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Im abgelegenen schottischen Fischerdorf Stoyre ist etwas im Gange. Die Einwohner verhalten sich irgendwie äußerst ... merkwürdig. Bei einem Routinebesuch findet Dorfpolizist Hamish Macbeth den Pub leer vor, während die Kirche unerwartet voll ist - und die Atmosphäre durchdrungen von Angst. Dann wird ein Ferienhaus durch eine Explosion dem Erdboden gleichgemacht, was die Einheimischen als »höhere Gewalt« bezeichnen. Hamish hat da allerdings eine andere Theorie. Mit Hilfe der scharfsinnigen Journalistin Elspeth Grant gibt er alles, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Können die beiden den merkwürdigen Vorkommnissen auf den Grund gehen und herausfinden, was in Stoyre wirklich los ist?
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Über das Buch
Im abgelegenen schottischen Fischerdorf Stoyre ist etwas im Gange. Die Einwohner verhalten sich irgendwie äußerst … merkwürdig. Bei einem Routinebesuch findet Dorfpolizist Hamish Macbeth den Pub leer vor, während die Kirche unerwartet voll ist – und die Atmosphäre durchdrungen von Angst. Dann wird ein Ferienhaus durch eine Explosion dem Erdboden gleichgemacht, was die Einheimischen als »höhere Gewalt« bezeichnen. Hamish hat da allerdings eine andere Theorie. Mit Hilfe der scharfsinnigen Journalistin Elspeth Grant gibt er alles, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Können die beiden den merkwürdigen Vorkommnissen auf den Grund gehen und herausfinden, was in Stoyre wirklich los ist?
Über die Autorin
M. C. Beaton ist ein Pseudonym der schottischen Autorin Marion Chesney. Nachdem sie lange als Theaterkritikerin und Journalistin für verschiedene britische Zeitungen tätig war, widmete sie sich ganz der Schriftstellerei. Mit ihren Krimi-Reihen um die englische Detektivin Agatha Raisin und den schottischen Dorfpolizisten Hamish Macbeth feierte sie große Erfolge in über 17 Ländern. Sie verstarb im Dezember 2019 im Alter von 83 Jahren.
M. C. BEATON
Hamish Macbeth
geht den Dingen auf den Grund
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:Copyright © 2003 by Marion ChesneyPublished by Arrangement with M. C. BEATON LIMITEDTitel der englischen Originalausgabe:»Death of a Village«
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
M. C. BEATON® and HAMISH MACBETH® are registered trademarks of M.C. Beaton Limited
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Dorothee Cabras, GrevenbroichUmschlaggestaltung: Kirstin Osenau und Guter Punkt, MünchenUmschlagmotiv: © iStock/Getty Images Plus: mycola | GlobalP | Bale re9 | N8tureGrl | Luevanos | FGorgun | unomat & © AdobeStock Images: EyesTravellingeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-7463-5
luebbe.delesejury.de
Für meinen Freund David Lloyd aus Lower Oddington, Gloucestershire,in Liebe
Auf meinen vielen Reisen ist mir kein Schotte begegnet, der von Verstand war. Ich glaube, jeder in dem Land, der welchen besitzt, verlässt es, so schnell er kann.
FRANCIS LOCKIER
Propaganda funktioniert, wie jedes Schulkind weiß, nach der Methode, dass man immer wieder das Gleiche sagt, ob wahr oder falsch, und die Leute fangen schließlich an, es zu glauben.
Hamish Macbeth, der Police Constable von Lochdubh und Umgebung, war bis vor Kurzem ein glücklicher, zufriedener Mann ohne jedweden Ehrgeiz gewesen. Was alle, sogar die Stubenhocker und Erfolglosen, als eine Form von Geistesstörung betrachteten. Obendrein lagen ihm mehrere Leute seit Jahren in den Ohren, er solle sich mal am Riemen reißen, etwas aus seinem Leben machen, sich um eine Beförderung bemühen und das Faulenzen lassen. Was bis vor einer kleinen Weile schlicht an ihm abgeperlt war.
Doch dann hatte Elspeth Grant, ihres Zeichens Reporterin beim Lokalblatt, in den Chor eingestimmt. Es war ihre Art, Hamish mit so etwas wie liebevoller Verachtung auszulachen, wenn er sich durchs Dorf schnorrte, die ihm unter die Haut ging. Ihr mildes Staunen darüber, dass er sich nicht »verbessern« wollte, addierte sich zu all den anderen ähnlichen Bemerkungen der vergangenen Jahre hinzu und arbeitete in ihm, als wäre er einem Propagandafeldzug ausgesetzt gewesen, sodass er begann, sich rastlos und unzufrieden zu fühlen.
Hätte er neben den Schreibarbeiten zu Schafsbädern und dem gelegentlichen Verwarnen von Wilderern noch irgendetwas anderes zu tun, würden ihn Elspeth Grants Kommentare vielleicht weniger wurmen. Und Elspeth war attraktiv, auch wenn er sich das nicht eingestand. Und selbst wenn er es täte: Seine bisherigen Frauenprobleme reichten ihm allemal für den Rest seines Lebens.
Er fing an, Reisemagazine im Fernsehen anzuschauen und sich vorzustellen, wie er über weiße Sandstrände spazierte oder hoch oben in den Bergen des Himalaya war. Ihn ärgerte, dass er seinen gesamten Urlaub bisher in Schottland verbracht hatte.
Eines sonnigen Morgens beschloss er, dass es Zeit wurde, wieder mal seinen Zuständigkeitsbereich abzufahren, der einen recht großen Teil von Sutherland abdeckte. Hamish beschloss, das Dorf Stoyre oben an der Westküste zu besuchen. Es war eher ein Weiler als ein Dorf. Dort gab es keine Verbrechen. Aber, erinnerte er sich, ein guter Polizist sollte hin und wieder sogar in dem Ort nach dem Rechten sehen.
Nach einem sehr verregneten Winter und einem scheußlichen Frühling war eine Phase von idyllischem Wetter in den Highlands eingekehrt. Die hohen, zerklüfteten Berge verschwammen im Hitzeflirren. Die Luft, die durch das offene Seitenfenster des Polizeiwagens hereinwehte, war geschwängert vom Duft nach wildem Thymian, Salz, Grauheide und Torfrauch.
Hamish atmete tief ein und fühlte, wie die dunkle Unzufriedenheit in ihm abebbte. Verdammte Elspeth! Dies war das wahre Leben. In gleichmäßigem Tempo fuhr er die sich schlängelnde, einspurige Straße entlang nach Stoyre.
Touristen kamen so gut wie nie in den Weiler. Was an einem solch idealen Tag erstaunlich schien, wenn sich die bescheidene Reihe weiß getünchter Häuser an das tiefblaue Wasser des Atlantiks schmiegte. Es gab einen kleinen Hafen mitsamt einer hohen Mauer, in dem drei Fischkutter träge an ihren Ankerketten wippten. Hamish parkte vor dem Pub namens Fisherman’s Arms und stieg aus dem Land Rover. Sein seltsam aussehender Hund Lugs mit den großen Ohren, dem rauen Fell und den blauen Augen sprang ebenfalls hinaus.
Hamish schaute sich nach links und rechts um. Das Dorf wirkte wie verlassen und sehr still, geradezu unnatürlich ruhig. Nirgendwo weinte ein Kind, nirgends drangen Radiogeräusche aus einem Cottage, in den kleinen Dorfladen neben dem Pub ging niemand hinein, niemand kam heraus.
Lugs stellte die Nackenhaare auf und knurrte leise.
»Ganz ruhig«, sagte Hamish. Er blickte zum Hügel oberhalb des Dorfes, wo der Friedhof hinter einer kleinen Kirche lag. Vielleicht fand gerade eine Beerdigung statt. Doch auch dort rührte sich nichts.
»Na komm, Lugs.« Hamish öffnete die Tür zum Pub und ging hinein. Hier gab es lediglich einen kleinen, weiß gekalkten Schankraum mit niedrigen Deckenbalken. Die wenigen Holztische waren von Zigarettenbrandmalen vernarbt. Hinter dem Tresen war niemand zu sehen.
»Jemand zu Hause?«, rief Hamish laut.
Zu seiner Erleichterung hörte er, dass sich in den hinteren Räumen jemand bewegte. Ein untersetzter Mann kam durch eine Tür herein. Hamish erkannte Andy Crummack, den Wirt und Besitzer.
»Wie geht’s, Andy?«, fragte er. »Sind alle in diesem Dorf tot? Draußen ist ja niemand zu sehen.«
»Ah, Sie sind’s. Was nehmen Sie?«
»Nur ein Tonic.« Hamish blickte sich in dem verlassenen Schankraum um. »Wo sind denn alle?«
»Um diese Tageszeit ist es immer ruhig.« Andy goss Tonic aus einer kleinen Flasche in ein Glas.
»Zum Wohl!«, sagte Hamish. »Nehmen Sie auch was?«
»Ist zu früh. Wenn es Ihnen nichts ausmacht … Ich muss meine Bestände prüfen.« Der Wirt ging wieder zur Tür hinter der Bar.
»Einen Moment noch, Andy. Ich bin schon eine Weile nicht in Stoyre gewesen, aber so still habe ich den Ort noch nie erlebt.«
»Wir sind ruhige Leute.«
»Und es ist nichts los?«
»Nein, nichts. Wenn Sie mich dann entschuldigen …« Der Wirt verschwand durch die Tür.
Hamish trank sein Tonic, schob seine Mütze nach hinten und kratzte sich im feuerroten Haar. Vielleicht bildete er es sich bloß ein. Er war seit Monaten nicht in Stoyre gewesen, das letzte Mal im März zu einem Routinebesuch. Allerdings erinnerte er sich, dass da Leute am Hafen geplaudert hatten, und in diesem Pub war es voll gewesen.
Er stellte sein Glas auf den Tresen und trat hinaus in den Sonnenschein. Die Häuser leuchteten weiß im grellen Licht, und das blaue Wasser, das sanft an die Küste schwappte, hatte eine ölige Oberfläche.
Hamish ging in den Dorfladen. »Guten Morgen, Mrs MacBean«, sagte er zu der älteren Frau hinter dem Tresen. »Ruhig heute. Wo sind die Leute alle?«
»Die werden oben in der Kirche sein.«
»An einem Montag? Wird jemand beerdigt?«
»Nein. Wollen Sie was kaufen, Mr Macbeth?«, fragte die Ladeninhaberin.
Hamish lehnte sich auf den Tresen. »Kommen Sie schon. Mir können Sie es doch erzählen. Was machen alle an einem Montag in der Kirche?«
»Wir hier in Stoyre sind gottesfürchtige Leute«, antwortete sie spitz, »und das vergessen Sie lieber nicht.«
Verdutzt trat Hamish wieder nach draußen. Er wanderte den Hügel hinauf, als die Kirchentüren geöffnet wurden und Leute herausgeströmt kamen. Die meisten waren in Schwarz, wie für eine Beerdigung, gekleidet.
Hamish stand mitten auf dem Weg, als sie nach unten strebten. Er grüßte die, die er kannte. »Morgen, Jock … Herrlicher Tag, Mrs Nisbett …« Und so weiter. Doch die Menge teilte sich vor ihm und schritt schweigend vorbei, bis er schließlich allein dastand.
Er ging weiter hinauf zur Kirche und an ihr vorbei zum Pfarrhaus daneben, dicht gefolgt von Lugs.
Der Pfarrer war eben an der Haustür angekommen. Er war neu, wie Hamish feststellte: ein dünner, nervös wirkender Mann mit einem ausgeprägten Adamsapfel. Sein schwarzer Talar war abgetragen und staubig. Er hatte schütteres, rotblondes Haar, matte Augen und einen kleinen, geschürzten Mund.
»Guten Morgen«, sagte Hamish. »Ich bin Hamish Macbeth, Constable von Lochdubh und auch für dieses Dorf zuständig. Sind Sie neu hier?«
Der Pfarrer drehte sich widerwillig zu ihm um. »Ich bin Fergus Mackenzie«, sagte er im typischen Highland-Singsang.
»Sie scheinen sich gut zu machen«, bemerkte Hamish. »Wenn Sie die Kirche an einem Montagmorgen voll bekommen.«
»Hier gibt es eine starke religiöse Neuerweckung«, erklärte Fergus. »Wenn Sie mich dann entschuldigen …«
»Nein«, konterte Hamish gereizt. »Dieses Dorf hat sich verändert.«
»Zum Besseren. Eine gottesfürchtigere Gemeinde finden Sie nirgends in den Highlands.« Mit diesen Worten betrat der Pfarrer das Haus und knallte Hamish Macbeth die Tür vor der Nase zu.
Zunehmend verärgert kehrte Hamish an den Hafen zurück, der wie zuvor völlig verlassen dalag. Er überlegte, an einige Türen zu klopfen und zu sehen, ob ihm jemand dieses seltsame Verhalten erklären könnte – mit etwas anderem als einer religiösen Wiedererweckung. Doch er entschied sich dagegen.
Stattdessen schaute er den Hügel hinauf zu einem Cottage weit oben. Es war das Ferienhaus des pensionierten Majors Jennings, eines Engländers. Vielleicht war er gesprächiger. Abermals trottete Hamish den Hügel hinauf, vorbei an der Kirche, und klopfte an Jennings’ Tür. Es folgte nichts als Stille. Er wusste, dass der Major den Großteil des Jahres in Südengland verbrachte. Wahrscheinlich war er noch nicht wieder hier, denn er kam gewöhnlich erst im Hochsommer.
Als Hamish in den Ort unten zurückkehrte, sah er, dass die Leute wieder unterwegs waren. Dorfbewohner waren im Laden und am Hafen. Diesmal wurde er freundlich gegrüßt. Er blieb bei Mrs Lyle stehen. »Geht hier etwas Seltsames vor?«, fragte er sie.
Sie war eine kleine, rundliche Frau mit kurzen grauen Locken und einer Brille, die weit unten auf ihrer Nase saß. »Was meinen Sie?«
»Es ist eine eigenartige Atmosphäre, und Sie waren alle in der Kirche, dabei ist nicht einmal Sonntag.«
»Das verstehen Leute wie Sie nicht, Hamish Macbeth«, entgegnete sie. »In diesem Dorf nehmen wir den Gottesdienst ernst und beschränken ihn nicht auf nur einen Tag.«
Ich bin ein Zyniker, dachte Hamish, als er wegfuhr. Warum kommt mir das so seltsam vor? Er wusste, dass in einigen der abgelegenen Dörfer ein guter Prediger mehr Leute anzog als ein spannender Film im Fernsehen. Mr Mackenzie musste ein begnadeter Redner sein.
Als Hamish nach Lochdubh zurückkehrte, wurde ihm bewusst, dass ihn der Ausflug nach Stoyre dennoch aufgemuntert hatte. Die Rastlosigkeit, die ihn in jüngster Zeit geplagt hatte, war von ihm abgefallen. Er pfiff vor sich hin, während er Essen für sich und seinen Hund zubereitete, und trug seines hinaus in den Vorgarten, wo er einen Tisch und einen Sonnenschirm aufgestellt hatte. Warum von Cafés in Frankreich träumen, wenn er hier in Lochdubh doch alles hatte?
Er war eben fertig mit seiner Portion gebratenem Haggis, Würstchen und Eier, als jemand rief: »Wieder bei der Lieblingsbeschäftigung Faulenzen, Hamish?«
Die Gartenpforte ging auf, und Elspeth Grant kam auf ihn zu. Sie trug ein enges kurzes Top, das ihre Taille betonte, knappe Jeansshorts und das Haar im Lila von Auberginen gefärbt. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn.
»Das Problem mit Lila ist«, sagte Hamish, »dass es einfach nicht funktioniert.«
»Wie, nicht funktioniert?«, fragte Elspeth.
»Bei keinem. Es ist wie violetter Lippenstift oder schwarzer Nagellack. Alles, was zu weit von der Originalfarbe weg ist, wirkt nicht mehr sexy.«
»Und was verstehen Sie davon?«
»Ich bin ein Mann, und ich nehme an, dass Sie damit das andere Geschlecht anziehen wollen«, erwiderte er.
»Heutzutage kleiden und frisieren sich Frauen für sich selbst.«
»Quatsch.«
»Ist es nicht«, widersprach sie. »Sie leben schon zu lange in dieser Zeitschleife und kennen sich einfach nicht mehr aus. Jedenfalls ist mir langweilig. Es gibt nichts zu berichten, bis die Highland Games drüben in Braikie stattfinden, und bis dahin dauert es noch eine Woche.«
»Vielleicht habe ich was für Sie. Ich bin eben drüben in Stoyre gewesen. Anscheinend haben sie dort einen neuen Pfarrer, einen Mr Mackenzie. Ich denke, er muss ein ziemlich eindrucksvoller Redner sein.«
»Ist nicht viel, aber wenigstens etwas«, antwortete Elspeth. »Ich versuche es nächsten Sonntag mal.«
»So, wie die sich dort aufführen, müssen Sie vermutlich nicht so lange warten. Sie haben wahrscheinlich jeden Tag einen Gottesdienst.«
»Wollen Sie mitkommen?« Sie sah ihn erwartungsvoll an.
Hamish streckte seine langen Beine aus. »Ich bin gerade erst dort gewesen. Haben die Currie-Schwestern eigentlich gesehen, wie Sie angezogen sind?«
Die Currie-Schwestern waren Zwillinge mittleren Alters, beide unverheiratet. Und die Moralwächterinnen von Lochdubh.
»Ja. Jessie Currie hat geschimpft, ich soll nach Hause gehen und mir einen Rock anziehen, und Nessie Currie hat mich verteidigt.«
»Im Ernst? Was hat sie gesagt?«
»Sie fand meine Stiefel so hässlich, dass sie alles andere schon respektabel aussehen lassen.«
Hamish blickte nach unten zu Elspeths dicken Wanderstiefeln. »Ah, ich verstehe, was sie meint.«
Vor Wut wurde Elspeth rot bis zu den Wurzeln ihres lila gefärbten Haares. »Ich weiß gar nicht, wieso ich überhaupt mit Ihnen rede, Hamish Macbeth. Ich gehe.«
Als sie fort war, lehnte Hamish sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er hätte nicht so eklig zu ihr sein sollen, doch er gab ihren Bemerkungen über seinen mangelnden Ehrgeiz die Schuld daran, dass ihm die gemütlichen Sommertage in letzter Zeit vergällt gewesen waren.
Das Telefon in der Wache klingelte, was den friedlichen Tag empfindlich störte.
Seufzend stand er auf und ging hin. Die Stimme seines Erzfeindes Detective Chief Inspector Blair dröhnte aus dem Hörer. »Schwingen Sie Ihren faulen Hintern rüber nach Braikie. In Tellers Dorfladen in der High Street wurde eingebrochen. Anderson ist bald da.«
»Bin unterwegs«, antwortete Hamish.
Er nahm seine spitze Mütze vom Haken an der Küchentür und setzte sie auf. »Nein, Lugs«, sagte er zu seinem Hund, der mit seinen seltsamen blauen Augen zu ihm aufschaute. »Du bleibst hier.«
Hamish ging nach draußen, stieg in den Land Rover und fuhr los, wobei er überlegte, was er über Tellers Dorfladen wusste. Das Geschäft hatte eine Lizenz zum Alkoholverkauf und bot hochpreisigere Waren an als die beiden Konkurrenten. Hamish war froh, dass er mit Detective Sergeant Jimmy Anderson arbeiten würde und nicht mit Blair.
Er parkte vor dem Laden und ging hinein.
Mr Teller war ein kleiner, ernster Mann mit Goldrandbrille. »Sie haben sich ganz schön Zeit gelassen«, sagte er mürrisch. »Die haben all meinen Wein und meine Spirituosen geklaut, einfach alles. Ich habe es gesehen, als ich heute Morgen aufgemacht habe, und gleich die Polizei gerufen.«
»Ich war bei einem anderen Notruf«, antwortete Hamish. »Wie sind sie reingekommen?«
»Durch die Hintertür.« Mr Teller hob eine Klappe im Tresen, und Hamish ging hindurch.
In der Hintertür war eine Glasscheibe eingeschlagen. »Die Spurensicherung wird bald hier sein«, sagte Hamish. »Ich darf vorerst nichts anfassen.«
»Hoffentlich beeilen die sich. Ich muss den Schaden der Versicherung melden.«
»Wie groß ist der?«
Mr Teller wiegte den Kopf. »Das muss ich noch zusammenstellen. Tausende Pfund.«
Hamish betrachtete den Ladenbesitzer skeptisch. Er war schon in dem Geschäft gewesen und erinnerte sich nicht, größere Vorräte an Wein oder Spirituosen gesehen zu haben. Es gab gerade mal drei Regale mit alkoholischen Getränken nahe der Kasse, mehr nicht. »Ich bin schon eine Weile nicht mehr hier gewesen. Hatten Sie das Getränkeangebot erweitert?«, fragte er.
»Nein, warum?«
»Weil ich mich nur an drei Regale mit Flaschen erinnere.«
»Die Mistkerle haben auch alles aus dem Keller mitgenommen!«
Hamish nickte. »Zeigen Sie mir den.«
Mr Teller ging voraus zu einer Tür seitlich von einem der hinteren Räume. Das Schloss war zersplittert.
Hamish nahm ein Taschentuch hervor und bedeckte seine Finger damit, bevor er den Lichtschalter oben an der Treppe betätigte. Dann sah er nach unten. Der Keller war eindeutig leer. Und staubig.
Er kehrte nach vorn in den Laden zurück und stellte fest, dass Jimmy Anderson eingetroffen war.
»Hallo, Hamish«, sagte der Detective. »Ein Verbrechen, was? Ein echtes Verbrechen. All der schöne Schnaps ist weg! Haben Sie schon eine Aussage aufgenommen?«
»Noch nicht. Kann ich Sie kurz draußen sprechen?«
»Klar. Ich könnte einen Schluck vertragen«, erklärte Jimmy. »Gegenüber ist ein Pub.«
»Noch nicht. Gehen wir nach draußen.«
Misstrauisch beäugt von Mr Teller traten sie hinaus auf die Straße.
»Was ist?«, fragte Jimmy.
»Er behauptet, dass ihm Wein und Spirituosen im Wert von Tausenden Pfund gestohlen wurden. Aber als ich ihm gesagt habe, dass er nur drei Regale von dem Zeug hatte, meinte er, dass die Diebe auch den Keller ausgeräumt haben.«
Jimmy zuckte mit den Schultern. »Und?«
»Der Kellerboden ist verstaubt. Ebenmäßig staubig. Keine Spuren von Kartons oder vielmehr davon, dass Kisten oder Boxen bewegt wurden. Ich glaube, er hatte gar nichts in dem Keller. Er könnte es auf das Geld von der Versicherung abgesehen haben.«
»Aber die wird doch die Bücher sehen und die Bestellungen prüfen wollen.«
»Stimmt«, sagte Hamish. »Tja, am besten nehmen wir die Aussage auf und reden dann mit seinem Lieferanten.«
Sie kehrten in den Laden zurück, und Hamish zog seinen Notizblock hervor.
»Also, Mr Teller, Sie haben den Einbruch festgestellt, als Sie das Geschäft geöffnet haben. War das um neun Uhr?«
»Um halb neun.«
»Und Sie haben nichts angefasst?«
»Ich bin runter in den Keller und habe bemerkt, dass da auch alles weg ist.«
»Wir fragen herum, ob jemand etwas gehört oder gesehen hat. Wie heißt Ihr Großhändler?«
»Das ist Frog’s in Strathbane, warum?«
»Die Versicherung wird Ihre Bücher sehen wollen, um die Menge an gestohlenen Vorräten mit Ihren Lieferungen abzugleichen.«
»Das dürfen die gerne jederzeit machen«, erwiderte Mr Teller.
»Ist Ihnen jemand Verdächtiges im Ort aufgefallen?«
»Ja, das ist es ja gerade! Vor zwei Tagen waren zwei ziemlich grobschlächtig wirkende Männer hier im Laden. Die hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sie wollten Zigaretten, und ich habe sie bedient, aber dabei haben sie sich die ganze Zeit umgesehen.«
»Beschreibung?«
»Einer war ein Riesenkerl von einem Mann. Er hatte schwarzes Haar, sah fremdländisch aus. Große Nase und dicke Lippen. Er hatte ein kariertes Hemd und Jeans an.«
»Hatte er einen ausländischen Akzent?«, hakte Hamish nach.
»Weiß ich nicht mehr.«
Zwei Männer in weißen Overalls kamen mit Koffern voller Ausrüstung herein. »Wir unterbrechen kurz, solange Sie die Leute von der Spurensicherung nach hinten führen, wo die Einbrecher anscheinend eingedrungen sind«, sagte Hamish.
»Was meinen Sie?«, fragte er Jimmy, als der Ladenbesitzer mit den Spurensicherern in den hinteren Bereich des Gebäudes gegangen war.
»Mir kommt er ganz anständig vor, aber wir hören trotzdem bei Frog’s nach. Wenn er sich alles hat liefern lassen, muss er die Wahrheit sagen.«
»Mir gefällt nicht, wie der Kellerboden aussieht«, sagte Hamish.
»Wenn da was faul ist, finden es die Spurensicherer.«
Sie warteten, bis Mr Teller zurück war.
»Also«, hakte Hamish nach, »wie sah der andere Mann aus?«
»Der war klein, ein bisschen verschlagen. Ich erinnere mich«, antwortete Mr Teller aufgeregt. »Er hatte ein kurzärmliges Hemd an und ein Schlangentattoo auf dem linken Arm.«
»Welche Haarfarbe?«
»Vielleicht dunkel, aber sein Kopf war rasiert. Er hatte ein schmales Gesicht, schwarze Augen und eine lange Nase.«
»Kleidung?«
»Wie gesagt, ein kurzärmliges Hemd, blau war das, und eine graue Hose.«
Hamish sah den Ladenbesitzer prüfend an. »Mich wundert der Boden in Ihrem Keller.«
»Warum das?«
»Da waren keine Spuren im Staub. Es wurde nichts gezogen.«
»Na, vielleicht haben die alle Kartons einfach angehoben.«
Jimmy Anderson strahlte die Ungeduld eines Mannes aus, der dringend einen Drink wollte. »Kommen Sie schon, Hamish«, sagte er gereizt. »Lassen wir die Spurensicherung ihre Arbeit machen und gehen alles durch, was wir haben.«
Widerstrebend folgte Hamish ihm zu dem Pub. »Vielleicht laufe ich mal kurz rüber und erzähle den Spurensicherern von dem Kellerboden.«
»Ach, lassen Sie die in Ruhe. Die beherrschen ihre Arbeit.« Jimmy bestellte zwei doppelte Whisky.
»Aber nur den einen«, sagte Hamish. »Ich traue diesem Teller nicht über den Weg.«
Schließlich konnte er den wenig gewillten Jimmy von der Bar zurück zum Laden locken, wo Mr Teller gerade eine Kundin bediente.
»Ich denke, Sie sollten für heute schließen«, bemerkte Hamish.
Mr Teller wies mit dem Daumen nach hinten. »Sie haben gesagt, dass es in Ordnung ist.«
»Lassen Sie uns durch«, forderte Hamish ihn auf.
Der Wirt hob die Klappe, und Hamish und Jimmy gingen in den hinteren Bereich des Hauses.
»Wie läuft es?«, fragte Jimmy einen der Spurensicherer.
»Hier ist nicht viel«, antwortete der Mann. »Sieht nach einem gewöhnlichen Einbruchdiebstahl aus. Draußen ist auch nicht viel zu wollen. Da liegt Kies. Wir haben nur ein paar Fußabdrücke oben auf der Kellertreppe in Größe fünfundvierzigeinhalb.«
»Das sind meine«, sagte Hamish. »Aber was ist mit dem Keller und den anderen Stufen? Als ich nach unten gesehen habe, schien da nichts bewegt worden zu sein.«
»Dann sollten Sie mal Ihre Augen untersuchen lassen, Junge. Die Einbrecher hatten den Boden unten und die Treppe abgefegt.«
»Was?« Hamish wurde flau.
»Schauen Sie es sich ruhig an. Wir sind da unten fertig.«
Hamish ging zur Kellertür, schaltete das Licht ein und stieg die Stufen nach unten. Er sah die Besenspuren im Staub. »Die waren vorher nicht da!«, sagte er wütend. »Teller muss das gewesen sein, als Sie hinten an der Tür waren.«
Erbost kehrte er zurück nach oben in den Laden, gefolgt von Jimmy. »Warum haben Sie den Keller gefegt?«, fragte er den Ladenbesitzer.
Mr Teller war der Inbegriff der empörten Unschuld. »Das habe ich nicht! Ich bin nach hinten raus und habe die Männer gefragt, ob sie eine Tasse Tee möchten. Ich bin ein anständiger Kaufmann, Mitglied der Rotarier und der Freimaurer, dass Sie es nur wissen! Ich werde mich an Ihren Vorgesetzten wenden.«
»Wenden Sie sich, an wen Sie wollen«, rief Hamish. »Ich kriege Sie!«
»Kommen Sie, Hamish.« Jimmy zog ihn aus dem Laden. »Zurück an die Bar. Ein Glas wird Sie beruhigen.«
»Ich habe genug gehabt, und Sie trinken lieber auch nichts mehr. Sie müssen noch fahren!«
»Einer mehr wird nicht schaden«, beharrte Jimmy, der Hamish zurück in den dämmrigen Pub bugsierte. Nachdem er ihre Getränke geholt hatte, führte er Hamish zu einem Ecktisch. »Na, irren Sie sich vielleicht? Wenn einer die Freimaurer erwähnt, wird mir immer schlecht. Der große Boss ist auch in dem Verein.« Damit meinte er den Chief Superintendent, Peter Daviot.
»Ich bin mir völlig sicher«, antwortete Hamish.
»Und was sollen wir Ihrer Meinung nach tun, wenn die Bücher des Mannes in Ordnung sind und zu den Lieferungen von Frog’s passen?«
»Weiß ich nicht«, sagte Hamish verärgert.
»Es steht Ihr Wort gegen seines.«
»Man sollte meinen, dass das Wort eines Polizisten dieser Tage vor Gericht noch etwas zählt.«
»Nicht gegen einen Freimaurer und ein Mitglied der Rotarier«, erwiderte Jimmy zynisch.
Hamish traf eine Entscheidung. »Ich fahre zu Frog’s. Sie dürfen meinen Drink haben.«
Sehnsüchtig blickte Jimmy zu dem Whisky. »Ich müsste Blair berichten, was Sie machen.«
»Warten Sie damit noch ein bisschen.«
»Okay, aber halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich sehe mal, ob ich Teller ein wenig schwitzen lassen kann. Die Wunderwerke der Forensik, was?«
»Mit den beiden Spurensicherern aus Strathbane stimmt was nicht. Fast habe ich den Verdacht, sie beeilen sich, weil sie zu einem Fußballspiel wollen oder so.«
Hamish fuhr nach Strathbane, nachdem er Frog’s im Telefonbuch für die Highlands und die Inseln nachgeschlagen hatte. Er blieb jedoch im Land Rover sitzen, als er dort angekommen war.
Die Büros befanden sich an den Docks, und diese Gegend von Strathbane verabscheute Hamish. Der rare Sommersonnenschein mochte die Schönheit der Highland-Landschaft hervorbringen, ließ die Hafengegend indes schlimmer denn je stinken: nach einer Mischung aus altem Fisch, verfaultem Gemüse und dem, was viktorianische Damen als »etwas weit Schlimmeres« beschrieben.
Über dem Eingang verkündete ein verwittertes Schild Frog’s Whisky- und Weinhandel.
Hamish stieg aus, ging hin und öffnete die Tür. »Mary!«, rief er aus, weil er die zierliche junge Frau an dem Schreibtisch kannte. »Was machen Sie denn hier?«
Mary Bisset wohnte in Lochdubh. Sie war klein und ziemlich keck, doch jetzt wirkte sie verängstigt. »Ich bin nur die Vertretung hier, Hamish«, antwortete sie. »Und ich komme mit diesem Computer nicht zurecht.«
»Wo ist Ihr Chef?«
»Der hat irgendein Meeting in der Stadt.«
»Mit wem trifft er sich denn?«, fragte Hamish.
»Mr Dunblane.«
»Nicht Mr Frog?«
»Ich glaube, früher hat es mal einen Mr Frog gegeben oder so. Oh, Hamish, was mache ich nur mit dem Computer?«
»Lassen Sie mich mal sehen. Rücken Sie ein Stück.« Hamish setzte sich vor den Rechner und schaltete ihn ein. Nichts passierte. Hamish knickte seine große Gestalt mühsam ein und sah unter den Tisch. »Mary, Mary, haben Sie das verfluchte Ding nicht eingestöpselt?«
Sie kicherte, und er schob den Stecker in die Dose. »Was brauchen Sie?«
»Das Textverarbeitungsdingsbums. Ich soll Briefe schreiben.«
»Bevor ich das mache: Wissen Sie, wo Ihr Chef die Kontenbücher verwahrt?«
»Ja, im Safe.«
Hamish war enttäuscht.
»Aber Sie sind ja die Polizei«, erwiderte Mary. »Da ist es wohl in Ordnung, wenn ich den für Sie aufmache.«
»Sie kennen die Kombination?«
»Das ist so ein altmodisches Ding. Der Schlüssel hängt bei den anderen an der Wand im Büro.«
Hamish ging dorthin. »Wo sind alle?«, fragte er.
»Tam und Jerry – die arbeiten hier – sind mit Mr Dunblane in der Stadt.«
Hamish grinste. An dem Schlüsselbrett stand über einem der Haken Safe. »Kommen Sie rein, Mary«, rief er. »Seien Sie lieber meine Zeugin.«
Hamish öffnete den Geldschrank. In dem unteren Fach lag sehr viel Bargeld. In dem darüber waren zwei dicke Kassenbücher, die mit Konten beschriftet waren. Er nahm sie heraus und schloss den Safe wieder ab. Dann setzte er sich an einen Schreibtisch und fing an, die Bücher durchzusehen. »Halten Sie Wache, Mary«, bat er. »Und geben Sie Laut, wenn Sie jemanden sehen.«
»Worum geht es eigentlich?«
Er sah sie schmunzelnd an. »Wenn das hier klappt, lade ich Sie mal abends zum Essen ein und erzähle Ihnen alles.«
Chief Superintendent Peter Daviot hatte seine Rede vor der Gesellschaft für Geschäftsmänner in Strathbane beendet. Er genoss es, bei Veranstaltungen wie dieser Gastredner zu sein. Doch seine Freude sollte nicht lange währen. Als er sich eben zu wohltuendem Applaus zurück zu seinem Platz begeben hatte, klingelte sein Mobiltelefon. Er entschuldigte sich bei den anderen am Tisch und ging nach draußen, um das Gespräch anzunehmen.
Es war Detective Chief Inspector Blair. »Macbeth hat uns in die Scheiße geritten«, knurrte er.
»Mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise«, schimpfte Daviot. »Was ist los?«
»Bei Teller oben in Braikie wurde in den Laden eingebrochen, und sein ganzer Schnaps ist geklaut worden. Macbeth beschuldigt Teller, dass er Beweise vernichtet hat, und Teller droht zu klagen.«
»Du meine Güte, fahren Sie lieber hin und beruhigen die Lage.«
»Anderson ist schon da.«
»Fahren Sie. Hier ist ein leitender Officer gefragt. Und sagen Sie Macbeth, er soll mir sofort Bericht erstatten.«
Bei seiner Rückkehr zur Polizeizentrale hörte Daviot überrascht, dass Hamish Macbeth gekommen sei, um ihn zu sprechen. »Das ging ja schnell«, sagte er zu seiner Sekretärin Helen. »Wo ist er?«
»In Ihrem Büro«, antwortete Helen säuerlich. Sie konnte Hamish nicht ausstehen.
Daviot öffnete die Tür und ging hinein. Hamish stand auf. Er hielt einen Stapel kopierter Seiten in den Händen.
»Was hat das alles zu bedeuten, Macbeth? Wie ich erfahren habe, gibt es eine Beschwerde über Sie.«
»Es geht um Tellers Laden«, sagte Hamish. »Er behauptet, ihm sei all sein Alkohol gestohlen worden, und er bezieht ihn von Frog’s. Dies sind Kopien der Kontenbücher jenes Getränkehändlers. Sie sind wirklich aufschlussreich. Die letzte Lieferung an Teller ist in einem der Bücher verzeichnet. Aber in diesen anderen sind fünf weitere Ladenbesitzer in der Umgebung aufgeführt, die alle Schadenersatz von ihrer Versicherung wegen Einbruchdiebstahls gefordert hatten und fünfzig Prozent des Versicherungsgeldes erstattet bekommen haben.«
»Wie sind Sie an die gekommen?«
»Dunblane, der Chef, und zwei andere waren nicht da, als ich dort war. Ich kenne die Aushilfe. Sie hat mich an den Safe gelassen.«
»Macbeth! Das dürfen Sie nicht ohne Durchsuchungsbefehl!«
»Deshalb brauche ich jetzt einen«, antwortete Hamish. »Die Aushilfe verrät nichts. Wir sollten uns beeilen.«
»Ich habe Blair nach Braikie geschickt, weil Teller droht, uns zu verklagen. Ich stelle den Durchsuchungsbefehl aus, und wir nehmen Detective MacNab und zwei Officers mit.«
Es war spätabends, als Hamish Macbeth zurück nach Lochdubh fuhr. Er war ein glücklicher, zufriedener Mann. Blair war rechtzeitig aus Lochdubh zurückgekehrt, um von dem Erfolg der Operation zu erfahren. Die fünf anderen Ladenbesitzer waren zur Befragung abgeholt worden. Sie hatten gestohlene Bestände bei der Versicherung gemeldet, die sie selbst versteckt hatten, um einen Einbruchdiebstahl vorzutäuschen, die Hälfte der Versicherungssumme kassiert und ihre Waren behalten, nachdem sie Dunblane ausgezahlt hatten.
Das seltsame Halblicht des nordschottischen Sommers, in dem es nicht richtig dunkel wird, fiel auf die Landschaft, jene Dämmerung, von der einige alte Leute immer noch glaubten, in ihr lauerten die Elfen ahnungslosen Reisenden auf.
Als Hamish die Tür zur Polizeiwache öffnete, begrüßte ihn Lugs mit einem vorwurfsvollen Kläffen. Hamish ging mit dem Hund spazieren und bereitete ihnen hinterher beiden ein Abendessen zu. Kaum hatte er Lugs’ Napf gefüllt und wollte sich an den Tisch setzen, um sein Essen zu genießen, wurde energisch an die Küchentür gehämmert.
Hamish öffnete und fand sich Mary Bissets erboster Mutter gegenüber.
»Sie lassen meine Tochter in Ruhe, haben Sie verstanden?«, schimpfte sie. »Sie ist erst zwanzig. Suchen Sie sich eine Frau in Ihrem Alter!«
Hamish blinzelte verwirrt. »Ihre Tochter ist eine große Hilfe bei unserer Ermittlung zu einem Versicherungsbetrug gewesen«, sagte er. »Ich konnte ihr nicht erzählen, worum es ging, deshalb habe ich versprochen, sie zum Dank zum Essen einzuladen und es ihr dann zu verraten.«
»Ja, sicher doch«, höhnte sie. »Scharwenzeln Sie um eine Frau in Ihrem Alter herum. Sie sollten sich was schämen, Sie … Casanova!« Mit diesen Worten stürmte sie von dannen.
Hamish knallte die Tür zu. Frauen, dachte er. Ich bin erst in den Dreißigern, und sie tut, als wäre ich ein alter Lüstling.
Das Weib war hübsch, leichtfertig, kindisch, blass;Unfähig zu denken, doch redete es ohn’ Unterlass.
GEORGE CRABBE
Am Morgen setzte Hamish sich an seinen Computer, um seinen Bericht zu dem Versicherungsbetrug zu tippen. Seine langen Finger flogen nur so über die Tasten. Es war noch sonnig, und er hatte es eilig, nach draußen zu kommen und seinem üblichen Tun nachzugehen, herumzuschlendern und mit den Dorfbewohnern zu tratschen.
Das Telefon klingelte. Einen Moment lang betrachtete er es verdrossen, bevor er abnahm.
»Hamish?«, erklang eine ängstliche Stimme. »Hier ist Bella Comyn.«
»Guten Morgen, Bella. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe Angst, Hamish. Ich will Sean verlassen, aber ich fürchte mich vor dem, was er dann tut.«
»Wo ist er jetzt gerade?«
»Unten auf dem Schlachthof in Strathbane.«
»Geben Sie mir eine halbe Stunde, dann bin ich bei Ihnen.«
Hastig beendete Hamish seinen Bericht, schickte ihn an die Zentrale in Strathbane und machte sich auf den Weg, um herauszufinden, was mit Bella war.
In Gedanken ging er durch, was er über sie und ihren Mann Sean wusste, während er zu ihrem kleinen Hof fuhr.
Sean Comyn war vor zwei Jahren vierzig geworden, ein stiller, wortkarger Mann. Dann war er von einer Fahrt nach Inverness mit einer neuen Braut zurückgekehrt – Bella. Sie war fünfzehn Jahre jünger als er, und die Einheimischen munkelten, dass es noch nie eine ungeeignetere Frau für einen Kleinbauern gegeben hätte als sie. Wenn sie nach Lochdubh kam, trug sie knappe, aufreizende Kleidung und stöckelte auf sehr hohen Absätzen herum, kicherte, plapperte und wirkte relativ fröhlich.
Hamish parkte vor dem weiß gekalkten Bauernhaus und klopfte an die Tür.
Bella öffnete. »Bin ich froh, dass Sie gekommen sind!«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Hamish nahm seine Mütze ab und folgte ihr in die Küche.
»Möchten Sie einen Tee?«
»Später vielleicht. Erzählen Sie mir, was los ist.«
Sie setzte sich an den Küchentisch. Ihr blond gefärbtes Haar zeigte oben beinahe fünf Zentimeter breite dunkle Ansätze und war streng zurückgebunden. Ihre blassblauen Augen waren gerötet vom Weinen. »Ich halte das nicht mehr aus«, sagte sie. »Es ist wie ein Gefängnis. Ich darf nirgends hin. Kein Kino, kein Essengehen. Ich hocke nur hier, tagein, tagaus.«
»Schlägt er Sie?«
»Nein, das muss er gar nicht. Er droht bloß damit, und ich mache, was er will. Sehen Sie sich mein Haar an«, jammerte sie und hielt Hamish eine Strähne hin. »Er sagt, wenn ich es wieder färbe, bringt er mich um.«
»Was ist mit einer Eheberatung?«
»Können Sie sich Sean bei einer Eheberatung vorstellen? Wir bleiben für uns, das predigt er mir dauernd, jeden einzelnen Tag.«
»Wohin würden Sie gehen wollen?«, fragte Hamish.
Nervös drehte sie den goldenen Ehering an ihrem Finger. »Ich habe einen Freund in Inverness. Ihn hätte ich heiraten sollen. Ich habe ihn angerufen, und er sagt, dass ich jederzeit zu ihm kommen kann, wenn ich will.«
»Und wofür brauchen Sie mich?«
»Es heißt, dass Sie schon mal die Regeln ein bisschen beugen, um anderen zu helfen. Ich brauche Zeit, um meine Sachen zu packen und zu verschwinden.« Sie blickte ängstlich zur Uhr. »Wir haben nur ungefähr eine halbe Stunde. Ich kann nicht fahren. Ich dachte, Sie könnten ihn eine Weile einsperren und mich dann zur Bushaltestelle in Lochdubh bringen.«
»Das kann ich nicht tun«, rief Hamish aus, dessen Akzent ausgeprägter wurde, wenn er aufgebracht war. »Sie müssen mit einer der Frauen reden.«
»Von denen kenne ich keine näher.«
»Und ich darf mich nicht in eine Ehe einmischen. Aber mal was anderes: Ich sehe Sie manchmal im Dorf. Wie kommen Sie dann dahin?«
»Sean fährt mich hin«, antwortete Bella. »Dann geht er in den Pub, solange ich einkaufe.«
»Nächstes Mal könnten Sie dort in den Bus steigen«, sagte Hamish.
Bella riss die Augen auf. »Und alle meine Sachen hierlassen? Ich habe den Schmuck von meiner Mutter!«
»Den könnten Sie in Ihre Handtasche oder unten in Ihre Einkaufstasche stecken.«
»Sean durchsucht meine Taschen immer, falls mir jemand Briefe zusteckt. Er überprüft auch die Telefonrechnung. Wenn ich noch hier bin, wenn die nächste kommt, wird er fragen, warum ich auf der Wache angerufen habe. Ich werde ihm sagen müssen, dass ich jemand Verdächtiges draußen gesehen habe.«
»Und wie haben Sie diesen Burschen in Inverness kontaktiert?«, hakte Hamish nach.
»Als ich letztes Mal unten in Lochdubh war, habe ich ihn aus der Telefonzelle angerufen, sobald Sean im Pub war. Das hat mich ein paar Pfund gekostet, mein letztes eigenes Geld. Er erlaubt mir keins, außer zum Einkaufen, und zu Hause hakt er dann alles penibel auf der Liste ab.«
»Sie müssen hier Freundinnen finden. Ich kann versuchen, etwas zu arrangieren«, schlug Hamish vor.
»Das nützt nichts. Er wird die wegschicken.«
Plötzlich grinste Hamish. »Also kennt er Mrs Wellington noch nicht.«
Hamish fuhr zurück zur Polizeiwache und brachte Lugs ins Haus. Dann ging er hinauf zum Pfarrhaus, um Mrs Wellington zu besuchen, die Pfarrersfrau, als Elspeth ihn einholte.
»Es geht um Stoyre«, sagte sie.
»Später, Elspeth«, entgegnete Hamish schroff. »Ich habe zu tun.«
Sie sah ihn merkwürdig enttäuscht an und wandte sich ab.
Ich hätte nicht so unhöflich sein dürfen, dachte Hamish. Aber eines nach dem anderen. Stoyre kann warten. Er ging weiter zum Pfarrhaus.
Mrs Wellington war eine eindrucksvolle Frau, trotz der Hitze wie immer in ein Tweed-Kostüm mit Seidenbluse, eine dicke Strumpfhose und Budapester gekleidet. »Ach, Sie sind’s«, sagte sie verdrossen.
»Ich möchte in einer delikaten Angelegenheit mit Ihnen sprechen.«