Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland -  - E-Book

Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland E-Book

0,0

Beschreibung

In einer Zusammenschau sowohl autochthoner als auch ausgewählter allochthoner Minderheitensprachen nimmt dieses Handbuch die Mehrsprachigkeitssituation in Deutschland in den Blick. Einen dritten Fall stellen die sog. (Spät-)Aussiedler dar. Gemein ist all diesen Sprachgemeinschaften, dass sie sich im deutschen Diasystem befinden und durch Andersartigkeit zur Umgebungssprache auszeichnen. Zehn Überblicksartikel geben ausführliche Informationen über Demographie, Geschichte sowie politische und rechtliche Lage der jeweiligen Minderheiten. Zusätzlich wird für jede Minderheit eine Darstellung der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation wie auch der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Sprachrepertoires geboten. Die Spracheinstellungen der Sprecher und die visuelle Wahrnehmbarkeit der jeweiligen Minderheitensprachen im öffentlichen Raum werden ebenfalls analysiert. Mit Beiträgen von Bernhard Brehmer, Ibrahim Cindark, Serap Devran, Katharina Dück, Reinhard Goltz, Dieter W. Halwachs, Hanna Jaeger, Andrea Kleene, Grit Mehlhorn, Thomas Menzel, Karen Margrethe Pedersen, Jörg Peters, Anja Pohontsch, Doris Stolberg und Alastair Walker.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 889

Veröffentlichungsjahr: 2020

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rahel Beyer / Albrecht Plewnia

Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Dr. Rahel Beyer ist wissenschaftliche Angestellte am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.

 

Dr. Albrecht Plewnia ist Leiter des Programmbereichs Sprache im öffentlichen Raum am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.

 

Umschlagabbildung: www.shutterstock.de, © Max Broszat

 

Einbandgestaltung: Bernd Rudek Design GmbH, www.rudek.de

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-8233-8261-4 (Print)

ISBN 978-3-8233-0234-6 (ePub)

Inhalt

EinleitungLiteraturDänisch als Minderheitensprache in Deutschland1 Geographische Lage, Demographie und Bevölkerungsstatistik1.1 Geographische Lage1.2 Demographie und Statistik2 Geschichte2.1 Die historische Entwicklung bis ins frühe 20. Jahrhundert2.2 1920–19452.3 Nach 19453 Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Bezug auf Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung3.1 Wirtschaftliche Situation3.2 Politische Situation3.3 Rechtliche Stellung3.4 Kulturelle Institutionen, Medien und Literatur4 Soziolinguistische Situation: Kontaktsprachen, Sprachform(en) des Deutschen und der Minderheitensprache, sprachliche Charakteristika, Code-Switching und Sprachmischung4.1 Kontaktsprachen4.2 Die einzelnen Sprachformen des Dänischen4.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung5 Spracheinstellungen gegenüber dem Südschleswigdänischen als Schriftsprache6 Linguistic Landscapes7 Zusammenfassung8 LiteraturDie Friesen und das Friesische in Nordfriesland1 Geographische Lage2 Statistik und Demographie3 Geschichte3.1 Die Entwicklung der nordfriesischen Mehrsprachigkeit3.2 Auswanderung nach Amerika4 Wirtschaft und Wanderbewegungen5 Politische Aspekte5.1 Symbolische und instrumentale Politik5.2 Sprachenpolitik5.3 Politische Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen5.4 Die finanzielle Förderung der friesischen Volksgruppe6 Die rechtliche Stellung des Friesischen6.1 Die regionale Ebene (Land)6.2 Die nationale Ebene (Staat)6.3 Die übernationale Ebene7 Kulturelle Aspekte7.1 Die nordfriesischen Vereine und Verbände7.2 Kulturelle Einrichtungen7.3 Friesisch im Bildungssystem7.4 Friesisch in der Kirche7.5 Friesisch in den Medien7.6 Literatur, Theater, Musik und weitere kulturelle Felder8 Die soziolinguistische Situation8.1 Das Friesische8.2 Sprache in Nordfriesland8.3 Sprache in der Statistik8.4 Sprache in der Familie8.5 Sprachnorm und Sprachwandel9 Spracheinstellungen: Friesisch als Ausdruck kultureller Identität10 Linguistic Landscapes10.1 Streetscape – Die Widerspiegelung der Mehrsprachigkeit in den Straßen Nordfrieslands10.2 Gebäudenamen10.3 Informationsschilder10.4 Churchscape – Mehrsprachige Inschriften im Zusammenhang mit der Kirche10.5 Unvermitteltes Auftreten von Inschriften10.6 Symbole10.7 Linguistic Soundscapes11 Zusammenfassung12 LiteraturSaterfriesisch1 Geographie2 Demographie und Statistik3 Geschichte4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Politische Situation der Minderheit4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur5 Soziolinguistische Situation5.1 Kontaktsprachen5.2 Profil der Minderheitensprache5.3 Sprachformen des Saterfriesischen5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung6 Sprachgebrauch und -kompetenz6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten6.2 Mündliche Kommunikation und schriftlicher Sprachgebrauch6.3 Weitere Kommunikationssituationen (Domänen und Anlässe)7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation7.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch8 Linguistic Landscapes9 Zusammenfassung und Ausblick10 LiteraturNiederdeutsch1 Geographische Lage2 Demographie und Statistik3 Geschichte4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Politische Situation der Regionalsprache Niederdeutsch4.3 Rechtliche Stellung der Niederdeutsch-Sprecher und ihrer Sprache sowie bildungspolitische Förderung4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, regionalsprachliche Medien und Literatur, Kirche5 Soziolinguistische Situation5.1 Status des Niederdeutschen (Sprache oder Dialekt)5.2 Kontaktsprachen5.3 Profil des Niederdeutschen5.4 Die einzelnen Sprachformen im norddeutschen Raum6 Sprachgebrauch und -kompetenz6.1 Sprachkompetenz im Niederdeutschen6.2 Spracherwerb6.3 Mündliche Interaktion6.4 Schriftlicher Sprachgebrauch7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Einstellungen gegenüber der Regionalsprache und der Standardsprache (als Identitätsmerkmal)8 Linguistic Landscapes9 Zusammenfassung10 LiteraturSorbisch1 Geographische Lage2 Demographie und Statistik3 Geschichte4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Politische Situation4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur5 Soziolinguistische Situation5.1 Sprachkontakte5.2 Profil der Minderheitensprache5.3 Sprachformen des Deutschen5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung6 Sprachgebrauch und ‑kompetenz6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten6.2 Sprachgebrauch7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation7.3 Einstellungen gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal)8 Linguistic Landscape9 Zusammenfassung und Ausblick10 LiteraturRomanes, die Sprache der Sinti und Roma1 Demographie und Geschichte2 Rechtliche Stellung3 Status des Romanes3.1 Medien3.2 Kulturbetrieb3.3 Bildungssystem4 Situation und Struktur des Romanes4.1 Profil des Romanes4.2 Sprachkontakterscheinungen im Romanes4.3 Romanes im Deutschen5 Sprachgebrauch und Sprachkompetenz5.1 Romanes als gesprochene Sprache5.2 Schriftlichkeit5.3 Sprachgebrauchswandel6 Spracheinstellung6.1 Einstellung gegenüber Mehrheitssprachen6.2 Einstellung zum Romanes7 Ausblick8 LiteraturAnhangRussisch1 Geographie2 Demographie und Statistik3 Geschichte3.1 Vorgeschichte der deutschstämmigen Aussiedler bis zum Zweiten Weltkrieg3.2 Nachkriegsgeschichte der deutschstämmigen (Spät-)Aussiedler3.3 Zur Migrationsgeschichte der jüdischen Kontingentflüchtlinge3.4 Zu Migrationsentwicklungen anderer postsowjetischer Migranten4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Politische Partizipation und Situation der Minderheit4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache, schulpolitische Förderung4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände und minderheitensprachliche Medien5 Soziolinguistische Situation5.1 Kontaktsprachen5.2 Profil der Minderheitensprache (inkl. Varietäten, besondere Charakteristika)5.3 Sprachformen des Deutschen5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung6 Sprachgebrauch und -kompetenz6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten6.2 Weitere Kommunikationssituationen7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation7.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal)7.4 Beziehungen zum Herkunftsland8 Linguistic Landscapes9 Zusammenfassung und Ausblick10 LiteraturTürkisch in DeutschlandVorwort1 Geographie2 Demographie und Statistik3 Geschichte4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Rechtliche Stellung und politische Situation der Minderheit4.3 Aspekte der Bildung und Schulpolitik4.4 Institutionen, Verbände und minderheitensprachliche Medien5 Soziolinguistische Situation5.1 Kontaktsprachen5.2 Profil der Minderheitensprache5.3 Sprachformen des Deutschen5.4 Sprachenwahl, Code-Switching und Sprachmischung6 Sprachgebrauch und -kompetenz7 Spracheinstellung als Identitätsmerkmal und Beziehung zum Herkunftsland8 Linguistic Landscapes9 Ausblick10 LiteraturDie polnischsprachige Minderheit1 Geografie, Demografie und Statistik2 Geschichte3 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur3.1 Wirtschaftliche Situation und rechtliche Stellung der Minderheit3.2 Sprachenpolitik und schulpolitische Förderung des Polnischen3.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Kirche und polnischsprachige Medien4 Soziolinguistische Situation4.1 Kontaktsprachen4.2 Profil der Minderheitensprache4.3 Sprachformen des Deutschen4.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung5 Sprachgebrauch und -kompetenz5.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten5.2 Mündliche Interaktion: Sprecherkonstellationen und -typen5.3 Schriftlicher Sprachgebrauch und weitere Kommunikationssituationen6 Spracheinstellungen6.1 Affektive Bewertung6.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation6.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal)6.4 Beziehungen zum Herkunftsland7 Linguistic Landscapes8 Zusammenfassung und Ausblick9 LiteraturDeutsche Gebärdensprache (DGS)1 Einleitung2 Demographie und Statistik3 Geschichte3.1 18. Jahrhundert3.2 19. Jahrhundert3.3 20. Jahrhundert3.4 Gebärdensprachforschung seit den 1960er Jahren4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur5 Soziolinguistische Situation5.1 Sprachkontakte5.2 Profil der Minderheitensprache5.3 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung5.4 Schrift6 Sprachgebrauch und -kompetenz6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten6.2 Sprachgebrauch7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation7.3 Einstellungen gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal)8 Zusammenfassung und Ausblick9 Literatur

Einleitung

Rahel Beyer / Albrecht Plewnia

Das vorliegende Buch bildet den Abschluss einer Handbuchserie zu Sprachminderheitenkonstellationen unter Beteiligung des Deutschen. Ihren Anfang nahm die Serie 1996 mit einem Band zur Situation der Sprachminderheiten in Mitteleuropa (Hinderling/Eichinger 1996b). Dieser Band, der noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs konzipiert worden war, war bald vergriffen. Es folgten weitere Bände zu anderen Regionen der Welt, die sich von der Struktur her an dem Mitteleuropa-Band orientierten: zunächst die Länder Mittel- und Osteuropas (Eichinger/Plewnia/Riehl 2008), sodann die deutschen Sprachminderheiten in Übersee (Plewnia/Riehl 2018). Das Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa (Beyer/Plewnia 2019) war der erste Band einer vollständigen Neufassung des Handbuchs von 1996, wo über die Dichotomie von Mehrheit und Minderheit hinaus auch weitere Ausprägungen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit berücksichtigt wurden.

Das Anliegen jeden Bandes dieser Serie sowie des vorliegenden war und ist zweiteilig: Zum einen geht es – einem Handbuch entsprechend – um die Bereitstellung von geordneten Informationen, so dass Interessierte Erläuterungen zu bestimmten Stichworten nachschlagen und sich auf diese Weise relativ schnell einen Überblick verschaffen können – sei es zu einer bestimmten Minderheit oder einem spezifischen Aspekt einer bestimmten Minderheit. Zum anderen soll die Zusammenstellung der Artikel bzw. Sprachminderheiten eine vergleichende Betrachtung ermöglichen und wiederkehrende Muster/Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede/Besonderheiten zu Tage treten lassen.

Die Idee eines vergleichenden Blicks auf Sprachminderheiten unter Beteiligung des Deutschen geht zurück bis in die 1980er Jahre. Damals wurden im Rahmen zweier Projekte zunächst die „Methodik von Beschreibung und Vergleich der sprachlichen und sprachenrechtlichen Situation von Minderheiten“ anhand von zwei Minderheitenszenarien getestet und in einem zweiten Schritt auf weitere Gemeinschaften übertragen. Das Ziel wurde damals folgendermaßen formuliert:

Es geht darum, unterschiedliche Sprachgemeinschaften, die oft sonst in jeder Hinsicht verschieden sind, aber eben alle als Sprachminderheiten charakterisiert werden können, nebeneinanderzustellen und aus dieser Nebeneinander- und Gegenüberstellung wenn möglich zu lernen. (Hinderling/Eichinger 1996a: X)

Ergebnis des zweiten Projekts war das „Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten“ (Hinderling/Eichinger 1996b), bei dem deutsche Minderheiten und anderssprachige Minderheiten in deutschsprachigem Mehrheitsgebiet vergleichend gegenübergestellt wurden – eben der eingangs erwähnte Ausgangspunkt der Serie.

Mit dem vorliegenden, letzten Band der Reihe wird nun eine Perspektivenumkehr vorgenommen: Beschrieben werden Charakter und soziolinguistische Situation von Gemeinschaften, die sich im deutschen Diasystem befinden und für die Deutsch Mehrheitssprache ist. Dabei beschränken wir uns auf Deutschland. Mit der sprachlich-geographischen Verortung ist im Wesentlichen auch schon das verbindende Element genannt. Wenn schon die Sprachminderheiten in den vorhergehenden Bänden recht unterschiedlich waren, so gilt dies umso mehr für die in diesem Buch versammelten Situationen. Auf kleinste gemeinsame Nenner gebracht lassen sich auf einer Makroebene drei dominante Grundtypen von Sprachminderheiten ansetzen:

 

(1) Zunächst die autochthonen Gruppen, die sich durch Altansässigkeit in dem Gebiet, das heute die Bundesrepublik Deutschland konstituiert, auszeichnen. Schon zur Zeit der Staatsgründung lebten in bestimmten Gegenden Gruppen von Menschen mit einer anderen Kultur, einer anderen Tradition und eben anderen Sprachen. Im Zuge der Staatenbildung und der staatenweiten Vereinheitlichung auf sprachlicher Ebene erfuhren diese Sprecher im Vergleich zu jenen der Mehrheitssprache teils starke Benachteiligungen. Sie oder mindestens ihre Sprache wurden unter der vorherrschenden Einsprachigkeitsideologie an den soziopolitischen Rand gedrängt; das ist ein Prozess, der sich praktisch überall in Europa beobachten ließ. Etwa seit den 1970er Jahren gibt es auf europäischer Ebene eine wachsende Aufmerksamkeit für diese autochthonen Minderheiten. Ergebnis der weitreichenden Diskussionen sind eine Reihe von Erklärungen und Abkommen, die die kulturelle und sprachliche Identität der Minderheiten schützen sollen. Das bis heute wichtigste Dokument ist dabei die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen von 1992. Mit ihrer Unterzeichnung gehen Staaten die Verpflichtung ein, die von ihnen anerkannten Minderheiten zu fördern. Für ihr Staatsgebiet hat die Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung Dänisch, Friesisch (Nord- und Saterfriesisch), Sorbisch und Romanes als Minderheitensprachen im Sinne der Charta bestimmt. Das Niederdeutsche hat den Status einer Regionalsprache.

 

(2) Einen zweiten Typ von Sprachminderheit – der europaweit einzigartig ist – stellen die sogenannten Aussiedler und Spätaussiedler dar. Dabei handelt es sich um Personen mit deutscher Familiengeschichte, deren Vorfahren zu verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit in das ehemalige Russische Zarenreich bzw. die Sowjetunion emigriert sind oder die in den (ehemaligen) deutschen Ostgebieten lebten und die seit den 1950er Jahren in die Bundesrepublik übersiedelten. Sie sind also deutscher Abstammung und haben zumindest teilweise noch deutsche Erziehung und Kultur vermittelt bekommen; gleichzeitig kommen sie von einem Gebiet außerhalb der heutigen Staatsgrenze und verwenden in ihrem Alltag häufig Russisch oder Polnisch. Ihr spezifischer Status spiegelt sich auch in ihrer rechtlichen Stellung wider: Über die Regelungen im Bundesvertriebenengesetz bzw. Kriegsfolgenbereinigungsgesetz verfügen sie über einen sicheren Aufnahme- und Aufenthaltsstatus inklusive Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit. Da sie Deutsche sind, werden sie von der Politik auch nicht als Sprecher einer Minderheitensprache betrachtet; entsprechend gibt es – im Gegensatz zu den autochthonen Minderheits- und Regionalsprachen – keinerlei rechtlichen Schutz- und/oder Förderungsbestimmungen für ihre (nicht-deutschen) Sprachen.

 

(3) Der politische Sprachminderheitsdiskurs, wie er sich auch in der Charta manifestiert, ist überwiegend auf die autochthonen Minderheiten fokussiert. Eine relevante Gruppe bilden jedoch, drittens, Personen und Gemeinschaften mit einer gebietsfremden sozialen Herkunft oder Abstammung, d.h. die migrationsinduzierten allochthonen oder „neuen“ Minderheiten, die zudem meist eine andere Staatsangehörigkeit mitbringen. Diese sind jedoch weder als Minderheit anerkannt, noch bestehen für sie Förderungsmaßnahmen – im Gegenteil: Ihre Mehrsprachigkeit wird hauptsächlich als Problem wahrgenommen (Extra/Gorter 2007: 23). In den letzten einhundert Jahren sind durch mehrere Migrationswellen Sprecher vieler verschiedener Sprachen nach Deutschland gekommen. Für das Handbuch musste hier aus praktischen Gründen recht restriktiv ausgewählt werden. Auch wenn es noch keine zufriedenstellende und erst recht keine rechtsgültige Definition von Minderheit gibt, ist klar, dass nicht jede anderssprachige Personengruppe eine Minderheit im Sinne einer Sprachgemeinschaft bildet. „Minderheiten bilden diese Migranten […] nur, wenn sie in Gruppen organisiert auftreten“ (Rindler Schjerve 2004: 482). Neben den objektiv beobachtbaren Faktoren – wie zahlenmäßig geringer Umfang und (politische) Dominiertheit von der Mehrheitsgesellschaft – werden also weitere, v.a. subjektive Faktoren bedeutsam, die dann wiederum in objektiven Elementen (mehr oder weniger) sichtbar werden. So ist typischerweise die Differenz bzw. die Abstammung zentrales Merkmal der Identität und die Grundlage für ein Zusammengehörigkeitsgefühl sowie für die Herausbildung einer sozialen Organisationsform (Rindler Schjerve 2004: 484). Gemeinsames Ziel ist die Pflege von Kultur, Brauchtum und Traditionen, die die Gruppenmitglieder auch über Verwandtschaften hinaus in gemeinsame Interaktion treten lässt. Nur Gemeinschaften mit diesen Merkmalen können in unserem Zusammenhang relevant sein. Aber auch deren Anzahl übersteigt den verfügbaren Platz. Als mögliche Orientierung für die engere Auswahl bieten sich nun Typen der Migration an. Mutmaßlich am verbreitetsten sind als überindividuelle Phänomene die Arbeitsmigration sowie ganz aktuell die Fluchtmigration.1 Letztere hat in Deutschland v.a. ab 2014 erheblich an Bedeutung gewonnen, als der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien eine Flüchtlingswelle auslöste. Schätzungen zufolge kamen 2015 etwa 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland, bei denen Arabisch als (einzige) Erstsprache vorherrschte (Hünlich et al. 2018: 18f.) – eine durchaus beachtliche Zahl. Die Konturen dieser Gruppe und ihrer soziolinguistischen Realitäten sind zurzeit jedoch nicht recht erkennbar, und ihre Erforschung steht noch ganz am Anfang. Dementsprechend konnten sie im vorliegenden Handbuch noch nicht berücksichtigt werden. Einwanderung zum Zweck der Arbeitsaufnahme blickt in Deutschland dagegen schon auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurück. Waren es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert v.a. Polen, die im Ruhrgebiet in der Schwerindustrie und im Bergbau eingestellt wurden, kamen die ab 1955 angeworbenen „Gastarbeiter“ vorwiegend aus dem südeuropäischen Raum. Die größte Gruppe der als Folge von Arbeitsmigration entstandenen Minderheiten in Deutschland bilden dabei die Türkischstämmigen bzw. Türkeistämmigen, inzwischen in zweiter und dritter Generation.

Das vorliegende Handbuch umfasst zehn Beiträge. Diese erläutern zunächst nacheinander die fünf – bzw., wenn man Nordfriesisch und Saterfrisisch getrennt zählt, sechs; wenn man Obersorbisch und Niedersorbisch getrennt zählt, sieben – chartageschützen Sprachen Deutschlands. (1) Dänisch in Schleswig-Holstein als Grenzminderheit ist dabei der einzige Fall, der insofern eine Symmetrie aufweist, als es jenseits der Grenzen den genauen Gegenfall (also Deutsch als Minderheitssprache in Dänemark) gibt. Die historisch-autochthone dänische Minderheit in Schleswig-Holstein umfasst zirka 50.000 Personen; sie ist von der Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich anerkannt. Die Mitglieder der Minderheit sind in der Regel mehrsprachig. Häufig ist Deutsch die Erstsprache und Südschleswigdänisch, eine durch Sprachkontakt geprägte Form des Dänischen, Zweitsprache oder weitere Erstsprache; daneben wird ggf. das Standarddänische Dänemarks und gelegentlich Niederdeutsch und/oder Friesisch gesprochen. Der Status des Dänischen in der Minderheit ist variabel. Während in der privaten Alltagskommunikation häufig Deutsch bevorzugt wird, hat die Beherrschung des Dänischen hohe Relevanz auf Entscheidungs- und Leitungsebenen. Für die fortgesetzte ökonomische Unterstützung aus Dänemark spielen seine Bewahrung und Förderung eine zentrale Rolle.

 

(2) Friesisch gehört zu den Minderheitensprachen, die keinen Nationalstaat haben. Ihre Sprecher verteilen sich auf drei nicht (mehr) zusammenhängende Gebiete im Nordseeraum, von denen zwei in Deutschland liegen: Zum einen im schleswig-holsteinischen Kreis Nordfriesland sowie auf der Insel Helgoland, wo es in einer ausgeprägten Mehrsprachigkeitssituation unter Beteiligung des Friesischen, Niederdeutschen, Hochdeutschen, Jütischen wie Dänischen steht bzw. stand. Die Herausforderungen für das Nordfriesische liegen sowohl in der großen Dialektvielfalt, durch die nur selten eine gegenseitige Verständlichkeit gegeben ist, als auch im Fehlen eines schlüssigen, stringenten Konzepts für die Spracharbeit: Bei den zahlreichen Aktivitäten, Strukturen und Rechtsinstrumenten zur Förderung des Friesischen „stellt sich jetzt [die Frage], inwiefern diese Maßnahmen, insbesondere die Strukturen, effektiv sind“ (Walker, in diesem Band) und wie der vorhandene Sachverstand sinnvoll gebündelt werden kann.

 

(3) Zum anderen ist Friesisch in der Gemeinde Saterland im Nordwesten Niedersachsens zu finden. Das dortige Saterfriesisch ist die letzte noch gesprochene Varietät des Ostfriesischen; sie kam erst ab zirka dem 11. Jahrhundert durch emsfriesische Einwanderer in das ursprünglich sächsisch besiedelte Gebiet. Erst seit den 1980er Jahren gibt es in der Bevölkerung ein wachsendes Bewusstsein darüber, dass es sich beim Saterfriesischen um eine Ausprägung des Friesischen – und nicht des Niederdeutschen – handelt. Durch Zuzug Plattdeutsch sprechender Kolonisten aus der Umgebung im 19. Jahrhundert und Zuzug v.a. aus den Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg stellen die Saterfriesischsprecher nur noch eine Minderheit der Gesamtbevölkerung mit einem eingeschränkten Kommunikationsraum dar. Umso gewichtiger wird die Rolle der schulischen Bildung als „wohl die beste[…] Möglichkeit[…], die Gebrauchsdomänen für das Saterfriesische zu erweitern“ (Peters, in diesem Band).

 

(4) Im Mittelalter bzw. in der Hansezeit als Sprache voll umfänglich ausgebaut und verwendet, wurde das Niederdeutsche als Folge des Schreibsprachwechsels der norddeutschen Städte zum Hochdeutschen soziolinguistisch zu einem Dialekt heruntergestuft. „Damit einher gingen niedrige Prestigewerte und eine weitgehende Unbesetztheit von Feldern der öffentlichen Kommunikation“ (Goltz/Kleene, in diesem Band). Mit der Aufnahme des Niederdeutschen als Regionalsprache in das deutsche Ratifizierungsdokument der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen begann ein Prozess der Umbewertung zugunsten eines kulturellen Wert- und Identitätsfaktors. Zudem zeigen aktuelle Umfragen ein in den letzten zehn Jahren gleichgebliebenes Kompetenzniveau unter den Sprechern. Dennoch bergen die nur zu einem sehr geringen Teil in der Familie stattfindende Weitergabe und die im Alltag fehlende Notwendigkeit, Plattdeutsch zu können, ein gewisses Gefährdungspotenzial.

 

(5) Auch die Lausitzer Sorben hatten zu keinem Zeitpunkt der Geschichte einen eigenen Staat.

Nach vorherrschender Ansicht gibt es nur ein sorbisches Volk, das aber zwei Schriftsprachen hervorgebracht hat, die nieder- und die obersorbische […]. Es handelt sich um zwei eigenständige westslawische Sprachen mit jeweils spezifischer Dialektgrundlage, wobei die Sprachgrenze aufgrund des Vorliegens von Übergangsdialekten in der mittleren Lausitz nicht eindeutig festzulegen ist. (Menzel/Pohontsch, in diesem Band)

Auch in soziolinguistischer Hinsicht befinden sich Nieder- und Obersorben in unterschiedlichen Situationen: So ist der Großteil der Niedersorben im Laufe des 20. Jahrhunderts von deutsch-sorbischer Zweisprachigkeit zur deutschen Einsprachigkeit übergegangen. Das Kerngebiet des Sorbischen liegt in der Oberlausitz, wo die Obersorben leben. Dabei spielen auch die beiden unterschiedlichen Konfessionen eine große Rolle: Evangelische Regionen der Lausitz und deutschsprachige Region sind im Grunde deckungsgleich.

Anders ist die Konstellation im obersorbischen Kerngebiet, in dem die Weitergabe der Sprache bis heute ohne Bruch stattfand. Die Kirche entwickelte sich hier aufgrund eines historischen Sonderweges zu einem Schutzraum für das Obersorbische. (Menzel/Pohontsch, in diesem Band)

(6) Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, gilt als nicht territorial gebundene Sprache, d.h. als Sprache „die keinem bestimmten Gebiet innerhalb des betreffenden Staates zugeordnet werden [kann]“ (Europarat 1992: 2). Sie ist integraler Bestandteil der (gesamt-)europäischen Kultur; ihre Sprecher sahen sich v.a. in der Vergangenheit jedoch Marginalisierung, stereotypen Vorurteilen sowie Diskriminierung seitens der Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt. Der seit ein paar Jahren stattfindende politische Emanzipationsprozess und die vermehrte Verwendung des Romanes auf internationaler Ebene durch Aktivisten bewirken nicht nur seine Aufwertung, sondern auch einen Funktions- und Strukturausbau. Eine Erforschung dieser Sprache mit indoarischen Wurzeln und starker Prägung durch die jeweiligen Kontaktsprachen erweist sich (v.a.) für Deutschland vor dem historischen Hintergrund als äußerst schwierig. Zu tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind die Aktivitäten

von sogenannten Forschungsinstitutionen vor und während der NS-Zeit […], um u.a. die familiären Strukturen der Sinti zu dokumentieren, die dann wiederum Basis der Deportationen waren. (Halwachs, in diesem Band)

(7) Die russischsprachige Minderheit setzt sich aus verschiedenen Untergruppen zusammen. Die mit dem Russischen in Deutschland salienteste Verknüpfung besteht dabei wohl zu den (Spät-)Aussiedlern, den Nachfahren deutscher Siedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten. Sie stellen mit zirka 2,3 Millionen Angehörigen auch die größte Untergruppe dar. Bei ihnen stellt sich neben der Frage nach dem Erhalt des Russischen auch die Frage nach dem Erhalt der sogenannten russlanddeutschen Dialekte, der Hauptvarietät der ältesten noch lebenden Generation.

Über sehr gute Kenntnisse der russischen Sprache verfügt vornehmlich die zweite Generation, da sie das Russische in der Schule erlernt im Beruf und Alltag später als Hauptkommunikationssprache verwendet haben und diese bereits vor der Auswanderung als Familiensprache etabliert haben. (Dück, in diesem Band)

Der (rechtliche) Sonderstatus und die negative Fremdwahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft bzw. deren Kategorisierung als Russen wirken sich zudem destabilisierend auf die Identitätskonstruktion der (Spät-)Aussiedler aus.

 

(8) Stellvertretend für durch Arbeitsmigration entstandene Minderheiten im Allgemeinen und die Gruppe der Gastarbeiter im Speziellen – und unter den allochthonen Minderheiten numerisch am stärksten – wird in diesem Handbuch die Minderheit der Türkeistämmigen beschrieben. Auch hier gilt: Eine Gleichsetzung von türkischstämmigen (Nachkommen von) Gastarbeitern und Türkischsprechern ist verkürzend und unzulässig (so gibt es auch Migranten aus anderen ethnischen Minderheiten in der Türkei, die auch Türkisch erworben haben, wie auch aus türkischen Minderheiten in Südosteuropa usw.), und doch ist genau diese Verbindung für die überwiegende Mehrzahl der Türkischsprecher zutreffend. Nachdem es sich nach Jahren der Rotation von „Gastarbeitern“ für die Industrie als sinnvoller erwies, eingearbeitete und bewährte ausländische Arbeitskräfte längerfristig zu halten, begannen diese „im Laufe der 1970er Jahre ihre Ehepartner und Kinder nachzuholen, wodurch spätestens ihr Ansiedlungsprozess begann“ (Cindark/Devran, in diesem Band). Türkisch ist eine sehr vitale Sprache in Deutschland. Sie wird sowohl mündlich als auch schriftlich in vielen verschiedenen Domänen und bei unterschiedlichen Anlässen verwendet, d.h. nicht nur von der ersten Generation der Migranten, sondern auch von den Nachfolgegenerationen; bei Letzteren lässt sich typischerweise viel deutsch-türkisches Code-Switching beobachten. Angesichts unter anderem der relativ stark ausgebildeten ethnischen Identität ist nicht davon auszugehen, dass die Vitalität der türkischen Sprache in Deutschland in naher Zukunft nachlassen wird.

 

(9) Für viele allochthone Minderheiten lassen sich mehrere Migrationsmotivationen finden, die zeitgleich zusammenfallen oder zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte relevant waren. Dies trifft zum Beispiel für die Sprecher des Polnischen in Deutschland zu. Hierbei handelt es sich um eine große, sehr heterogene Gruppe, die sich aus Nachkommen von Arbeitsmigranten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts („Ruhrpolen“), (Spät-)Aussiedlern (v.a. in den 1980er Jahren) und Arbeitsmigranten im Kontext der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit (seit 2011) zusammensetzt; hinzu kommt eine nennenswerte Individualmigration.

Dies wirkt sich direkt auf ihre sprachlichen Hintergründe und ihre Einstellungen zum Erhalt des Polnischen bzw. zum Erwerb des Deutschen aus. Neben der Vielfalt an sprachlichen Konstellationen hat diese Heterogenität auch Folgen für den internen Zusammenhalt der polnischsprachigen Bevölkerung in Deutschland: Die einzelnen Gruppierungen weisen keine engen Verbindungen auf, haben z.T. eigene Verbände und kulturelle Organisationen, die kaum miteinander vernetzt sind. (Brehmer/Mehlhorn, in diesem Band)

Letzteres dürfte auch zur faktischen „Unsichtbarkeit“ der Minderheit beitragen.

 

(10) Zu keinem der drei oben erläuterten Typen passt die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Sie unterscheidet sich als visuell-räumliche Sprache in ihrer Modalität sowohl von den anderen Minderheitensprachen als auch von der deutschen Lautsprache. Sie wird in Kommunikationssituationen mit Beteiligung von gehörlosen und hörgeschädigten Personen in Deutschland (und Luxemburg) verwendet. Auch wenn sich DGS-Verwender durchaus als sprachlich-kulturelle Minderheit wahrnehmen, ist ihre Sprache in Deutschland nicht als Minderheitensprache auf völkerrechtlicher Basis anerkannt. Rechtliche Anerkennung (als eigenständige Sprache) erfährt die DGS vielmehr nur über Paragraph 6 des Behindertengleichstellungsgesetzes. Wie an dieser Verortung deutlich wird, haftet der DGS (wie Gebärdensprache an sich) nur allzu oft das Image eines zweckbedingten Hilfsmittels an, dass die gesprochene Sprache in Form von Gesten widergibt. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive besteht jedoch kein Zweifel, dass Gebärdensprachen vollwertige natürliche Sprachen mit einem komplexen grammatikalischen System sind.

 

Alle beschriebenen Sprechergemeinschaften müssen sich gegenüber dem Deutschen als dominierende Mehrheitssprache behaupten. Dies liegt allerdings mehr an dessen „De-facto-Dominanz“ (Marten 2016: 147) als an dessen Festschreibung als Nationalsprache im Grundgesetz.2 Zwar gibt es einige nachgeordnete Gesetze, die den offiziellen Status bzw. die offizielle Funktion des Deutschen u.a. im Zusammenhang mit Behörden und Gerichten festlegen,3 insgesamt fehlt es in Deutschland jedoch an einer kohärenten Sprach(en)politik. Dies gilt auch für den Umgang mit den autochthonen Minderheitensprachen. Der Grund liegt u.a. in der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik. Das bedeutet, dass die einzelnen Länder über kulturelle Souveränität, d.h. über die primäre Kompetenz in Bezug auf die Gesetzgebung in den Bereichen Kultur und Bildung verfügen. Die meisten minderheitenspezifischen Gesetze finden sich in den Regelungen des jeweiligen Landes, in dem die Minderheit lebt. So hat der Schleswig-Holsteinische Landtag 2004 das sogenannte Friesischgesetz verabschiedet, das das Friesische und seine Verwendung zum Beispiel bei Behörden oder sein Erscheinen auf zweisprachigen Ortsschildern anerkennt. Letzten Endes den einzigen Kontext, in dem Deutschland als gesamter Staat in die Pflicht genommen wird, bildet die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Deutschland gehörte am 5. November 1992 zu den ersten Unterzeichnerstaaten dieses europäischen Vertrags. Die Ratifizierung erfolgte 1995; die Inkraftsetzung zum Januar 1999. Im Text werden zunächst Definitionen für den Anwendungsbereich der Charta gegeben: Demnach

bezeichnet der Ausdruck ‚Regional- oder Minderheitensprache‘ Sprachen, (i) die herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates gebraucht werden, die eine Gruppe bilden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung des Staates, und (ii) die sich von der (den) Amtsprache(n) dieses Staates unterscheiden; er umfaßt weder Dialekte der Amtssprache(n) des Staates noch die Sprachen von Zuwanderern. (Europarat 1992: 2)

Weiterhin gibt es einen Teil mit allgemeiner gehaltenen Zielen und Grundsätzen, zu deren Anwendung sich die Vertragsparteien verpflichten. Unter Teil III führt die Charta eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen zur Förderung des Gebrauchs von Regional- oder Minderheitensprachen im öffentlichen Leben auf. Diese Maßnahmen betreffen Bildungswesen, Justiz, Verwaltungsbehörden und öffentliche Dienstleistungsbetriebe, Medien, kulturelle Tätigkeiten und Einrichtungen, wirtschaftliches und soziales Leben sowie grenzüberschreitenden Austausch. Bei der Ratifizierung des Dokuments müssen für jede als Regional- oder Minderheitensprache im Sinne der Charta anerkannte Sprache mindestens 35 Maßnahmen aus diesem Katalog angegeben werden, zu deren Anwendung sich der Unterzeichnerstaat verpflichtet. In regelmäßigen Abständen haben die Vertragsstaaten Berichte über die Anwendung der Charta vorzulegen, die von einem Sachverständigenausschuss kontrolliert werden; es fehlt allerdings jede Sanktionsmöglichkeit. Die Umsetzung der Fördermaßnahmen ist in Deutschland Sache der einzelnen Länder. Diese Fragmentierung wird bzw. die sich daraus ergebenden großen Unterschiede in der Umsetzung zwischen den einzelnen Bundesländern werden vom Sachverständigenausschuss immer kritisch kommentiert. Dies gilt insbesondere für das Niederdeutsche, dessen Schutz Angelegenheit von insgesamt acht Ländern ist. Der letzte Bericht des Sachverständigenausschusses von 2018 empfiehlt explizit „die Zusammenarbeit zwischen den Ländern zu verbessern, in denen Niederdeutsch geschützt ist.“

Entsprechend der Einordnung in die erwähnte Handbuch-Serie orientiert sich auch die Gliederung dieses Bandes bzw. der Beiträge an den Vorgängerarbeiten. Pro Beitrag wird ein Gebiet überblicksartig beschrieben und dabei jeweils im Wesentlichen ein „gewisser Kernbestand an Problembereichen“ (Hinderling/Eichinger 1996: XII) behandelt. Die Beschreibungsdimensionen erstrecken sich von den historischen Entwicklungen über die aktuelle demographische und rechtliche Situation bis hin zur Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Wirtschaft, Politik und Kultur. Darüber hinaus wird für jedes Gebiet eine Beschreibung der soziolinguistischen Situation inklusive eines kurzen Profils der Minderheitensprache, der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation, der Spracheinstellungen der Sprecherinnen und Sprecher sowie des visuell realisierten Auftretens der Minderheitensprache im öffentlichen Raum (Linguistic Landscape) geboten.

Die Herausgeber sind allen Beteiligten zu großem Dank verpflichtet: zuvörderst den Autorinnen und Autoren für die Bereitschaft, einen Beitrag zu übernehmen, sich auf das vorgegebene Gliederungsschema einzulassen und es, wo nötig, zu adaptieren. Des Weiteren Norbert Cußler-Volz für die Erstellung einiger Karten im Band. Für die Erstellung der Druckvorlage und die umsichtige und sorgfältige Korrektur der Manuskripte sei Heike Kalitowksi-Ahrens und Julia Smičiklas gedankt. Dem Narr-Francke-Attempto-Verlag danken wir für die Aufnahme des Handbuchs ins Verlagsprogramm und insbesondere Tillmann Bub, der die Entstehung des Bandes ebenso wie die der Vorgängerbände mit freundlicher und unerschütterlicher Langmut betreut hat.

Literatur

Adler, Astrid/Beyer, Rahel (2018): Languages and Language Policies in Germany/Sprachen und Sprachpolitik in Deutschland. In: Stickel, Gerhard (Hrg.): National Language Institutions and National Languages. Contributions to the EFNIL Conference 2017 in Mannheim. Budapest: Hungarian Academy of Sciences, S. 221–242.

Beyer, Rahel/Plewnia, Albrecht (Hrg.) (2019): Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. Tübingen: Narr Francke Attempto.

Eichinger, Ludwig/Plewnia, Albrecht/Riehl, Claudia M. (Hrg.) (2008): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Tübingen: Narr.

Europarat (1992): Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (= Sammlung Europäischer Verträge; 148). Abrufbar unter: https://rm.coe.int/168007c089 (Letzter Zugriff 3.4.2020).

Extra, Guus/Gorter, Durk (2007): Regional and Immigrant Minority Languages in Europe. In: Hellinger, Marlis/Pauwels, Anne (Hrg.): Handbook of Language and Communication: Diversity and Change. Berlin: de Gruyter. S. 15–52.

Hinderling, Robert/Eichinger, Ludwig M. (1996a): Einleitung. In: Hinderling, Robert/Eichinger, Ludwig M. (Hrg.): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Narr. S. IX–XVII.

Hinderling, Robert/Eichinger, Ludwig M. (Hrg.) (1996b): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Narr.

Hünlich, David/Wolfer, Sascha/Lang, Christian/Deppermann, Arnulf (2018): Wer besucht den Integrationskurs? Soziale und sprachliche Hintergründe von Geflüchteten und anderen Zugewanderten. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache und Goethe-Institut Mannheim.

Marten, Heiko F. (2016): Sprach(en)politik. Eine Einführung. Tübingen: Narr Francke Attempto.

Plewnia, Albrecht/Riehl, Claudia M. (2018): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee. Tübingen: Narr.

Rindler Schjerve, Rosita (2004): Minderheit/Minority. In: Ammon, Ulrich et al. (Hrg.): Sociolinguistics. Soziolinguistik. HSK 3.1., 2. Auflage. Berlin/New York: de Gruyter. S. 480–486.

Stickel, Gerhard (2012): Deutsch im Kontext anderer Sprachen in Deutschland heute: Daten und Einschätzungen. In: Eichinger, Ludwig M./Plewnia, Albrecht/Schoel, Christiane/Stahlberg, Dagmar (Hrg.): Sprache und Einstellungen. Spracheinstellungen aus sprachwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Perspektive. Tübingen: Narr, S. 227–321.

Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland

Karen Margrethe Pedersen / Doris Stolberg

1

Geographische Lage, Demographie und Bevölkerungsstatistik

1.1

Geographische Lage

1.2

Demographie und Statistik

2

Geschichte

2.1

Die historische Entwicklung bis ins frühe 20. Jahrhundert

2.2

1920–1945

2.3

Nach 1945

3

Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Bezug auf Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung

3.1

Wirtschaftliche Situation

3.2

Politische Situation

3.3

Rechtliche Stellung

3.4

Kulturelle Institutionen, Medien und Literatur

4

Soziolinguistische Situation: Kontaktsprachen, Sprachform(en) des Deutschen und der Minderheitensprache, sprachliche Charakteristika, Code-Switching und Sprachmischung

4.1

Kontaktsprachen

4.2

Die einzelnen Sprachformen des Dänischen

4.3

Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung

5

Spracheinstellungen gegenüber dem Südschleswigdänischen als Schriftsprache

6

Linguistic Landscapes

7

Zusammenfassung

8

Literatur

1Geographische Lage, Demographie und Bevölkerungsstatistik

1.1Geographische Lage

Die dänische Minderheit in Deutschland entstand als Folge der Zuordnungsgeschichte des Herzogtums Schleswig. Sie befindet sich auf der deutschen Seite des deutsch-dänischen Grenzraums, in dem Gebiet zwischen der deutschen Staatsgrenze im Norden und dem Nordostsee-Kanal und der Eider im Süden. Dieses Gebiet gehört zum nördlichsten Bundesland innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, Schleswig-Holstein.

Das Gebiet wird von der dänischen Volksgruppe Sydslesvig (,Südschleswig‘) genannt – eine Bezeichnung, die daran erinnert, dass das Gebiet ursprünglich den südlichen Teil des Herzogtums Schleswig bildete.

Abb. 1: Nordschleswig und Südschleswig1

In der deutschen Mehrheit wird der Landesteil als Schleswig bezeichnet, eine Benennung, die im Wesentlichen eine geschichtliche Reminiszenz ist. Südschleswig ist offiziell einsprachig (deutsch),2 was u.a. in den deutschen Orts- und Straßennamen zum Ausdruck kommt. Einige Städte haben aber seit 2000 eine zweisprachige Beschilderung wie Flensborg/Flensburg.

Intern verwendet die dänische Minderheit ihre eigenen dänischen Bezeichnungen, und es besteht ein großer Wunsch nach einer weiterreichenden zweisprachig deutsch-dänischen Beschilderung.3 In Bezug auf die dänische Minderheit wird im Folgenden von Sydslesvig/Südschleswig gesprochen, und die Ortsnamen werden dänisch-deutsch angegeben.

1.2Demographie und Statistik

Das Gebiet Sydslesvig/Südschleswig umfasst rund 4.000 km2 und hat ungefähr 400.000 Einwohner. Nach eigenen Angaben gehören der dänischen Minderheit zirka 50.000 Personen an, d.h. gut 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung des Gebietes.

Sydslesvig/Südschleswig ist als Gebiet historisch definiert (mit der Eider als südliche Grenze) und bildet innerhalb von Schleswig-Holstein keine selbstständige Verwaltungseinheit. Administrativ ist es in die Kreise Nordfriesland und Schleswig-Flensburg, die kreisfreie Stadt Flensburg und den nördlichen Teil des Kreises Rendsburg-Eckernförde gegliedert. Die dänische Minderheit lebt nicht geschlossen in diesem Gebiet, sondern gemischt mit der Mehrheitsbevölkerung. Da keine offizielle Registrierung der Angehörigen der Minderheit stattfindet, ist es schwierig, sie demographisch genau zu erfassen. Die kulturelle Hauptorganisation der Minderheit, der Sydslesvigsk Forening (SSF; ‚Südschleswigscher Verein‘; vgl. Kap. 3.4), ist in 72 Ortsverbänden (distrikter) und sieben Kreisen (amter) (Stand: Oktober 2019) organisiert und vermittelt einen recht guten Eindruck der Gebiete, in denen die Minderheit vertreten ist (s. Abb. 2). Der SSF umfasst die folgenden Struktureinheiten: die Stadt Flensborg/Flensburg; die Kreise Flensborg/Flensburg Land, Sydtønder/Südtondern, Husum, Gottorp/Gottorf, Ejdersted/Eiderstedt sowie Rendsborg/Rendsburg in einer Einheit mit Egernførde/Eckernförde.

Abb. 2: Sydslesvigsk Forenings amter/Kreise des Südschleswigschen Vereins1

2Geschichte

2.1Die historische Entwicklung bis ins frühe 20. Jahrhundert

Ursprünglich ein fester Bestandteil des dänischen Königreiches, wurde Schleswig im Laufe des 13. Jahrhunderts zu einem selbstständigen Herzogtum. Als Lehen war es bis 1864 mit Dänemark verbunden. Schleswig war ein mehrsprachiges Herzogtum, in dem Dänen, Deutsche und Friesen lebten. Als sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch die ideologische Entwicklung des Nationalgedankens auszuwirken begann, führte dies zu Konflikten darüber, ob Reichsdänisch oder Deutsch Kirchensprache, Rechtssprache und Schulsprache in Teilen Südschleswigs sein sollte. In Verbindung mit weiteren Faktoren führte die Entwicklung schließlich zu den Schleswigschen bzw. Dänisch-Deutschen Kriegen von 1848–50 und 1864, die mit der Niederlage Dänemarks endeten; in der Folge fielen 1864 die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an Preußen. Hochdeutsch wurde als Schul- und Verwaltungssprache in ganz Schleswig eingeführt. Kirchensprache war Deutsch in den Gebieten südlich der heutigen Staatsgrenze und teilweise nördlich davon; 22 Gemeinden behielten jedoch Dänisch als Kirchensprache bei.

An Sønderjysk/Südjütisch und Niederdeutsch, die Alltagssprachen im privaten und lokalen Bereich, war jedoch keinerlei nationale Zugehörigkeit geknüpft, und daher unterlagen diese Sprachen keinen nationalideologischen Zuweisungen. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich ihre relative Ausbreitung jedoch verändert. Gegenüber Sønderjysk/Südjütisch hatte Niederdeutsch an Verbreitung gewonnen. Die Gründe dafür waren der intensive Handel mit den norddeutschen Städten sowie die Vorbildfunktion der holsteinischen Landwirtschaft, die beide mit der Verwendung von Niederdeutsch einhergingen, aber auch der Umstand, dass Deutsch als Bildungssprache in Schleswig (wie z.T. übrigens auch in Dänemark) eine wichtige Rolle spielte. Südlich der heutigen Staatsgrenze war Sønderjysk/Südjütisch Ende des 19. Jahrhunderts nur noch in einem begrenzten Gebiet in regelmäßigem Gebrauch; nördlich davon war es demgegenüber die dominierende Alltagssprache, und dort fand Niederdeutsch keine Verwendung.

2.21920–1945

Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg wurde im Jahr 1920 die Grenzfrage auf der Grundlage der Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch Volksabstimmung (Artikel V des Prager Friedens von 1866) entschieden. Durch das Abstimmungsergebnis wurde Schleswig geteilt. Der nördliche Teil fiel an Dänemark, der südliche verblieb bei Deutschland.

Bereits vor der Volksabstimmung stellten die Dänen im südlichen Teil Schleswigs eine Minderheit dar. Doch erst nach 1920 begannen sie, sich als Minderheit zu organisieren und das Gebiet als Sydslesvig/Südschleswig zu bezeichnen. Es handelt sich hier um eine nationale Minderheit, d.h. die Angehörigen der Minderheit besitzen eine andere Nationalität als die der umgebenden Mehrheit, und ihre Nationalität stimmt nicht mit ihrer Staatsangehörigkeit überein. Als nationale dänische Minderheit identifizieren sie sich mit Dänemark als Land und mit seiner Sprache und Kultur. Über die Zugehörigkeit zur Minderheit entscheidet jede Person selbst; es findet keine offizielle Erfassung statt; ebenso bestehen keine Zugangsbedingungen.

Dem Status als nationale Minderheit entspricht, dass Dänemark sich bereiterklärte, die dänische Minderheit als zu Dänemark zugehörig anzuerkennen. Die offizielle Anerkennung findet ihren Ausdruck u.a. darin, dass der dänische Staat der dänischen Minderheit in Sydslesvig/Südschleswig seit 1920 eine jährliche Kulturbewilligung für solche Einrichtungen zur Verfügung stellt, in denen der Gebrauch der dänischen Sprache eine zentrale Rolle einnimmt: das dänische Schulwesen, die dänische Kirche, dänische Bibliotheken und verwandte Bereiche. Politische Aktivitäten sollen demgegenüber in privaten Vereinigungen stattfinden, da in diesen Kontexten Deutsch verwendet wird. Diese Aufteilung reflektiert, dass aus der Sicht Dänemarks die Übereinstimmung von Sprache und nationaler Einstellung zentral ist. Die Kulturbewilligung trug wesentlich zum Ausbau des dänischsprachigen Schul- und Vereinswesens bei, was wiederum den Gebrauch der dänischen Sprache unterstützte und verstärkte.

Die Verfassung der Weimarer Republik gab der dänischen Minderheit die Möglichkeit, die dänische Sprache und Kultur zu bewahren; der Besuch einer dänischen Schule setzte allerdings voraus, dass Dänisch die Muttersprache war und dass die Eltern im Gebiet der Minderheit geboren waren. Da jedoch die Muttersprache vieler Angehöriger der Minderheit inzwischen Deutsch war, wurden nur wenige Kinder in die beiden dänischen Kommunalschulen (1.–7. Klasse) in Flensborg/Flensburg aufgenommen. Um dem Bedürfnis der dänischgesinnten, doch deutschsprechenden Eltern, ihre Kinder auf Dänisch beschulen zu lassen, entsprechen zu können, richteten die dänischen Flensburger 1920 den Dansk Skoleforening for Flensborg og Omegn (‚Dänischer Schulverein für Flensburg und Umgebung‘) ein, der die Bewahrung der dänischen Sprache und Kultur zum Ziel hatte. Mit Unterstützung durch Dänemark eröffnete der Schulverein eine Anzahl dänischer Schulen und beteiligte sich an der Einrichtung dänischer Kindergärten. In der Zeit bis 1940 befanden sich in den dänischen Schulen bis zu 915 Schülerinnen und Schüler, und in den Kindergärten wurden bis zu 212 Kinder betreut.

Daneben fand die dänische Sprache seit 1920 Verbreitung durch die Vermittlung dänischer Kultur in Den slesvigske Forening (‚Schleswigscher Verein‘), der sich auch sozial und politisch engagierte. Kulturvermittlung geschah darüber hinaus in verschiedenen anderen Vereinen und Vereinigungen, u.a. in Sportvereinen, die sich als Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger (SdU; ‚Südschleswigs dänische Jugendvereine‘) zusammenschlossen.

Die sprachpädagogische Arbeit auf dem Land, außerhalb der Reichweite der städtischen Schulen und Vereine, wurde von Wanderlehrern wahrgenommen. Eine neu eingerichtete Bibliothek in Flensborg/Flensburg spielte eine unterstützende Rolle, und als mobile Bibliotheken, Nebenstellen und Schulbibliotheken folgten, wurden dänische Bücher für alle zugänglich. Die dänischgesinnte Bevölkerung im grenznahen Gebiet hatte zudem die Möglichkeit, den Sender Danmarks Radio zu empfangen und Dänisch zu hören.

Darüber hinaus bestand der Wunsch, Dänisch auch im Gottesdienst zu verwenden, um eine Übereinstimmung zwischen nationaler Zugehörigkeit und Kirchensprache zu erlangen.

In der Zeit des Nationalsozialismus (1933–45) wurden die dänischen Vereine und Schulen zunächst fortgeführt, doch dem Ausdruck dänischer Identität wurde mit politischer Aggression begegnet. Die Mitgliederzahlen der Minderheiten sanken deutlich, und im Zweiten Weltkrieg wurden die Kulturbewilligungen aus Dänemark eingestellt.

2.3Nach 1945

Nach der deutschen Kapitulation 1945 führte die Suche nach neuen Orientierungen u.a. dazu, dass viele Schleswiger sich der dänischen Minderheit anschlossen; deren Mitgliederzahlen stiegen in dieser Phase etwa um das Zehnfache auf zirka 100.000 Mitglieder. Von ihnen wurde auch die Beherrschung der dänischen Sprache erwartet, um als Dänen akzeptiert zu werden; es sollte eine Übereinstimmung zwischen Gesinnung und Sprache bestehen. Diese Forderung betraf sowohl Erwachsene als auch Kinder. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen folgte dieser Erwartung mit großem Engagement. Zu diesem Zeitpunkt begann Dänemark auch, die Kulturbewilligungen wieder bereitzustellen.

Nach der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 wurde die dänische Minderheit in der Kieler Erklärung als gleichberechtigt anerkannt.

Die Mitgliederzahl der dänischen Minderheit stieg weiter an. Mit der dänischen Sprache und Kultur waren Erwartungen an eine neue und bessere Zukunft verknüpft, und die Zahl der dänischen Schulen und Kindergärten stieg, um die Nachfrage zu decken. 1950 bestanden 80 Schulen mit insgesamt 13.239 Schülerinnen und Schülern; 1955 waren es 89 Schulen, jedoch war die Schülerzahl auf 7.722 gesunken. Die Zahl der dänischen Kindergärten stieg von 1950 bis 1955 von 13 (446 Kinder) auf 30 (924 Kinder), und eine größere Zahl einsprachig dänischer Lehrkräfte kam nach Südschleswig. Sie waren für den Unterricht monolingual dänischer Kinder ausgebildet; in Südschleswig, wo viele der Schülerinnen und Schüler Dänisch als neue Zweitsprache erwarben, war diese Unterrichtsform gleichbedeutend mit einer standarddänischen Immersion der Zielgruppe.

Im Laufe der 1950er Jahre fiel die Zahl der Minderheitsangehörigen auf zirka 50.000. Als politische Abmachungen traten die Bonn-Kopenhagener-Erklärungen 1955 in Kraft; vier Monate danach wurde die Kieler Erklärung, die damit überflüssig geworden war, außer Kraft gesetzt (vgl. Kap. 3.3).

Wie der Name andeutet, handelt es sich bei den Bonn-Kopenhagener-Erklärungen um eine Erklärung einerseits der Regierung des Königreichs Dänemark in Kopenhagen und andererseits der Regierung der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.

In der Bonner Erklärung (1955), welche sich auf die dänische Minderheit in Deutschland bezieht, wird festgesetzt, dass es jeder Person freisteht, sich als zur dänischen Minderheit zugehörig zu erklären, und dass diese Entscheidung keiner amtlichen Einmischung unterliegt.

In Artikel 5 der schleswig-holsteinischen Verfassung von 1990 ist weiterhin festgelegt, dass nationale Minderheiten und Volksgruppen ein Anrecht darauf haben, geschützt und in ihren Anliegen unterstützt zu werden. Die Zusicherung hat jedoch nicht dazu geführt, dass Dänisch und Friesisch in Schleswig-Holstein als offizielle Sprachen anerkannt wurden; diesen Status hat aktuell nur Deutsch, das nach §82a Landesverwaltungsgesetz Schleswig-Holstein (LVwG SH) Amtssprache in Schleswig-Holstein ist.1 2016 wurde das LVwG SH um §82b ergänzt, der die Verwendung von Regional- und Minderheitensprachen vor Behörden regelt (vgl. auch Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2017: 9; 59). Seitdem können im Gebiet der dänischen Minderheit Schriftstücke jeglicher Art auf Dänisch vorgelegt werden; sollte eine Übersetzung ins Deutsche notwendig werden, trägt die Behörde die Kosten (§82b Abs. 4 LVwG SH). Zum mündlichen Gebrauch des Dänischen heißt es:

Verwendet eine Bürgerin oder ein Bürger im Verkehr mit den Behörden eine der Sprachen gemäß Satz 1 oder Satz 2 [d.h., Niederdeutsch, Friesisch oder Dänisch (Erg. d. Verf.)], können diese Behörden gegenüber dieser Bürgerin oder diesem Bürger ebenfalls die gleiche Sprache verwenden, sofern durch das Verwaltungshandeln nicht die Rechte Dritter oder die Handlungsfähigkeit von anderen Trägern der öffentlichen Verwaltung beeinträchtigt wird. (Auszug aus §82b LVwG SH, in dieser Fassung gültig seit 26.10.2018)2

Die Kann-Regelung bringt zum Ausdruck, dass kein Anspruch darauf besteht, in der entsprechenden Minderheitensprache auch angesprochen zu werden (vgl. Kap. 3.3).

Deutsch, die offizielle Sprache, ist größtenteils auch die Muttersprache bzw. Erstsprache der dänischen Minderheit. Diese Entwicklung ist Folge eines bereits langandauernden Sprachwechsels von Dänisch zu Deutsch als dominanter Sprache in der gesamten südschleswigschen Bevölkerung. Ausgehend von den städtischen Gebieten setzte sich dieser Sprachwechsel auch in der ländlichen Bevölkerung durch. Eine deutsche Sprachzählung in Flensborg/Flensburg von 1905 zeigte, dass zu diesem Zeitpunkt nur (noch) 6,6 Prozent der dortigen Bevölkerung dänischsprachig war. Obgleich viele Kinder und Jugendliche mit Deutsch als Erstsprache nach 1920 zweisprachig wurden, da sie Dänisch in Schulen und Vereinen erwarben, hatte das keinen Einfluss darauf, dass Deutsch weiterhin die Familiensprache war. Eine Volkszählung von 1933 ergab, dass in Flensburg und Mittelschleswig 2.826 Personen dänischsprachig und 1.301 Personen bilingual Dänisch-Deutsch waren. Hinzu kamen vermutlich zirka 600 dänischsprachige Ausländer, so dass von etwa 5.000 Personen mit Dänisch als Muttersprache ausgegangen werden kann.3

Während zur Zeit der Weimarer Republik dänische Sprachkenntnisse als ein wesentliches Merkmal der Zugehörigkeit zur Minderheit gesehen wurden (Rasmussen 2011: 91f.), muss Dänisch spätestens seit der Bonner Erklärung nicht mehr Familien- oder Erstsprache sein, damit man der dänischen Minderheit angehören kann. Auch die Mitgliedschaft in einer dänischen Vereinigung ist nicht notwendig. Die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit ist ausschließlich eine Frage der eigenen Entscheidung. Wer sich als zugehörig wahrnimmt, ist Mitglied; wer sich gegen die Zugehörigkeit entscheidet, ist Teil der Mehrheitsgesellschaft.

Nach Kühl (1994: 56ff.) lässt sich die Minderheit mithilfe von konzentrischen Kreisen beschreiben, in deren Mitte sich Dänisch befindet. Im innersten Kreis sind Angehörige der Minderheit anzusetzen, deren Wurzeln in die Zeit vor den Weltkriegen zurückreichen. Im zweiten Kreis befinden sich Dänen, die im 20. Jahrhundert von Dänemark nach Südschleswig zugezogen sind, und ihre Nachkommen. Der dritte Kreis umfasst Familien, die nach dem Zweiten Weltkrieg per Erklärung ihre nationale Zugehörigkeit wechselten und Angehörige der Minderheit wurden. Der vierte und äußerste Kreis bildet den Rahmen um diejenigen, deren Zugehörigkeit zur Minderheit als lose und vor allem als situationsbezogen beschrieben werden kann, zum Beispiel durch die mehrjährige Mitgliedschaft in einem dänischen Sportverein oder durch die Inanspruchnahme dänischer Beschulung oder Kindergartenbetreuung.

3Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Bezug auf Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung

Die sprachbezogenen Rechte, welche bereits die Bonner Erklärung von 1955 der Minderheit zusichert, finden sich in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 wieder; Deutschland ratifizierte diese Charta 1998. Daran anschließend legte die Landesregierung in Kiel 2003 fest, auf welche Weise die Sprachencharta umgesetzt werden sollte. Von amtlicher Seite aus wurden seit 2008 zweisprachige Ortsschilder installiert, und in öffentlichen Verwaltungsräumen und Büros wurden Kennzeichnungen eingeführt, welche auf die sprachlichen Kompetenzen der Mitarbeitenden hinweisen, wie zum Beispiel Dänisch (vgl. oben und Kap. 3.3).1 Desweiteren wurden in verschiedenen Gemeinden Hinweise (Wegweiser u.ä.) zu dänischen Institutionen angebracht (vgl. auch Kap. 7).

Die Rahmenkonvention des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995 wurde 1997 von Deutschland ratifiziert; sie hat ebenfalls Gültigkeit für die dänische Minderheit.

Diese beiden internationalen Garantien wurden 2010 aktiv von der dänischen Minderheit genutzt. Zu diesem Zeitpunkt wollte die schleswig-holsteinische Landesregierung die Förderung der Schülerinnen und Schüler der Minderheit von 100 Prozent auf 85 Prozent der durchschnittlichen Landesschülerkostensätze kürzen. Nach zahlreichen Verhandlungen von dänischer Seite mit Land und Bund beschloss das Bundesinnenministerium für 2011 und 2012 eine Sonderzuwendung an den Dansk Skoleforening for Sydslesvig als Kompensation für die gekürzten 15 Prozent. Nach den Landtagswahlen von 2012 erkannte die Landesregierung in einer Koalitionsabsprache zwischen der SPD, den Grünen/Bündnis90 und der Minderheitenpartei SSW an, dass die Schulen der Dansk Skoleforening die öffentlichen Schulen der dänischen Minderheit sind; daher wurden die Kostensätze ab 2013 wieder auf 100 Prozent angehoben.

Ein Expertenkommittee der deutschen UNESCO-Kommission setzte 2018 das Zusammenleben zwischen Minderheit und Mehrheit im dänisch-deutschen Grenzgebiet auf die Liste zur Anerkennung als immaterielles Kulturerbe, nachdem vom SSF und dem Bund Deutscher Nordschleswiger (BDN) gemeinsam ein entsprechender Antrag gestellt worden war.2 Im nächsten Schritt wurde am 31. März 2020 ein Nominierungsdossier der dänischen und der deutschen Regierung an die UNESCO weitergeleitet, mit dem die Aufnahme in das internationale UNESCO-Register beantragt wird. Eine ensprechende Entscheidung des Zwischenstaatlichen Ausschusses zum Immateriellen Kulturerbe wird Ende 2021 erwartet.3

3.1Wirtschaftliche Situation

Die Minderheit verfügt über keine ausgebaute wirtschaftliche Infrastruktur. Sie hat ihren eigenen Dienstleistungssektor in Verbindung mit der Verwaltung und dem Betrieb ihrer Vereine und Organisationen. Die dort Beschäftigten umfassen Verwaltungsangestellte, Lehrkräfte, Erzieher und Erzieherinnen, Pfarrerinnen und Pfarrer, Bibliothekare und Bibliothekarinnen, Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenpflegekräfte. Dazu kommt eine Reihe von Freiwilligen innerhalb der Vereine, die ehrenamtlich arbeiten.

3.1.1Finanzielle Ausstattung

Dänemark bewilligt der dänischen Minderheit, vertreten durch eine Reihe von Vereinen und Einrichtungen 1 eine staatliche Förderung von jährlich zirka 650 Millionen Kronen (ca. 87 Mio. Euro)2. Etwa zwei Drittel des Haushalts der Minderheit sind damit abgedeckt. Die übrigen Mittel bestehen aus Zuschüssen des deutschen Staates und aus Mitgliederbeiträgen zu den Vereinen. Die staatlichen Zuschüsse aus Dänemark für die Minderheit südlich der Grenze werden vom Sydslesvigudvalget (‚Südschleswig-Ausschuss‘) verwaltet und verteilt. Dieser Ausschuss besteht aus fünf Mitgliedern; er wird vom Folketing (dem dänischen Parlament) ernannt, und seine Zusammensetzung richtet sich nach den Zahlenverhältnissen des Folketing.

3.2Politische Situation

Die politische Partei der dänischen Minderheit ist der Sydslesvigs Vælgerforening/Südschleswigsche Wählerverband (SSW), der auch die Minderheit der Friesen vertritt. Der SSW wurde 1948 als politischer Repräsentant für die dänische Minderheit gegründet und ist seitdem im schleswig-holsteinischen Landtag vertreten, mit Ausnahme der Wahlperiode 1954–1958.1 Der SSW ist von der Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen.

Zur Finanzierung des SSW leistet der dänische Staat mit zirka 80 Prozent den größten Beitrag, während der öffentliche Zuschuss aus Deutschland etwa 13 Prozent ausmacht.2

Seit den 1970er Jahren übt der SSW erfolgreich seinen Einfluss als regionale Minderheitspartei aus und prägt die politische Entwicklung in Schleswig-Holstein mit, besonders in der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik sowie der dänisch-deutschen Zusammenarbeit. Zentrales Anliegen des SSW ist es, im Sinne der Minderheiten zugunsten der dänischen und friesischen Sprache und Kultur zu arbeiten.

Der SSW ist in Ortsverbänden, Kreisverbänden und dem Landesverband organisiert.3

An höchster Stelle in der Parteiorganisation steht der Landesvorstand (mit sieben Mitgliedern). Er wird vom Landesparteitag gewählt, dem obersten Organ des Landesverbandes und der Partei. Der Landesparteitag tritt i.d.R. einmal jährlich zusammen. Er setzt sich zusammen aus Delegierten der Orts- und Kreisverbände, den Landtagsabgeordneten, dem SSW-Landesvorstand und Mitgliedern des Landesverbandes Jugend sowie ggf. Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Holstein-Hamburg. Der Landesverband besteht aus dem Zusammenschluss der vier Kreisverbände Flensborg by/Flensburg-Stadt, Slesvig-Flensborg amt/Kreis Schleswig-Flensburg, Nordfrisland amt/Kreis Nordfriesland (mit Helgoland) und Rendsborg-Egernførde amt/Kreis Rendsburg-Eckernförde (mit Kiel). Die Kreisverbände wiederum konstituieren sich aus den insgesamt 70 Ortsverbänden.

Bei der Landtagswahl 2012 erhielt der SSW 4,6 Prozent der Stimmen, das höchste Ergebnis seit 1950. Dadurch gewann er drei Landtagsmandate und kam zusammen mit der SPD und dem Bündnis90/Die Grünen mit einem Ministerposten in die Regierung. 2017 erhielt der SSW 3,3 Prozent der Stimmen und drei Mandate,4 kam jedoch nicht in die Regierung, die nun aus der CDU, dem Bündnis90/Die Grünen und der FDP bestand.

Bei der Kommunalwahl 2018 erhielt der SSW 25.954 Stimmen, d.h. 2,3 Prozent im gesamten Schleswig-Holstein.5 Dabei ist zu beachten, dass der SSW nur im Landesteil Schleswig zur Wahl antrat. Das Ergebnis entsprach einem geringfügigen Rückgang im Vergleich zu dem Ergebnis der Wahl im Jahr 2013, das bei 2,9 Prozent lag. Besonders in Flensborg/Flensburg erhielt der SSW 2018 einen hohen Stimmenanteil von knapp 18 Prozent.6

Auf seiner Homepage weist der SSW darauf hin, dass er „[a]uf die Zahl der Mitglieder bezogen […] mit seinen rund 3.600 Mitgliedern die drittstärkste Partei in Scheswig-Holstein [ist]“.7

3.3Rechtliche Stellung

3.3.1Kieler Erklärung 1949

1949 stimmte der Landtag in Kiel einstimmig einer Erklärung zu, die festlegte, dass das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur frei ist. Wesentliches Element war, dass die dänische Minderheit alle demokratischen Rechte des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland genießt.

3.3.2Bonner Erklärung 1955

Die Bonner Erklärung für die dänische Minderheit von 1955 ist eine parallele Erklärung zur Kopenhagener Erklärung für die deutsche Minderheit in Dänemark. Mit den fast gleichlautenden, jeweils unilateralen Bonn-Kopenhagener-Erklärungen wurden beide Minderheiten in gleicher Weise anerkannt. Die Erklärungen garantieren den Minderheiten ihre allgemeinen Rechte und die formelle Gleichberechtigung, eine subjektive Definition des Nationalitätsprinzips wurde festgestellt, und der Gebrauch der dänischen Sprache von den Angehörigen der dänischen Minderheit ist in der Bonner Erklärung garantiert. Wörtlich heißt es:

Artikel II Absatz 1: Das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur ist frei und darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden.

Artikel II Absatz 2: Angehörige der dänischen Minderheit und ihre Organisationen dürfen im Gebrauch der gewünschten Sprache in Wort und Schrift nicht behindert werden.

Der Gebrauch der dänischen Sprache vor den Gerichten und Verwaltungsbehörden bestimmt sich nach den diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften.1

Die Erklärung macht keine Aussage darüber, ob die Minderheitensprache die Muttersprache der Mitglieder oder Ausdruck der Zugehörigkeit zu dem Staat ist, dem sich die Minderheit verbunden fühlt. Es heißt dort lediglich, dass die Mitglieder der dänischen Minderheit und ihre Organisationen nicht daran gehindert werden dürfen, die Sprache ihrer Wahl zu sprechen und zu schreiben. Es wird jedoch hinzugefügt, dass die Verwendung der Minderheitensprache „vor den Gerichten und Verwaltungsbehörden […] sich nach den diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften [bestimmt]“ (Art. II. Abs. 2, s.o.). Das bedeutet, dass die Sprachwahl und der Sprachgebrauch frei bestimmt werden können, dass jedoch die Gesetzgebung Deutsch als Amtssprache in bestimmten Situationen vorschreiben kann.

Die Verwendung der Formulierung „die gewünschte Sprache“ anstelle von „die Minderheitensprache“ macht den Absatz interpretierbar. Aus heutiger Sicht bestand jedoch 1955 kein Zweifel daran, dass die Absicht der Erklärung zur Sprachverwendung darin bestand, den Mitgliedern der Minderheit die Wahl der Minderheitensprache zu gewähren. Zu dieser Zeit waren Sprachpolitik und Sprachplanung in den meisten europäischen Nationalstaaten von der Idee des Sprachnationalismus dominiert. Ihr zufolge sind nationale Identität und nationale Sprache naturgemäß und untrennbar miteinander verbunden. Die Nationalsprache gilt in diesem Konzept als Ausdruck der Solidarität des Volkes sowie der Einheit der Nation und ist das Bindeglied zwischen den nationalen Minderheiten und dem Staat, dem sie sich verbunden fühlen. Demgegenüber beinhaltet die Idee des Sprachpluralismus ein Konzept von Mehrsprachigkeit und sprachlicher Vielfalt und akzeptiert, dass jede Sprache oder jeder Dialekt eine Reihe von Bereichen hat, in denen ihr bzw. ihm ein hoher Stellenwert zukommt. Wenn der Wortlaut der Kopenhagener Erklärung, „die gewünschte Sprache“, sprachpluralistisch interpretiert wird, könnten die dänischen Minderheitsmitglieder – bis auf wenige Ausnahmen – Dänisch bzw. Sydslesvigdansk oder den dänischen Dialekt Sønderjysk oder Deutsch und Niederdeutsch verwenden. Im täglichen Leben zeigt sich ein Sprachverhalten, das diesen Sprachpluralismus widerspiegelt. Einige ältere Mitglieder der Minderheit interpretieren den Wortlaut jedoch eher sprachnationalistisch und plädieren für die alleinige Verwendung der Minderheitensprache Dänisch. Das Nebeneinander dieser beiden Konzepte führt zu einer anhaltenden Sprachdebatte.

3.3.3Der Minderheitenartikel in der Landesverfassung von 1990

Die Landesverfassung von 1990 baute in Artikel 5 die Kieler Erklärung von 1949 aus und legte fest, dass die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe Anspruch auf Schutz und Förderung haben.

3.3.4Der Minderheitenschutz des Europarates

Die Bonner Erklärung ist kein völkerrechtlich bindendes Dokument. Erst einige Jahrzehnte später hat Deutschland zwei Abkommen ratifiziert, die völkerrechtliche Bindung haben und die dänische Minderheit erfassen: das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (Rahmenkonvention) im Jahre 1992 (ratifiziert 1998)1 und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (Sprachencharta) von 1995 (ratifiziert 1997). Die Rahmenkonvention bestätigt die Rechte, die der dänischen Minderheit in der Bonner Erklärung bereits zugesichert worden waren: die Zugehörigkeit zur Minderheit ist frei; Angehörige einer nationalen Minderheit haben das Recht, sich zu versammeln und sich frei zusammenzuschließen; sie haben Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie Zugang zu den Medien.

Diese generellen Rechte werden in der dänischen Minderheit nicht so oft diskutiert wie die Sprachencharta, welche die Regionalsprachen oder Minderheitensprachen schützt und fördert. Die Charta bestätigt die bereits in der Bonner Erklärung verankerten Rechte.

Sie enthält Pflichten für die Staaten, aber keine Rechte für Einzelpersonen oder Personengruppen. Daher können die Mitglieder der Minderheit nicht das Recht geltend machen, innerhalb der Behörden der Mehrheitsgesellschaft und vor Gericht in dänischer Sprache verstanden und angesprochen zu werden. Der Staat hat jedoch die Pflicht, sich darum zu bemühen, Wünschen zur Verwendung der dänischen Sprache nachzukommen.

3.3.5Offizielle Sprachregelungen

2016 erließ der Landtag auf Initiative des SSW eine Ergänzung zum LVwG SH, das festlegte, dass Dänisch in Südschleswig (in den Kreisen Nordfriesland und Schleswig-Flensburg, in den kreisfreien Städten Flensburg und Kiel sowie im Kreis Rendsburg-Eckernförde) im Kontakt mit den Behörden verwendet werden darf (s. 2.3). Dieser Schritt geht über die Bonner Erklärung hinaus; er reflektiert die Wünsche der Minderheit an den Sachverständigenausschuss der Sprachencharta, der die Sprachsituation der Minderheit ausgestaltet.

3.4Kulturelle Institutionen, Medien und Literatur

Die kulturellen Institutionen und Organisationen der dänischen Minderheit sind gemeinnützige Vereine; sie sind im deutschen Vereinsregister eingetragen und daher von der Steuerpflicht in Bezug auf zum Beispiel Zuwendungen aus Dänemark befreit. Die kulturellen Hauptorganisationen der Minderheit sind der SSF und der SdU, der als Zusammenschluss diverser sport- und freizeitorientierter Vereine für Kinder und Jugendliche die Dachorganisation der dänischen Sport- und Jugendvereine in Südschleswig bildet. Kindergärten, Grund- und Gesamtschulen sowie Gymnasien sind dem Dansk Skoleforening for Sydslesvig (‚Dänischer Schulverein Südschleswig‘) untergeordnet, und die Dansk Kirke i Sydslesvig (‚Dänische Kirche in Südschleswig‘) gilt organisatorisch ebenfalls als ein Verein. Das trifft auch auf den Dansk Sundhedstjeneste (‚Dänischer Gesundheitsdienst‘) zu, der das Sozial- und Gesundheitswesen der Minderheit konstitutiert, und die Dansk Centralbibliotek for Sydslevig (‚Dänische Zentralbibliothek Südschleswig‘). Hinzu kommt der SSW, die politische Partei der Minderheit, die bereits in Kapitel 3.2 behandelt wurde. Die Minderheit als Ganzes besitzt keine Dachorganisation, doch die genannten Vereine sind in Det sydslesvigske Samråd (gemeinsamer Rat der dänischen und friesischen Minderheitenorganisationen) repräsentiert, dessen Aufgabe es ist, die Aktivitäten der Vereine zu koordinieren und ein Diskussionsforum für Fragen, die von allgemeinem Interesse für die Minderheit sind, zu bieten. Er hat jedoch keine selbstständigen Entscheidungsbefugnisse, sondern ist nur beratendes Gremium (vgl. Ewer 2006).

3.4.1Sydslesvigsk Forening (SSF; ,Südschleswigscher Verein‘)

Der SSF ist die kulturelle Hauptorganisation der dänischen Minderheit. Ziel des SSF ist es, die dänische Sprache zu fördern, die dänische und nordische Kultur zu bewahren und zu unterstützen, das Verständnis für die schleswigsche Heimat und deren Eigenart zu vertiefen sowie die Verbindung mit Dänemark, dem Norden und den dänischen Schleswigern außerhalb Südschleswigs zu pflegen. Auf der einen Seite ist der SSF als Kulturträger verantwortlich für Kulturangebote, zum Beispiel in Form von klassischer und moderner Musik, zeitgemäßem Theater, Kindertheater und Ballett, sowie auch für kulturelle Kontakte zwischen Südschleswig und Dänemark. Andererseits betreibt der SSF kultur- und minderheitenpolitische Interessenwahrnehmung. Er arbeitet im Koordinationsausschuss DialogForumNorden (DFN) mit, ist Mitglied in der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV), dem European Bureau for Lesser Used Languages (EBLUL)1 und ist Förderer des Nordisk Informationskontor i Sønderjylland/Sydslesvig (‚Nordisches Informationsbüro in Südjütland/Südschleswig‘).

Obwohl die Förderung der dänische Sprache zu den Zielen des SSF gehört, handelt es sich bei dem Verein nicht um eine Sprachbewegung, sondern um eine allgemein kulturelle Vereinigung. Eine dezidierte Sprachbewegung stellt dagegen Sprogforeningen i Sydslesvig (‚Sprachverein in Südschleswig‘) dar, einer der gut 20 Vereine, die dem SSF angeschlossen sind. Dessen vorrangiges Ziel ist es, die dänische Sprache und ihre Verwendung zu fördern. Seit seinem Bestehen ist der Sprogforeningen in laufenden Sprachdebatten zwar nicht mit Artikeln und Leserbriefen in Erscheinung getreten, veranstaltet jedoch Vortragsabende für seine Mitglieder und publiziert, neben Büchern und Liedern, Plakate mit der Aufforderung, Dänisch zu verwenden. Im Januar 2019 hatte der Verein 667 Mitglieder in Deutschland und weitere 920 Mitglieder in Dänemark.2

Neben der Bereitstellung eines breiten Spektrums an kulturellen Angeboten in den 72 Ortsverbänden (Stand: Oktober 2019) betätigt sich der SSF – zusammen mit der politischen Partei der Minderheit, dem SSW – aktiv im Bereich der Minderheitenpolitik. Der SSF betreibt 40 Versammlungshäuser, das Danevirke-Museum (bei Schleswig) und das Schullandheim Skipperhuset in Tønning/Tönning.

Der SSF betrachtet die Mitarbeit und Zusammenarbeit mit anderen europäischen Minderheiten als einen unverzichtbaren Aufgabenbereich. In Zusammenarbeit mit den anderen drei autochthonen nationalen Minderheiten in der Bundesrepublik, den Friesen, den deutschen Sinti und Roma und den Lausitzer Sorben, verfügen die vier Minderheiten seit 2003 über ein Minderheitensekretariat in Berlin mit einer Halbtagsstelle. Das Sekretariat wird vom Bundesministerium des Innern finanziert und trägt mit dazu bei, die Kontakte zum Deutschen Bundestag zu pflegen. 2019 war der Vorsitzende des SSF, Jon Hardon Hansen, Vorsitzender des Minderheitenrates im Sekretariat.3 In Dänemark hat der SSF ein Außenreferat mit Büro im Folketing, dem dänischen Parlament und Sitz der dänischen Regierung.4

Zusammenfassend stellt der SSF folgende Strukturen zu Verfügung:

 

Verbandsstruktur:

16.000 Mitglieder in zirka 70 Ortsverbänden (distrikter), zusätzlich zirka 23 angeschlossene Vereine mit 13.000 Mitgliedern

sieben Kreisverbände (amter) inkl. Friisk Foriining (Nordfriesischer Verein, 600 Mitglieder) mit jeweils eigenen Sekretariaten, zusätzlich ein dänisches Generalsekretariat im Kreisverband Flensborg amt/Kreisverband Flensburg-Stadt

Außenreferat (mit Büro im Folketing in Kopenhagen)

Kulturelle und soziale Einrichtungen:

40 Versammlungshäuser plus Seniorenwohnanlagen; Danevirke Museum (Museum am Dannewerk); das Schullandheim Skipperhuset in Tønning/Tönning.

Dansk Generalsekretariat (Dänisches Generalsekretariat) u.a. mit Kulturabteilung (ca. 100 öffentliche Veranstaltungen jährlich mit weit über 15.000 Teilnehmern, jeweils im Mai/Juni traditionelle Jahrestreffen (Årsmøder) mit über 40 Veranstaltungen und zirka 20.000 Teilnehmern)

 

Medien:

Pressedienst, Mitgliedszeitung KONTAKT als wöchentliche Beilage der Tageszeitung Flensborg Avis (zusätzliche Auflage: 10.000 Exemplare), Layoutabteilung, Zentralkartei (mit 36.000 Adressen).

3.4.2Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger (SdU; ‚Südschleswigs dänische Jugendvereine’)

Der SdU ist ein Dachverband für 69 Vereine mit 12.000 Mitgliedern im Bereich des Sports und der kulturellen und institutionellen Kinder- und Jugendarbeit. Angeschlossen sind drei Landesverbände: Dansk Spejderkorps for Sydslesvig (DSS; ‚dänische Pfadfinder für Südschleswig‘), Frivilligt Drenge- og Pige-Forbund Sydslesvig (FDF Sydslesvig; christliche Pfadfinder) und Menighedernes Børne- og Ungdomsarbejde (MBU; Kinder- und Jugendarbeit der dänischen Kirchen in Südschleswig). Der SdU betreibt zwölf Freizeitheime mit Jugendclubs, das Aktivitetshuset