrüstung einmal in wärmerer, und somit schwererer, Ausführung neu kaufen. Aber wenn ich 80 Kilogramm ins Allgäu, nach Südspanien und nach Istanbul fahren konnte, dann werden wir auch irgendwie nach Norwegen kommen.
Nach langem Probieren schaffe ich es schließlich, das Gewicht am Lenker auf siebeneinhalb Kilogramm runterzuschrauben. Und mit den siebeneinhalb Kilo am Lenker ist das Fahrgefühl am zweiten Tag bereits um Welten besser. Zwar haben wir wieder 500 Höhenmeter vor uns und mit langen steilen Passagen zu kämpfen, aber es fühlt sich endlich wieder nach Fahrradfahren an. Schwer, aber nicht unmöglich. Zumindest in den Norden Deutschlands werden wir es mit viel Ehrgeiz schaffen können. Da bin ich mir nun sicher. Die Sonne scheint, und auch wenn ein weiterer platter Reifen auf uns wartet, fahren wir an diesem Tag singend und hoch motiviert die Feldwege entlang. Lena, eine Followerin auf Instagram, hat uns in ihr Familienhotel in Fulda eingeladen, und so verbringen wir einen wunderschönen Abend gemeinsam mit ihr und ihrem Partner. Instagram zeigt sich gerade von seiner besten Seite. Stündlich bekomme ich neue Einladungen von großartigen Menschen. Zwar wird uns Deutschen nicht gerade die gastfreundliche Ader nachgesagt, aber ich konnte bisher immer Gegenteiliges auf unseren Reisen erfahren. Ich glaube, wir sind ein bisschen zurückhaltender und sprechen Fremde nicht auf der Straße an, aber wenn wir unsere Scheu überwinden oder gefragt werden, dann helfen wir doch sehr gern.
Am nächsten Morgen wartet bereits mein ehemaliger Lauf- und Spinningtrainer Harald mit seinem Rennrad auf uns. Mit ihm an unserer Seite fällt es uns wesentlich leichter, die 500 Höhenmeter zu bewerkstelligen. Emil und ich haben beide großen Ehrgeiz und Harald kitzelt ihn als Trainer natürlich zu gern aus uns raus. Außerdem erklärt er Emil noch einmal ganz genau seine neue Gangschaltung, sodass er mir beim Bergauffahren von nun an wirklich eine Hilfe ist. Überhaupt ist es erstaunlich, wie viel Energie Emil hat. Bisher hat er nicht ein einziges Mal im Kindersitz gesessen und tritt konstant mit. Mal sehen, wie lange das so bleibt.
Bevor Harald wieder umkehren muss, möchte auch er unbedingt unseren Fahrradzug testen. Motiviert stößt er sich vom Boden ab, fährt ein paar Schlangenlinien den Feldweg entlang und fällt dann mit dem gesamten Zug zur Seite um.
»Alles gut?«, rufe ich besorgt, doch sowohl Harald als auch Emil können sich auf dem Boden liegend vor Lachen kaum noch einkriegen. Nach einem weiteren Versuch klappt es dann doch und die beiden fahren durch das gelbe Blumenmeer davon.
Abends schlafen Emil und ich auf dem verlassenen Campingplatz eines Rudervereins. Wir sind vollkommen allein, nur ein paar laut grölende, allem Anschein nach betrunkene Jugendliche laufen an dem Platz vorbei. Besorgt schicke ich meiner besten Freundin Sandra unseren Standort und ärgere mich, dass wir hier auf den Platz gekommen sind und nicht gleich wild irgendwo schlafen. Da wären wir wahrscheinlich versteckter und letztendlich sicherer als hier mit den Betrunkenen um uns herum. Aber wild zelten traue ich mich einfach nicht. Das haben wir noch nie so richtig gemacht. Es waren immer andere Menschen in der Nähe oder es war ein offiziell ausgeschriebener Platz. Ich bin gespannt, ob ich das im Norden schaffe. Geplant ist es jedenfalls, Norwegen ist bekannt für seine traumhafte Natur, und ich würde es mir so sehr wünschen, mit Emil an den atemberaubenden Stränden zu zelten. Wenn ich es allerdings nicht einmal hier auf dem offiziellen Platz des Rudervereins schaffe, wie soll das dann in Norwegen etwas werden?
Am nächsten Tag stehen uns wieder neue Herausforderungen bevor. Die 13-Prozent-Steigung lassen wir schnell hinter uns. Schieben funktioniert so weit ganz gut, auch wenn es natürlich anstrengend ist. Doch nun befinden wir uns in Wolfsgebiet. Ich habe mir gestern Nacht im Zelt noch Dutzende YouTube-Videos über Wölfe in Deutschland und ihre Begegnungen mit Menschen angeschaut. Meine Angst konnte dadurch nicht besänftigt werden. Im Gegenteil. Jetzt weiß ich, dass Wolfsbegegnungen rund um Waldkappel tatsächlich realistisch sind. Erst vor Kurzem ist ein ganzes Rudel nachts in einen Kindergartenaußenbereich eingebrochen. Mein Herz schlägt schneller, wenn ich nur an die Szenen des Videos denke. Um mich gewappnet zu fühlen, trage ich mein riesiges Bärenspray heute direkt vorn in meiner Lenkertasche. Es schützt mich laut Hersteller vor einem Bär oder einem Rudel Wölfe. Ob ich es im Notfall, wenn die knurrenden, zähnefletschenden Vierbeiner vor mir stehen, wirklich benutzen kann, wage ich zu bezweifeln. Wenn es um Tiere geht, bin ich der größte Angsthase. Schon letztes Jahr auf dem Weg nach Istanbul waren die Straßenhunde ein leidiges Thema. Beinahe täglich wurden wir von ihnen attackiert und dann meist für mehrere Hundert Meter laut bellend und knurrend begleitet. Es war ein Albtraum, an den ich mich bis zuletzt nicht gewöhnen konnte. Während Emil damals noch geschützt im Anhänger saß, ist er nun wie ich draußen mit den Tieren konfrontiert. Es schnürt mir die Luft ab, wenn ich daran denke, dass ihm etwas passieren könnte. Aber irgendwie leben die Einwohner hier ja auch ihr normales Leben. Sie gehen bestimmt auch mit ihren Kindern Fahrrad fahren und mit ihren Hunden spazieren. Ich darf mich einfach nicht so reinsteigern. Aber das ist leichter gesagt als getan.
Als wir an der Ampel stehen, spricht uns eine rothaarige Frau an. »Was habt ihr denn mit all dem Gepäck vor?«, fragt sie mich entsetzt.
»Wir fahren zum Nordpol«, ruft Emil fröhlich. Die Frau schmunzelt und schaut mich weiterhin fragend an, als sei diese Antwort offensichtlich ein Scherz.
»Wir fahren zum Nordkap in Norwegen«, antworte ich ihr freundlich und lächle ihr zu. Irritiert schaut sie auf mich, dann zu Emil und mustert dann kopfschüttelnd unseren Zug, bevor sie, ohne ein weiteres Wort zu sagen, davonläuft.
»Die war aber nicht nett!«, sagt Emil empört.
»Ja, am besten sagen wir lieber nicht mehr, wohin wir fahren.Viele Menschen haben dafür kein Verständnis. Lass uns lieber sagen, dass wir nach Hamburg fahren«, schlage ich Emil vor.
»Nö, mir egal. Ich sag, wir fahren zum Nordpol!«, sagt Emil bestimmt.
Da uns in letzter Sekunde heute der Schlafplatz bei einer Followerin abgesagt wurde, weil ihre Tochter erkrankt ist, hat uns Lena, bei der wir am zweiten Tag im Hotel schliefen, eine günstige Unterkunft rausgesucht. Wir waren schon recht verzweifelt, weil ich nichts finden konnte, man uns auf keinem Hof zelten lassen wollte, ich aber auch unter keinen Umständen wild im Wolfsgebiet schlafen wollte. Mir wurde bewusst, dass ich immer einen Plan B parat haben und besser planen muss. Erleichtert und erschöpft fahren wir schließlich auf den von Lena herausgesuchten Bauernhof. Doch als wir ankommen, wird uns von einer älteren Frau sogleich grummelig mitgeteilt, dass wir morgen kein Frühstück haben könnten und der nächste Supermarkt 20 Kilometer entfernt sei. Das Frühstück reiche für uns nicht aus. Welch freundlicher Empfang.
»In der Türkei haben uns immer alle Essen gegeben«, sagt Emil, als wir am nächsten Morgen hungrig an den Menschen beim Frühstück vorbei zu unserem Fahrrad laufen.
»Ja, da hätten sie wahrscheinlich noch den Großonkel drei Dörfer weiter angerufen, damit er was besorgt. In Deutschland geht es häufig um Regeln und Ordnung. Wir haben viel zu spät das Zimmer gebucht, das war unser Fehler, also bemüht sich auch niemand, uns ein Frühstück zu besorgen. Da geht es auch viel ums Prinzip, das konnte man deutlich raushören«, erkläre ich Emil. »Aber egal, wir können daraus lernen, dass wir anderen Menschen immer helfen werden, auch ganz ohne Gegenleistung. Du musst an all die Menschen denken, die selbstlos und hilfsbereit sind. Die nehmen wir uns als Vorbild. Wenn wir uns die Welt so wünschen, müssen wir selbst so werden. So wie Lena zum Beispiel. Hab ein bisschen Geduld, bald sind wir in einer anderen Gegend, wo wir auch unabhängig von Instagram wieder liebe Menschen treffen.«
Mit den offeneren Menschen soll ich recht behalten. Sobald die Berge schwinden und wir im flachen Göttingen ankommen, sind plötzlich alle um uns herum wieder freundlich, lächeln uns zu, grüßen auf den Radwegen und bieten uns Hilfe an, wenn wir auch nur kurz zum Trinken stehen bleiben. So einen Unterschied habe ich bisher noch auf keiner Reise bemerkt. Vielleicht liegt es an unserer erschöpften Ausstrahlung in der hügeligen Landschaft, vielleicht sind wir nicht an die ruppige Art der Menschen in den Bergen Hessens gewöhnt und sie meinen das alles gar nicht böse. Vielleicht passen wir mit unserer Lebensart aber auch nicht in die Gegend, oder wir hatten einfach Pech mit den Menschen, auf die wir trafen. Man soll schließlich nie verallgemeinern. Mein Gefühl sagt mir, dass es eine Mischung aus allem ist. Trotzdem macht es mich nachdenklich. Ich habe in den letzten Jahren häufig die Erfahrung gemacht, dass in den Städten Toleranz und Inklusion mehr Raum bekommt als auf dem Land. Dabei würde ich nur zu gern mitten in der Natur wohnen, befürchte aber, dass mir dort die Vielfalt fehlen könnte.
In Göttingen werden wir von einer alleinerziehenden Followerin, Mareike, eingeladen. Ihr Sohn heißt ebenfalls Emil und ist nur ein paar Monate jünger als mein Emil. Bei ihnen fühlt es sich umgehend an, als seien wir zu Besuch bei guten Freunden. Es tut gut, sich mit Mareike über das Alleinerziehendsein auszutauschen. Auch sie fühlt sich in ihrer Wohnung oft einsam und sucht nach einem Wohnprojekt für die beiden. Ich scheine mit dem Gefühl also nicht allein zu sein. Wir bleiben gleich zwei Tage bei ihnen. Die beiden Emils spielen ausgelassen, Mareike und ich quatschen, lachen und werden in nur zwei Tagen so vertraut, dass ich am liebsten gar nicht mehr weiterfahren würde.
April 2023, Hannover
Wie wohnt Deutschland?
Voller Kraft schiebe ich unseren vollgepackten Fahrradzug in Richtung Gartentor. Die beiden Männer machen sich ans Werkeln vor der Gartenhütte. Einer baut ein Boot, der andere eine Art Lastenrad. Emil ist hoch motiviert, seinem neuen älteren Freund Bolle zu zeigen, wie er auf seinem neuen roten Fahrrad losfährt, und schiebt stolz hinter mir seinen Teil unseres Tandems mit.
»Wow, das ist ja wie ein Zug!«, ruft Bolle begeistert und hält uns das Gartentor auf. Was für ein besonderer Junge er ist. Hier kann Emil sehen, dass Jungs alles tragen können, wozu sie Lust haben. Wo Emil früher noch selbstbewusst an manchen Tagen mit Kleid über der Hose in den Kindergarten ging, ist er jetzt sehr darauf bedacht, bloß nichts Mädchenhaftes an sich zu haben. Pink und Rosa? Hasst er. Einhörner? Nur was für Mädchen! Stark will er sein. Ein normaler Entwicklungsschritt für Kinder, dass sie verstehen, dass es verschiedene biologische Geschlechter gibt und sich die Menschen entsprechend den Geschlechtervorstellungen der Gesellschaft verhalten. Und trotzdem versuche ich ihm klarzumachen, dass es keine »Mädchenfarben« gibt und dass sowohl Mädchen als auch Jungs stark und schwach sein dürfen. Bolle scheint völlig egal, was irgendjemand von ihm hält.
»Mama, ich will auch mal so lange Haare haben wie Bolle«, verriet mir Emil dann gestern Abend beim Einschlafen in unserer gemütlichen Höhle in der Dachnische, und ich musste grinsen. Mich faszinierten viel weniger Bolles Haare als vielmehr die Art, wie er mit anderen umging. Er war sehr hilfsbereit, geduldig und empathisch. Er war den ganzen gestrigen Abend bemüht, dass es Emil gut ging, der anfangs noch ziemlich eingeschüchtert bei all den neuen Menschen in dem ihm fremden Haus war. Beim Abendessen traute er sich kaum, den anderen in die Augen zu blicken. Am liebsten hätte er sich in mein T-Shirt verkrochen. Voller Empathie erzählte Bolle Emil dann von all den Malen, als er auch schüchtern war, und versicherte Emil, dass er sich dafür nicht schlecht fühlen müsse. Dann fragte er ihn, was er am liebsten spielen würde, und richtete sich vollkommen nach Emils Wünschen, sodass Emil nach und nach Vertrauen gewann und aus sich rauskam. Sehr ungewöhnlich für ein Kind, so einfühlsam mit anderen Kindern umzugehen, dachte ich mir. Emil braucht auf Reisen immer ein paar Wochen Zeit, bis er wieder offen auf alle zugehen kann. Kaum zu glauben, dass dieser schüchterne Junge der gleiche ist, der vor ein paar Monaten in Istanbul noch selbstbewusst alle Welt anquatschte. So schnell er sich ans Reisen anpasste, so schnell passte er sich auch an die Welt zu Hause an.
Acht Menschen unterschiedlichen Alters wohnen gemeinsam in dem wunderschönen renovierten Landhaus, in dem wir gestern übernachten durften. Eine davon ist eine Followerin auf Instagram, die mich mit Emil zu ihrer Familie eingeladen hatte. In dem Haus gibt es drei verschiedene abschließbare Wohnungen und dazu teilen sich alle ein gigantisches Wohn-Esszimmer, eine Küche und einen wunderschönen großen Garten, wo sie morgens gemeinsam frühstücken.
»Würde ich auch so leben wollen?«, frage ich mich, als ich aufs Fahrrad steige und zurück zu dem Landhaus schaue. Seit langer Zeit überlege ich mir, wie ich in Zukunft mit Emil am liebsten leben möchte. Es ist die Frage, die mich am meisten umtreibt. Bevor Emil auf die Welt kam, hatte ich ein paar Jahre in Portugal gelebt, wo ich Emils Papa kennengelernt hatte. Nachdem ich mich aus der ungesunden Beziehung, die von Gewalt beherrscht war, befreit hatte, war ich froh und dankbar, eine Wohnung in Deutschland für mich und meinen Sohn gefunden zu haben. Einen sicheren Hafen, aus dem uns niemand rausschmeißen konnte. Zwar klein und ohne Wohnzimmer, aber dafür voll Ruhe und Gemütlichkeit. Ich hatte das Beste aus unserer Zweizimmerwohnung in Offenbachs Innenstadt herausgeholt und fühlte mich richtig zu Hause. Doch mittlerweile frage ich mich immer häufiger, ob es nicht an der Zeit ist, weiterzuziehen.
Für mich als Selbstständige sind die einzigen Gespräche des Tages meist ein »Hallo« und »Tschüss« morgens und mittags im Kindergarten sowie ein »Danke schön, schönen Tag noch« im Supermarkt. Trotz vieler Freunde und Familie, die in der Umgebung wohnen, fühle ich mich zunehmend einsam in unserer Wohnung. In der Stadt ist vieles anonym und unsere Freunde und auch die Familie sind sehr beschäftigt und können sich nur mit Termin verabreden. Die meiste Zeit verbringen Emil und ich daher zu zweit. Ganz anders als auf unseren Reisen, wo wir beide ständig in Kontakt zu anderen stehen. Als gesellige Menschen lieben wir das sehr und gerade deshalb begeistert mich dieses Wohnprojekt. Ein riesiges Haus mit Garten und großen Gemeinschaftsräumen, in dem man aber trotzdem eine eigene abschließbare, voll ausgestattete Wohnung haben kann.
Die Reise hat sich schon allein für diese Erkenntnis gelohnt, denke ich und steige mit einem Bein auf das wackelige Fahrrad. Ein paar kräftige Abstoßer und wir fahren los.
»Tschüüüüsss! Tausend Dank! Es war so schön bei euch. Bis bald!«, rufe ich lachend und winke den beiden Männern und Bolle zu.
»Kommt uns mal wieder besuchen und viel Spaß beim Weihnachtsmann!«, ruft Bolle lachend vom grünen Gartentor zurück.
»Das war toll, Mama«, sagt Emil, als wir auf der Straße davonfahren. Wie recht er hat.
Inzwischen habe ich mich schon gut an das Fahrradfahren gewöhnt und muss lachen, wenn ich an unsere Abfahrt denke. Zwei Wochen sind wir nun schon unterwegs und es fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Als wir am ersten Tag von meiner Oma losfuhren, war ich sicher, dass ich keine Woche durchstehen würde.
Unser heutiges Ziel ist eine Kommune, in der 19 Menschen zusammenwohnen. Ich kann mir das Ganze absolut nicht vorstellen, bin aber sehr gespannt darauf. Wir fahren aus der Stadt, ein hübscher Fahrradweg führt uns direkt neben einer Landstraße durch einen grünen Wald hindurch. Ein Auto nach dem anderen rast laut an unserer Linken vorbei. Die Bäume spenden uns Schatten, aber es ist momentan gar nicht nötig. Es ist warm, aber nicht mehr heiß, und es ist weit und breit keine Regenwolke in Sicht, auch wenn sich das im April natürlich jede Sekunde verändern könnte. Ein Vogel fliegt neben uns von einem Ast zum nächsten, als würde er uns begleiten wollen. Es ist herrlich. So könnte es ewig weitergehen. Welche Wohltat nach den letzten hügeligen Wochen.
Konzentrationslager Bergen-Belsen, lese ich plötzlich auf einem Schild am Straßenrand. Umgehend stellen sich meine Haare auf und ein kalter Schauer durchfährt meinen Körper. Hier befindet sich das Grab von Anne Frank. Eines der schlimmsten Konzentrationslager, wenn ich es anhand der Todesopfer messe. Hier inmitten dieses Waldes, der eben noch so friedlich wirkte. Mir wird übel, wenn ich daran denke, dass diese Bäume zu meinen Seiten diese Schreckenstaten bereits miterlebt haben und vielleicht sogar mit der Asche der Opfer umhüllt waren. Auch damals muss hier draußen im Wald alles so friedlich wie heute gewirkt haben. Wie absurd unsere Welt doch ist.
Ich beschließe abzubiegen, fahre über den großen Parkplatz, schließe das Fahrrad ab und erkläre Emil, dass wir nun auf einen riesigen Friedhof gehen werden.
»Warum? Wir gehen doch sonst nur zu deiner Mama auf den Friedhof«, fragt Emil verblüfft, während er mit mir mitläuft. Ich überlege, ob ich ihm etwas erklären soll, er ist erst viereinhalb Jahre alt. Versteht er das und gibt es überhaupt eine kindgerechte Erklärung für den schrecklichen Horror? Ich will nichts falsch machen, denn das kann ich nicht mehr ungeschehen machen. Also überlege ich lange und antworte dann schließlich: »Weißt du, Emil, es gab eine Zeit, da gab es uns noch gar nicht, aber die Oma war da schon auf der Welt. Sie war noch ein kleines Kind, so wie du jetzt. Damals gab es viele Menschen in Deutschland, die eine große Gruppe Menschen nicht leiden konnte.«
»Und warum? Was haben die gemacht?«, fragt Emil in seiner kindlichen Unschuld.
»Das kann ich dir auch nicht so ganz erklären. Die Gruppe hatte eine Religion, weißt du, was das ist?«
Emil nickt: »Ja, so wie der Emir im Kindergarten, der ist ein Moslem. Die gehen in die Moscheen, so wie in der Türkei, wo die immer so laut gesungen haben.«
»Genau«, antworte ich, »und so gibt es noch ganz viele andere Religionen. In Deutschland gehören die meisten dem Christentum an, so wie deine Freundin Ilvie, als sie dir erzählte, wie Gott die Erde erschaffen hat.«
Emil nickt und hört gespannt zu. »Und so gibt es eben auch das Judentum, und ihm gehören jüdische Menschen an. Und viele Deutsche mochten damals jüdische Menschen nicht. Sie waren neidisch, dachten, sie würden ihnen alles wegnehmen, und glaubten, dass jüdische Menschen an allem schuld seien. Warum, kann ich dir nicht genau sagen, aber deshalb haben die Nazis, die damals in Deutschland an der Macht waren, jüdische Menschen aus den Städten vertrieben.«
»Was für blöde Idioten die Nazis sind«, regt sich Emil laut auf. »Ich mach die auch alle weg! Gibt es die Nazis noch?«
»Ja, leider schon. Auch heute leben noch jüdische Menschen und auch viele andere Menschen in Angst. Sie wollen unter anderem, dass alle, die in ihren Augen nicht komplett deutsch sind, wieder in ihr Land zurückkehren. Also zum Beispiel, wenn die Eltern aus einem anderen Land kommen, aber schon länger hier leben und ihre Kinder somit deutsch sind, oder selbst wenn es in ihrer ursprünglichen Heimat keine Jobs und keine Zukunft für sie gibt, ja selbst wenn dort Krieg herrscht. Das ist wirklich sehr gemein. Dann müssten fast all unsere Freunde weg. Rachel, Maria, Sandra, Yasmin, Anastasia, Roksana, Mario und so viele andere. Deren Eltern kamen zum Beispiel aus Italien, Spanien, Griechenland, Polen, Afghanistan, Russland, Iran, Jugoslawien. Yasmin ist zum Beispiel Muslimin und hat vor den Nazis auch Angst. Aber wir haben zum Glück viel mehr gute Menschen in Deutschland, die das nicht möchten. Die Mehrheit aller Menschen auf der Welt ist lieb. So wie alle Menschen, die wir immer getroffen haben.«
»Wieso sind die Nazis so gemein?«, fragt Emil.
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube, weil sie es nicht besser wissen. Weißt du noch, als wir in der Türkei waren? Da waren fast alle Muslime und sie waren so nett zu uns. Deshalb reise ich so gern mit dir, weil du lernst, dass es überall auf der Welt viele nette Menschen gibt. Hier auf dem Friedhof ist ein Grab von vielen Menschen, die dem Judentum angehörten und deshalb von den Nazis vertrieben wurden. Ich möchte mir das gern anschauen und hier nicht einfach vorbeifahren, als würde es uns nicht interessieren. Einfach aus Respekt vor ihnen, weil wir das blöd finden, was passiert ist. Verstehst du das?«
Emil nickt, und so laufen wir gemeinsam Hand in Hand zu dem Eingangstor, auf dem in Großbuchstaben »Arbeit macht frei« geschrieben steht. Mit mulmigem Gefühl im Magen gehe ich mit Emil durch das Tor.
Ich erzähle ihm nicht, dass sechs Millionen jüdische Menschen während des Krieges getötet wurden. Ich erzähle ihm auch nicht von den Massengräbern. Emil ist bereits entsetzt darüber, dass die Nazis so viele Menschen vertrieben und in ein Konzentrationslager gesperrt haben. Für das gesamte Ausmaß der Scheußlichkeiten ist Emil noch zu jung.