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Sarah Nisi

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Beschreibung

»Ich brauche die Psyche der Figuren, nicht ihr Blut.« Sarah Nisi

Sie wurde getötet. Du hast es gesehen. Doch du kannst dich nicht erinnern ... Emily führt in London seit Monaten das Leben einer Außenseiterin. Sie kann ihren Alltag nicht mehr bewältigen, musste ihr Studium aufgeben. Vor drei Monaten starb ihre Freundin Liv beim Sturz auf die U-Bahn-Gleise. Emily stand neben ihr, doch erinnern kann sie sich nicht. Das Trauma hat eine Amnesie ausgelöst. Während die Polizei von einem Unfall ausgeht, spürt Emily, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. Sie muss einen Weg finden, um ihr Gedächtnis zurückzuholen. Doch warum reagieren alle, mit denen sie darüber spricht, so ausweichend? Und was, wenn etwas ans Licht käme, das sie selbst belasten würde? Emily beginnt nachzuforschen ― ohne zu ahnen, in welcher Gefahr sie bereits schwebt. Ein brillant konstruierter Psychothriller über die Unzuverlässigkeit der Erinnerung und die gefährliche Suche nach der Wahrheit.

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Seitenzahl: 363

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Zum Buch

Emily führt in London seit Monaten das Leben einer Außenseiterin. Sie kann ihren Alltag nicht mehr bewältigen, musste ihr Studium aufgeben. Vor drei Monaten starb ihre Freundin Liv beim Sturz auf die U-Bahn-Gleise. Emily stand neben ihr, doch erinnern kann sie sich nicht. Das Trauma hat eine Amnesie ausgelöst. Während die Polizei von einem Unfall ausgeht, spürt Emily, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. Sie muss einen Weg finden, um ihr Gedächtnis zurückzuholen. Sie spricht mit Mitarbeitern der U-Bahn, sucht Aufzeichnungen der Überwachungskamera, befragt Livs Nachbarn. Warum reagieren alle so ausweichend? Und was, wenn etwas ans Licht käme, das sie selbst belasten würde? Emily beginnt nachzuforschen – ohne zu ahnen, dass sie damit ihr Leben riskiert. Ein brillant konstruierter Psychothriller über die Unzuverlässigkeit der Erinnerung und die gefährliche Suche nach der Wahrheit.

Zur Autorin

Sarah Nisi lebt seit 2012 in London. In Hildesheim geboren, arbeitete die Wirtschaftsjuristin einige Jahre in Düsseldorf, bevor sie für ein Creative-Writing-Studium in die britische Hauptstadt zog. Seitdem widmet die Deutsch-Britin den Großteil ihrer Zeit dem Schreiben. Die besondere Atmosphäre Londons und die gesellschaftlichen Kontraste dieser Stadt sind wichtige Bestandteile ihrer Spannungsromane. Ihr Debüt Ich will dir nah sein wurde zum SPIEGEL-Bestseller und für renommierte Preise wie den Glauser, den Viktor Crime Award sowie den Crime Cologne Award nominiert. Zuletzt erschien von ihr Ich bringe dich zum Schweigen.

Sarah Nisi

Haltlos

Psychothriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Das Zitat stammt mit freundlicher Genehmigung aus: George Saunders, A Swim in a Pond in the Rain. © Bloomsbury Publishing Plc, 2021, S. 281.

Originalausgabe Januar 2025

Vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg

Copyright © 2025 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Semper Smile, Mü[email protected] (Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Covermotiv: © Shutterstock/Tapui, Ensuper

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

MA · Herstellung: han

ISBN 978-3-641-29899-9V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

There is no world save the one we make with our minds,

and the mind’s predisposition determines the type of world we see.

George Saunders,A Swim in a Pond in the Rain

1

Sie stand ganz still. Die Lautsprecherdurchsage in der Station kündigte die nächste U-Bahn der Piccadilly Line an. Die Passagiere auf dem Bahnsteig machten sich bereit, griffen nach ihren Taschen – nur noch wenige Sekunden Wartezeit.

Sie spürte, wie die feinen Härchen auf ihren Armen sich aufrichteten. Das erste Anzeichen, dass ein Zug sich näherte, war nicht die dumpfe Stimme aus dem Lautsprecher oder der Hinweis auf der Anzeigetafel, sondern ein sanfter Luftzug, der durch die Station zog. Ein Hauch, ganz leicht; ein Kitzeln auf der Haut, eine Haarsträhne, die zur Seite wehte. Eine Liebkosung für die Passagiere. Ein falsches Versprechen.

Nur Sekunden später begann die Luft zu wirbeln. Turbulenzen fegten durch die schmale Röhre, über den Bahnsteig. Der Wind riss jetzt mit Gewalt an der Kleidung der Wartenden, Haare flogen in die Luft, während die U-Bahn sich in der Finsternis wie eine angriffslustige Schlange durch den Untergrund wand. Unaufhaltsam raste sie mit maximaler Geschwindigkeit auf die Station zu. Es gab kein Zurück hier unten, nur ein Vorwärts, weiter, immer weiter.

»Please stay behind the yellow line.« Die Stimme aus dem Lautsprecher war unnachgiebig. Sie duldete keinen Widerspruch. Geh nicht zu nah an den Abgrund, bleib hinter der gelben Linie. Ein falscher Schritt, und …

In ein paar Sekunden würde die Piccadilly Line Richtung Heathrow durch den Tunnel geschossen kommen. Lautlos und unsichtbar für die Menschen oben auf der Straße, ohrenbetäubend, brachial und mit zerstörerischer Kraft für die Passagiere unter Tage.

Emilys Blick glitt zu der Kamera unter der Decke. Sie stand immer noch ganz still. Please stay behind the yellow line.

Ein Meter, der zwischen Leben und Tod entscheiden konnte. Zwischen Sicherheit und Zerstörung.

Fünf Sekunden. Sie konnte den Schein der Frontlichter hinter der Kurve auftauchen sehen.

Plötzlich spürte sie die Wärme einer Person in ihrem Rücken. Ganz nah. Zu nah. Ihr Atem stockte.

Vier Sekunden.

Emily fuhr herum. Doch es war zu spät. Sie sah den Arm. Spürte einen Stoß.

Dann war alles schwarz.

Eine Woche zuvor

EMILY

London verschluckte die Menschen. Die Großstadt bot einen Luxus, den man in einer Kleinstadt oder gar auf dem Dorf vergebens suchte: Anonymität.

Das Chaos, die Menschen, die Architektur, der Verkehr – dies alles formte ein riesiges, eigenständiges Konstrukt, ein Universum, eine Welt in der Welt – und jeder, der darin eintauchte, sich treiben ließ, wurde mit einem Schlag Teil dieses Ganzen. Man brauchte nicht einmal viel Energie aufzubringen, um mitzumachen. In dem Moment, in dem man einen Schritt auf den Gehweg setzte, mit der Tube fuhr oder in einer Bar ein Getränk bestellte, gehörte man dazu. Jeder Mensch in dieser Stadt war einer unter neun Millionen, ein Sandkorn am Strand, und nur das eigene Ego gaukelte einem vor, irgendwie wichtig zu sein.

Die Central Line fuhr jetzt durch eine Kurve, bremste ab und beschleunigte kurz darauf erneut. Eine Mischung aus Signalstörungen, Reparaturarbeiten und Teilsperrungen konnte die Fahrtzeit auf einigen Streckenabschnitten unkalkulierbar machen.

Heute lief alles nach Plan, es gab keine Verspätung: Bis St. Paul’s waren es noch zwei Minuten, bis Bank noch vier Minuten und bis zur Liverpool Street Station noch sechs Minuten Fahrzeit.

Emily wusste das alles auswendig, denn diese Dinge gaben ihr Struktur, und Struktur war gut. Das hatte ihr Arzt auch gesagt.

Die Stationen wurden stets in derselben Reihenfolge angefahren, die Entfernungen immer in derselben Zeit zurückgelegt – es sei denn, es kam zu Verzögerungen. Neben defekten Zügen und belegten Gleisen gehörten dazu auch Katastrophen und Unfälle, die man als Unbeteiligter in der Regel mit einem Schulterzucken abtat, weil es das eigene Leben nicht betraf und deren einzige Konsequenz eine Verspätung war in einer Stadt, in der ohnehin jeder ständig zu spät kam.

Katastrophen und Unfälle. Emily musste schlucken. Es gab davon nicht viele Variationen im Londoner Untergrund, der Ausgang war fast immer derselbe: tödlich. Ein menschlicher Körper hatte einem Zug nichts entgegenzusetzen. Die Masse und Energie, die bei einem Zusammenstoß auf einen Menschen traf, war unvorstellbar hoch. Der Aufprall konnte so stark sein, dass dem Opfer dabei die Kleidung vom Leib gerissen wurde.

Im Schnitt gab es im Londoner U-Bahn-Netz dreißig bis vierzig Todesfälle pro Jahr. Zwei bis drei Tote im Monat. Jeden Monat.

Emily lehnte ihren Kopf gegen die Scheibe und versuchte den Gedanken an tote Menschen zu verdrängen. Ihr Blick fiel auf die Handtasche, die zwischen ihren Beinen stand. Ihre Finger krallten sich an dem Lederriemen fest, als müsse sie fürchten, dass jemand ihr diesen kostbaren Schatz aus den Händen reißen könnte.

In der Handtasche befand sich die Tüte aus der Apotheke. In der Tüte aus der Apotheke lag die Pappschachtel, und in dieser Pappschachtel befand sich die Flasche. Wie die russischen Matrjoschka-Puppen, dachte sie. Die kleinste Figur war die wichtigste, mit ihr wurde bei der Produktion gestartet. Das Herzstück. Genau wie der Inhalt der Flasche. Amitriptylin. Endlich hatte sie ihr neues Rezept eingelöst, ihr Vorrat hatte sich bereits dem Ende zugeneigt.

Nur noch ein paar Stunden, dann würde das Medikament sie in einen tiefen, hoffentlich traumlosen Schlaf katapultieren. Das war das Ziel – denn die Träume waren das Schlimmste.

Emily versuchte sich von den Hintergrundgeräuschen, einer Mischung aus Gesprächen, Musik, die aus Kopfhörern klang, und dem Quietschen der U-Bahn in einen Dämmerzustand versetzen zu lassen. Ein Mädchen, vielleicht dreizehn Jahre alt, in einer Schuluniform, Rock und Kniestrümpfen, erzählte ihrer Mutter gerade von einem Streit mit einer Freundin. »Ich hasse Gemma!«

Emily lächelte traurig. Immerhin hatte das Mädchen eine Freundin, auf die es böse sein konnte.

Sie schloss die Augen. Spürte die Vibration der Scheibe an ihrer Schläfe, als der Zug jetzt das Tempo erhöhte.

Seit drei Monaten war ihre Existenz nur noch die billige Kopie eines Lebens. Sie ertrug weder das Alleinsein noch Gesellschaft. Die Stunden in der Londoner U-Bahn waren eine Möglichkeit, dieser Qual für eine Weile zu entkommen. Die Parallelwelt unter Tage war der einzige Ort, der ihr Geborgenheit gab – trotz oder gerade wegen der stickigen Luft und des mangelnden Sauerstoffs. Jeder funktionierte hier unten, ergab sich dieser Welt aus künstlichem Licht und alten Tunneln, im Schnitt fünf Millionen Menschen am Tag, die sich transportieren ließen.

Sie war hier Mitglied einer Gruppe aus Fremden, ohne durch irgendein Handeln an dieser Gemeinschaft teilnehmen zu müssen.

In dieser Parallelwelt unter der Stadt war sie eine Version von Emily, die alles unter Kontrolle hatte. Solange sie nur die Holborn Station vermied. Bahnsteig 3.

Der einzige Nachteil war das Risiko, durch eine Unachtsamkeit in ein Gespräch verwickelt zu werden. Touristen, die nach dem Weg fragten; Obdachlose, die Geld erbettelten. Jedes Wort war eines zu viel und konnte die Mauer, die Emily um sich herum aufgebaut hatte, zum Einsturz bringen.

Sie musste sich von anderen Menschen fernhalten. Doch sie hatte gelernt, mit diesem Risiko zu leben. Die meisten Leute gingen ihr freiwillig aus dem Weg.

2

Ihre Finger zitterten vor Kälte, als sie den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür steckte. Die Wohnung einer Toten.

Das Barbican war eine Stadt in der Stadt, eine Orgie aus Beton, die größte Wohnsiedlung der City of London; eine Mischung aus Wohnungen, Maisonettes und Einfamilienhäusern, verteilt auf dreizehn Gebäude und drei Hochhäuser, die die illustren Namen Shakespeare, Cromwell und Lauderdale Tower trugen und jeweils über vierzig Stockwerke hatten.

Gleichzeitig war das Barbican das größte Kulturzentrum Londons. Mehrere Konzert- und Kinosäle, eine Bibliothek, Restaurants, Veranstaltungsräume, ein Gewächshaus und eine Galerie gehörten dazu, genau wie seine über viertausend Bewohner jeder Altersklasse und Bevölkerungsschicht; eine Mischung aus Bankern, Normalverdienern, Künstlern, Alteingesessenen, Hipstern und schlicht allen, die sich ein Leben in einem grauen Wohnbunker aus den Siebzigerjahren mit Brutalismus-Architektur vorstellen und leisten konnten.

Das Licht in dem engen, langen Hausflur, dessen Ende man nur erahnen konnte, flackerte. Zwei Neonröhren waren defekt und verwandelten den Gang in die Tanzfläche eines Nachtclubs. Stroboskopeffekt. Lichtblitze. Nur die Musik fehlte. Und tanzende Menschen.

Emily brauchte zwei Anläufe, den Schlüssel im Schloss herumzudrehen, doch schließlich sprang die Wohnungstür auf.

Wieder einen Tag rumgekriegt, dachte sie, als sei dieser Zustand nur temporär, und ein Blick auf den Kalender würde ihr verraten, wie viel Zeit noch verstreichen musste, bevor das Ganze ein Ende hatte. Doch genau aus diesem Grund befand sie sich in diesem Appartement, in der sechsten Etage des Gilbert House, ein auf Säulen erbautes Mehrfamilienhaus, das über dem See im Innenhof des Barbican stand. Eben weil es kein Ende geben würde, denn ein Ende war für diese Art Situationen nicht vorgesehen. Sie musste das akzeptieren. Und sie brauchte eine Aufgabe. Darin waren sich alle einig gewesen.

Es dämmerte bereits, die Sonne war vor wenigen Minuten untergegangen, doch Emily ließ das Licht in der Wohnung ausgeschaltet. Sie mochte das Zwielicht, die Schatten in diesem fremden Appartement, in denen sie sich verstecken konnte. Die Dunkelheit hüllte sie ein, gab ihr Schutz vor den Blicken der unzähligen Nachbarn. Sie war dann unsichtbar. Das war natürlich nur eine naive Vorstellung, fast wie ein Kind, das sich die Hände vor die Augen hält und glaubt, niemand könne es sehen. Trotzdem gab sie sich einen Moment dieser Fantasie hin.

»Milo«, rief sie dann. Sie konnte den Kater nirgendwo entdecken, vermutlich versteckte er sich unter dem Sofa.

Der Kater musste sich noch an sie gewöhnen, hatte das Hin und Her zwischen dieser Wohnung und dem Appartement einer Nachbarin in der dreiundzwanzigsten Etage des Cromwell Tower, die sich vorübergehend um ihn gekümmert hatte, noch nicht verdaut. Drei Tage war Emily erst in dieser Wohnung. Vertrauen brauchte Zeit.

»Milo!« Emily ging in die Küche und holte das Katzenfutter aus dem Schrank neben der Spüle. Sie wusste, wie sie den Kater überzeugen konnte.

Und tatsächlich, kaum hatte sie den Napf mit dem Futter gefüllt und frisches Wasser in eine Schale gegossen, kam Milo aus dem Wohnzimmer geschossen. Er würdigte sie keines Blickes, aber immerhin streifte er ihr Bein und verharrte für eine Sekunde an ihrer Wade, bevor er dann, betont lässig, zum Futter schlenderte. »Na, siehst du, geht doch«, flüsterte sie. »Wir werden schon noch Freunde.«

Milo machte einen Buckel. Er schien sich dieser Sache nicht so sicher zu sein.

Während der Kater sich dem Rind in Gelee widmete, ging Emily zu ihrer Tasche und holte das Medikament heraus. Die kleine Flasche lag kalt in ihrer Hand.

»Unternehmen Sie in der nächsten Zeit nur Dinge, die Ihnen guttun«, hatte der Arzt vor einigen Wochen in der Notaufnahme zu ihr gesagt.

Emily hatte ihn angestarrt, denn sie verstand nicht, wovon er sprach. Was ihr guttat? Es gab keine Aktivität in ihrem Leben mehr, die in diese Kategorie fiel.

»Wann ist der Unfall Ihrer Freundin passiert?«, fragte er. Seine Augen scannten die Aktennotiz einer Krankenschwester, der Emily im Wartezimmer von Liv erzählt hatte.

»Vor fast drei Monaten.«

»Sie waren am Bahnsteig?«

»Ich stand direkt daneben.« Sie hielt dem Arzt ohne eine Erklärung den Zeitungsartikel hin, den sie in ihrem Portemonnaie aufbewahrte. Nüchtern geschrieben, eine schmucklose Meldung. Auf diese Weise musste sie den Leuten nicht selbst von der Katastrophe erzählen, die ihr Leben zum Stillstand gebracht hatte. Es rechtfertigte ihren Zustand, machte das Ganze offiziell. Zweimal gefaltet, steckte der Artikel zwischen den Kreditkarten.

Evening Standard

London. In der Holborn Station kam es gestern um 09:56 Uhr zu einem Unfall mit Todesfolge. Die 27-jährige Angestellte Liv Wakefield stürzte aus ungeklärter Ursache auf die Gleise und wurde von einem Zug der Piccadilly Line erfasst. Für die Frau kam jede Hilfe zu spät.

Die British Transport Police sucht nach Zeugen, die den Sturz beobachtet haben.

Sachdienliche Hinweise melden Sie bitte an Ihre nächstgelegene Polizeidienststelle, unter der Rufnummer 0800 300 200 400 oder online unter: www.btp.police.uk

»Ihr Körper reagiert auf den psychischen Stress. Drei Monate sind keine lange Zeit, um ein Trauma zu verarbeiten«, sagte der Arzt, während er den Artikel sorgfältig wieder faltete und ihr zurückgab. »Sie haben den Tod einer Freundin miterlebt.« Er nahm sich Zeit, mit ihr zu sprechen, nachdem das EKG keine Auffälligkeiten gezeigt hatte. Ihr Herz war in Ordnung. Sie starb heute nicht.

»Schlafen Sie?«, fragte er.

Sie schlief nicht. Und wenn sie doch schlief, hatte sie Albträume, im Speziellen einen Albtraum, der sie schweißgebadet aufwachen ließ und davon abhielt, die Augen für den Rest der Nacht wieder zu schließen, aus Furcht, er würde sie erneut heimsuchen. Doch sie konnte dem Arzt nicht von dem Albtraum erzählen. Sie konnte niemandem davon erzählen. Dieser Traum musste ihr Geheimnis bleiben.

Emily hatte ihrem Therapeuten ein paar Tage später von dem Besuch in der Notaufnahme berichtet. »Ich dachte, ich hätte einen Herzinfarkt.«

»Das ist bei einer Panikattacke nichts Ungewöhnliches.«

Panikattacke also. Ein Schrei der Seele um Hilfe. Weil die Sache mit Liv einfach nicht wahr sein durfte.

Dr. Ramzan schrieb ihr daraufhin das Medikament auf. »Wir können das Trauma nicht ungeschehen machen, aber das Amitriptylin federt die Auswirkungen ab. Manchmal braucht man Hilfe von der Chemie. Das Medikament wirkt auch gegen Angststörungen.«

Das Medikament packte sie in Watte. Es half ihr, sich von der Welt zu distanzieren, und Distanz war alles, was sie wollte.

»Nehmen Sie die Tropfen nur am Abend ein. Der Wirkstoff macht müde. Und …«, der Therapeut hatte die Augenbrauen hochgezogen, wollte sich vergewissern, dass sie ihm zuhörte: »Sie dürfen dieses Medikament unter keinen Umständen erhöhen oder reduzieren. Amitriptylin beeinflusst die Synapsen des zentralen Nervensystems. Damit spielt man nicht.«

»Verstanden.«

»Sie riskieren eine Achterbahnfahrt.« Er schaute sie eindringlich an. »Übererregbarkeit, Angstgefühle, Paranoia.«

»Ja.«

»Bewusstseinsstörungen.«

»Schon gut.«

Emily füllte ein Glas mit Wasser und ließ das Medikament in die Flüssigkeit tropfen. Dann setzte sie sich an den Tisch, schaute Milo zu, der bereits mehr als die Hälfte seines Futters vertilgt hatte. Den Kater beim Fressen zu beobachten, war der einzige Moment, auf den sie sich jeden Tag freute, eine kleine Abwechslung in ihrem Alltag, der kein Alltag mehr war, denn sie hatte keine Erinnerung, keine Wohnung und auch keine beste Freundin mehr.

Und das Ganze war ihre Schuld.

SHAKES

Er lag auf der Mitte der Kreuzung am Broadway Market, die Arme und Beine ausgestreckt, als befände er sich in seinem Bett und nicht auf dem Asphalt. Rollsplit bohrte sich durch die Kleidung bis in seine Haut.

Ein Lieferwagen hupte, und an der Straßenecke zum Market Café hatte sich eine Gruppe Schaulustiger versammelt. Jugendliche in Sportkleidung gafften zu ihm rüber.

»Beweg dich, Mann! In einer halben Stunde ist Anstoß.« Der Fahrer des Lieferwagens kurbelte das Fenster runter und gestikulierte mit beiden Händen. Dann tippte er auf seine Armbanduhr. »Arsenal, 20:00 Uhr.«

Shakes hatte Mühe, seinen Blick zu fokussieren. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er kurz weggetreten sein musste. Mitten auf der Straße. Er konnte von Glück reden, dass hier keine Autos fuhren.

Seit der Council in Hackney dank einer am Reißbrett entwickelten Verkehrsberuhigung angefangen hatte, Teile des Stadtteils in eine Fußgänger- und Fahrradzone zu verwandeln, hatte jede Art motorisierter Gefährte schlechte Karten. Nur Lieferverkehr und Anwohner durften zu bestimmten Zeiten hier durchfahren.

Shakes konnte sich vage an die Flasche Whiskey erinnern, von der er mehr als die Hälfte getrunken hatte. Sein Magen hatte schon rebelliert, während sein Kopf nach noch mehr Alkohol verlangt hatte. Sein Gehirn hatte regelrecht nach einer Betäubung geschrien. Und sein Kopf gewann immer.

Doch irgendetwas stimmte nicht. Es war nicht die Tatsache, dass er am frühen Abend mitten auf der Straße lag. Nein, es war dieses Gefühl, das Wissen, dass etwas nicht in Ordnung war, kurz bevor das Gehirn den Schlaf abschüttelte und die Erinnerung über einen hereinbrach.

Shakes zog seine Beine an und setzte sich mit einem Stöhnen auf. Warum zur Hölle hatte er sich so abgeschossen? Dieses Verhalten war selbst für seine Verhältnisse völlig absurd. Wer auf der falschen Seite des Gesetzes stand, konnte sich den Luxus von Leichtsinn nicht erlauben.

Es kostete ihn Mühe aufzustehen, der Alkohol in seinem Blut machte ihm zu schaffen, doch er musste hier weg. Nicht, weil er dem Lieferwagen Platz machen wollte, sondern weil er die Blicke der Gaffer nicht länger ertragen konnte. Die Teenager johlten, als er schließlich aufrecht stand.

Er vermied es aus guten Gründen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und diese Aktion hier glich einer Zirkusnummer. Er war an diesem Abend die Attraktion in Hackney, jenem Viertel im Osten der Stadt, das von Hipstern und Alteingesessenen gleichermaßen bevölkert war und in dem noch immer die Vergangenheit als einer der ärmsten Stadtteile Londons spürbar war, auch wenn die Mieten immer weiter in die Höhe schossen und ein Bauprojekt das nächste jagte.

»Mach hin!« Der Lieferwagenfahrer hupte. Dann: »Vergiss dein Rad nicht.«

Rad? Shakes’ Blick fiel auf das Mountainbike, das ein paar Meter entfernt lag. Das Fahrrad hatte er ganz vergessen.

Er war so ein Idiot.

Unter dem Applaus der Jugendlichen schob er kurz darauf los.

Gerade als er den Gehweg erreichte, bog ein Polizeiauto aus der Andrews Road um die Ecke. Shakes zog sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf und schwang sich auf das Mountainbike.

Er raste die Pritchard’s Road hinunter, bog rechts ab in Richtung Haggerston und riss den Mund auf, weil er bereits nach dieser kurzen Strecke keine Luft mehr bekam. Sein Brustkorb verkrampfte sich. Er ignorierte den Hilfeschrei seines Körpers und strampelte wie ein Irrer.

Das Fahrrad schien nagelneu, die Reifen rollten ohne jeden Widerstand über den Asphalt. Kein Kratzer zierte den Rahmen, das Profil war ohne Spuren von Dreck. Der Besitzer hätte in ein besseres Schloss investieren sollen.

Shakes schaltete einen Gang hoch.

Unter normalen Umständen hätte er das Rad heute Abend noch verkauft, die Händler auf der Brick Lane suchten ständig nach Ware – die Herkunft kümmerte sie nicht, denn die Nachfrage war zu groß. Doch dieses Fahrrad würde heute kein weiteres Mal den Besitzer wechseln.

Das Polizeiauto war jetzt direkt hinter ihm. Die Sirene heulte los. Was wollten die?

Nicht jede Straftat verdiente aus Sicht der Bullen Aufmerksamkeit, und dies war eigentlich ein klassischer Fall von »Fuck it, drive on«, wie in den einschlägigen Kreisen, seinen Kreisen, jene Vergehen genannt wurden, die von der Polizei zwar bemerkt wurden, aber zu geringfügig waren, um eine Verfolgung aufzunehmen.

Er war wütend auf sich selbst, denn er hatte sich eigentlich vorgenommen, mit diesen Geschäften aufzuhören. Nicht nur, weil er vorbestraft war. Nein, zum ersten Mal seit Jahren stand zu viel auf dem Spiel.

Shakes schoss jetzt bei Rot über die Kingsland Road, eine der ältesten Hauptverkehrsadern Londons, die von Tottenham nach Süden führte. »Die Kingsland Road bedeutet immer Ärger«, hatte Onkel Wyndham stets gesagt und dabei gern vergessen, dass seine halbe Familie aus der unmittelbaren Nähe stammte.

Shakes fuhr nun im Stehen. Schaffte er es bis zur Hoxton Street? Er musste es versuchen. Eine Schranke versperrte den Autos dort die Zufahrt.

Die Idee war seine Rettung. Kurz darauf raste er durch die winzige Fußgängerstraße. Doch gerade als er einen Blick nach hinten warf, um sich zu vergewissern, dass er das Polizeiauto tatsächlich abgehängt hatte, verlor er das Gleichgewicht. Das Mountainbike schlingerte, er prallte gegen den Bordstein und stürzte über den Lenker auf den Asphalt. Schmerz durchbohrte seine Rippen. Er sprang trotzdem sofort auf, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen.

Er würde das Fahrrad liegen lassen müssen. Die Polizei war nicht mehr zu sehen, doch falls die Beamten ihn erwischten, durfte er auf keinen Fall ein geklautes Mountainbike unter dem Hintern haben. Er rannte los.

Kurz hinter der Whitecross Street, er konnte die Autoabgase des Tunnels schon riechen, die wie eine Wolke rund um das Barbican zogen und jeden Tag die zulässigen Grenzwerte überschritten, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag, als hätten die Schadstoffe in der Luft seinem Gehirn den notwendigen Kick gegeben.

Der Ton, der jetzt aus seiner Kehle kroch, war so laut, dass ein älterer Mann in einiger Entfernung ihm erst einen Blick zuwarf und dann die Straßenseite wechselte.

Jetzt wusste er, was die ganze Zeit nicht gestimmt hatte.

Er schloss die Augen. Sein Magen zog sich zusammen. Die Wut war zurück. Der Abgrund war zurück.

Alles war zurück.

3

Schweiß lief zwischen seinen Schulterblättern hinunter, als er im Hausflur in der sechsten Etage des Gilbert House im Barbican ankam. Sein gesamter Brustkorb schmerzte von dem Sturz. Er würde einen ordentlichen Bluterguss kriegen, doch das war ihm egal. Die Wut hatte mittlerweile sein gesamtes Denken übernommen und überlagerte das Stechen in seinen Rippen.

Der Abgrund war so tief, dunkel und schwarz, der Hass so übermächtig, dass er die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht laut aufzuschreien.

Und schuld war diese Frau in der Nachbarwohnung.

Gerade als er an ihrer Tür vorbeilief – seit drei Tagen war sie jetzt da –, klingelte sein Handy. Das Geräusch hallte durch den Flur. Laut, schrill.

Ein Blick auf das Display verriet, wer ihn sprechen wollte – er erkannte die Nummer sofort, wie jedes Mal, wenn sie versuchten, ihn zu erreichen. Das Telefon vibrierte in seiner Hand.

Shakes starrte auf den Bildschirm, als könne er mit reiner Willenskraft den Anrufer dazu bringen, aufzulegen.

Seit Monaten versuchte die Zeitung, ihn zu erreichen. Seit Monaten ignorierte er die Anrufe. Er war unfähig, eine Entscheidung zu treffen, und vermutlich hoffte er wohl immer noch, das Problem würde sich irgendwie von selbst erledigen.

Er steckte das Handy zurück in die Hosentasche.

Gefängniskorrespondent. Das Jobangebot der Zeitung war ein Sechser im Lotto. Sie wollten ihn. Ausgerechnet ihn. Niemand, der noch alle Sinne beisammenhatte, lehnte so eine Gelegenheit ab. Nicht in seiner Situation. Aber: Niemand, der noch alle Sinne beisammenhatte, befand sich in seiner Situation.

Er hatte noch keine Entscheidung getroffen, denn das Ganze betraf seine Zukunft, und er hatte sich abgewöhnt, über seine Zukunft nachzudenken. Das war der Moment, in dem Dinge schiefgingen. Man schaute in die eine Richtung, und in der anderen Richtung stürzte die Welt zusammen.

Der Observer war seit einer Weile auf der Suche nach einem neuen Gefängniskorrespondenten – nachdem der bisherige Prison Correspondent kurz nach seinem 70. Geburtstag nach neunzehn Jahren im Dienst bei der Zeitung gestorben war. Ein ehemaliger Berufsverbrecher, der nach dreißig Jahren krimineller Karriere geläutert aus dem Gefängnis gekommen und bis zu seinem Tod clean geblieben war.

Der Observer war die einzige Zeitung im Land, die einen Gefängniskorrespondenten beschäftigte, und sie brauchten einen Nachfolger für diese Position. Ein Artikel pro Monat war die Vorgabe, doch darüber ließ sich verhandeln.

Shakes’ Vorstrafe und der Aufenthalt im Gefängnis waren für die Zeitung kein Hindernis, sondern das Einstellungskriterium. Ein Gefängniskorrespondent musste das System von draußen und drinnen kennen, um über Missstände zu berichten und so die Öffentlichkeit zu informieren, über eine Welt, die nicht nur vom Rest der Gesellschaft komplett abgeschnitten war, sondern von der auch umgekehrt der Rest der Gesellschaft nichts hören und sehen wollte. Es war eine Parallelwelt mit eigenen Regeln, Normen und Werten.

Er war immerhin achtundzwanzig Jahre alt geworden, bevor es ihn letztes Jahr erwischt hatte, und das war für seine Lebensumstände gar nicht mal schlecht. East End. Council Estate. Keine Eltern. Die Statistiken sprachen gegen ihn. Drogen, Bandenrivalität, Gewalt – die Nachrichten waren voll mit Meldungen über junge Straftäter.

Die einzige Bedingung, das hatten die Verantwortlichen der Zeitung deutlich gemacht: Die kriminellen Aktivitäten mussten ein Ende haben. Ließ er sich in Zukunft etwas zuschulden kommen, wäre der Job weg.

Shakes lief jetzt mit großen Schritten zu seiner Wohnung, die Tür war nur ein paar Meter entfernt. In seiner Hose klingelte noch immer das Handy.

Wenn die Journalisten wüssten, was er getan hatte, ja, was für ein Mensch er wirklich war, wäre das Angebot sofort vom Tisch. Nicht wegen der Geschäfte mit den Fahrrädern. Nein, das war eine Kleinigkeit.

Sie konnten ihm nicht vertrauen.

Ein Mensch war gestorben.

EMILY

Ein roter Mantel, der auf die Gleise fliegt.

Ein Schrei.

Weg. Ich muss hier weg.

Sie schreckte aus dem Schlaf hoch. Ihr Handy zeigte 00:30 Uhr, sie hatte gerade einmal drei Stunden geschlafen.

Emily setzte sich im Dunkeln auf. Warum war sie aufgewacht? Das Medikament garantierte in der Regel mindestens fünf Stunden Tiefschlaf. Ihre Zunge klebte unter dem Gaumen, ihr Mund war trocken. Mit einer Hand griff sie in ihren Nacken. Kalter Schweiß überzog ihren Hals, Haare klebten auf der Haut. Der Albtraum war zurück.

Mit klopfendem Herzen saß sie eine Weile da, lauschte in die Finsternis. Aus der Ferne klang die Sirene eines Polizeiautos durch das Fenster. Dann hörte sie plötzlich ein Geräusch aus dem Wohnzimmer. Ihre Augen suchten im Dunkeln nach einer Erklärung. War das der Kater? Hatte Milo etwas umgestoßen?

Sie drehte den Kopf und erkannte, dass das Geräusch gar nicht aus dem Wohnzimmer kam, sondern aus der Nachbarwohnung. Dumpfe Schläge klangen in regelmäßigen Abständen durch die Wand. Noch jemand konnte nicht schlafen.

Emily ließ sich zurück auf die Matratze fallen. Starrte in das dunkle Nichts an der Decke. Eine fremde Umgebung, eine neue Wohnung – sie musste sich daran noch gewöhnen. Die Geräusche, der Geruch – alles war anders und ließ ihr Unterbewusstsein selbst im Schlaf auf Hochtouren laufen.

Sie dachte an ihr WG-Zimmer in Stoke Newington und wie lange sie damals gebraucht hatte, sich an das Knarzen der Holzbohlen oder die Stimmen ihrer Mitbewohner zu gewöhnen. Das war alles vorbei. Die Emily aus Stoke Newington war vorbei. Es wunderte sie noch immer, wie schnell ein Mensch an diesem Punkt ankommen konnte.

Sie hatte ihr Jurastudium abgebrochen. Ihren Podcast Courtroom Whispers hingeschmissen. Das WG-Zimmer gekündigt. Ihr Leben stand still, und überhaupt fühlte sich ihr Leben nicht mehr an wie ein Leben – es war nicht mehr vollständig. Denn sie hatte nicht nur ein Trauma erlitten; sie hatte ein Trauma erlitten, an das sie keine Erinnerung hatte.

»Dissoziative Amnesie«, hatte der Psychologe ihr erklärt. »Das ist eine Schutzreaktion Ihres Gehirns.«

»Werde ich mich irgendwann erinnern?«, hatte sie gefragt und Angst vor der Antwort gehabt.

»In den meisten Fällen kehrt die Erinnerung nach ein paar Tagen oder Monaten zurück.« Er hatte sie mit einem prüfenden Blick angeschaut. »In seltenen Fällen erinnert sich der Betroffene nie mehr. Doch obwohl die vergessenen Informationen für das Bewusstsein nicht zugänglich sind, beeinflussen diese weiterhin Ihr Verhalten. Sie sind Teil Ihrer Existenz, genau wie jedes andere Ereignis in Ihrem Leben auch.«

Die Vorstellung, dass ein Ereignis, an das sie sich nicht erinnern konnte, ihr Verhalten, ja sie selbst als Person für den Rest ihres Lebens beeinflussen würde, fühlte sich an, als hätte eine fremde Macht ihren Charakter übernommen.

Die einzige Erinnerung an jenen Morgen, die ihr Gehirn zuließ, war die Erinnerung an ein Gefühl. Weg. Ich muss hier weg.

Doch war das wirklich eine Erinnerung, eine echte Erinnerung oder nur der Albtraum, der sie am Tag jagte? Wie sollte sie das unterscheiden?

Was sie wusste, waren die folgenden Dinge:

09:53 Uhr: Sie betritt mit Liv Bahnsteig 3 in Holborn.

09:56 Uhr: Liv stürzt vor die Piccadilly Line.

09:57 Uhr: Liv ist tot.

Was sie außerdem noch wusste: Liv hatte an jenem Tag weiße Sneakers und ihren neuen dunkelroten Mantel getragen. »Die meisten dunkelroten Mäntel haben schwarze Knöpfe oder Schildpatt«, hatte Liv ihr einige Tage zuvor noch erklärt und das Gesicht verzogen, als sei die Vorstellung geradezu abstoßend. »Die Knöpfe müssen rot sein, wie der Mantel.«

Doch diese Dinge wusste Emily nur, weil man es ihr erzählt hatte und weil eine Kamera in der Station so ziemlich alles und jeden gefilmt hatte – bis auf Livs Sturz auf die Gleise, der aufgrund einer Baustelle in einem toten Winkel am Ende des Bahnsteigs passiert war.

Ihre Erinnerung an den gesamten Morgen setzte erst zwei Stationen von der Holborn Station entfernt wieder ein, als sie, nach Luft schnappend, die Treppe hinauf ans Tageslicht stürmte. Und sich auf der Oxford Street in den nächsten Mülleimer erbrach. Ohne zu wissen, warum.

Alles, was an jenem Morgen vor der Katastrophe passiert war, hatte ihr Gehirn in einen Teil ihres Bewusstseins geschoben, zu dem sie keinen Zugang mehr bekam. Die Stunden waren einfach ausradiert. Ihre Erinnerung stoppte mit einer Tasse Tee, die sie am Abend zuvor getrunken hatte.

»Woher weiß ich, ob es Fiktion oder Realität ist, falls ich mich irgendwann erinnere?«, hatte sie Dr. Ramzan gefragt und an das Gefühl gedacht, das sie quälte. Weg. Ich muss hier weg.

»Das ist eine berechtigte Frage.« Er hatte genickt. »Unser Gehirn kann unglaublich kreativ sein, wenn es um das Erfinden vermeintlicher Erinnerungen geht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Unser Gehirn kann die Realität nicht vollständig aufnehmen, nicht jede Kleinigkeit abspeichern. Ist unsere Erinnerung lückenhaft, denkt sich das Gehirn Dinge aus, um auf diese Weise eine vollständige Erinnerung zu bilden.«

Sie starrte ihn an.

»Das Gehirn mag keine fehlenden Puzzleteile, also erfindet es welche.« Dr. Ramzan lächelte: »Wir alle, im Speziellen aber Amnesiepatienten, können einer Erinnerung nicht trauen. Im Prinzip ist jede Erinnerung falsch. Die Frage ist nur, wie falsch.«

Emily hatte plötzlich das Gefühl, keine Sekunde länger liegen bleiben zu können. Mit einem Satz war sie aus dem Bett.

Sie ließ das Licht ausgeschaltet und lief ins Wohnzimmer. Ein Frösteln durchzog ihren Körper, die Wärme des Bettes ließ sie die kühle Temperatur in der Wohnung besonders intensiv spüren. Als sie an der Garderobe im Flur vorbeikam, griff sie nach ihrer Jacke, zog sie an. Und erkannte ihren Fehler zu spät: Es war Livs Wachsjacke.

Ein erster Reflex war, die Jacke sofort auszuziehen, doch auf eine Weise spendete Livs Kleidung ihr Trost, und so beschloss sie, dass ihr Versehen in Ordnung war.

Ihre Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt. Auf einem Sessel direkt neben dem Fenster im Wohnzimmer lag Milo und schlief. Emily konnte den Kater in der Dunkelheit auf dem Polster erkennen, eingerollt. Vorsichtig strich sie über den weichen Körper. Sein linkes Ohr zuckte. Noch war unklar, was mit Milo passieren würde. Maura, die Nachbarin, die sich um ihn gekümmert hatte, wollte ihn nicht übernehmen.

Emily streichelte dem Kater über den Kopf. Hier waren sie nun also beide, allein.

Sie öffnete die Schiebetür und ging auf den Balkon. Selbst hier draußen war das Geräusch aus der Nachbarwohnung zu hören. Schläge, immer wieder dumpfe Schläge, als würde jemand mit bloßen Fäusten gegen die Wände trommeln.

Sie lehnte sich nach vorne, konnte die Fenster auf ihrer linken Seite erkennen. Der Sichtschutz, eine schlichte Wand aus Milchglas, war vermutlich seit Jahrzehnten nicht erneuert worden. Ganze Teile fehlten. Der Blick auf den Nachbarbalkon war an mehreren Stellen frei, doch Emily konnte die Quelle des Geräuschs nicht ausmachen.

Sie lehnte sich gegen die Balustrade, starrte auf die dunkle Silhouette der Stadt. In einiger Entfernung entdeckte sie die weiß beleuchtete Kuppel von St. Paul’s, die in den Nachthimmel ragte. Keine Flugzeuge oder Hubschrauber zerstörten die Stille der Nacht, keine Sirenen. London wirkte friedlich.

Sie schaute nach unten. Die kleine Kirche, St. Giles’ Cripplegate, die sich auf dem Gelände des Barbican befand, war eines der letzten mittelalterlichen Gebäude in der City of London und befand sich direkt zu ihren Füßen. Das alte Gemäuer war ein wohltuender Gegensatz zu dem Beton, der sie von allen Seiten umgab. Oliver Cromwell hatte 1620 in der Kirche geheiratet, und Daniel Defoe, Autor von Robin Crusoe, war ein regelmäßiger Besucher gewesen.

Emily rief sich diese historischen Fakten ins Gedächtnis; die Vergangenheit machte ihr stets bewusst, wie wenig wichtig sie selbst war.

Sie atmete tief ein. Der Sauerstoff tat ihr gut. Ihr vom Schlaf und dem Medikament benebelter Geist erwachte zum Leben. Sie zog die Jacke enger um ihren Körper.

Die Stille war absolut. Das Geräusch aus der Nachbarwohnung war verstummt. Das bemerkte sie jetzt erst. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf.

Vorsichtig drehte sie ihren Kopf zur Seite. Und erstarrte. Da stand ein Mann auf dem Balkon nebenan.

Und beobachtete sie.

LIVS TAGEBUCH

Als Dreijährige habe ich mich mit einer Spinne angefreundet. Sie saß in meinem Zimmer an der Wand, direkt auf Höhe meiner Hände. Die Spinne bewegte sich nicht. Ich starrte auf ihre acht Beine, alle mit Fell überzogen, feingliedrig, viel zu lang und doch im Vergleich zu mir, einem Kleinkind mit speckigen Armen und Beinen, winzig. Ich fand die Spinne abstoßend und berauschend zugleich und konnte meinen Blick nicht von ihr lösen, ich war absolut gebannt. Noch nie hatte ich so ein Geschöpf gesehen. Ich streckte einen Finger aus und streichelte vorsichtig über den Körper der Spinne. Ich beobachtete, wie sie, aufgeschreckt von der Berührung, an der Wand entlanglief.

Irgendwann begann die Spinne zwischen der Fußleiste und dem Kleiderschrank ihr Netz zu spinnen. Das ging mehrere Tage lang so. Wir entwickelten eine Routine: Ich starrte sie an – sie spann ihr Netz. Ich konnte gar nicht genug von diesem Schauspiel bekommen.

Dann beschloss ich, die Spinne zu essen.

Von einer Sekunde auf die andere brach die Hölle los.

Meine Mutter war ins Zimmer gekommen und hatte im letzten Moment gesehen, was ich da tat. Ich schrie, während meine ebenfalls schreiende Mutter die Reste der unglückseligen Spinne aus meinem Mund fischte. Ich lernte, dass man Spinnen nicht aß.

Dieser Vorfall ist meine früheste Kindheitserinnerung.

Es ist nicht die Spinne in meinem Mund, sondern das Geschrei meiner Mutter, ihre Reaktion, die diese Erinnerung in meinem Gedächtnis einzementiert hat.

Erst Jahre später habe ich die Konsequenz dieses Vorfalls verstanden. Durch ihre Reaktion hat meine Mutter mich für den Rest meines Lebens in meinem Verhalten manipuliert. Ich würde nie wieder eine Spinne essen. Nicht, weil ich mich vor dem Insekt geekelt hatte. Als Dreijährige hat man eine hohe Toleranz, denn man hat noch nicht gelernt, was die Gesellschaft als eklig empfindet. Nein, ich würde das nie wieder tun, weil ich meiner Mutter den Kummer ersparen wollte.

Doch das Gleiche gilt auch umgekehrt: Durch das Essen der Spinne hatte ich in meiner Mutter eine Reaktion ausgelöst. Ursache und Wirkung – das ist die Basis jeder menschlichen Interaktion. Wir alle manipulieren und werden manipuliert. Jeden Tag. Selbst ein schnelles Lächeln kann eine Manipulation sein.

Wie gestern zum Beispiel.

Er war mit großen Schritten Richtung Sutton Arms gelaufen, ich glaube allerdings nicht, dass das Pub sein Ziel war.

Er scheint mir nicht der Typ, der abends mit Freunden etwas trinken geht. Im Gegenteil, er wirkt eher wie ein Mensch, der lieber für sich bleibt, der in seinem Leben schon zu viel gesehen hat. Da ist eine Mauer zwischen ihm und seinen Mitmenschen – er weiß das, er braucht das, und er lässt niemanden wirklich an sich ran. Da ist etwas Dunkles in ihm, das kann ich spüren, und ich frage mich, was sein Geheimnis ist.

An der Ecke stießen wir zufällig aufeinander. (Na gut, ich war mit Absicht einen Umweg gelaufen.) Er wollte sofort weitergehen, murmelte etwas von einem Termin, seine Finger gruben sich in seinen Rucksack. Ich schenkte ihm ein Lächeln. Und dann blieb er doch stehen. Ich machte einen Kommentar über das Wetter, erwähnte eine andere Belanglosigkeit, lachte, und es klang echt, denn mein Lachen war echt.

Wir wechselten ein paar kurze Worte, dann verabschiedete ich mich. Ich wollte ihm nicht auf die Nerven gehen. Zumindest war es mir gelungen, dass ein paar Sekunden seiner Zeit mir gehört hatten. Ursache und Wirkung.

Und während ich weiterlief, es klingt wie ein Klischee, spürte ich Wärme in meinem Magen. Ein wohliges Gefühl, das sich in Sekundenschnelle zu einem Bedürfnis entwickelte. Ich war über diese Entwicklung selbst überrascht.

Mit jedem Schritt wurde dieses Bedürfnis größer; es wurde erst zu einem Verlangen, dann zu einer Notwendigkeit. Ich glaube, ab dem Moment gab es kein Zurück mehr. Ich habe lange genug gewartet. Im Job. Privat. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich habe ein neues Ziel.

Er wird sich in mich verlieben.

Er weiß das bloß noch nicht.

EMILY

Am nächsten Morgen fing sie nach dem Frühstück an, alle Vorräte aus Livs Küchenschränken zu räumen. Sie wollte überprüfen, welche Lebensmittel bereits abgelaufen waren und direkt entsorgt werden konnten. Vor ihr türmten sich Verpackungen, Tüten und Gläser auf dem Tisch. Ihre Freundin hatte eine beeindruckende Sammlung an Cornflakes verschiedener Marken, Müsli, Nüssen und Trockenfrüchten angehäuft. Dazu kam eine Unmenge an Backzutaten, die seit Jahren abgelaufen waren.

Emily konnte sich nicht erinnern, dass Liv jemals gern gebacken hätte, aber vielleicht war der Vorsatz größer gewesen als die Umsetzung. Die Verfallsdaten auf den Verpackungen zumindest schienen diese Theorie zu bestätigen. Sie musste lächeln bei dem Gedanken an Liv, griff nach einem ungeöffneten Paket Zucker, drehte es um, suchte nach dem Datum und …

Es klopfte an der Tür.

Der Zucker fiel zu Boden.

Wer konnte so früh am Morgen etwas von ihr wollen? Es war doch gerade erst neun Uhr? Emilys Herz begann zu rasen. Sie wollte mit niemandem sprechen. Allein die Vorstellung eines Gesprächs mit einer fremden Person, und sei es noch so kurz, ließ ihren Magen zusammenziehen. Irgendetwas in ihr sträubte sich seit Livs Tod, andere Menschen auch nur in ihre Nähe zu lassen.

Es fühlte sich an, als würde sie durch jeden Kontakt ein Stück von sich aufgeben, und das konnte sie sich nicht leisten, denn es war nicht mehr viel übrig. Sie musste sich schützen, ansonsten würde sie das Gleichgewicht verlieren, ihr Körper und ihr Geist in tausend Teile zerspringen, genau wie ihre Seele es schon getan hatte.

Das Klopfen hörte nicht auf. Jemand hämmerte jetzt gegen die Tür.

Auf Zehenspitzen balancierte sie um den Zucker herum, der sich auf den Fliesen verteilt hatte, lief über die Holzdielen durch den Flur. Mit einer Hand griff sie wieder nach Livs Wachsjacke, die sie in der Nacht auf den Boden geworfen hatte und die wie eine Anklage im Flur unter der Garderobe lag.

Sie schlüpfte lautlos in die Jacke, wollte kein Geräusch von sich geben. Nicht, solange sie nicht wusste, wer dort vor der Tür stand. Die Wachsjacke fühlte sich kalt und steif auf ihrer Haut an.

Sie atmete tief ein. Zögerte. Mit einem Ruck riss sie schließlich die Wohnungstür auf, mit so viel Schwung, dass ihr die Klinke aus der Hand glitt und die Tür gegen die Wand im Flur knallte. Milo, der unter der Garderobe gesessen hatte, sprang mit einem Satz auf und zielte Richtung Sofa.

Emily starrte auf den Mann vor ihrer Tür.

Eine sehr lange Zeit in ihrem Leben war sie anderen Menschen voller Neugier gegenübergetreten. Welche Ansichten teilte diese Person, wie redete oder lachte sie, und was löste das in ihr aus? Sie war ein Menschenfreund gewesen, und an manchen Tagen überraschte es sie, wie sich das in so kurzer Zeit gewandelt hatte. Diese Aufgeschlossenheit anderen Leuten gegenüber lag in der Vergangenheit; hatte Platz gemacht für eine neue Persönlichkeit, die ihr immer noch fremd war.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Der Mann vom Balkon stand vor ihrer Tür.

Dürr. Ausgezehrt. Seine Locken waren dunkelbraun und in einem Achtzigerjahreschnitt gestylt, der bei den Hipstern der Stadt gerade wieder modern war. Ein Mullet oder Wolf Cut, dachte sie. Oben lang und an den Seiten kurz. Er trug ein Batik-T-Shirt. Der Mann sah aus, als wäre er einer anderen Ära entsprungen. Vor ihr stand ein Zeitreisender.

»Was machst du hier?«, fragte er geradeheraus, als stünde sie in seiner Wohnung und nicht in Livs – als hätte er sie bei einem Einbruch erwischt und wollte sie zur Rechenschaft ziehen.

Sie starrte ihn an. Sein Gesicht wirkte eingefallen, und unter den Augen lagen dunkle Schatten. Eine Narbe zierte seine rechte Wange, die viele Frauen vermutlich attraktiv fanden, weil sein Gesicht auf diese Weise eine Geschichte erzählte. Seine Jeans hatte Löcher und entblößte die Knie. In der Hand hielt er eine schwarze Baseballkappe, die er offenbar gerade vom Kopf gezogen hatte.

Die Frage warf sie aus der Bahn. Kalter Schweiß überzog ihre Haut, sie konnte die körperliche Reaktion in jeder Zelle spüren. Lag ihre Unsicherheit an ihm, seiner Art oder an der Tatsache, dass sie ein Gespräch mit einer anderen Person führen musste?

Es kostete sie Überwindung, ihm die Tür nicht direkt wieder vor der Nase zuzuschlagen.

»Ich spreche nicht mit Fremden«, sagte sie und klang wie ein Kind. Sie griff nach der Tür und wollte sie schließen, doch er sah die Bewegung kommen.

Mit einer blitzartigen Geschwindigkeit stellte er seinen Fuß in den Rahmen der Tür.

»Ich auch nicht«, sagte er. »Shakes«, stellte er sich vor. »Eigentlich heiße ich Lee«, fügte er hinzu.

»Warum?«, fragte Emily.

»Warum was?« Er schaute sie verwundert an.

»Warum eigentlich?«

Eine Pause entstand.

»Ich bin Emily«, sagte sie dann und versuchte sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen.

»Kanntest du Liv?«, fragte er.

Der Mann wirkte nervös, irgendwie rastlos, wie ein Junkie auf Entzug. Als flatterten anstelle von Blut Tausende Motten in seinen Adern, die seine gesamte Erscheinung und jede Bewegung irgendwie vibrieren ließen.

»Kanntest du sie?«, fragte Emily zurück. Weg. Ich muss hier weg.

»Flüchtig«, sagte er. »Nur, wie man eine Nachbarin halt kennt.« Er zeigte den Gang runter. »Ich wohne nebenan.«

Und dann kroch plötzlich eine Erinnerung aus den Tiefen ihres Gehirns in ihr Bewusstsein. Nein – keine Erinnerung, denn genau das war ja das Problem –, es war wieder nur das Gefühl.

Doch zu ihrer eigenen Verwunderung konnte sie es heute klar definieren. Es war dieses Mal gar kein Gefühl, nein – sie hatte sich getäuscht. Es war Wissen, echtes, sicheres Wissen. Ich kenne diesen Mann.

Emily starrte ihn an, unfähig, einen Ton zu sagen. Er war ein Gespenst, Teil ihrer Vergangenheit, jener verlorenen Stunden – und stand plötzlich einfach vor ihr.

»Und?«, fragte er, nicht ahnend, was in ihrem Inneren vor sich ging. Er zog aus seiner Hosentasche eine zerknickte Packung Zigaretten, holte eine hervor und klemmte sie zwischen seine Lippen, ohne sie anzustecken. Er stand gegen ihren Türrahmen gelehnt, als sei es die normalste Sache der Welt, die Tür einer fremden Wohnung zu blockieren.

Sie begriff nicht, was er meinte.

»Und?«, fragte sie.

»Was du hier machst?«, fragte er.

»Ich bin eine Freundin von Liv«, brachte sie hervor. »Ich löse die Wohnung auf.«

»Du trägst ihre Jacke.«

Hatte er nicht gerade behauptet, Liv nur flüchtig gekannt zu haben?