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Sarah Nisi

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Beschreibung

Der neue meisterhafte Psychothriller von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Sarah Nisi.

Dein Traum ist zum Greifen nah. Doch der Preis dafür ist hoch …

Die Beziehung der Stiefschwestern Phoebe und Charlie ist seit ihrer Kindheit durch Konkurrenzkampf geprägt. Ein Ereignis in der Schulzeit machte daraus offene Feindschaft. Umso überraschter sind beide, als sie jetzt, mit Ende 20, gemeinsam ein größeres finanzielles Erbe antreten sollen. Die einzige Bedingung: Sie müssen sich unterstützen – denn nur durch enge Zusammenarbeit kann ihnen der Durchbruch in der Theaterszene Londons gelingen. Was sich wie eine Aufforderung zur Versöhnung anhört, wird für Charlie und Phoebe zum Albtraum. Und das Ringen um eine erfolgreiche Inszenierung ein fatales Spiel um Leben und Tod.

Sarah Nisi zeigt in ihrem neuen Thriller die Abgründe der menschlichen Psyche und lässt die Grenzen von Wahrheit und Lüge, Macht und Ohnmacht verschwimmen.

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Seitenzahl: 375

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Zum Buch

Deine Schwester kennt dich gut. Sehr gut. Gefährlich gut …

Die Beziehung der Stiefschwestern Phoebe und Charlie ist seit ihrer Kindheit durch Konkurrenzkampf geprägt. Ein Ereignis in der Schulzeit machte daraus offene Feindschaft. Umso überraschter sind beide, als sie jetzt, mit Ende 20, gemeinsam ein größeres finanzielles Erbe antreten sollen. Die einzige Bedingung: Sie müssen sich unterstützen – denn nur durch enge Zusammenarbeit kann ihnen der Durchbruch in der Theaterszene Londons gelingen. Was sich wie eine Aufforderung zur Versöhnung anhört, wird für Charlie und Phoebe zum Albtraum. Und das Ringen um eine erfolgreiche Inszenierung ein fatales Spiel um Leben und Tod.

Zur Autorin

Sarah Nisi lebt seit 2012 in London. In Hildesheim geboren, arbeitete die Wirtschaftsjuristin einige Jahre in Düsseldorf, bevor sie für ein Creative-Writing-Studium in die britische Hauptstadt zog. Seitdem widmet die Deutsch-Britin den Großteil ihrer Zeit dem Schreiben. Ihr Debüt »Ich will dir nah sein« wurde zum SPIEGEL-Bestseller und für renommierte Preise wie den GLAUSER, den Victor Crime Award sowie den Crime Cologne Award nominiert.

Sarah Nisi

ICHBRINGEDICHZUMSCHWEIGEN

Psychothriller

Ein Teil der Schauplätze dieses Psychothrillers entspricht realen Gegebenheiten. Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Zitat stammt mit freundlicher Abdruckgenehmigung aus Ludwig Marcuse, Argumente und Rezepte. Ein Wörterbuch für Zeitgenossen. Copyright © 1973 Diogenes Verlag AG Zürich.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe Juli 2023

Vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg.

Copyright © 2023 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © getty images / THEPALME; © Arcangel / James K. SmithR; © shutterstock / Siam SK; Tong Minho

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

MA · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-24618-1V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

»Die Stärke des Irrtums und der Lüge liegt gerade darin, daß sie ebenso klar sein können wie Wahrheiten; weshalb das Falsche ebenso einleuchtend sein mag wie das Richtige.«

Ludwig Marcuse, Argumente und Rezepte

I

Dem toten Fuchs fehlt ein Eckzahn. Von einem Präparator bis in alle Ewigkeit zu einem hämischen Grinsen verdammt, legen die hochgezogenen Lefzen das fehlerhafte Gebiss in aller Schonungslosigkeit frei.

Vom Rest seines Körpers getrennt, hängt der Fuchskopf über der Rezeption. Die ausgestopften Tiere an den Wänden der Pension stellen einen irritierenden Kontrast zu dem modernen Parkett aus Nussbaum und den weißen Sprossenfenstern dar. »Erlegt 1934« steht in kaum lesbaren Buchstaben auf einem von Rissen durchzogenen Holzschild unter den Kinnhaaren des Fuchses.

Sie starrt in seine leblosen Pupillen aus Glas und stellt sich die Augen ihrer Schwester vor.

Sie wollte ihre Muskeln zum Schreien und ihren Kopf zum Schweigen bringen. Ihre Lunge sollte verzweifelt nach Sauerstoff wimmern. Der Reflex, nach Luft zu schnappen, immer wieder, dieses gewaltige, kraftvolle Verlangen, die Atemnot mit aller Macht unter Kontrolle zu bringen, sollte von ihr Besitz ergreifen.

Die Reaktion ihres Körpers auf Anstrengung würde ihr das tröstliche Gefühl geben, am Leben zu sein. Sport bedeutete, die Kontrolle zu haben. Man vermisst Dinge erst dann, wenn sie plötzlich unerreichbar sind.

Es kostete sie Überwindung aufzustehen, denn die Bewegung war in dieser Situation reine Energieverschwendung.

Sie ging drei Schritte, und schon stand sie vor der Wand. Der Putz hatte ein helles Gelb, doch wenn sie lange genug darauf starrte, verschwand die Farbe. Gelb symbolisierte Licht. Optimismus. Die Farbe war Absicht. Sorgfältig ausgewählt für Menschen, deren Leben dunkle Schatten werfen.

Drei Schritte waren die Realität ihrer Situation. Doch der Schock über diese Erkenntnis hatte auch etwas Positives: Die Flut an Gedanken in ihrem Kopf machte eine Pause.

Sie ließ sich zurück auf das Bett fallen. Der Lattenrost ächzte. Das Gestell bewegte sich jedoch keinen Millimeter; es war an der Wand festgeschraubt.

Sie guckte zur Tür. Hatte sie gerade Schritte gehört? Um diese Uhrzeit? Ihr Herz schlug plötzlich gegen den Brustkorb, so stark, als wollte es ihre Rippen brechen.

Mit einem Ruck wurde die Kommunikationsklappe geöffnet. Dieses Wort hatte sie gelernt. Kommunikationsklappe.

Das Neonlicht aus dem Flur ließ sie die Augen zusammenkneifen. Ein Gesicht tauchte in der Öffnung auf. Es war dasselbe Gesicht wie gestern. Und am Tag davor. Sie fühlte sich ertappt, als hätte sie mit ihren drei Schritten gegen eine Regel verstoßen. Dabei hatte man ihr die Vorschriften genau erklärt. Verstanden? Verstanden.

Was sah der Mann, der sie jetzt musterte? Eine Frau, die ihre Kleidung in der Kinderabteilung aussuchen könnte, weil sie nie über 1,55 Meter gewachsen war? Die beim Kauf von Alkohol nach ihrem Ausweis gefragt wurde, obwohl der achtzehnte Geburtstag schon elf Jahre zurücklag? Lief in seinem Kopf ein Film ab, dass diese Frau mit der tiefen Stimme, die man nicht erwartete bei ihrer Statur, doch sicherlich nicht zu so einer Tat fähig war? Nein, nicht die.

Oder hatte er genug Berufserfahrung?

Mit einem Ruck drehte sie sich zur Seite. Sie wollte mit niemandem kommunizieren. Schon gar nicht durch eine Klappe. Sie spürte seinen Blick zwischen ihren Schulterblättern. Sie wusste, was er dachte. Was hat diese Frau ihrer Schwester angetan?

Eine Frage, die keine Antwort verdiente.

Sie war nicht ihre Schwester.

Zwölf Monate vor der Premiere

Charlie

Sie hätte das Unheil kommen sehen müssen. Die Tatsache, dass die letzten Monate zu glatt gelaufen waren, ihr Leben eine Wendung zum Guten genommen hatte, hätte sie warnen müssen. Sie hatte ein Gefühl von Hoffnung zugelassen, während das Erdbeben sich unter der Oberfläche unbemerkt aufgebaut hatte. Doch ihre Vorstellungskraft hätte ohnehin nicht ausgereicht, sich den Abgrund auszumalen, in den sie fallen würde.

Wind peitschte Regen gegen das Fenster in Phoebes Küche, so stark, dass man die Welt draußen nicht mehr sehen konnte. Charlie beobachtete ein Rinnsal, das innen am Fensterrahmen die Wand hinunterlief. Die alte Bausubstanz war der Witterung nicht gewachsen. Ein dunkler Fleck auf dem Holzboden unter dem Fenster verriet, dass es nicht zum ersten Mal in die Küche ihrer Stiefschwester regnete. Das Fenster schloss nicht.

Charlie war noch nie in Phoebes Wohnung in der Elizabeth Avenue gewesen. Und sie wollte auch jetzt nicht hier sein. Nur fünfzehn Minuten Fußweg trennten ihre Wohnungen, eine Ironie des Schicksals. Phoebe wohnte in Islington, sie in Hackney. Zwei Nachbarstadtteile, deren Grenzen verschwammen, doch in London reichte diese Distanz, um in verschiedenen Lebenswelten zu sein. Ihr Verhältnis kam der zufälligen Begegnung zweier Fremder auf der Straße gleich. Nein, der Vergleich hinkt, dachte Charlie. Gegenüber einem Fremden auf der Straße verspürt man keinen Hass.

Trotzdem stand sie jetzt hier, in Phoebes Küche. In der Früh waren sie zusammen beim Notar gewesen. Wie ganz normale Geschwister. Charlie hatte die Minuten gezählt, bis der Termin vorbei war. Sie hatte den Druck auf ihrem Brustkorb kaum ausgehalten. Auf dem Rückweg wurde ihr dann klar, dass die Qual noch kein Ende hatte.

»Setz dich doch!« Phoebe hatte ihr einen Platz angeboten. Damit hatte Charlie nicht gerechnet. Doch schon als ihre Stiefschwester die Worte ausgesprochen hatte, wussten sie beide, dass Charlie der Einladung nicht nachkommen würde.

Sie zwang ihren Blick weg von dem Fenster, durch das der Regen lief.

Phoebe hielt den Ring in den Händen, den ihr der Notar am Morgen ausgehändigt hatte. »Fast zweihundert Jahre alt«, sagte sie jetzt. »Wow!« Ihre Stimme hatte einen Tonfall angenommen, der erkennen ließ, dass sie die Gelegenheit, die ihr in den Schoß gefallen war, ohne Rücksicht verfolgen würde. Sensationsgier, Eigennutz, Gewissenlosigkeit – alles durch ein einziges Wort zum Ausdruck gebracht. Wow. Phoebes Intention schwebte unmissverständlich im Raum wie eine Warnung: Der Ring gehört mir.

Phoebe steckte den Ring auf ihren linken Ringfinger und streckte Charlie die Hand entgegen, als würde sie eine Verlobung kundgeben.

Kälte breitete sich mit einem Schlag in Charlie aus, als wäre sie in ein Eisbecken getaucht worden. Frieren war ein Schutzmechanismus. Der Körper entzog den Extremitäten Wärme, um die Organe und das Gehirn zu schützen. Galt das auch für innere Kälte? Versuchte ihr Körper, sie zu schützen? Vor Phoebe?

Charlies Welt war schon so oft in tausend Teile zersprungen, dass sie sich fast wunderte, warum ihr das Ganze etwas ausmachte. Dabei hatten die Worte des Notars in der Kanzlei zunächst ganz harmlos geklungen. »Ich habe Kenntnis erlangt über ein weiteres Schließfach der Verstorbenen, Dorothy Jean Buckley.«

Doch Charlie wusste aus Erfahrung, dass Worte, die harmlos klangen, und Überraschungen, die man nicht kommen sah, selten hielten, was sie versprachen.

Phoebe

»Dorothy hat also vor ihrem Tod ein letztes Theaterstück verfasst«, sagte Phoebe und zog das Papier aus dem Umschlag.

Bisher hatte sie keinen Blick auf das Manuskript geworfen. Der Notar hatte ihr in der Früh den Stapel Papier zusammen mit dem Ring ausgehändigt. Langsam blätterte sie durch die Seiten, die nun auf ihrem Küchentisch verstreut lagen. Ihr Blick flog über die Zeilen. »Das Manuskript ist nur ein Entwurf.« Sie schlug die letzte Seite des Theaterstücks auf. »Das Ende ist …« Sie stockte. »… kein Ende.« Sie schaute zu ihrer Stiefschwester. »Da fehlt echt der Schluss.«

Charlie stand wie ein Zinnsoldat in der Mitte der Küche. Steif und ungelenk. Sie trug kein Make-up. Nicht mal eine Vorladung zum Notar war für Charlie ein Grund, sich Mühe zu geben.

Phoebe hatte ihrer Stiefschwester einen Platz angeboten, aber gewusst, dass diese ablehnen würde.

Sie hatte die Einladung auch nur ausgesprochen, weil Charlie durch ihre Ablehnung in die Defensive gedrängt wurde, denn eine Einladung auszuschlagen war immer irgendwie unhöflich.

Diese kleinen Verschiebungen im Machtgefüge ließen Phoebe die Nähe zu ihrer Stiefschwester aushalten, denn Charlies Anwesenheit in der Küche fühlte sich an wie eine Invasion. Die Stunde, die sie mit ihr beim Notar verbracht hatte, war bereits eine echte Herausforderung gewesen.

Doch sie musste Charlie Einhalt gebieten. Und ich weiß auch schon, wie, dachte Phoebe.

»Warum taucht nach sechs Monaten plötzlich der Rest von Dorothys Nachlass auf?« Charlie schüttelte den Kopf.

Phoebe unterdrückte ein Lächeln. Ihre Stiefschwester konnte ihre Niederlage einfach nicht begreifen. Vermutlich redete Charlie sich jetzt ein, das alles wäre nur ein Albtraum.

»Der Ring und das Manuskript sind letzte Woche in einem Schließfach der Privatbank Reuben & Co in Knightsbridge gefunden worden. Der Notar hat uns den Sachverhalt doch erklärt.« Phoebe zuckte mit den Schultern. Ein Grinsen huschte jetzt über ihr Gesicht, eines von der Sorte, das man nicht kontrollieren konnte und meist in den falschen Situationen passierte.

Zum ersten Mal, seit sich der Parasit im Alter von sieben Jahren in Phoebes Leben gedrängt und fortan ohne Rücksicht die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, spürte Phoebe, was Gerechtigkeit bedeutete.

»Es macht keinen Sinn«, sagte Charlie. Sie klang nun wie ein nörgeliges Mädchen. Phoebe liebte diesen Tonfall.

Eine jüngere Schwester, und Charlie war ja nicht einmal ihre Schwester – sie war Phoebe in ihrer Kindheit per Gerichtsbeschluss aufgezwungen worden –, konnte der älteren nie gewachsen sein. Dabei hatten die Jüngeren zunächst einen Vorteil. Es war ihr Geburtsrecht. Als ältere Schwester wurde man immer um Nachsicht gebeten. »Die süße Kleine.« Oder »Gib doch nach.« Oder »Du bist doch die Vernünftige.« Das Kindchenschema gewann immer. Ein Trick der Natur, der das Überleben der Jüngeren sicherte.

Mit der Zeit entwickelte man als älteres Geschwisterkind Strategien, die Manipulation der Eltern unter Kontrolle zu bringen. Man holte sich den Vorteil und die Aufmerksamkeit zurück. Das war reiner Selbstschutz, denn die Alternative wäre, für den Rest des Lebens unsichtbar zu bleiben.

Und so wuchs man praktisch damit auf, immer um die Ecke zu denken, das eigene Handeln in eine Richtung zu steuern, in der ein Parasit keine Chance hatte. Auf diese Weise war man der Jüngeren immer einen Schritt voraus. Irgendwann prallten diese Sätze an einem ab; sie hatten einfach keine Bedeutung mehr. Dann hatte man das System besiegt. Man wurde wieder sichtbar.

In seltenen Fällen war das Schicksal auf der Seite der Älteren. Ein kurzer Moment, so kostbar wie rar, eine Sonnenfinsternis, die einen Schatten auf das Leben der Jüngeren warf.

Deswegen war Charlie jetzt so aus der Bahn geworfen. Sie kannte das nicht. Die süße Kleine.

Charlie

War das Ganze ein Albtraum? Am liebsten würde Charlie sofort aus Phoebes Wohnung stürmen und irgendeine Nummer abziehen, um aufzuwachen. Sie musste fallen, egal von was, egal wie tief, vom Dach, die Treppe hinunter, es machte keinen Unterschied, denn in einem Traum wachte man auf, in der Sekunde, in der man ins Leere fiel. Was hat Dorothy sich bloß gedacht?

Dorothy J Buckley. Gefeierte Dramatikerin. In den Achtzigern gab es kaum jemanden in der Londoner Theaterszene, der sie nicht kannte. Im Alter von 49 Jahren schmiss Dorothy alles hin. Und setzte sich zur Ruhe. »Künstlerin zu sein bedeutet, mit dem Zirkus wegzulaufen. Alles hinter sich zu lassen, Abenteuer, Freiheit zu spüren. Ich fühle mich zu alt für den Zirkus.«

Ruhe hatte in Dorothys Fall bedeutet: eine Anstellung als Drama Teacher an der Norlington Community School. Niemand hatte sich ihrer Freundlichkeit, gepaart mit Charisma und Intelligenz, entziehen können. Jeder wollte in der Nähe dieser Frau sein, in der Hoffnung, dass sich etwas Glanz auf den eigenen Charakter übertrug – ein vergebliches Unterfangen, denn der Trostlosigkeit in Norlington entkam niemand. Eine Industriestadt in Lincolnshire, die vor Jahrzehnten florierte und später dem Untergang geweiht war. Dank Dorothy hatte Charlie ihre Kindheit und Jugend überstanden. Der Fels in der Brandung.

Dorothy hatte sie und Phoebe als ihre Haupterbinnen eingesetzt. Bereits vor sechs Monaten waren sie bei dem Notar gewesen. »Sie beide erben zu gleichen Teilen das Vermögen von Dorothy Jean Buckley. Der Sohn geht leer aus«, so die Worte des Notars vor einem halben Jahr. »Das Testament ist allerdings mit einer Bedingung versehen. Der Betrag wird erst ausgezahlt, wenn Sie beide 30 Jahre alt sind.« Der Notar hatte sie angeschaut. »Miss Buckley wollte, dass Sie reif genug sind, mit dieser stattlichen Summe umzugehen.«

Da Charlie die Jüngere war, musste Phoebe warten, bis Charlie ihren 30. Geburtstag feierte.

»Sollten wir das Geld nicht mit Verantwortung einsetzen?«, hatte Charlie später gefragt. »Eine Spende, für einen guten Zweck?« Die Summe machte sie nervös. Sie wollte das Geld nicht. Ich verdiene es nicht.

»Ich bin nicht die beschissene Wohlfahrt.« Damit war die Angelegenheit für Phoebe erledigt gewesen.

Und nun war plötzlich ein weiterer Teil des Erbes aufgetaucht. Die Worte, auf Papier, von Dorothy mit der Hand niedergeschrieben, schmerzten, als seien sie mit einem Messer in Charlies Haut geritzt worden. »Phoebe, der Ring und das Manuskript sollen dir zum Erfolg verhelfen.« Das stand da, direkt vor ihr, auf dem Papier. Auch nach zehnmal lesen noch. Für Charlie blieb der Trostpreis: »Charlie, das Manuskript braucht eine Überarbeitung.«

Hatte Dorothy kurz vor ihrem Tod den Verstand verloren? Dorothy, die Gerechtigkeit stets als höchstes Gut angepriesen hatte? Dorothy, der moralische Kompass in ihrem Leben? Phoebe bekam diesen wertvollen Ring und damit eine Finanzspritze sowie ein Manuskript auf dem Silbertablett präsentiert. Und Charlie ging leer aus? Es macht alles keinen Sinn.

Das Geld kümmerte sie nicht. Nein, es ging um ihren Traum von einer eigenen Theaterproduktion. Dorothy zwang sie beide zu einer Zusammenarbeit – zu Phoebes Vorteil.

Was bezweckte Dorothy mit diesem Pulverfass? Dorothy musste doch gewusst haben, was dann passierte. Eine Zusammenarbeit mit Phoebe konnte nicht gut gehen. Es ist schon einmal nicht gut gegangen.

Charlies Blick klebte auf den handgeschriebenen Worten auf dem Deckblatt des Manuskripts. »Opus Magnum« stand dort. »Jedes Stück ist das wichtigste Werk«, hatte Dorothy stets gesagt. Charlie stellte die Qualität des Materials nicht für eine Sekunde in Frage. Das Manuskript war eine Sensation.

»Das wird mein Durchbruch als Regisseurin«, sagte Phoebe jetzt und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Das ist meine Chance.«

»Die Regisseure sind nur die Handlanger der Dramatiker«, platzte es aus Charlie heraus. Sie verkniff sich den Kommentar, dass Phoebe noch nie Regie geführt hatte. »Ich soll das Stück fertig schreiben.«

Und dann war die Welt zu Ende.

»Ich hatte heute Morgen ein Gespräch mit Sophie Jones«, riss Phoebe Charlie aus ihren Gedanken. Worte, die harmlos klingen …

»Sophie Jones aus Norlington?« Die Kälte in Charlies Innerem wurde zu Frost und der Frost zu Eis. Der Themenwechsel versetzte sie mit einem Schlag in Alarmbereitschaft. Norlington war kein gutes Thema.

Charlie sah, wie Phoebe eine Haarsträhne hinter ihr Ohr strich.

»Die Alte wohnt seit ein paar Jahren mit ihren vier Katzen auf der Southgate Road.« Phoebe zuckte mit den Schultern. »Sophie wollte wissen, ob du Julia noch immer vermisst. Hast du die Sache im Wald je vergessen?«

Kalter Schweiß brach aus Charlies Poren. Ihr Leben war ein Kartenhaus, ein Stoß reichte, und ihre Existenz fiel in sich zusammen. Julia.

Die Warnung war unmissverständlich. Ein gezielter Stoß. Charlie schloss die Augen. Die Katastrophe.

Phoebe wollte alles für sich, den Ring, das Manuskript. Ihr Durchbruch war das Einzige, was zählte. Und die einfachste Lösung, um freie Bahn zu haben, war, Charlie unter Druck zu setzen. Schachmatt.

»Du lügst«, brachte Charlie mit brüchiger Stimme hervor. Ihr Körper hatte vor dem Eis kapituliert. »Wer stellt nach dreizehn Jahren so eine Frage?«

Phoebe zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst.« In ihren Augen blitzte Verschlagenheit auf.

Das Eis in Charlies Adern zerbrach. Sie wusste, was passieren konnte. Sie wusste, wozu Phoebe fähig war. Hast du die Sache im Wald je vergessen?

Einen Moment blieb Charlie die Luft weg. Ein Abgrund tat sich auf. Sie stürzte in die Tiefe. Das Erbe, das Theaterstück – nichts zählte mehr.

Dunkelheit griff nach ihr, das Schwarz zog sie nach unten. Immer tiefer. Bis die Finsternis absolut war.

Dann akzeptierte ihr Verstand die Erkenntnis, ganz nüchtern. Sie hatte keine Wahl. Es gab nur eine Lösung. Sie war seit langer Zeit überfällig.

Charlie würde einen Mord begehen.

Freitag – Vier Tage vor der Premiere

Hawk

»Alles in Ordnung?« Das war das Netteste, was seit langer Zeit ein Mensch zu ihm gesagt hatte. Die Radfahrerin sah erschrocken aus. Schweiß stand auf ihrer Stirn, und sie schnappte nach Luft.

Er hob die Hände zu einer Entschuldigung und ging weiter. In Gedanken versunken war er über die Holford Road gelaufen, das Ziel direkt vor Augen, und hatte nicht richtig geguckt. Durch seine Unachtsamkeit hätte er beinahe eine Kollision mit der Frau auf dem Mountainbike verursacht. Dabei wäre ein Unfall das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Vor allem ein Unfall, der dem Elend seiner Existenz kein Ende setzte, sondern in einer Verletzung resultierte, die ihn Monate außer Gefecht setzte.

Die Radfahrerin fuhr jetzt mit einem Kopfschütteln den Berg runter. »Beim nächsten Mal aber aufpassen!«, rief sie.

Er verzog das Gesicht. Jaja.

Wie er sie alle hasste! Die Kollegen, als er noch Kollegen hatte, die Kundschaft, als er noch Kundschaft hatte, seine Familie, als er noch Familie hatte, und die gesamte Bevölkerung Londons. Die Menschheit. Alle. Als wäre das nicht deprimierend genug, ein Leben voller Frustration und Abscheu nicht nur gegen das eigene Umfeld, sondern gegen die Welt als Ganzes zu führen, die Ungerechtigkeit und Machtlosigkeit, die einem – wenn man sie erst einmal begriffen hatte – jeden Tag neu den Boden unter den Füßen wegzog – nein, zu allem Übel gab es in einer Großstadt keine Möglichkeit, dieser Qual zu entkommen: In London war er der Nähe zu Menschen völlig ausgeliefert.

Er vermied dennoch, so gut es ging, jeden Kontakt, und zurzeit war dieses Unterfangen ein Selbstläufer: Die Leute gingen ihm freiwillig aus dem Weg. Seine ungekämmten Haare. Der vor Dreck strotzende Anzug. Die Leute wechselten die Straßenseite. Nach einem kurzen Blick auf sein Äußeres öffneten sie eine Schublade, keine gute, und schon war er verschwunden. Bettler, Obdachloser, Penner. Bezeichnungen ohne Ende. Er wusste, was er für eine Wirkung hatte – selbst in einer Stadt wie London, in der Gleichgültigkeit ein hohes Gut war. Doch ein Mann mit seinem Aussehen, ein rough sleeper, der sich, wie sie mit ihrem flüchtigen Blick analysierten, unter Brücken, auf Gehwegen und im Park aufhielt, sein bester Freund ein Hund, fiel selbst hier auf. Nie war ihm aufgrund seiner Erscheinung eine derartige Abwehr entgegengebracht worden, auch nicht als Musiker oder Handwerker. Und er hatte schon zig Jobs gehabt, echten Dreck – immer war ihm auf eine Weise Respekt gezollt worden.

Seinen Anzug aus Tweed hatte er sich in einem Charity Shop besorgt, Hose und Jackett für 18 Pfund – ein Vermögen für Leute von der Straße. Die Verkäuferin hatte ihm einen Rabatt gewährt. »Ausgezeichnete Qualität. Sechzigerjahre. Glasgow.« Er hatte sie angestarrt. »Von den Witwen Schottlands wurden die Anzüge ihrer toten Männer gesammelt und teuer in London auf den Märkten verkauft. Der letzte Schrei«, hatte sie erklärt.

Am Saum seiner Anzughose, die also irgendwann der letzte Schrei gewesen war, klebte Erde aus einem Vorgarten in der Well Road. Er hatte das Gleichgewicht verloren, als Harrison ihn ohne Vorwarnung in ein Blumenbeet gezogen hatte.

Sollten sie alle sehen, dass saubere Kleidung ein Privileg war und mit welch miserablen Mitteln Obdachlose in London ihre Existenz bestritten. Am liebsten würde er jedem, der ihn anschaute, Geringschätzigkeit im Blick, seinen vor Schmutz starrenden Anzug durch die Visage ziehen.

Er beugte sich zu Harrison runter und streichelte dem Staffordshire-Mischling über das Fell. »Wir sind gleich da, Kumpel.«

Hawk überquerte jetzt den Hampstead Square, eine winzige Nebenstraße, und ließ seinen Blick über die Pension gleiten, die neben der Kirche stand. Das Waverly Inn. Sein Puls beschleunigte sich. Er hob den Kopf, genau wie Harrison; als witterten sie beide, dass etwas in der Luft lag. Hawk kniff die Augen zusammen, seine Sinne waren hellwach.

Der trotzige Altbau war erst in den letzten Jahren zu einem Hotel umgebaut worden. Rote Backsteine zierten die Außenfassade. Giebel und Erker schmückten die oberen Etagen, und unter dem Dach waren Balkone an die Fenster gemauert. Es war das einzige Gebäude auf dieser Straßenseite. Nur die aus grauem Kalkstein gebaute Christ Church mit ihrem spitz zulaufenden Kirchturm, der an eine in die Luft ragende Nadel erinnerte, befand sich einige Meter entfernt. Alte Ulmen säumten die Gebäude, und Blauregen schmückte die Eingänge der Häuser.

Mit Harrison im Schlepptau lief Hawk an der Pension vorbei, schielte durch die weißen Sprossenfenster im Erdgeschoss. Im rechten Teil des Gebäudes befand sich das Restaurant, er konnte eine Bar erkennen. Direkt neben dem Saal war die Außenterrasse. Auf einer Seite war diese von einer Mauer aus verwitterten Backsteinen umfasst, auf der anderen Seite offen. Nur ein niedriger Zaun trennte den Gehweg ab. Nichts schützte die Gäste vor ungewollten Beobachtungen. Genau hier, an diesem Platz, würde er sein Quartier aufschlagen.

Er wusste, man würde ihn verscheuchen. Niemand wollte das Elend, die Versager der Gesellschaft, am Frühstückstisch vor Augen haben. Schon gar nicht in dieser Gegend.

New End, nordöstlich vom elitären Hampstead Village im Norden Londons, hatte in der Vergangenheit als ärmerer Teil von Hampstead gegolten, ursprünglich bevölkert von Bohemiens und Intellektuellen. Von der Geldnot war nichts mehr zu sehen. Umgebaute Cottages und sorgfältig restauriertes Kopfsteinpflaster zeichneten ein anderes Bild. Armut war relativ, zumindest in einem der heute reichsten Stadtteile Londons. Doch ihn loszuwerden würde kein leichtes Unterfangen, er konnte wiederkommen. Er war ein freier Mensch.

Gegen eine Mauer gelehnt setzte er sich auf den Gehweg in den Schatten. Sein Anzug aus Tweed, der letzte Schrei, war viel zu dick. Die Hitze war erbarmungslos, selbst hier auf dem Berg, umgeben von Wäldern und Parks. Mit einer Grimasse zog er seine Baseballkappe vom Kopf, überlegte es sich anders, setzte sie wieder auf und knotete das Tuch von Harrisons Hals. Sorgfältig breitete er es auf dem Asphalt aus. »Es wird alles gut.«

Harrison schaute ihn mit rot unterlaufenen Augen an. Der Hund war kein Optimist.

Hawk hatte ihn vor zwei Jahren aus dem Tierheim geholt. Die Entscheidung, dass es Harrison sein musste, war in nur einer Sekunde gefallen. Der Hund hatte ein Tattoo. Am rechten Hinterlauf, fast unter dem Bauch, dort, wo das Fell dünn und kurz war, nicht weiß und dicht wie am restlichen Körper. Dort, wo die Haut zartrosa durchschimmerte, stand das Wort, in schwarzen Buchstaben auf Lebzeiten eintätowiert: Harrison. Diese Art von Tierquälerei hatte ihm die Sprache verschlagen. Als Zeichen der Verbundenheit hatte er sich seinen eigenen Namen, Hawk, auf den linken Unterarm stechen lassen.

Er griff in eine Plastiktüte, er hatte gleich drei dabei, und zog eine Dose Lager raus. Mit einem Zischen öffnete er den Verschluss.

Wo war er bloß in der Vergangenheit falsch abgebogen? Warum zur Hölle war sein Leben so aus der Spur?

Nun, um ehrlich zu sein, könnte er mehrere Ereignisse aufzählen, an denen er falsch abgebogen war, nicht alle waren seine Schuld gewesen, einige aber eben doch.

Der Geschmack des Biers war so bitter wie sein Lachen, als er den Blick auf das Waverly Inn heftete. Stunde Null, dachte Hawk und spuckte auf den Gehweg.

Er wollte sein Leben zurück. Das Wasser stand ihm bis zum Hals.

Seine Zukunft, ja seine gesamte Existenz, hing von diesem Wochenende ab.

Charlie

Die Luft war zum Schneiden. Die Julihitze, die Enge der Stadt und zwölf 1000-Watt-Höchstleistungsscheinwerfer ließen keinen Raum für Sauerstoff im Perlman Theatre an der Dalston Junction im Osten Londons. Die Backsteinwände hatten die Wärme gespeichert und gaben von allen Seiten Hitze in den Saal ab wie ein einziger, riesiger Heizkörper. Klimaanlagen kamen gegen die Temperaturen nicht mehr an, Ventilatoren waren seit Wochen ausverkauft. Die Bevölkerung litt unter Schlaflosigkeit und dem Verlangen nach Abkühlung. Die Hitze verwandelte die Londoner in Zombies.

Hinter Pizza Union und McDonald’s versteckt stand das Perlman Theatre, abseits des Verkehrs der Kingsland High Street, in der Ashwin Street. Die Stahlstreben an der Decke und die Mauern aus Backstein waren letzte Zeugen der Vergangenheit als Farbenfabrik. Die Fenster des Theaters waren zugemauert. Die Welt des Theaters duldete keine Blicke von draußen.

Charlie trank einige Schlucke Wasser direkt aus der Flasche. Beinahe konnte sie fühlen, wie ihre Zellen die Flüssigkeit aufsaugten. Doch in der nächsten Sekunde war ihr Mund schon wieder trocken. Ihr ganzer Körper war überzogen von Schweiß.

Sie stand mitten im Saal des Studio 1 und starrte Phoebe an. Mehrere Filme, nein, Theaterstücke geisterten gleichzeitig durch ihren Kopf, buhlten um ihre Aufmerksamkeit, gepaart mit der Befürchtung, dass irgendetwas bei dieser Probe oder in den nächsten Tagen schiefgehen könnte.

»Zu hell.« Phoebe schüttelte den Kopf. »Die Bühne sieht nach Sommer aus. Ich will keinen verdammten Sommer.« Phoebe war auf dem besten Weg, die Premiere in völliger Dunkelheit stattfinden zu lassen. Auf der Stirn des Lichttechnikers schwoll eine Ader an. »Wir müssen über das Gesamtkonzept sprechen.«

Es war die letzte Woche vor dem großen Tag. Technische Probe. Morgen folgte die Kostümprobe, dann die Preview am Montag, die als Voraufführung diente, mit Publikum, bevor die Kritiker das Stück zu sehen bekamen. Am Dienstag war die Premiere. Nervosität war zu einem allumfassenden Zustand geworden. Die Atmosphäre glich einem Bienenstock, mit gehörigem Respekt vor der Königin.

Der Lichttechniker schaute Phoebe an. »Ich muss die Qualität des Lichts wissen. Fokus, Intensität, Streuung.«

»Wie wird der Plot durch das Licht erzählt?«, fragte Charlie.

»Wie wird der Plot durch das Licht erzählt?« Phoebe lachte. »Du kannst froh sein, heute überhaupt hier zu sein.«

Charlie biss die Zähne zusammen. Phoebe hatte ihr in den letzten Wochen mehrfach die Teilnahme an den Proben untersagt.

Der Klang von Phoebes Absätzen auf dem Holz hallte jetzt durch den Saal. Mit einer Kapazität von dreihundert Plätzen war das Fassungsvermögen des Studio 1 limitiert, dennoch wirkte der Raum riesig. Ein leerer Theatersaal betonte das Fehlen des Publikums. Man wusste nicht, wie man den Raum einordnen sollte, der voll mit Menschen sein musste und gerade wegen der Masse an Zuschauern eine beängstigende Wirkung haben konnte.

Dies hier war Charlies Welt. Ein Zirkus, wie Dorothy es immer genannt hatte. »Du darfst keinen Plan B haben«, waren die Worte ihrer Lehrerin gewesen. »Wenn du einen Plan B hast, will der Zirkus dich nicht. Man verliert den Fokus, wenn es eine Alternative gibt.«

Charlie war raus aus Norlington. Und nicht mehr lange, dann würde auch Norlington raus aus ihr sein. Ich bin mit dem Zirkus weggelaufen.

»Seit wann kümmern sich Dramatikerinnen um das Licht?« Phoebe ging von der einen Seite der Bühne zur anderen. »Du bist eine Theaterautorin. Mehr nicht.« Die Absätze ihrer High Heels bohrten sich in das Parkett. Ihr Gang strotzte vor Kraft, dabei hatte sie heute Morgen noch eine Rede über ihre Erkrankung geschwungen. Die Krankheit, die sie für Aufmerksamkeit nutzte, wo sie nur konnte. Phoebe kannte jedes Detail, war besser informiert als die meisten Ärzte. »Fibromyalgie«, hatte sie jenen Angestellten des Perlman Theatre erklärt, die nichts von ihrem Leiden wussten. Auf mehreren Stellen ihres Körpers klebten Schmerzpflaster, eines war am Nacken zu sehen. Sie trug ein T-Shirt mit einem weiten Ausschnitt. »Ich habe einen Schub. Aber ich möchte es nicht thematisieren«, sagte sie dann, nachdem sie es thematisiert hatte und alle im Saal betroffen schwiegen. Das war ihr Ziel: Betroffenheit auslösen, dann Bewunderung. Über ihre Stärke.

»Die Autorin eines Stücks kann Impulse geben«, warf Dmitri ein. Die Stimme des Lichtdesigners hatte einen versöhnlichen Tonfall angenommen. Doch sein guter Wille wurde nicht belohnt.

»Ich bezahle nicht für dumme Ratschläge.« Phoebe griff nach Dmitris Arm und zog ihn Richtung Bühnenrand.

»Ich brauche die Schauspieler für die Streuung des Lichts«, erwiderte er säuerlich. »Eine leere Bühne bringt nichts.«

Charlie stieg jetzt die Stufen zum oberen Rang hinauf, brauchte Abstand von ihrer Stiefschwester. Dies war ein Vorgeschmack, und sie durfte nicht die Nerven verlieren.

In den nächsten zwei Tagen würde ihre Geduld auf das Äußerste getestet werden. Phoebe und sie würden eine Nacht in einer Pension verbringen, im Waverly Inn, auf neutralem Boden. Ihr letztes Arbeitstreffen vor der Premiere. Charlie hatte es »Strategiebesprechung« genannt. Das war die offizielle Version. Verdammt, es ist eine Strategie, dachte Charlie und musste nun fast ein Lächeln unterdrücken. Der Stein, der alles ins Rollen bringt.

Das Wochenende im Waverly Inn würde der Start einer neuen Zeitrechnung werden, mit Auswirkungen auf alle folgenden Tage, Monate – ja, auf den Rest ihrer Lebenszeit. Und auf die Premiere.

Charlie würde eine Tat begehen, die andere nicht verstanden, vielleicht sogar verabscheuten, doch die Wahrheit war, dass es zu jedem Zeitpunkt eine Person gab, die einen anderen Menschen für eine Tat oder ein Verhalten verabscheute.

Sie war 29 Jahre und 63 Tage alt. Das waren 10 655 Tage auf dieser Erde. An 10 654 dieser Tage hatte sie sich nach bestem Gewissen an alle Regeln gehalten. Was war ein Tag gegen 10 654 Tage?

Sie lehnte sich gegen die Balustrade und sah, wie Dmitri nach ihr Ausschau hielt. Charlie hatte eine Idee für das Licht, doch jeder Vorschlag stellte eine Bedrohung für Phoebe dar. Man konnte sie nur mit ihren eigenen Waffen schlagen, selbst wenn es um einen Scheinwerfer ging.

»Charlie …«, rief Phoebe, sie wusste immer, wo jemand war, wie ein Radar, »… sag den Schauspielern Bescheid.« Ihre Worte hallten durch den Saal. »Wo bleibt denn die Bagage?« Selbst im oberen Rang verlor der Spott in Phoebes Stimme nicht an Intensität. »Wir wollen doch alle Dorothy stolz machen.« Die Worte klangen hohl aus Phoebes Mund. Am liebsten würde Charlie die Schmerzpflaster von Phoebes Haut reißen und über ihre Lippen kleben.

Allein der Gedanke an Dorothy ließ Charlies Augen brennen. Trauer kam in Wellen. Sie riss einen mit, stieß einen um, besonders in Momenten, in denen man nicht damit rechnete. Dorothy war die einzige Person auf dieser Welt gewesen, die je etwas für Charlie getan hatte.

Dorothy hatte nicht den Verstand verloren. Das hatte Charlie in der Zwischenzeit verstanden. Dorothy hatte ihr das Manuskript zur Überarbeitung überlassen in der Annahme, es würde auch Charlie zu ihrem Durchbruch verhelfen. Auf diese Weise würde Charlie ihren Namen unter das Werk setzen können, zusammen mit Dorothys Namen. Ein cleverer Schachzug.

Der Notar hatte Phoebe deutlich gemacht, dass Charlie die Überarbeitung machen durfte, so stand es im Testament, und es gab keinen Ausweg.

Die Premiere musste ein Erfolg werden, das war Charlie Dorothy schuldig. Und, oh ja, sie würde den Ansprüchen ihrer Mentorin gerecht werden.

Die Premiere von The Greatest Happiness fand in vier Tagen statt, eine Premiere, die mehr Aufmerksamkeit bekommen würde, als Dorothy es sich in ihren kühnsten Träumen je hätte vorstellen können.

Phoebe

Die Temperaturen waren in den letzten Tagen nach oben geschossen. Doch sie nahm diese Tatsache nicht über ihre Haut auf. Nein, es waren ihre Augen, die ihr diesen Sachverhalt verrieten. Schweißflecke unter den Armen. Glänzende Gesichter. Fakten wurden über die Augen nach innen gespiegelt, dort zu einer Information und im besten Fall zu einer Emotion verarbeitet. Doch Phoebes Geist und ihre Seele hatten sich von jeder Emotion getrennt. Gefühle gehörten der Vergangenheit an. Ich bin ein Roboter.

Phoebe befand sich in einem Tunnel, und das Licht am Ende dieses Tunnels war das Einzige, was zählte. Das Licht, das in Form von 1000-Watt-Strahlern auf sie gerichtet sein würde: Anerkennung. Berühmtheit. Wertschätzung. Ihre gesamte Wahrnehmung war auf einen einzigen Tag gerichtet. Dienstag. Der Tag ihres Triumphs. Von Dienstag an würde sie sagen können: »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«

Diesen Druck musste man aushalten können. Das Wissen, dass die eigene Person plötzlich in aller Munde sein würde. Man befand sich in einem Schwebezustand, man sah es kommen und stand doch im Nebel, denn so richtig konnte man sich den eigenen Durchbruch nicht vorstellen. Man wollte nach einem Halt greifen, doch da war keiner, denn das ganze Konstrukt des Ruhms war das Gegenteil von Halt.

»Wo bleibt denn die Bagage?«, fragte sie erneut. »Ich bezahle nicht für ein Versteckspiel hinter der Bühne.«

Charlie kam die Treppe runter, nachdem sie zuvor wie von der Tarantel gestochen hochgelaufen war. Das war ein typisches Verhalten. Schweigen oder Reißausnehmen. Es gab nur diese zwei Möglichkeiten. Ihre Stiefschwester holte jetzt zu einem Gegenschlag aus. Wie ein verwundetes Tier, das in Deckung ging, um dann mit voller Kraft einen letzten Angriff zu starten.

»Lass uns die Wirkung des Lichts bei der Kostümprobe morgen testen. Mit Maske und Kleidung können wir die Farben besser eingrenzen«, sagte Charlie jetzt.

Dmitri nickte, und auch Daniel, vom Ton, stimmte zu. Der Parasit machte Vorschläge immer gern, wenn andere Leute in der Nähe waren. Oft ergab sich dann eine Diskussion, und ehe man sichs versah, war der Vorschlag ihrer Stiefschwester die einzige Option, die für alle Beteiligten Sinn machte. Und keiner wusste, warum. Es gab kaum eine Verteidigungsstrategie gegen dieses Vorgehen.

Phoebe gab ihrer Stiefschwester keine Antwort. Manchmal war selbst ein Nein schon zu viel.

Die Menge an Entscheidungen, die Phoebe hatte fällen müssen, hatte jedes vorstellbare Maß übertroffen. Sie war zu einer verdammten Regisseurin, Produzentin, Executive und Artistic Director geworden. Ständig hatte sie Charlie abwehren müssen, die es sich zum Ziel erklärt hatte, das Stück für Dorothy zum größtmöglichen Erfolg zu führen. Es war nur um Dorothys Vision gegangen, wie wichtig die Premiere war – für Dorothy. Phoebe konnte den Namen nicht mehr hören.

»Drei Wochen Laufzeit sind das Minimum, um Kritiken in der Presse zu generieren. Vier Wochen Laufzeit sind besser. Du willst in die Zeitung«, hatte Charlie gesagt.

Wie sollte man gegen so ein Argument ankommen?

»Willst du große Namen im Cast? Dann musst du eine hohe Gage zahlen. Bei kleinen Namen reicht der Mindestlohn.« Charlie hatte sie angeguckt: »Du könntest Leute aus dem East End engagieren, um der Inszenierung Authentizität zu verleihen.«

»Ich will keine Gruppe von Idioten, deren einzige Qualifikation ist, dass sie in der Gosse geboren wurden.«

Phoebe hatte kein Geld für große Namen. Kleine Namen mit einem Skandal an der Backe waren eine Option. Das brachte Aufmerksamkeit, aber darauf konnte sie sich nicht verlassen.

Sie wollte einen Artikel in der Zeitung. Sie wollte ein ausverkauftes Haus. Sie wollte alles. Und um alles zu kriegen, würde sie alles tun. Das Scheinwerferlicht gehört ihr. In diesem Licht, zu hell, zu warm, würde sich niemand mit ihr sonnen. Schon gar nicht der Parasit. Sie waren kein verdammtes Mode-Design-Duo.

»Ich will keinen beschissenen Sommer auf der Bühne.« Phoebe ließ Dmitri auf der Bühne in seiner Beleuchtung stehen und ging zu dem Karton, der neben der Tür stand. Unscheinbar. Grau. Explosiv. Sie war jetzt bereit für die Exekution. Mit präziser Berechnung hatte sie sich diesen Moment aufgespart. Charlie hatte keine Ahnung, was gleich passieren würde. Jetzt, kurz vor dem Wochenende in der Pension, war der perfekte Zeitpunkt.

Phoebe stand nun vor dem Karton mit den Programmheften, den sie zu Beginn der Probe neben der Tür abgestellt hatte. Niemand der Anwesenden hatte der Kiste Beachtung geschenkt. Charlie hatte ihre Handtasche und mehrere Notizbücher direkt auf dem Stuhl daneben abgelegt. Ihre Stiefschwester hatte die Angewohnheit, sich in jedem Raum auszubreiten. Ein Parasit eben.

Phoebe starrte einen Augenblick auf Charlies Notizbücher. Sollte sie einen Blick riskieren? Sie spürte ein Kribbeln in ihren Adern. Nein, keine Ablenkung jetzt. »Charlie!« Sie zog ein Programmheft heraus. Der Geruch von frischer Druckfarbe stieg in ihre Nase. Sie hielt das Booklet in die Höhe. Die Seiten hatten einen leichten Glanz. Das Licht der Scheinwerfer reflektierte auf dem Cover.

Ihre Stiefschwester zeigte gerade auf einen Spot unter der Decke. Doch in wenigen Sekunden würden die Strahler ihr geringstes Problem sein. Phoebe wedelte mit dem Programmheft zu The Greatest Happiness.

»Ja?« Charlie schaute sie fragend an. Ihr Zopf hatte sich gelöst, die Wangen waren gerötet. Sie sah aus, als hätte sie eine Schlacht hinter sich. Dabei war die Explosion noch gar nicht erfolgt. Die Detonation war nicht mehr aufzuhalten, die Lunte war gezündet. In Phoebes Innerem regte sich nun doch beinahe so etwas wie eine Emotion, ja, Vorfreude.

In den wenigen Sekunden, die blieben, bis Charlies Blick auf das Cover des Programmhefts fiel, sie nach dem Booklet griff und hektisch begann, durch die Seiten zu blättern, auf der vergeblichen Suche nach ihrem Namen, Charlotte Raeburn, musste Phoebe sich nur noch zwischen zwei Erklärungen entscheiden, warum ihre Stiefschwester nicht erwähnt wurde: »Die Druckerei hat einen Fehler gemacht.« Bedauern im Blick. Eine Lüge.

»Die Druckerei hat keinen Fehler gemacht.« Kein Bedauern im Blick. Die Wahrheit.

Luke

Menschen begingen Dummheiten. Es lag in ihrer Natur. Eine Kleinigkeit konnte ausreichen, und das sorgfältig aufgebaute Konstrukt der eigenen, wie man glaubte, vernunftorientierten Existenz implodierte. Shit happens? Ja, aber eigentlich doch nur anderen. In solchen Augenblicken zeigte sich die Gratwanderung zwischen Dummheit und Intelligenz. Je nach Ausmaß ließ sich später mit Freunden über diese Situation lachen. Ein gemütlicher Abend, Alkohol; es waren jene Geschichten, die mit Freude erzählt wurden. Ein Lachen, ein Schulterklopfen – schon herrschte Einigkeit: Was für ein Missgeschick!

Überschritt die Dummheit eine bestimmte Größenordnung, war statt Gelächter in geselliger Runde allerdings Schweigen die Reaktion. Man warf sich dann pikierte, ja wissende Blicke zu, falls ein besonders unsensibler Zeitgenosse die Angelegenheit ansprach. Das Problem war, dass man vorher nie wusste, ob die Dummheit in die eine oder andere Kategorie fallen würde.

Luke hatte ganze Arbeit geleistet. Es gab keine Erklärung und erst recht keine Entschuldigung für das, was er getan hatte. Sein Kopf schaltete nie ab, niemals – und bei der einen Gelegenheit, einer absoluten Ausnahme, hatte er sich nicht auf sein Urteilsvermögen verlassen können.

Er hatte einen Verrat begangen. Und Charlie hatte keine Ahnung.

War der Vorfall erst drei Wochen her? Das Einzige, was er tun konnte, war, zu versuchen, das Ganze wiedergutzumachen.

Vorfall – der Begriff versteckte das Ausmaß seiner Unzulänglichkeit. Doch ob Vorfall oder Verrat, egal wie man es nannte, dies war der Grund, warum er eingewilligt hatte, heute Abend nach Islington zu kommen.

Er hatte schon zweimal geklingelt. Sie ließ ihn warten. Im Nachbarhaus briet jemand Speck, und der Geruch von verbranntem Fett und gepökeltem Fleisch ließ seine Kehle zusammenziehen. Er ging einige Stufen zurück, in der Hoffnung, dem Gestank zu entkommen. Beinahe stolperte er über eine schiefe Gehwegplatte, er stand schon fast wieder auf der Straße.

Sein Herz schlug bis zum Hals, als sie schließlich die Tür aufriss. Ihr Anblick brachte alles zurück. Sein Versagen. Das schlechte Gewissen.

Phoebe stand im Türrahmen. »Traust du dich nicht hoch?« Auf ihrem Nacken klebte ein großes Pflaster.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte er.

»Ich habe einen Schub.« Phoebe zuckte mit den Schultern.

»Das tut mir leid«, sagte er und wollte eigentlich nur weg.

Unbestimmt deutete er Richtung de Beauvoir Square, ein Park, der von schmalen, im holländischen Stil erbauten Häusern umsäumt wurde. »Lass uns ein paar Meter gehen. Ich habe nicht viel Zeit.« Er sah Ärger in Phoebes Gesicht. Sie mochte es nicht, wenn jemand anders den Ton vorgab.

»Meinetwegen«, sagte sie.

Gemeinsam gingen sie kurz darauf die Northchurch Road runter, dann an der St Peter’s Church vorbei. Trostlose Sozialbauten zierten die Straße, und aus einem Fenster klang Geschrei. Die Hitze in der Stadt war nicht gut für die Nerven. Er schob seine Ärmel hoch, doch das machte die Wärme auf seiner Haut fast noch schlimmer.

Was wollte Phoebe? Sie hatte ihn heute Abend hergebeten.

Er verzog das Gesicht, als sie an einer Reihe umgestoßener Mülltonnen vorbeiliefen. Tüten und Essensreste lagen auf dem Gehweg. Ein Grund, warum er aus dem Osten der Stadt in den Westen gezogen war, aus einer naiven Vorstellung heraus, das Leben dort wäre sauberer, weniger chaotisch. Auf eine gewisse Weise war es das. Richmond war so langweilig, wie man sich nur vorstellen konnte. Und schon verstößt man gegen seine Prinzipien.

»War es ein Fehler?«, fragte Phoebe unvermittelt, als könnte sie Gedanken lesen.

Sein Mund wurde trocken. »Natürlich war es ein Fehler.«

Ein Radfahrer kreuzte jetzt ihren Weg, fuhr zu schnell in eine Kurve, stürzte fast. Ein Fluch hallte über die Straße. Das Rücklicht des Fahrrads erleuchtete den Gehweg so lange, bis das Rad in die Culford Road abbog und der Schein verschwand.

Phoebe räusperte sich. »Ich musste sicherstellen, den größtmöglichen Profit aus dem Erbe zu schlagen. Das bin ich Dorothy schuldig.«

»Wovon sprichst du?« Luke starrte sie an.

»Von der Verpfändung des Rings. War das ein Fehler?« Phoebe hob die Hände. »Hätte ich den Ring an die Universität spenden sollen? Dank des Urteils der Forscher vom University College London wurde die Echtheit des Rings zertifiziert. Er gehörte Jeremy Bentham. Hätte das UCL den Klunker verdient? Eine Schenkung in Dorothys Sinne? Der Ring ist eine Rarität.«

»Deswegen wolltest du mich sehen?« Luke blieb stehen. Jeremy Bentham, der englische Philosoph, Jurist und Vordenker seiner Zeit, hatte vor seinem Tod sechsundzwanzig Ringe für Freunde und Verwandte anfertigen lassen. Nur sechs dieser Trauerringe waren offiziell wiederaufgetaucht. Phoebes Ring war der siebte.

»Dorothy war eine leidenschaftliche Sammlerin von Antiquitäten. Sie hat das ganze Zeug an die Lebowitz Collection vererbt, ohne Ausnahme. Nur den Ring nicht.« Phoebe seufzte. »Ich habe nur an das Geld gedacht, nicht an meinen Ruf.«

»Ich kann dir nicht folgen.«

»Falls mich die Presse nach dem Ring fragt, wie sieht das aus? Die Regisseurin hinterlegt einen Ring von Jeremy Bentham als Pfand für einen Kredit, nur damit er bei einer Auktion später an den Höchstbietenden versteigert werden kann. Das wirkt, als wäre es mir nur um die Kohle gegangen.«

»Es ist dir nur um die Kohle gegangen. Du brauchtest das Geld für die Finanzierung der Theaterproduktion. Dorothy hatte es doch genau so geplant. Deine Überlegungen machen keinen Sinn. Die Auktionshäuser werden sich um den Ring reißen. Die Bank hat dir aus diesem Grund ein Darlehen gegeben.«

»Das Richtige wäre gewesen, den Ring an UCL zu spenden oder an die Lebowitz Collection«, wiederholte Phoebe ihr Anliegen. »Der letzte Ring, der entdeckt wurde, in New Orleans, wurde am Ende auch der Universität übergeben.«

»Welche Alternative hättest du gehabt? Das große Erbe kommt erst nächstes Jahr, und im Lotto hast du nicht gewonnen. Auf wie viel wurde der Ring geschätzt? Zehntausend? Fünfzehntausend?« Er hätte nicht kommen dürfen. Phoebe spielte ein Spiel.

»Kann ich den Vorgang rückgängig machen?«, fragte sie.

»Ich bin Historiker, kein Jurist.«

Sie verzog das Gesicht. »Jetzt werde ich am Wochenende in der Pension an nichts anderes denken können. Ich hoffe …«

»Pension?«, unterbrach er sie. »Was?«

»Strategiebesprechung.« Sie schaute ihn an. »Charlie und ich. Morgen nach der Kostümprobe geht es los. Wir bleiben eine Nacht im Waverly Inn. Das war nicht meine Idee.« Sie lachte.

Er merkte, wie sein Herz anfing, schneller zu schlagen. Eine körperliche Reaktion auf Stress. Angst vor den Konsequenzen seines Verrats breitete sich in ihm aus. Doch das war nicht seine einzige Sorge. Charlie und Phoebe in einem Hotel, abseits der Arbeit, die ein gewisses Maß an Professionalität erforderlich machte. Das war nicht gut. Gar nicht gut.

Sie standen jetzt vor dem Park, auf dem de Beauvoir Square, dessen Tore bereits verschlossen waren. Eine Eisenkette verhinderte den Zugang.

»Phoebe…« Sein Mund war plötzlich trocken. Aus seinem Rucksack zog er eine Flasche Wasser und nahm einige Schlucke. Das pappige Gefühl auf seiner Zunge verschwand. Er hielt Phoebe die Flasche hin, doch sie schüttelte den Kopf.

»Die Kohlensäure reizt meine Magenschleimhaut.«

»Du wirst Charlie doch nichts sagen?«

Phoebe lachte auf. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. Eine Geste wie von einer Mutter, die ihrem Kind zur Seite stand und es gleichzeitig unter Kontrolle hielt.

»Gute Nacht, Luke«, sagte sie mit einem Lächeln und drehte sich um.

Mit großen Schritten ging sie davon. Seine Frage blieb ohne Antwort. Wie betäubt schaute er ihr nach, ein hoch aufgerichteter Schatten in der Nacht. Scheiße.

Er hatte noch Zeit, bis in Whitechapel die letzte U-Bahn fuhr. Die Aussicht, bei dieser Hitze in der Londoner Tube zu sitzen, war nicht gerade verlockend. Er entschied sich daher, ein paar Stationen zu Fuß zu gehen.