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Dieses Handbuch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung und zur Praxis der Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Die über 120 Artikel behandeln u.a.: Sprachenpolitik (national und EU), Interkomprehension, Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb, Tertiärsprachendidaktik, lebensweltliche Vielsprachigkeit, Herkunftssprachen, bilingualen Sachfachunterricht, autochthone Mehrsprachigkeiten, Kompetenzorientierung, Didaktik der Grenzregionen, interkulturelles Lernen, Translanguaging, Unterricht an mehr- oder vielsprachigen Lerngruppen u.v.a.m.
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Seitenzahl: 1520
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Christiane Fäcke / Franz-Joseph Meißner
Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
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ISBN 978-3-8233-8200-3 (Print)
ISBN 978-3-8233-0187-5 (ePub)
MehrsprachigkeitMehrsprachigkeitBegriff (↗ Art. 6, 7) ist sowohl ein Dachbegriff oder umbrella-term, der unterschiedliche Konzepte und Referenzkontexte versammelt, als auch ein Bewegungsbegriff, der Menschen auf ein Ziel hin mobilisiert. Zugleich handelt es sich um einen Kernbegriff der EU-Sprachenpolitik (↗ Art. 12)Sprachenpolitik der EU; nicht zuletzt als Ausdruck ihrer aus 24 Amtssprachen bestehenden Vielsprachigkeit. Zurzeit bestehen EU-weit drei große Tendenzen: Erstens, Englisch als internationale Sprache zu nutzen und zweitens, neben den Muttersprachen mindestens zwei Sprachen der EU (darunter Englisch) als eine Art mehrsprachiges Minimummehrsprachiges Minimum möglichst weit in der EU-Bevölkerung zu etablieren. Hierneben steht drittens weiterhin die Pflege der MuttersprachenMuttersprachen, mit denen sich nationale Identitäten (↗ Art. 1) verbinden. Die geschilderte Ausrichtung wird allerdings der Vielfältigkeit der europäischen Sprachenlandschaft noch nicht gerecht, was schon die Existenz von Verlautbarungen der EU zugunsten der angestammten regionalen Sprachen und Varietäten signalisiert. Wurden zu deren Schutz internationale und europäische Regelungen getroffen, so nur ansatzweise zu den MigrantensprachenMigrantensprachen auf dem Territorium der Union. Dabei übersteigt die Zahl der Teilhaber einer migrantischen Sprache manchmal erheblich die autochthoner Sprachgruppen. Indes ist es keine Frage, dass die Vielsprachigkeit Europas mit dem Appell einhergeht, die individuelle Mehrsprachigkeit – differenziert und abgestuft – zu fördern (↗ Art. 9).
Was den Appell zum Ausbau der (individuellen) Mehrsprachigkeit angeht, so kommen die Befunde der empirischen Fremdsprachenforschung und der Lernpsychologie (↗ Art. 51) hinzu: Sie betonen neben der Relevanz der lernerseitigen Motivation nahezu einhellig die Nutzung des lernrelevanten Vorwissens für erfolgreiches Lernen (nicht nur von Sprachen). Die hohe Konjunktur des Begriffs interkulturelles Lernen (Fäcke 2005) zeigt ein Weiteres: In einem zusammenwachsenden Europa in einer globalisierten Welt sind ethnische und kulturelle DiversitätDiversitätkulturelle eine Alltagserfahrung, die sich mit VielsprachigkeitVielsprachigkeit und MultikulturalitätMultikulturalität verbindet. Dies stellt hohe Anforderungen an die angestammte Bevölkerung, Fremdheiten zu akzeptieren und aushalten zu wollen. Zugleich wird von Minderheiten der Wille zur Anpassung an die Standards der Mehrheitsbevölkerung verlangt (↗ Art. 15). Ziel ist, Andersheit nicht als Bedrohung für das eigene Selbst und das überkommene kollektive Wir, sondern als Bereicherung erscheinen zu lassen. Eine differenzierte individuelle Mehrsprachigkeit gepaart mit interkultureller Kompetenz, insbesondere Sensibilität für unterschiedliche Erscheinungsformen von Fremdheit, interkulturelle Kompetenz sind vor diesem Szenario Strategien und Mittel zugleich, um den Herausforderungen zu begegnen.
Mehrsprachigkeit und VielsprachigkeitVielsprachigkeitim Unterschied zu Mehrsprachigkeit meinen nicht dasselbe. Der Begriff Vielsprachigkeit bezeichnet als echter Kollektivsingular alle Sprachen, die auf einem definierten Territorium, z.B. einem Staatsgebiet, begegnen. In Deutschland sind dies weit über hundert. Vielsprachigkeit oder Multilinguismus ist vor allem Folge von Migration. All dies impliziert, dass das Profil von Vielsprachigkeit nur schwer konkretisierbar und kaum planbar ist. Mit Mehrsprachigkeit (plurilinguism) meint die EU i.d.R. die Sprachen von Individuen. Im Rahmen von Mehrsprachigkeit ist die Förderung konkreter Fremdsprachen durch schulischen Unterricht möglich. Zugleich verbreitet das SchulsprachenangebotSchulsprachenangebot bestimmte MehrsprachigkeitsprofileMehrsprachigkeitsprofile. Allerdings durchbrechen zahlreiche sprachenpolitische Publikationen in verschiedenen Sprachen die semantische Komplementarität von Viel- und Mehrsprachigkeit.
Die umrissene Gemengelage allein erklärt schon den vielleicht wichtigsten Grund für die Entstehung sprachenübergreifender Didaktiken. So fassen Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) als komplementäre Großbegriffe eine Anzahl von Nachbar- oder Unterbegriffen: integrierte oder integrative Didaktikintegrative Didaktik, Gesamtsprachencurriculum oderGesamtsprachencurriculumCommon Curriculum, vernetzendes Sprachenlernenvernetzendes Sprachenlernen, éveil aux langues, interkomprehensiv basierter Ansatzéveil aux langues und interkulturelles Lerneninterkulturelles Lernen (mit verschiedenen Schattierungen). Ihrer Verbreitung kommt selbstverständlich ihre kognatische Internationalität zustatten (didactique du plurilinguismedidactique du plurilinguisme, didactique du pluriculturalismedidactique du pluriculturalisme, didactics of plurilingualism, didactics of pluriculturalism). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die von der EU geprägten programmatischen Termini auf ein von Kommunikationsraum zu Kommunikationsraum unterschiedliches Bedingungsgefüge treffen, das ihre Bedeutung in gewissen Grenzen auch hinsichtlich der jeweiligen nationalen Umsetzung verändert (Meißner & Schröder-Sura 2014).
Über viele Jahrzehnte hinweg wurden die Begriffe ZweisprachigkeitZweisprachigkeitechte (bilingualism, bilinguisme) und in mitgedachter Verlängerung MehrsprachigkeitMehrsprachigkeitechte (plurilingualism, plurilinguisme) negativ konnotiert. Man unterstellte fälschlicherweise, dass ‚echte‘ Zwei- oder Mehrsprachigkeit, was das Kompetenzniveau der Sprachen angeht, spiegelbildliche Kompetenzmuster in zwei bzw. mehreren Sprachen bedeuten müsse. Die Definition ist schon deshalb zu verwerfen, weil jede Sprache ein Zeichenrepertoire eigener Art darstellt, das dem einer anderen Sprache nie vollständig entsprechen kann. Zudem ist es kaum einem Individuum möglich, jederzeit in gleicher Intensität an allen Themen unterschiedlicher Kommunikationsräume zu partizipieren. Deshalb zeigen auch die IdiolekteIdiolekte konkreter Sprecher in ein und derselben Sprache keine deckungsgleichen Kompetenzmuster.
In den Sprach- und Erziehungswissenschaften wurde Zweisprachigkeit – und in der Verlängerung Mehrsprachigkeit –Mehrsprachigkeit oft mit einer sog. „doppelten Halbsprachigkeit“doppelte Halbsprachigkeit in Verbindung gebracht: Man meinte generalisierend, dass früher Zweisprachenerwerb weder zu einer hinreichenden Beherrschung der einen noch der anderen Sprache führe. Das Defizit wird noch heutzutage genannt (Wolski & Dralle 2019: 469). Jüngere Befunde unterschiedlicher Wissenschaften unterstreichen indes, dass der Begriff schon deshalb falsch fasst, weil er von einem monolingualen Kompetenzprofil und SprachenwachstumSprachenwachstum ausgeht (vgl. Wiese et al. o.J). Pädagogisch komme es in der Tat weniger auf die Defizite an als darauf, vorhandene Kompetenzressourcen zu nutzen. Defizite sollten, so die Aussage, durch gezielte Förderung behoben werden. Eine pädagogische Orientierung liefern die ‚Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht‘. In der von Bertrand & H. Christ koordinierten Fassung heißt es, dass:
unter MehrsprachigkeitMehrsprachigkeitpädagogische Definition nicht zu verstehen ist, man müsse mehrere Sprachen gleichermaßen beherrschen. Als mehrsprachig darf schon der bezeichnet werden, der auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder verschiedenen Diskursbereichen hat (um z.B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufzunehmen oder Texte lesen oder Fachgespräche führen zu können). (Bertrand & Christ 1990: 208)
Das Handbuch folgt weitgehend dieser, für die Entwicklung der Mehrsprachigkeit wichtigen Definition.
Analog zu mehrsprachig benutzt dieses Handbuch mehrkulturellmehrkulturell – obwohl der Begriff im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs deutlich weniger gängig ist als interkulturell oder selbst transkulturell. Mehrkulturell ist auf Individuen, ihre konkret nennbaren Kulturen und deren Manifestationen bezogen, mit denen sie mehr oder weniger vertraut sind (↗ Art. 17). Zugleich betont die konkrete Perspektivierung die Wichtigkeit des exemplarischen Lernens. Denn es existieren unzählige, zu viele kulturelle Fremdheiten, als dass wir uns mit ihnen allen vertraut machen könnten. Eine Auswahl, die uns tiefere Einblicke in die eine oder andere Kultur und die Wirkung ihrer Andersheiten auf uns selbst erlaubt, ist daher unumgänglich.
ExemplaritätExemplarität bildet die Verbindung zwischen mehrkulturellen und interkulturellen Modellen. Hierneben steht wie im Deutschen auch im Englischen, Französischen und in weiteren Sprachen der Begriff vielkulturellmultikulturell (multicultural/multiculturel) in Opposition zu mehrkulturell (pluricultural/pluriculturel). Mehr als die anderen Eckbegriffe dieses Handbuchs zeigt gerade multikulturell die Spuren der politischen Praxis (multikulturelle Gesellschaft, „multikultimulti-kulti“). Als tagespolitisches Programmwort unterschiedlicher Parteien ist es auch in der Bevölkerung in hohem Maße umstritten (↗ Art. 15). Dies erklärt nicht nur seine eigene starke emotive Aufladung, sondern auch die seines Begriffsfeldes bzw. seiner semantischen Nachbarn: Integration, Flüchtlinge/Geflüchtete, Identität, Herkunftssprachen, Leitkultur und Herkunftskulturen, deutsch und ausländisch, deutsch und Islam usw. sind immer auch Wörter einer ebenfalls hochgradig umstrittenen „WillkommenskulturWillkommenskultur“. Entsprechende Artikel des Handbuchs werden zu diesen gesellschaftlich durchaus breiten Entwicklungen zwangsläufig in eine Beziehung gesetzt, denn sie antworten ja auf aktuelle Entwicklungen und Perspektiven. Die politische Auseinandersetzung ist immer auch eine um Wörter und deren Sinnfüllung. Zustimmung erheischende Formeln (in der Sprache der politischen Semantik: Miranda) werden kreiert und in bestimmter Weise benutzt und verbogen: Der Begriff lebensweltliche Mehrsprachigkeitlebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) bezieht sich auf den sprachlichen Erfahrungsbereich konkreter Menschen – vorzugsweise Kinder mit Migrationshintergrund – nicht aber auf die Gesellschaft (↗ Art. 2), denn diese ist vielsprachig (Fereidooni 2012).
Ähnliches lässt sich zu Herkunftssprache (↗ Art. 106) sagen: Der alltagssprachliche Begriff zur Bezeichnung bestimmter Sprachen der Migration versteckt, dass alle Menschen eine sprachliche Herkunft haben, die spätestens dann ins Bewusstsein rückt, wenn sie eine zweite Sprache oder die sog. ‚Hochsprache‘ ihrer heimischen Varietät bzw. des eigenen Dialekts erwerbenInterlanguage. Wer immer eine zweite Sprache lernt, hat bereits eine erste, in der die Welt auf Begriffe gebracht wurde. Es erscheint daher linguistisch zutreffender wie im Englischen und Französischen (languages of immigration, langues de l’immigration) von Sprachen der Immigration zu sprechen. Gleichwohl wird der Begriff Herkunftssprache in den Artikeln dieses Handbuches verwandt, weil der Begriff im Deutschen konventionalisiert ist. Er sollte daher entsprechend modifiziert verstanden werden.
Sprache ist Wort gewordene Kultur (K. Schröder in diesem Band, ↗ Art. 10), Kulturen sind ohne Sprachen nicht denkbar. Sprache und Kultur sind Merkmale von Staaten. Kulturen sind auch von Gegensätzen geprägt. So ist die EU-Sprachenpolitik vielfach an ihre europäischen Kulturen und Mitgliedstaaten gebunden, und schon die Bildung der öffentlichen Meinungen geschieht auf nationaler wie EU-Ebene mithilfe von Sprachen. Dies hat insbesondere innerhalb demokratischer (und rechtsstaatlicher) Kulturen Gewicht (↗ Art. 9). So fällt im Vorfeld von Wahlen der öffentlichen Sprache die Aufgabe zu, die politischen Angebote der um die legitime Macht kämpfenden Parteien zu kommunizieren. Ohne Sprache wäre demokratisches Prozedere bzw. demokratische Kultur unmöglich. European citizenshipEuropean citizenship ist ein Begriff des interkulturellen und politischen Lernfeldes. Die Problematik der Vielsprachigkeit für die Bildung einer Öffentlichen Meinung und das politische Prozedere der EU ist bis heute nicht gelöst.
Dem Handbuch liegt ein weiter und pluraler Kulturbegriff (↗ Art. 1) zugrunde. In diesem Zusammenhang ist die gemeinsame Geistesgeschichte Europas, einschließlich der Alltagskulturen, relevant. Referenzbereiche sind Staatswesen und Kulturen bzw. Religionen, Wissenschaften, Künste, Sitten und Gebräuche und menschliche Praxen.
Spätestens seit den 1990er Jahren wird kulturellen Prägungen auch für das Sprachenlernen Bedeutung zugeschrieben. Insbesondere spielen die Sozialisierung und Enkulturation der Lerner (↗ Art. 4), die Zusammenhänge von Sprache und Identitätskonstruktion oder kulturspezifische Einstellungen eine Rolle, und zwar seitens der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Multikulturalität, Globalisierung, Migration sowie den Umgang mit ethnischer und kultureller Vielfalt, seitens der Migranten und Sprachenlerner der Integrationswunsch in die Zielgesellschaft X oder Sprachgemeinschaft und der Wunsch, sich Vorteile durch Kenntnis der Zielsprache und Zielkultur zu verschaffen (bei Dörnyei 2003 begegnet der Terminus Instrumentalität). Bzgl. der Erfahrung von ethnischer und/oder kultureller Diversität Diversitätethnische und kulturellelassen sich – grob – folgende Unterscheidungen treffen:
Fokussiert die Argumentation auf das Verhältnis zwischen ethnisch und kulturell deutlich voneinander abgegrenzten Personen (Gruppen, Gesellschaften, Nationen und Staatsvölker), so stehen i.d.R. angemessene (konventionalisierte) Umgangsweisen im Vordergrund. Für diesen Fall werden meist Kompositionen mit dem Präfix inter- verwendet: interkulturelle Kompetenz, interkulturellesLernen oder interkulturelleKommunikation zwischen dem Eigenen und dem Fremden (↗ Art. 32, 36). Solche Bildungen beziehen sich nicht auf Kontraste konkreter Kulturen, sondern fassen generell. Natürlich können Ergänzungen diese Polarität durch Konkretisierung (Typ: der interkulturelle deutsch-britische Dialog) aufheben.
Liegt der Fokus indes auf dem Bestreben nach Aufhebung dieser Oppositionen, dann folgt hieraus die Absage an ein Verständnis von in sich homogenen und geschlossenen Kulturen (die sich von anderen Kulturen unterscheiden und sich nach außen abgrenzen). In diesem Fall wird oft das Präfix trans- genannt. Man spricht z.B. von einer (postmodernen) Transkulturalität (↗ Art. 41)Transkulturalitätሴiሴ.
Wie die Komplementarität von Vielsprachigkeit und Mehrsprachigkeit wird auch die von Interkulturalität und Transkulturalität nicht immer trennscharf benutzt.
Der GeRGeR und vor allem der CEFR Companion Volume transportieren, wie angeklungen, die Unterscheidung zwischen multicultural/multiculturel/multikulturellmultikulturell einerseits und pluricultural/pluriculturel/mehrkulturellmehrkulturell andererseits (↗ Art. 18, 19). In einer vielkulturellen Umgebung und einem vielkulturellen Europa (multicultural Europe und multicultural environment) sollen pluricultural competences und ein pluricultural repertoire entwickelt werden. Das Präfix multi- dient, wie gesagt, zur Hervorhebung gesellschaftlicher Dimensionen, während das Präfix pluri- individuelle Dimensionen meint.
Generell deuten die pluri-Begriffe auf konkrete Planbar- und Organisierbarkeit von gezieltem Unterricht. Hingegen sind die multi-Bildungen semantisch offener.
Eine Politik zugunsten von mehr Mehrsprachigkeit und mehr Mehrkulturalität fällt auf unterschiedliche nationale Substrate (und deren eigenständige Interessen). Die Geschichte der europäischen Nationalstaaten ist eng mit ihren jeweiligen NationalsprachenNationalsprachen und einer sie begünstigenden SprachpolitikSprachpolitik verbunden. Während die Nationalsprachen längst hinlänglich normiert waren, beherrschten die jeweiligen nationalen Bevölkerungen diese bis weit ins 19. Jh. hinein nur unzureichend: Die meisten Menschen sprachen Dialekte und in den Vielvölkerstaaten zumeist auch unterschiedliche Sprachen. Vorrangige Aufgabe war im Zuge von Industrialisierung, Urbanisierung, der Entstehung gänzlich neuer Berufsgruppen wie der Angestellten, der Industriearbeiterschaft und weiterer die Herstellung eines einheitlichen nationalen Kommunikationsraums, an dem die Gesamtbevölkerung im Rahmen einer vor allem national miteinander kommunizierenden Wirtschaft teilhaben konnte. Träger dieser Entwicklung waren das allgemeine Schulwesen, die allgemeine Wehrpflicht, die Verbreitung von Presse und Radio zu Beginn des 20. Jhs. Die Lage erklärt, weshalb das jeweilige nationale ErziehungswesenErziehungswesennationales des 19. und überwiegend des 20. Jhs. der Zwei- und Mehrsprachigkeit nicht förderlich gegenüberstand. Eine Politik zugunsten der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität gab es in nur wenigen Fällen – kaum jedoch in nennenswertem Umfang in großen Nationalstaaten wie Großbritannien, Frankreich, Spanien, Deutschland oder Russland. Eine gewichtige Ausnahme stellte der ehemalige Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn dar (Fäcke 2015). Die Verbreitung der Amtssprachen fand ihre Erweiterung in den Kolonien.
Die einzelne Zielsprachen übergreifenden und vernetzenden didaktischen Ansätze, welche in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, sind nicht ohne Bezug zu den Didaktiken der einzelnen Sprachen, z.B. zur Englisch‑, Französisch‑ oder Deutsch als Fremdsprache-Didaktik und ihrer langzeitlichen Entwicklung. Konzepte wie die schon genannten – vernetzendes SprachenlernenSprachenlernenvernetzendes, Gesamtsprachencurriculum (↗ Art. 14), Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 70),Interkomprehensionsdidaktik Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) überhaupt – wollen die einzelsprachlichen Didaktiken konzeptuell und methodisch im Sinne der Lernziele MehrsprachigkeitLernziel Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz ergänzen und bereichern. Die Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik ist eine sog. TransversaldidaktikTransversaldidaktiken. Ihre beiden Zweige wollen die einzelzielsprachlichen Fachdidaktiken nicht verdrängen, sondern sie ergänzen. Dies berührt zunächst die Didaktiken der Erstsprachen bzw. der hiesigen offiziellen Schulsprachen, sodann der ZweitsprachenZweitsprache und der unterrichteten Fremdsprachen. Da es sich bei diesen vor allem um europäische Sprachen handelt, lassen sich zwischen ihnen zahlreiche Ähnlichkeiten – TransferbasenTransferbasis – ausmachen, deren Nutzung den Erwerb einer neuen Sprache oder die Verbreiterung der interkulturellen Kompetenz erleichtert. Dies gab den Anstoß für die Entwicklung der Interkomprehensionsdidaktik. Für Konzepte des interkulturellen Lernens war es von vornherein konstitutiv.
Reflexives Sprachenlernen begegnet in allen Formen des Sprachen miteinander vernetzenden Lehrens und Lernens. Hier überlappen sich die Felder von Sprachpolitik (Sprachpolitikzugunsten der jeweiligen eigenen Nationalsprache) und Sprachenpolitik (SprachenpolitikFörderung ausgewählter Fremdsprachen innerhalb eines nationalen Territoriums – z.B. durch die Einrichtung eines entsprechenden Schulfachs, etwa Englisch, Französisch oder aber Sorbisch in Deutschland).
Zahlreiche Faktoren bestimmen die Stellung einer Sprache auf dem internationalen Sprachenmarkt, in bunter MischungSprachenmarkt: die Zahl der Muttersprachler und der zweit- und fremdsprachlichen Sprachteilhaber, das kulturelle Prestige, die Kraft der jeweiligen Volkswirtschaft, der Status in internationalen Organisationen, die kommunikative Reichweite in den Wissenschaften, die Rolle im Alltagsleben der Menschen, ihre reale und virtuelle Erreichbarkeit bzw. ihre Präsenz in den Medien und dem Internet und last but not least ihre Erlernbarkeit.
Apropos kommunikativer Radiuskommunikativer Radius: Sein Gewicht für die internationale Stellung einer Sprache verdeutlicht unübersehbar das Englische, für das schwer zu übersehen ist, ob es die fast 350 Mio. nativen Sprachteilhaber, die geschätzt 300 Mio. Zweitsprachensprecher oder die ca. 2 Mrd. heteroglotten Sprachteilhaber bzw. täglichen (heterokulturellen) Nutzer der globalen intersocietyintersociety sind, die seinen hohen internationalen Marktwert bestimmen (↗ Art. 13, 97, 98).
Dies allein schon erklärt, weshalb Sprachen ihre Stellung am Markt verbessern können, wenn ihre Kenntnis es erlaubt, auch weitere attraktive Sprachen zu verstehen und ihr Erlernen zu erleichtern. So findet das Französische in der spanischen oder italienischen Sprache sehr starke ‚Verbündete‘ und diese umgekehrt im Französischen. „Wenn du Spanisch oder Italienisch lernst, helfen dir Französischkenntnisse ungemein. – Mit dem Erlernen einer romanischen Sprache legst du die Grundlage für das leichte und rasche Erlernen quasi aller romanischen Sprachen (800 Mio. native Sprecher, ungezählte Mio. Zweit- und Fremdsprachensprecher).“ Das Argument, das natürlich auch für andere Sprachen und deren Familien als die genannten gilt, hat Gewicht, wenn es um die Überlegung geht, welche Sprache ein Kind oder ein Erwachsener lernen soll. Ein weiterer Faktor betrifft den Status einer Sprache als SchulfremdspracheSchulfremdsprachenStatus innerhalb der Gesellschaft: So zeigen die Lernerkontingente der VolkshochschulenVolkshochschulen, wie sehr ein durch die Schulfremdsprachen vermitteltes Wissensprofil die Nachfrage nach bestimmten Fremdsprachen steigert.
Dabei ist klar, dass sich von keiner Fremdsprache außer Englisch behaupten lässt, dass ein heutiges Kind diese Sprache in seinem späteren Erwerbsleben auch wirklich braucht (SprachenbedarfSprachenbedarf). Umso wichtiger ist die Vermittlung von SprachlernkompetenzSprachlernkompetenz, die sich vor allem mit dem Erlernen einer zweiten und dritten Fremdsprache bzw. interkomprehensiver Verfahren ausbilden lässt, da es wesentlich auf die Fähigkeit des zielgerichteten VergleichensVergleichen sprachlicher Strukturen ankommt (u.a. Schröder 2009).
Die offizielle und offiziöse Sprachpolitik der einzelnen Sprachen hat auf derlei Fakten reagiert: In der Romania zeigen dies vor allem die von französischer Seite initiierten organisatorischen Maßnahmen zur SprachlenkungSprachlenkung (Schmitt 1988a und 1988b), die Gründung der Union Latine sowie zahlreiche EU-finanzierte Projekte (GalateaGalatea, Eurom4Eurom4, EuroComEuroCom, RedinterRedinter, MIRIADIMIRIADI u.a.m.). Auch in Iberoamerika hat die Interkomprehension ein weites Echo gefunden (InterlatInterlat, InterromInterrom u.a.m.). Vor diesem Hintergrund bezeichneten zu Beginn der 1990er Jahre Dokumente der Fédération Internationale des Professeurs du Français (F.I.P.F.) die romanischen Schwestersprachen als „langues fédéréeslangues fédérées“ (F.I.P.F. 1990). Andere Sprachpolitiken, z.B. die der UdSSRUdSSR oder RusslandsRussland, sind diesen Weg jedoch nicht gegangen, obwohl die slawische Sprachenfamilie starke zwischensprachliche Ähnlichkeiten aufweist (↗ Art. 94, 108). Auch die TurksprachenTurksprachen halten ein erhebliches Potential für interkomprehensive Ansätze bereit.
Die Lernerkontingente der sog. ‚kleinen‘ Sprachen zeigen, wie sehr sie als Fremdsprachen von den mehrsprachigen Vorkenntnissen der Lerner profitieren. Sieht man einmal von der Migrationsbevölkerung ab, so lässt sich festhalten, dass ein Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Katalanischkursen nicht nur über Kenntnisse im Englischen verfügt, sondern oft auch im Spanischen, im Französischen usw. Es ist eine offene Frage, ob sie einen Katalanischkurs auch ohne diese Vorkenntnisse und die eigenen Sprachlernerfahrungen belegt hätten (↗ Art. 91).
Zeigt der romanische Sprachraum ein deutliches Interesse an der Förderung von InterkomprehensionInterkomprehension, so bezeugt DeutschlandDeutschland eine gewisse Zurückhaltung. Dabei nimmt das Land insoweit eine besondere Stellung ein, als neben dem Englischen und dem Lateinischen vor allem das Französische und das Spanische eine weite Verbreitung als Schulfremdsprache verzeichnen. Verstärkt wird die hier entgegentretende Lernerdisposition z.T. auch durch eine in migrantischen Mehrsprachigkeitsmustern angelegte Kompetenz. So schnitt eine deutsch/russisch-zweisprachige Schülerin der Limburger Marienschule in einem zweiwöchigen Italienisch-interkomprehensiv-Unterricht an Primanerinnen eines Spanischkurses als beste ab (bei generell sehr guten Ergebnissen), obwohl sie als einzige weder Französisch- noch Lateinkenntnisse nachweisen konnte.
EnglischEnglisch-, FranzösischFranzösisch-, SpanischSpanisch- und LateinkenntnisseLatein und der in den Sachfächern erworbene deutsche BildungswortschatzBildungswortschatzdeutscher verleihen deutschsprachigen Kindern ein pädagogisch nutzbares Maß an Transferbasen für romanische Interkomprehensibilität (↗ Art. 7, 56). So können auch Deutschsprachige ihre mehrsprachigen Kenntnisse nutzen, um weitere, nicht nur romanische Sprachen zu erlernen. ‚Interkomprehension über die Familie der eigenen Muttersprache hinausInterkomprehensionüber die Familie der eigenen Muttersprache hinaus‘ lautet daher ein Ansatz, der in der deutschen Fremdsprachendidaktik starkes Interesse findet, zumal sich herausgestellt hat, welch wirksame StrategieStrategie der interkomprehensive Ansatz für die Förderung von SprachlernkompetenzSprachlernkompetenz ist.
Bilinguale Bildungsgängebilinguale Bildungsgänge (BiLi) gelten wohl weltweit als ein Erfolgsmodell (Bonnet & Siemund 2018). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass zwei Sachfächer in einer anderen Sprache als der regulären (Deutsch) unterrichtet werden. Es handelt sich, wie gesagt, um Sachunterricht, der lehrseitig eine sachfachliche Kompetenz (nachgewiesen i.d.R. durch die Erste und Zweite Lehramtsprüfung im Sachfach) verlangt. Die sachfachlichen Lehr-/Lernergebnisse sind durchaus jenen des Fachunterrichts in der regulären Schulsprache vergleichbar. Absolventen dieses Bildungsgangs erreichen in der Zielsprache eine hohe Kompetenz (C1, C2 nach den GeR-Kompetenzdeskriptoren). Empirische Studien zum interkomprehensiv basierten Unterricht an Schülerinnen und Schülern dieses Bildungsganges belegen deren vorzügliche Eignung für den Weiterbau ihrer schon vorhandenen Mehrsprachigkeit. An diese Erfahrung knüpfen Angebote wie CertilinguaCertilingua an. Das Zertifikat erweitert den Nachweis des im bilingualen Bildungsgang erworbenen Kompetenzprofils auf eine weitere Fremdsprache, die auf dem Niveau B2 oder höher beherrscht wird (↗ Art. 111).
Im Grunde geschieht der Weiterbau der zielsprachlichen Kompetenz hier nach dem Grundsatz des schon in der Antike gelobten mnemotechnischen Prinzips rem tene, verba sequentur. Allerdings gilt auch für den regulären Fremdsprachenunterricht vor allem im Fortgeschrittenenbereich, dass sich das SprachenwachstumSprachenwachstum und Situationswissen an Inhalten ausbildet: je mehr desto besser.
Wie Gogolins (1994) Formel des „monolingualen Habitus der deutschen Schule“ meint „lebensweltliche Mehrsprachigkeitlebensweltliche Mehrsprachigkeit“ keinen konkreten fremdsprachendidaktischen Ansatz, sondern eine Kontextbezeichnung, die aufgrund ihrer Beschaffenheit einen bestimmten didaktischen Zugriff verlangt. Dabei verbindet sie die soziale bzw. soziolinguistische Situation der Lerner, insbesondere von Kindern, mit definierten Lehr- oder Lernzielen. Beide Pole sind derweil an Viel- bzw. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität festgemacht. Dabei sind Erst- und Zweitsprachen ebenso im Spiel wie Fremdsprachen. Vor allem mit den Erst- bzw. Familiensprachen und der Zweit- bzw. Umgebungs- oder Mehrheitssprache (Deutsch) ist auch ein Stück Identitätsbildung betroffen (↗ Art. 1).
Unsere europäischen Länder sind längst sowohl durch eine starke Einwanderung als auch durch eine rückläufige Entwicklung der angestammten Bevölkerungszahl gekennzeichnet. Eine erhebliche Verstärkung der aktiven Bevölkerung durch Immigration ist daher notwendig, schon um die sozialen Sicherungssysteme langfristig zu finanzieren bzw. zu erhalten (Meißner 2014). Hierauf müssen sich die betroffenen Gesellschaften und zuvorderst das Erziehungswesen einstellen. Auch vor diesem Hintergrund steht die Bewertung der etwa in Deutschland präsenten Einwanderer, ihrer Vielsprachigkeit und ihrer Identitätskonstruktion (↗ Art. 16)Migrantensprachen.
In den heimischen Varietäten (DialektDialekt), den MuttersprachenMuttersprache, Erstsprachen, den Zweitsprachen und in gewissem Umfang auch den Fremdsprachen verbinden sich die Kommunikationserlebnisse der Individuen mit deren SozialisationSozialisation. Nicht ohne Grund gelten sie als fundamental für die EnkulturationEnkulturation. Die sprachliche Bildung ruft daher nach Konzepten, wie unsere Gesellschaften mit der vorhandenen und der anzustrebenden VielsprachigkeitVielsprachigkeit umgehen sollen. Unbestritten ist, dass Migranten die Sprache der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft auf möglichst nativem Niveau erlernen sollen (sofern sie eine Integration in diese anstreben). Konkret verlangt eine plurale Gesellschaft zudem, dass Einwanderer, die ein Verbleiben in Deutschland anstreben, mittel- und langfristig die WerteWerte des GrundgesetzesGrundgesetz zur Richtschnur ihres Denkens und Handelns machen.
Die hohe Relevanz sprachlicher und (inter)kultureller Bildung für die Ausbildung einer plurireferentiellen Identität ist unbestritten. Sie bildet sich bei Einheimischen und Einwanderern aus den unterschiedlichen Erfahrungsräumen der Individuen. In diesem Zusammenhang wird oft folgender Mix genannt: lokal, regional, national, europäisch (Frankfurterin, Hessin, Deutsche, Europäerin). Die örtlichen Markierungen stehen neben anderen Zugehörigkeiten, die identitätsstiftend sein können, wie z.B. Beruf, Geschlecht, Generation und Alter, Religion, sexuelle Orientierung u.v.a.m. Aus diesen Zugehörigkeiten und Gruppenerlebnissen leitet sich positiv eine Steigerung der psychischen Befindlichkeit (psychic incomepsychic incomeሴiሴ) her. Neben Pro-Zuordnungen sind auch Anti-Zuordnungen möglich: Wir-GruppenGruppen können sich also auch in latenter oder offener Gegnerschaft zu anderen Gruppen bilden. Gründe hierfür können etwa echte oder vermeintliche Frustrationen, Ängste und Ablehnung seinAblehnung. Das augenfälligste Beispiel hierfür liefert die XenophobieXenophobie.
Das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung verlangt interkulturelle Kompetenz, Fremdverstehen und Offenheit (Fäcke 2005). Es geht letztlich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Émile Durkheim (1978) bezeichnete einen Zustand der sozialen Desintegration als AnomieAnomie. Er sah ihn in der Auflösung gültiger NormenNormen, moralischer Überzeugungen und Kontrollen bzw. des Wegfalls einer gemeinsamen Wertebasis in den frühindustriellen Gesellschaften seiner Zeit begründet. Als greifbare Folge machte er einen Anstieg der Kriminalität und der Suizidrate aus. Ursächlich erschien ihm ein Bruch zwischen den überkommenen Werten und den gängigen Praxen der realen Gesellschaft. So wie die frühe Industriegesellschaft im 19. Jh. religiöse Bindungen in Frage stellte, so führen heutzutage die Globalisierung und ihre praktischen Folgen viele Menschen zu einem Gefühl des Abgehängt-Seins; die Bewohner großer Teile Afrikas oder der Kriegsgebiete im Nahen Osten suchen sich in Europa ein Minimum an Sicherheit und Wohlstand. Beängstigend für einen großen Teil der hiesigen Mehrheitsbevölkerung ist die große Zahl der (potentiellen) Migranten.
Nun haben unterschiedliche Kulturen und Kulturkreise nicht unbedingt dieselben Werte. Und ein hoher Anteil an Migranten aus unterschiedlichen Herkunftskulturen gibt die von ihnen internalisierten WerteWerte nicht einfach bei einem Grenzübertritt ab. Nur langsam gelingt es vielen von ihnen, sich in den Wertekanon der aufnehmenden Gesellschaft einzufinden. Dies verlangt eine enorme Anpassungsleistung. Erfahrungsgemäß kann dies mehr als eine Generation dauern. Gesellschaften, die sich als plural verstehen, müssen den Eingewanderten die notwendige Zeit lassen und Hilfen bieten. Kenntnisse der Mehrheitssprache sind hierzu ein erster Schritt.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob und auf welcher Grundlage ein friedliches Miteinander basieren kann. Lassen sich universalistische Wertesysteme (↗ Art. 37) finden, auf die sich alle Beteiligten voll umfänglich einigen können? In der Regel eher nicht, wie das Beispiel kontrovers diskutierter Vorstellungen von Familienehre aufzeigt, die unterschiedlich über Einstellungen zum Sexualverhalten der Töchter definiert wird.
Über den Bezirk der Ehre hinaus reichen Konventionen. Ein Blick zurück zeigt, dass die Anschauungen der Mehrheitsgesellschaft sich wandeln können: IKonventionennterkonfessionelle Ehen galten noch vor wenigen Jahrzehnten als anrüchig, Homosexualität war ein Straftatbestand.
In Deutschland diskutierte Konventionen von Minderheiten betreffen z.B. die folgenden Punkte:
Das Schächten von Tieren findet nicht die Zustimmung der deutschen Mehrheitsgesellschaft; gleichwohl geschieht es aus religiösen Gründen, zumal das Bundesverfassungsgericht die religiöse Praxis erlaubt hat.
Ebenso wenig erhält die Beschneidung von Jungen oder Mädchen im Judentum oder im Islam aus religiösen Konventionen die Zustimmung der hiesigen Mehrheitsgesellschafft.
Das Tragen des Kopftuches von muslimischen Frauen ist seit Jahrzehnten ein in Deutschland und Österreich umstrittenes Thema. Während es den Trägerinnen als Ausweis ihrer Identität gilt, halten andere – Muslima und andere – es für ein Zeichen der Unterdrückung oder des Wunsches, gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft ‚Andersheit‘ und ‚Ablehnung‘ zu signalisieren.
Fazit: Gegenläufige Ehrauffassungen und Konventionen können spalten, sie schaffen Wir-Wir-Gruppen und Sie-Gruppen. Konfliktpotenziale sind gegeben, Konflikte vorprogrammiert. Aufklärung tut not.
Eine der klassischen Wir-Gruppen sind Religionsgemeinschaften, denn Religionen greifen in starker Weise auf die Wertekonstruktion von Menschen zu; und zwar in der Tendenz umso stärker, je weniger sie an Säkularisierung partizipierten. Andere wichtige Wir-Gruppen sind z.B. Nationen oder Ethnien.
Bestimmte Wertesysteme hingegen beanspruchen universelle Gültigkeit. Am 10. Dezember 1948 verkündet die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“, das die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aller Menschen (Artikel 1) sowie das Verbot der Diskriminierung (Artikel 2) umfasst. Der hier formulierte Maßstab folgt einem universalistischen Anspruch, der einen Rahmen für ein weltweites friedliches Miteinander bieten soll und bereits in der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution angelegt war.
Die Déclarationdes Droits de l’Homme et du Citoyen des Jahres 1789 jedoch wird kurze Zeit später von Olympe de Gouges dahingehend kritisiert, dass die Revolution die Frauen vergessen habe. Eine andere Infragestellung erfolgte in der Kairoer Erklärung der MenschenrechteMenschenrechteKairoer Erklärung der im Islam, die 1990 etliche WerteWerte der Allgemeinen Erklärung der MenschenrechteMenschenrechteAllgemeine Erklärung der als Ausdruck eines individualistischen westlichen Denkens ablehnt. Angesichts dieser Beispiele stellt sich die Frage nach der Begründung und Begründbarkeit eines universellen Anspruchs der Menschenrechte für alle.
Wer also den universellen Anspruch der Menschenrechte (aus guten Gründen) nicht aufgeben will, wird – um der friedlichen Koexistenz und der Vermeidung von Konflikten willen – gegenüber ihrer Relativierung eine kritische Toleranz praktizieren müssen. Im Bereich des deutschen Grundgesetzes ist eine solche Relativierung, welche die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte aufhebt, freilich verboten, weil verfassungsfeindlich.
Diese Fragen sind auch für Erziehung und Unterricht relevant. Die Schule muss einerseits darauf vorbereiten, Fremdheit auszuhalten und aushalten zu wollen, andererseits zur VerfassungstreueVerfassungstreue erziehen. Dies erklärt, weshalb die Mehrkulturalitätsdidaktik stark auf Einstellungen und VolitionalitätVolitionalität sowie auf politische Urteilkraft abhebt.
Generell sind einstellungsbezogene, attitudinale und volitionale RessourcenRessourcenvolitionaleVolitionalität grundlegend für jegliche Kompetenzbildung. Ohne sie können Kompetenzen der Domänen von WissenWissen (knowledge) und KönnenKönnen (can do) nicht miteinander verbunden und aktiviert werden. Dies gilt auch für den Bereich der Mehrkulturalität. Betroffen sind hier 1.) das landeskundliche und das interkulturelle Faktenwissen (knowledge, savoir), 2.) das Wissen, wie man dieses Wissen zur Anwendung bringt (savoir-faire, can do), z.B. konkretes Handlungswissen im Umgang mit Fremdheit und heterokulturellen Personen praktizieren, 3.) schließlich das Wissen zur Selbststeuerung: Selbstaufmerksamkeit, Kontrolle der eigenen Einstellungen und Handlungen, der Wirkung von interkulturellen Erfahrungen bzw. des PerspektivenwechselsPerspektivenwechsel auf das Selbst, Empathie, KritikfähigkeitKritikfähigkeit gegenüber dem Eigenen und dem Fremden, Bereitschaft zur Revision von Vor-UrteilenRevision von Vor-Urteilen (attitudes, savoir-être) (Byram 1997). Leider werden die Einstellungen im herkömmlichen Fremdsprachenunterricht vielfach wenig reflektiert, in interkulturellen Diskursen hingegen geschätzt.
Anders als solche des Sprachenwachstums gehören interkulturelle Kompetenzen zu den schwer messbaren Kompetenzen (Frederking 2008) (↗ Art. 48, 49). Eine Möglichkeit der Evaluation eröffnet z.B. das Developmental Model of Intercultural Sensitivity (DMIS) von Milton Bennett (1993), das u.a. in der DESI-Studie verwendet wurde und das verschiedene Entwicklungsstufen von Ethnozentriertheit zu Ethnorelativierung erfasst. Neben diesem quantitativen Zugriff werden häufig eher qualitative Zugangsweisen favorisiert, die zudem auf der Binnenperspektive der Beteiligten aufbauen (z.B. die Autobiography of Intercultural Encounters, Council of Europe 2009). Einen Katalog von Deskriptoren bietet der RePA (↗ Art. 20). Qualitative Studien beschreiben sprachbiographische Erfahrungen (Franceschini 2004), Sprachenbilder, Kommunikation mit Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung, – um nur die hervorstechendsten Referenzbereiche anzuführen.
Spätestens seit der Teilnahme Deutschlands an den großen internationalen OECD-Vergleichsstudien im Bildungswesen bemüht sich das Land um empirisch belastbare Qualitätsstandards. Neben den traditionellen Maßnahmen – Richtlinien für den Unterricht, Abschlussprüfungen, Lehrerausbildung und eine entsprechende Aufsicht durch die Ministerien – sind BildungsstandardsBildungsstandards Ausdruck dieser Orientierung. Qualitätsentwicklung setzt eine empirische Bildungsforschung (pädagogische Psychologie und Fachdidaktiken) voraus, die in der Lage ist, der politischen Steuerung des Bildungswesens wissenschaftliche Fundierung zu verleihen. Dass eine longitudinale Beobachtung von Unterrichtsprozessen im Kontext von Schule nur eingeschränkt möglich ist, erklärt, weshalb zurzeit im quantitativen Bereich vor allem sog. LeistungsstudienLeistungsstudien vorliegen, die das Ergebnis von Bildungsbemühungen messen. Deutlich seltener sind dagegen Erhebungen zu UnterrichtserlebnisUnterrichtserlebnis, LernerfahrungenLernerfahrungen und LernabsichtenLernabsichten (Meißner et al. 2008; in gewissem Umfang auch DESIDESI-Studie). Dabei ist festzustellen, dass Deutschland einer ländervergleichenden Studie zum Jahr 2004 zufolge, was den Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe II betrifft, keine einheitliche Bildungslandschaft darstellt (Meißner & Lang 2005). Betroffen sind die Belegungen von Fremdsprachen und Kursen in der Sekundarstufe II. Eine erneute Erhebung ist im Jahre 2019 überfällig; zumal nie untersucht wurde, welche Folgen die signifikanten Unterschiede von Fremdsprachenbelegungen auf den weiteren Bildungsverlauf der Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Bundesländern hatten.
Um im Bildungswesen Qualitätssicherung herzustellen ist es, da es sich um „große Systeme“ handelt – die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen beläuft sich im Schuljahr 2016/17 laut Statistica (2019) auf 763.304 Personen –, erforderlich, auch den Prozess der Einführung von Innovationen – z.B. die Interpretationen von KompetenzorientierungKompetenzorientierung und deren Umsetzung – zu auditieren. Erst solche longitudinal angelegten Prozessaudits lassen eine belastbare Aussage über die Realisierung von Qualitätsstandards zu. Dies fehlt allerdings nicht nur in Deutschland bis heute. Der späte Einsatz von Vergleichsstudien und die fehlende Prozessauditierung beeinträchtigen in erheblichem Maße Einsichten in die Qualität von Unterricht.
Sprachlernberatung ist an den europäischen und nationalen Zielen des Fremdsprachenunterrichts orientiert, und zwar mit den Eckwerten „mehrsprachiges Minimummehrsprachiges Minimum“, interkulturelles Lerneninterkulturelles Lernen, interkulturelle Kommunikationsfähigkeitinterkulturelle Kommunikationsfähigkeit und SprachlernkompetenzSprachlernkompetenz. Dies betrifft – gleichrangig – das Englische in seiner internationalen Rolle und die Mehrsprachigkeit. Qualitativ wie quantitativ stellt dies neue Anforderungen sowohl an das Schulwesen als auch an die Schülerinnen und Schüler sowie an die Lehrerschaft. In dieser Situation bietet die Erreichbarkeit der möglichen Zielsprache dank der Medien (Satelliten-TV und Internet) wirkungsvolle methodische Stützen (die sich erst erschließen, wenn man sie zu nutzen weiß).
Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass schulischer Fremdsprachenunterricht schon wichtige Weichen für den Erwerb von Mehrsprachigkeit stellt. Denn der Unterricht lehrt nicht nur die Grundlagen einer neuen Sprache, sondern auch den Weg, sich fremde Sprachen anzueignen. Damit erwerben die Schüler ein Instrument, um auf die ihnen in ihrem erwachsenen Leben begegnende Vielsprachigkeit zu reagieren. Hier ist zu unterstreichen, dass die Bereitschaft des Erlernens fremder Sprachen schülerseitig deutschland- und EU-weit laut MES-StudieMES-Studie beeindruckend ist (Meißner et al. 2008: 74 u. 76). Das reale Schulfremdsprachenangebot kommt dem bei weitem nicht nach. Insbesondere fehlt weitgehend eine frühe Diversifizierung des Angebots, was den Studien bzgl. der Rolle von SprachenfolgenSprachenfolge eine breitere Solidifizierung verleihen würde.
Eltern und Schüler sehen sich von den Regelungen der SchullaufbahnSchullaufbahnSchullaufbahnberatung vor die Frage der SprachenwahlSprachenwahl gestellt. Damit treten sehr konkrete Fragen an sie heran: Welche Sprache soll als erste Fremdsprache gewählt werden? Welche als zweite? Vielleicht eine dritte? Welche Rolle spielt Latein für den Erwerb der modernen Mehrsprachigkeit? Wähle ich mit einer bestimmten Fremdsprachenkombination schon indirekt ein bestimmtes – z.B. west- oder osteuropäisches – SprachenprofilSprachenprofil? Welche Sprachen wähle ich in welcher Reihenfolge, um mögliche SynergienSynergien im Sinne der Lernökonomie auszuschöpfen und den Erwerb von Mehrsprachigkeit zu erleichtern? Und last but not least: Wie lernt man heute moderne Fremdsprachen? Wie kann man die Medien nutzen? Usw. usw.
Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer sind immer wieder gehalten, solche und weitere Fragen zu beantworten. Sie benötigen hierzu gesichertes Wissen, im weitesten Sinne zur Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik, im engeren zu einer Vielzahl sehr konkreter Fragen zu den Lernern und dem Unterricht fremder Sprachen.
Die Fremdsprachenverbände, insbesondere der Gesamtverband Moderne FremdsprachenGesamtverband Moderne Fremdsprachen, sind auf dem Feld der Lehrerfortbildung aktiv. Dies berührt die Sprachlernberatung in erheblichem Maße. Natürlich verfolgen auch die VerbändeFremdsprachenverbände eigene Interessen und der Vorwurf des Lobbyismus ist nicht immer ganz fern. Von einer Sprachlernberatung sind daher mehrere grundlegende Bedingungen zu verlangen:
Neutralität bzgl. der im begrenzten System des Schulwesens miteinander konkurrierenden Fremdsprachen,
Kenntnis des gesellschaftlichen Bedarfs an Fremdsprachenkenntnissen,
Kenntnis der Synergiepotenziale für den Erwerb unterschiedlicher Mehrsprachigkeitsprofile,
Kenntnis der Methoden, um die Synergiepotenziale zu nutzen,
Kenntnis des Fremdsprachenunterrichts auf unterschiedlichen Stufen und Schulformen (Primar- und Sekundarstufe),
Kenntnis der Zertifizierung von Sprachkenntnissen national und international.
Das vorliegende Handbuch liefert zu diesen Punkten eine Fülle von Informationen. In diesem Sinne fungiert es auch als ein Instrument der Sprachlernberatung.
Weder in der Mehrsprachigkeits- noch in der Mehrkulturalitätsdidaktik gibt es den einen Diskurs. Dies folgt schon aus der Verschiedenheit der Referenzbereiche: autochthone Sprachen, Nachbarsprachen, Schulfremdsprachen, Muttersprachen, Herkunftssprachen, Alte und Neue Sprachen, lingua franca, globale Sprachen, regionale Sprachen, exotische Sprachen, Dialekte und Sprachen, offizielle Sprachen, Amtssprachen, ko-offizielle Sprachen, internationale Sprachen, Italienisch nach Französisch, usw. Inhaltlich umfasst die Mehrkulturalitätsdidaktik die Referenzbereiche: Interkulturalität, Didaktik des Fremdverstehens, Transkulturalität, Multikulturalität, Plurikulturalität, Universalismus und Partikularismus, Antirassismus, Postkolonialismus, Diversität, dominante und marginalisierte Kulturen, kulturspezifische Kenntnisse, Handlungswissen und Einstellungen. Quasi jeder Bereich hat einen eigenen Diskurs. Sodann unterliegen natürlich auch die Diskurse selbst einer Entwicklung.
Diese Heterogenität spiegelt den Aufbau des Handbuches mit den verschiedenen Abschnitten (von A bis O). Sie antwortet auf unterschiedliche Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit, Mehrkulturalität und VielkulturalitätVielkulturalität. Dabei ist einschränkend zu bemerken, dass das Handbuch auf den europäischen und speziell den deutschsprachigen Kontext ausgerichtet ist.
Der Aufbau des Handbuchs umfasst die folgenden Abschnitte:
A Sprachlichkeit und Kulturalität
B Europäische Mehrsprachigkeits- und Fremdsprachenkonzepte
C Mehrkulturalität in einer multilingualen und multikulturellen globalisierten Welt
D Kompetenzprofile für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität
E Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität lehren
F Didaktik der Mehrkulturalität
G Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb
H Mehrsprachigkeit und Interkomprehension
I Mehrsprachigkeits- und Interkomprehensionsdidaktik
J Der Erwerb spät erlernter Fremdsprachen
K Englisch und Mehrsprachigkeit
L Vielsprachige Umwelten und individuelle Mehrsprachigkeit
M Herkunftssprachen und DaZ
N Mehrsprachigkeit im bilingualen Sachfachunterricht in der Sekundarstufe
O Autochthone Mehrsprachigkeiten
Jeder Abschnitt besteht aus mehreren Artikeln, die aus unterschiedlichen Perspektiven berichten und unterschiedliche Sichtweisen ausleuchten. Die Struktur der Artikel folgt der ihnen eigenen Sachlogik, sodann aber den Merkmalen des Themas, Sachbericht, Forschungsstand und Relevanz für das Lehren und Lernen von Sprachen.