Hängepartie - Gaby Hauptmann - E-Book

Hängepartie E-Book

Gaby Hauptmann

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Beschreibung

Von Romantik hat Carmen die Nase voll. Er will nur reden – wo ist nur seine Lust auf Sex hin? Carmen versteht David nicht. Oder liegt es an ihr? Die Reise nach New York mit dem jungen Liebhaber ihrer Freundin kommt ihr gerade recht …Dreist, offenherzig, amüsant – Gaby Hauptmann dreht in ihrem neuen Roman den Spieß um und jagt die Männer!

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Für alle Davids dieser Welt …

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage Mai 2011

ISBN 978-3-492-95192-0

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Umschlagkonzept: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagmotiv: David Slijper / Trunkarchive, Abel Mitja Varela / iStockphoto

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

DER FRÜHE WINDSTOSS FÄHRT IN den leichten Stoff und bauscht den Vorhang vor dem offenen Fenster auf. Der Stoff tanzt hin und her und entlässt den Störenfried schließlich mit einem leisen Rascheln ins Zimmer. Mit ihm zieht der Duft nach feuchter Erde und herben Kräutern herein.

Carmen zieht ihre leichte Sommerdecke etwas höher. Sie möchte noch nicht aufwachen, sich dem Tag noch nicht stellen. Sie möchte weiterträumen. Träumen ist so schön, so weit weg von allem, was im Büro auf sie wartet. Sie vergräbt den Kopf im Kopfkissen, doch dann dringt der werbende Ruf des Amselmännchens an ihr Ohr, und während sie seinem Gesang lauscht, fängt ihr Gehirn an zu arbeiten und stellt fest, dass Sonntag ist.

Carmen hält die Augen geschlossen, aber sie sieht den Morgentau auf dem Gras vor sich, den blauen Lack ihrer Gartenbank und das Amselnest im alten Apfelbaum. Und sie freut sich für die Amselmama, dass ihr Mann so nett um sie wirbt.

Es muss früh sein, sagt sie sich. Für einen freien Tag sehr früh. Zu früh.

Noch immer hält Carmen ihre Augen geschlossen. Wenn sie sie erst einmal geöffnet hat, wird sie nicht mehr einschlafen können. Vielleicht kann sie die schönen Bilder, die sie in ihrem Kopf hat, in den nächsten Traum einweben. Manchmal kann sie das.

Carmen versucht, dem Geruch, den Bildern und dem Vogelgesang eine Geschichte zu geben, irgendetwas, das sie zurück in einen Traum ziehen kann, aber gleichzeitig spürt sie, wie ihre Sinne erwachen und gegen den Schlaf ankämpfen. Sie fühlt ein Kribbeln die weiche Innenseite ihrer Beine heraufziehen und sich mit forderndem Pochen und Ziehen in ihrem Schoß vereinigen. Die pure Lust. Carmen genießt das Gefühl und überlegt, ob sie so früh am Morgen schon hinüberlangen kann, hinüber zu David, dem dieses Pochen und Ziehen gilt. Ihre Hand stiehlt sich auf die andere Seite des Betts, langsam und tastend. Noch immer hält sie die Augen geschlossen. Sie möchte ihn erfühlen, seine bettwarme Nähe, seinen vertrauten Körper.

Doch da ist nichts. Da, wo David normalerweise liegt, ertastet ihre Hand nur kaltes Leinen, die Decke sorgfältig zurückgeschlagen. Carmens Augendeckel klappen automatisch hoch, und als sie sich jetzt ruckartig aufsetzt, spürt sie einen Adrenalinstoß, der mit ihrer Lust von eben nichts mehr zu tun hat.

So früh, denkt sie. So früh! Wo ist er hin? Was tut er?

Ihr Blick wandert zur Uhr. Sieben, sagt ihr Wecker, der sie heute mit seinem kreischenden Hahnenschrei verschont hat. Der Schrei wäre auch nicht nötig gewesen, sie ist auch so hellwach.

Und sie fröstelt. Das muss von innen kommen, denkt sie, denn draußen kündigt sich ein traumhafter Sommertag an.

Wo ist David?

Sie stellt ihre Füße nebeneinander auf die dunkelbraunen Holzdielen, dann steht sie auf. Nackt geht sie um das Bett herum, schaut kurz ins Bad und läuft dann die Treppe hinunter ins Erdgeschoss in die große Wohnhalle, deren offen stehende Terrassentüren direkt in den Garten hinausführen.

Sie sieht ihn, aber er hört sie nicht kommen.

Schon wieder, denkt sie und spürt, wie ein Gefühl der Verlassenheit in ihr aufsteigt, während sie ihren Schritt verlangsamt und dann betont munter auf ihn zugeht.

»Na«, sagt sie, »wächst alles?«

David schaut vom Monitor hoch. Im blauen Morgenmantel, den sie ihm vor drei Jahren geschenkt hat, lächelt er sie an und drückt nebenbei seine Zigarette aus. Carmen kann nicht anders, sie zählt vier Kippen. Also sitzt er schon seit gut einer Stunde hier.

»Die Farm wächst und gedeiht«, berichtet er. »Dirk hat mir fünf Katzenbabys geschenkt, die haben jetzt auch eine Heimat.«

Ihm, der Katzen im wahren Leben überhaupt nicht ausstehen kann.

»Schön«, sagt sie. »Kommst du jetzt wieder ins Bett?«

David nickt. »Gleich«, sagt er und greift nach seiner Kaffeetasse. »Das eine Feld muss ich noch abernten und die Hühner noch füttern – alles andere habe ich schon erledigt. Dann bringe ich dir einen Kaffee mit.«

Eigentlich wollte sie keinen Kaffee. Eigentlich wollte sie ihn.

»Ich dachte an ein bisschen Sex«, sagt sie und wirft ihre langen roten Locken nach hinten. Er schaut sie an, und Carmen hat nicht das Gefühl, dass er eine nackte Frau sieht. Was sieht er überhaupt, wenn er sie sieht?

»Sex?« Er lacht. »Auch gut. Junge Ferkelchen habe ich auch gekriegt. Von meinem Bruder. Langsam wird die Farm zu voll, ich muss wohl anbauen …«

Carmen schaut ihm zu, wie er seine virtuellen Tiere liebevoll begutachtet, und sieht auf dem Bildschirm die ganze Farm mit den hübschen Farmhäusern und gemütlichen Ecken, die er gebaut und eingerichtet hat. Es gibt Ziehbrunnen und Feuerstellen, Hollywoodschaukeln und Saunahäuschen.

Und im wirklichen Leben gibt es sie, Carmen.

»Kommst du?«

»Ein paar Minuten«, sagt er, und sie schleicht zurück ins Schlafzimmer. Das Ziehen im Bauch wird stärker. Zehn Jahre, denkt sie. Was war das für ein Aufflammen, für ein Begehren, für eine Liebe Tag und Nacht. Wo waren sie nicht überall übereinander hergefallen, konnten die Finger nicht voneinander lassen, waren unmögliche Gäste, weil sie immerzu nur mit sich selbst beschäftigt waren.

Was war nur passiert seitdem?

Im Bett zieht Carmen die Decke über beide Ohren. Sie möchte nicht darüber nachdenken. Sie möchte diesen frühen Sommertag genießen, noch einmal zurücksinken in das Gefühl des anbrechenden Morgens, der stürmischen Liebe zwischen Tau und erstem Sonnenstrahl.

Seufzend tastet sie unter der Decke nach unten.

Als David mit zwei Tassen Kaffee kommt, verbreitet er mit seiner dicken Zeitung unter dem Arm genau die Stimmung, die Carmen früher so an ihm geliebt hat. Gemütliches Aufwachen im Bett, Kaffee trinken, Croissants essen, Zeitungen aufschlagen, sich gegenseitig etwas vorlesen, diskutieren, lachen, lieben.

Aber in letzter Zeit hat sich das Morgenritual verändert. David reicht Carmen die Kaffeetasse, sodass der lockere Milchschaum fast überschwappt, zieht seinen Bademantel aus und legt sich mit der Zeitung auf seine Seite, den Rücken ans Kopfende gelehnt. Carmen überlegt kurz, stellt die Tasse ab, dann kuschelt sie sich an ihn heran.

»Schon wieder wurde ein Bauprojekt abgelehnt«, sagt er und tippt mit dem Finger auf eine Stelle im Lokalteil.

»Ach ja?« Carmen schaut ihn an. Er ist noch immer der Mann, den sie haben will, den sie liebt. Seine türkisfarbenen Augen haben sie damals in ihren Bann gezogen und tun es noch heute. Nur heute lesen sie voller Hingabe einen Artikel über das städtische Bauamt und haben keinen Blick für sie. Und Carmen denkt zum ersten Mal darüber nach, ob er sie plötzlich unattraktiv finden könnte.

Gut, sie ist zehn Jahre älter geworden, er aber schließlich auch.

Und ihr Spiegelbild stellt sie noch immer zufrieden, obwohl sie mit fünfundvierzig Jahren den einen oder anderen Abstrich machen muss. Dafür hat sie an Lebensqualität, an innerer Sicherheit und an Esprit gewonnen. Und eigentlich, so hat sie bis vor Kurzem noch gedacht, lebt sie ein rundherum erfülltes Leben.

Bis David damit anfing, immer später ins Bett zu kommen und immer früher aufzustehen.

Wo schläft er überhaupt?

In seinem Büro?

Gut, Architektur ist ein schwieriges Handwerk geworden. Es gibt zu viele Architekten und zu wenige lukrative Aufträge. Zudem vergällen einem Bauherren, die von Anfang an auf abzugsfähige Fehler sinnen, die Freude am Beruf. David ist Mitte vierzig und spürt, dass er nicht der Macher ist, der die Architekturwelt erobern wird. Er ist keiner, der auf andere zugeht. Er hat das Kämpfen nicht gelernt. Immer sind da andere gewesen, die ihm den Weg geebnet haben. Und sie haben ihn darin bestätigt, dass er nur warten muss, bis alles von allein passiert. Aber jetzt passiert nichts, und es kommt kein Auftrag.

Carmen hört ihm zu, wie er mit verächtlicher Stimme eine kurze Passage vorliest, und gibt es auf, an Sex zu denken. Vielleicht ist es eine Art Midlife-Crisis, überlegt sie. Vielleicht hat es gar nichts mit ihr zu tun, sondern umgibt ihn wie eine Mauer, über die er nicht mehr hinwegkann. Oder will.

Kann sie ihm helfen? Soll sie ihn darauf ansprechen?

Sie sieht im Reiseteil einen Artikel über japanische Liebeshotels.

»Würde dich das anmachen?«, fragt sie. »Ein Hotelzimmer, das eine reine Sexspielwiese ist?«

Er schaut kurz darauf und schüttelt dann den Kopf. »Nein«, sagt er. »Wieso? Braucht man das?«

»Vielleicht mal zur Abwechslung«, meint sie und fragt sich, welche Abwechslung eigentlich?

Aber er ist mit seinen Gedanken schon wieder woanders.

Den ganzen Sonntag über beschäftigt sie diese Frage. Es ist wie verhext. Selbst als er sie am Nachmittag fragt, ob sie mit ihm am See entlangjoggen will, denkt sie sofort an Glückshormone und dass eine entsprechende Endorphinausschüttung Wunder wirken könnte. Sie sieht sich schon im Wald mit ihm, leidenschaftlich an einen Baum gelehnt oder am Seeufer gebückt hinter dichtem Schilf. Ihre Phantasie kennt keine Grenzen, und je mehr sie träumt, umso aufgeregter pulsiert es zwischen ihren Beinen.

Der Waldweg ist wunderschön, besonders jetzt im Sommer, wenn sich Licht und Schatten abwechseln und der kleine See voller Leben ist. Und er ist noch immer ein Geheimtipp, sodass nur wenige Spaziergänger und Jogger unterwegs sind.

Carmen atmet tief durch. »Das ist eine gute Idee«, sagt sie und spürt, wie sich ihre Nerven beruhigen und sie sich auf die körperliche Anstrengung freut. Die spätere Ausgeglichenheit ist der Lohn, denkt sie, das gute Gefühl, etwas getan zu haben.

»Und nachher ein Pils«, lacht David.

Auch sie muss lächeln. Seine jungenhafte Art fasziniert sie immer wieder aufs Neue. »Und einen Wurstsalat«, fügt sie an, und dann laufen sie gemeinsam los.

Erst langsames Einlaufen, dann schneller, normalerweise laufen sie im gleichen Tempo. Aber heute läuft David, als wäre der Teufel hinter ihm her. Carmen, die regelmäßig trainiert und eine gute Ausdauer hat, verliert ihren Rhythmus. Nach zwanzig Minuten bekommt sie heftiges Seitenstechen und bleibt gekrümmt stehen.

David bemerkt es erst nach ein paar Metern und kommt mit fragendem Gesichtsausdruck zurückgetrabt. »Was ist?«

»Du bist heute schneller als sonst.« Carmen versucht ihre Atmung zu regulieren. »Ich habe Seitenstechen!«

»Hm.« David betrachtet sie. »Schlecht!«

Carmen nickt.

»Das ist mir gar nicht aufgefallen«, sagt er. »Tut mir leid!«

Carmen nickt erneut.

»Geht’s besser?«

Carmen wiegt sich prüfend in der Hüfte und schüttelt dann den Kopf. »Lass uns einfach ein paar Meter gehen.«

David nickt, rührt sich aber nicht von der Stelle.

»Philipp hat den Auftrag an Holzer & Partner gegeben«, sagt er unvermittelt und kickt mit der Fußspitze einen Ast weg.

Das muss wehtun. Mit Philipp ist er seit seiner Kindheit befreundet. Dass ihm dieser alte Freund seinen Umbau nicht zutraut, wird David sicherlich getroffen haben.

»Oh!« Carmen greift spontan nach seiner Hand. »Und warum nicht?«

»Ich habe ihn nicht gefragt.«

»Du hast ihn nicht gefragt?«

»Wenn er es mir hätte sagen wollen, hätte er es mir gesagt.«

»Und du willst ihn auch nicht fragen?«

»Wenn er es mir nicht sagen will, brauch ich ihn auch nicht zu fragen.«

Carmen überlegt. »Aber vielleicht ist es nur ein Missverständnis? Vielleicht bist du zu teuer? Vielleicht könnt ihr euch doch einigen?«

David schüttelt langsam den Kopf, entzieht Carmen seine Hand und geht voran. Carmen, die Hand in ihre Hüfte gestützt, folgt ihm.

»Da gibt es nichts zu einigen«, sagt David und wirft ihr einen Blick zu. »Geht’s wieder?«

Carmen ist wie vor den Kopf geschlagen. Warum ruft er Philipp nicht an und klärt das Ganze? Vierzig Jahre kennen sie sich, da wird man doch einmal eine Frage stellen können, ohne dass eine Freundschaft daran zerbricht. Was wäre so eine alte Freundschaft sonst wert?

»Meinst du nicht …«, beginnt sie wieder, aber David trabt schon wieder locker an.

»Das verstehst du nicht«, sagt er über die Schulter.

Nein, denkt Carmen und läuft ebenfalls wieder los, das verstehe ich wirklich nicht.

Ihr Versicherungsbüro in der Altstadt hat Carmen in den vergangenen zehn Jahren gut ausgebaut, und ihr Fels in der Brandung, Britta Berger, hat sich in dieser Zeit zu einer wichtigen und loyalen Mitarbeiterin entwickelt, die jeden Kunden und jeden Aktenordner kennt. Und nicht zuletzt auch die Stimmungen ihrer Chefin.

Als Carmen am Montagmorgen hereinkommt, fragt Britta sie gleich, ob sie einen Cappuccino möchte.

Carmen setzt sich hin. »Sieht man mir das an?«

»Mann nicht, aber ich schon.« Britta zeigt ein leichtes Lächeln, und Carmen ist fast versucht, sie zu fragen, ob in ihrer Partnerschaft noch alles stimmt. Aber sie will jetzt nicht irgendwelche Themen aufbringen, zu denen sie sich selbst nicht äußern möchte.

Britta geht in den kleinen Nebenraum, und Carmen hört, wie sie einen Kaffeepad auswechselt. Dann faucht die Kaffeemaschine. Warum hat ein Kaffee immer etwas so Tröstliches, vor allem, wenn man ihn serviert bekommt?

Carmen lehnt sich zurück.

»So.« Britta kommt mit der Tasse herein und legt sogar einen kleinen Keks dazu. »Guten Morgen. Fröhlichen Montag.«

Carmen verzieht leicht grinsend das Gesicht. »Danke, sehr lieb.«

Britta trägt ein rostrotes Kostüm. Warum macht sie sich eigentlich immer älter, als sie eigentlich ist? Und diese biedere Frisur, dabei ist sie erst Mitte dreißig.

»Sie sehen heute Morgen wieder toll aus.« Britta wirft ihr einen bewundernden Blick zu. »Haben Sie ein schönes Wochenende gehabt?«

Carmen ist irritiert. Das hat Britta noch nie gefragt. In zehn Jahren nicht. Warum gerade heute? Und – hat sie ein schönes Wochenende gehabt? Eher nicht. Oder noch besser – sie hat keine wirkliche Meinung dazu.

»Ja, geht so«, antwortet sie ausweichend und taucht ihre Lippen in den weichen Milchschaum. »Und Sie?« Eigentlich will sie es gar nicht wissen.

»Wir hatten unser Fünfjähriges.« Britta strahlt.

Ach ja, denkt Carmen. Was sind schon fünf Jahre. »Schön«, sagt sie.

»Und beim Abendessen haben wir über unsere Familienplanung nachgedacht.«

Das darf jetzt aber nicht wahr sein, denkt Carmen.

»Und wir haben beschlossen, Eltern zu werden.«

»Kann man das denn so einfach beschließen?«, fragt Carmen und sieht mit Verwunderung, wie Britta rot wird.

»Jedenfalls wollen wir es probieren.«

»Probieren«, echot Carmen und spürt, wie sie Britta anstarrt. Sie kann sich ihre Mitarbeiterin beim besten Willen nicht beim Sex vorstellen. Mit diesem Mann, der so teigig und leblos wirkt.

»Aber dann würde ich in die Elternzeit gehen, das wollte ich nur frühzeitig ankündigen.«

Carmen nickt. Elternzeit. Bevor überhaupt etwas angesetzt ist. »Hat das vielleicht … gestern Nacht schon geklappt?«, fragt sie, ohne weiter zu überlegen, und hätte es auch sofort danach gern wieder zurückgenommen, aber Britta schenkt ihr ein glückliches Lächeln.

»Vielleicht«, sagt sie. »Vielleicht auch schon früher. Schön wär’s.«

Carmen nickt ihr freundlich zu. »Ich hoffe es für Sie.« Das kann doch nicht wahr sein, denkt sie und hält sich die Kaffeetasse vors Gesicht.

Britta Berger hat Sex.

Und was hat sie?

Am späten Nachmittag trifft sie sich mit Laura, ihrer besten Freundin. Das muss jetzt einfach sein. Den ganzen Tag lang hatten sie nur Unsinn auf dem Tisch, ständig seltsame Fälle, die viel Recherchearbeit erfordern und wenig Geld bringen. Zudem hatte sie in der Toilette eine Weile vor dem Spiegel gestanden und sich wie ein fremdes Wesen betrachtet.

Groß und schlank in ihrer schwarzen Jeans, der weißen Bluse und dem gut sitzenden Jackett, die vollen Haare fallen in Naturlocken rötlich über ihre Schultern, und ihr Gesicht ist trotz der kleinen Fältchen unter den Augen noch sehr attraktiv, schmal und ausdrucksstark mit den großen blauen Augen. Wie sechsundvierzig sieht sie nicht aus, findet sie.

Oder doch?

Sie zieht ein bisschen an ihrem Gesicht herum, strafft nach oben, strafft nach unten. Aber schöner wird sie dadurch nicht.

Trotzdem, denkt sie sich, irgendwas läuft schief. Früher habe ich die Kerle doch um den Finger wickeln können. Wie hat Britta Berger mal gesagt? Ich könne keinen mehr wirklich schätzen, weil ich zu viele haben könnte.

Das war nicht einmal falsch gewesen.

Bis David gekommen war. Ihn wollte sie haben. Wirklich haben.

Carmen zupft sich ihre Bluse zurecht. Tailliert und von einer Designerin aus Berlin. Ein Hingucker. Aber jetzt betreibt Britta in ihrem rostroten Kostüm Familienplanung, und David sitzt am PC und bewässert eine virtuelle Farm.

Laura hat nicht viel Zeit. Ihre neunjährige Tochter ist beim Reiten, und sie selbst muss vor den Schulferien noch die Zeugnisse für ihre Klasse fertig schreiben.

»Kann es sein, dass du am Telefon irgendwie komisch geklungen hast?« Zur Begrüßung nimmt sie Carmen in die Arme und deutet dann mit dem Kopf auf den Bistrotisch. »Ich habe uns zwei Campari-Orange bestellt, ich nehme mal an, du bist nicht schwanger.« Sie lacht.

»So ist es«, erwidert Carmen und verzieht das Gesicht.

»Was?« Lauras Gesichtszüge verändern sich sofort, und sie bleibt abwartend stehen.

»Du hast das Problem erkannt, aber es ist anders gelagert«, erklärt Carmen und setzt sich an das Bistrotischchen. Es ist ihr Lieblingscafé am Marktplatz, eine Mischung aus hochmodernen Accessoires und Erinnerungsstücken an die gute alte Zeit. Und immer liegt ein Duft nach Zimt und Bratäpfeln in der Luft, selbst jetzt im Sommer.

»Nun geht’s mir schon besser«, sagt Carmen und streckt die Füße aus. »Das muss an dir liegen. Oder am dem Ort hier. Vielleicht gibt es irgendwelche Schwingungen, die mir guttun.«

»Klar!« Laura hebt das Glas, und ihre braunen Augen glitzern. »Schwingungen. Die spüre ich auch. Von morgens bis abends.«

Carmen muss lachen. »Also gut.« Sie stößt mit Laura an. »Wenn du nicht viel Zeit hast, mag ich dich mit so einem Kram eigentlich gar nicht belästigen – und überhaupt erscheint mir das alles jetzt nicht mehr so wichtig.«

»Aber wichtig genug, um mich vom Schreibtisch wegzureißen, doch allemal, oder?«

Carmen nimmt einen tiefen Schluck, dann stellt sie ihr Glas ab.

»Laura«, sagt sie und beugt sich etwas vor, damit sie ihrer Freundin direkt in die Augen sehen kann. »Schau mich an.« Sie macht eine kleine Pause. »Was siehst du?«

Laura runzelt die Stirn. Dabei stößt der lange Pony ihres dunkelbraunen Haares auf ihre Augenbrauen und teilt sich in einzelne Haarsträhnen.

»Ich sehe eine attraktive Frau, die voll im Leben steht. Eine Frau, die weiß, was sie will und mit Volldampf vorausgeht. Eine, die ihr Leben bisher sehr gut gemeistert hat.« Laura schaut sie aufmerksam an, während sie das sagt.

Carmen nickt. »Bisher gab es ja auch nicht viel zu meistern«, sagt sie und hält sich an ihrem Campariglas fest.

»Ist was passiert?«

»Ich habe keinen Sex mehr«, sagt Carmen leise. »Das kann doch nicht sein! Seit Wochen denke ich, es ist unwichtig, zwischendurch habe ich es fast vergessen, aber gestern Morgen kam die Erkenntnis mit voller Macht. David kommt spät ins Bett und stiehlt sich früh hinaus. Er weicht mir aus. Sein Körper weicht meinem aus. Und ich weiß nicht, warum.«

Es ist still. Beide Frauen schauen einander an. Nur die Geräusche um sie herum sind noch da. Schließlich fasst Laura über den kleinen runden Tisch nach Carmens Hand.

»Denkst du …?« Sie zögert. »Denkst du, er hat eine andere?«

Es trifft Carmen wie ein Glockenschlag – sie zuckt zusammen. »Du meinst …« Sie starrt Laura an. »Daran hab ich überhaupt noch nicht gedacht!« Ihr Blick löst sich von Laura und wandert durch den Raum. Eine andere, denkt sie. Dass er fremdgeht? »David?«, fragt sie eher sich selbst als Laura.

»Warum nicht David?« Laura zuckt die Schulter. »Millionen von Menschen gehen fremd.«

»Aber David?«

Laura hebt beide Hände. »Entschuldige«, sagt sie. »Er weicht dir aus, vermeidet Berührungen, was soll das denn sonst sein?«

»Ich brech zusammen!« Carmen schüttelt den Kopf. »Das kann ich mir einfach nicht vorstellen!«

Laura nimmt einen Schluck. »Klar, eure Geschichte war ja auch einmalig. Du, die du von diesen überpotenten Männern die Nase voll hattest und per Annonce einen impotenten Mann gesucht hast, und David, der dir vorgespielt hat, was er nicht war, nur damit er dich nicht verliert.«

»Ja«, sagt Carmen, »und jetzt braucht er es nicht mal mehr zu spielen!«

»Er ist doch nicht impotent!«

»Nein!« Carmen holt Luft. »Aber für mich ist es doch genau das Gleiche! Was soll ich tun?«

»Red mit ihm!« Laura schnippt mit dem Finger. »Oder versuch ihn zu verführen.«

»Mit Spargelmenü, Zimteis, gespickt mit Ingwer und Galgantwurzel, und Mannstreu unter dem Kopfkissen?«

Laura muss lachen. »So wie damals? Warum nicht, hat doch fast geklappt.«

»Klar, bis er aufs Klo rannte …«

»Vielleicht dosierst du diesmal die Zutaten besser.«

Bei der Erinnerung muss Carmen ebenfalls lachen. »Ich glaube, ich würde die Zutaten gar nicht mehr zusammenkriegen.«

»Das stand doch alles in diesem mittelalterlichen Buch …«, erinnert sich Laura.

Aber Carmen winkt ab. »Alles gut und schön, aber wenn er eine andere hat, nützt auch die größte Galgantwurzel nichts.«

Wieder schauen sie einander an.

»Versuch’s auf irgendeine Art«, rät Laura. »Inszenier die große Verführung. Und wenn dann nichts läuft, dann frag ihn, oder schau dir mal sein Handy an.«

»Das würde ich nie tun. Totaler Vertrauensbruch. Nie im Leben!«

»Fremdgehen ist auch Vertrauensbruch. Was ist dagegen schon ein Handy!«

Carmen fühlt sich seltsam, als sie an ihrer Wäscheschublade steht und nach einem besonderen Teil fahndet. Mein Gott, was da alles zum Vorschein kommt. So weit unten hat sie lange nicht gekramt. Strapse. Nicht zu fassen, wann hat sie die denn getragen? Bei David jedenfalls nicht, das steht fest. Ob er auf so was überhaupt steht? Bisher hatte sie nicht den Eindruck. Am schönsten finde er sie nackt, hat er ihr mal gesagt. Daraufhin sind all die schönen teuren Sachen in der Versenkung verschwunden. Sie zieht einen schwarzen Spitzenbody heraus. Ob der überhaupt noch passt? Bodys kommen wieder, denkt sie, während sie den leichten Stoff zwischen ihren Fingern hält. Sie fährt über die vielen kunstvollen Spitzen. Er fasst sich gut an, weich auf der Haut, und eigentlich hat sie sich in diesen Teilen immer sehr wohlgefühlt. Angezogen und trotzdem sexy.

Sie legt ihn zur Seite und forstet weiter. Ein grauer liegt darunter. Den hat sie besonders gern getragen. Nur gut, dass sie sie nie weggegeben hat.

Carmen beginnt sich auszuziehen. Das möchte sie jetzt genau wissen. David hat vorhin gesimst, dass er noch im Büro sei – und sie hofft, dass ihn nicht eine Community oder ein Videospiel vom Heimkommen abhält. Während sie ihre Kleider auf das rot lackierte Sideboard ihres Schlafzimmers legt, fragt sie sich, was eigentlich schlimmer ist – eine echte Geliebte oder die Spieler in dieser Scheinwelt.

Sie weiß es nicht.

Aber sie weiß, dass sie David wieder für sich allein haben will. Und zwar mit Haut und Haaren.

Es ist ein seltsames Gefühl, mal wieder in einen Body zu schlüpfen. Schon allein die Druckknöpfe im Schritt, was ist das für ein Gefummel. Sie muss über sich selbst lachen. Früher hatte sie das besser im Griff. Aber er sitzt noch verdammt gut, und es sieht so erotisch aus, dass sie sich mehrmals vor dem Spiegel dreht. Donnerwetter, der Busen, die Taille, der hohe Beinausschnitt – das ist wirklich ein Kleidungsstück, das Eindruck macht. Wie konnte sie es so lange im Schrank vergessen?

Carmen schaut auf die Uhr. Fast acht. Das Häuschen, das sie gemeinsam gemietet haben, nachdem Carmen ihre Altbauwohnung aufgegeben hat, ist klein und modern, hat aber trotzdem etwas von diesen guten alten Siedlungshäuschen. Es steht in seiner ganzen trendigen Pracht mit den hohen Fenstern, weiß verputzten Wänden und dunklen Holzfußböden in einem Garten, der trotz seiner großen Bangkiraiterrasse eher wie der verwilderte Garten einer alten Villa aussieht. Sie haben unglaubliches Glück gehabt, denn der Eigentümer musste damals für seine Firma auf unbestimmte Zeit nach Asien, und so waren alle Beteiligten gleichermaßen froh, als sie ein gemeinsamer Bekannter zusammenbrachte.

Für Carmen verkörpert dieses Haus eine Mischung aus der Leichtigkeit Italiens, vor allem, wenn in ihrem Schlafzimmer die hellen Organzavorhänge vor den weit geöffneten Fenstern wehen, und der Klarheit Schwedens, die sich in den offenen Kaminen, den glatten Fußböden und dem unprätentiösen Garten zeigt. Zudem vermittelt es ein gutes Gefühl. »Es hat ein gutes Karma«, hatte Laura beim ersten Besuch gesagt, worüber David lachte, aber Carmen hat genau gewusst, was sie damit sagen wollte. Das Haus heißt einen willkommen, man hat nicht das Gefühl, dass hier irgendwo eine Leiche vergraben liegt.

Als Carmen jetzt hinaus auf die Terrasse geht, hat sie ein Glas mit Campari-Orange in der einen Hand und ein Nachrichtenmagazin in der anderen. Sie rückt den Beistelltisch zu dem Liegestuhl und macht es sich auf der hellen Auflage bequem. Dann will sie lesen, aber sie kann sich nicht konzentrieren. Immer wieder schweifen ihre Gedanken ab. Schließlich legt sie das Heft aus der Hand und schließt die Augen. Bilder tauchen vor ihrem inneren Auge auf, Bilder aus den letzten zehn Jahren mit David. Und immer wieder kuschelige Momente oder der unersättliche Sex der ersten Jahre.

Warum treibt sie das nur so um? Sie kann es sich nicht erklären. Es ist eben nicht mehr so. Das Verlangen flaut mit der Zeit ab, das weiß doch jeder, beruhigt sie sich, und eigentlich ist doch alles in Ordnung, sie kommen glänzend miteinander aus, haben viele Freunde, sind gut aufeinander eingespielt … An diesem Punkt hört sie auf zu denken.

Es ist Wahnsinn. Sie schlägt die Augen auf.

Was reimt sich ihr Gehirn da zusammen? Nichts ist in Ordnung. Wenn ein Partner keine Lust mehr hat, dann stimmt eben irgendetwas nicht.

Carmen spürt, dass sie sich in eine ärgerliche Stimmung hineindenkt, und möchte dem entgehen. Schließlich will sie ihn verführen und nicht gleich angiften.

Sie schlägt die Zeitschrift wieder auf und versucht sich zu konzentrieren, da hört sie die Haustür zugehen und gleich darauf Schritte in der Wohnhalle. Es ist typisch für ihn, dass er nie nach ihr ruft, denkt Carmen unwillkürlich. Warum eigentlich nicht?

Sie hört das Klappern von Kochtöpfen und die Kühlschranktür zufallen.

Auch klar, denkt sie, jetzt schaut er erst einmal, ob es schon was gibt.

Wie einem solche Angewohnheiten im Laufe der Jahre auf die Nerven gehen können. Wie bei Muttern zu Hause, wenn der Kleine hungrig vom Spielen kommt.

Jetzt reg dich ab, sagt sie sich. Es ist alles wie immer, nur heute bist du irgendwie auf hundertachtzig.

Ob er sie überhaupt finden wird? Oder will? Vielleicht setzt er sich auch gleich an seinen PC?

Dann würde sie ihn umbringen.

Carmen, sagt sie sich, bleib locker. Du willst es wissen, also bleib locker und konzentrier dich darauf, was du willst – nämlich ihn.

Sie lauscht. Es ist still. Verdächtig still.

Sie beschließt, von ihrem Liegestuhl aufzustehen und nachzusehen. Schließlich kann sie ihn ja auch in der Küche verführen, das wäre schließlich nicht das erste Mal. In der Erinnerung lächelt sie, und es geht ihr gleich besser.

An der Terrassentür kommt er ihr entgegen.

»Ach, du bist ja da«, sagt David und beißt von seinem belegten Wurstbrot ab.

»Ja«, sagt Carmen, »und ich dachte, wir machen uns heute mal wieder so einen richtig schönen Abend, lassen uns von unserem Lieblingsitaliener was Feines kommen, trinken den Santenay, den wir noch von meinem Geburtstag haben, und zünden uns Kerzen an.«

»Kerzen?« Er schaut grinsend in den Himmel. »Da wirst du aber noch ein bisschen warten müssen.«

Sie umfasst seinen Nacken, küsst ihn sacht auf den Mund und drückt ihren Oberkörper an ihn. Langsam wiegt sie sich hin und her, sodass der zarte Stoff ihres Bodys an Davids rauem Hemd und seiner Jeans reibt.

»Gute Idee«, sagt David und legt seine Hand auf ihren bloßen Rücken, »das mit dem Italiener. Ich habe nämlich einen Bärenhunger. Und nach dem Wein schau ich gleich mal.« Er küsst sie ebenfalls auf den Mund. »Da bin ich aber froh«, sagt er dann und lächelt sein verschmitztes Lausbubenlächeln, das Carmen so sehr an ihm liebt.

»Ja, warum?«, fragt sie hoffnungsvoll.

»Ich hatte schon befürchtet, dass du noch ausgehen willst.«

»Ausgehen?« Carmen schaut ihn irritiert an.

»Na ja.« Er zuckt mit den Schultern. »Der Body ist doch was für drunter.« Er gibt ihr einen Klaps. »Kleid drüber und ab, meine ich.«

»Heute ohne Kleid«, antwortet Carmen und hakt ihren Finger in seiner Jeansschlaufe ein. »Es gibt auch Männer, die finden einen Body an einer Frau sexy.«

David tritt einen Schritt zurück und mustert sie. »Ja«, meint er sachlich, »aber an dir ist schließlich alles sexy.«

Dann geht er den Wein holen, bringt aber einen anderen Rotwein, weil er den Santenay so schnell nicht findet, stellt Bordeauxgläser auf den Tisch, berät mit Carmen, was er beim Italiener bestellen soll, läuft hierhin und dorthin und ist dabei so gut gelaunt und aufgeräumt, dass Carmen sich ihm schließlich in den Weg stellt.

»Komm, entspann dich doch mal«, sagt sie und zeigt zu ihrer Liege. »Du bist ja völlig aufgedreht. Ist irgendwas passiert? Ein tolles Jobangebot oder so?«

Für einen Moment hat sie das Gefühl, dass sich sein Blick umwölkt, aber dann strahlt er sie an. Hoppla, der Job, seine Achillesferse, denkt Carmen. Aber sie muss ihn doch zwischendurch danach fragen, sonst sieht es nach mangelndem Interesse aus, beruhigt sie sich, weiß aber genau, dass er diese Fragen hasst.

»Nein.« Er zieht sie mit sich. »Das muss ich dir zeigen. Ich habe gerade im Büro die Anfrage bekommen, und da kann ich nicht Nein sagen!«

»Ein Anbau? Eine Renovierung?« Carmen trabt hoffnungsfroh neben ihm her. Das wäre der richtige Anlass, mal wieder Gas zu geben.

Der PC läuft bereits, der Bildschirmschoner flimmert vorüber. Hat sie es sich doch gedacht. Aber gut, wenn es wichtig ist … David nimmt die Maus, und eine Seite öffnet sich, die sich Carmen nicht gleich erschließt. Interessiert beugt sie sich herunter.

»Schau«, sagt David und fasst sie bei der Hand. »New York. Ist doch faszinierend, was?«

Carmen sieht nicht wirklich, was er meint. »Ja, schön«, sagt sie und wartet kurz ab. »Und was hast du mit New York zu tun?«

»Es ist die erste Stufe von Mafia Wars. Ich bin eingeladen worden und habe schon das erste Geld verdient.« Er lächelt sie an. »Wenn du ein paar schmutzige Geschäfte erledigst, kommst du an Geld und kannst dir Kasinos bauen. Zum Start hat mir Lydia eine Waffe geschenkt. Damit kann ich jetzt loslegen.«

»Lydia?« Carmen richtet sich auf.

David glüht förmlich. »Ja, sie hat mich eingeladen. Scharfes Teil!«

Carmen zieht die Stirn kraus. »Lydia?«

David muss lachen. »Quatsch! Natürlich das Spiel!«

»Aber wer ist Lydia?«

David zieht die Tastatur heran, angelt mit dem Fuß nach dem Stuhl, und wenige Sekunden später schaut Carmen auf das Foto einer dunkelhaarigen Frau, die sich lasziv über die Schulter blickt.

»Und woher kennst du sie?«

David zuckt die Achseln. »Na, daher.« Sein Kopf zeigt in Richtung Bildschirm. »Von Facebook natürlich.« Er bewegt die Maus. »Von Lydia gibt es eine ganze Reihe von Fotos.«

Er öffnet eine Fotogalerie, die gar nicht mehr aufhören will – und sie haben alle dasselbe Thema: Lydia. Lydias Busen im nassen T-Shirt von oben, Lydias sexy geschnürten Rücken von hinten, Lydia Po an Po mit einer Freundin, Lydia lachend, Lydia Kaugummi kauend, Lydia mit Kussmund und Strohhalm, nur der Kussmund mit Strohhalm, Lydia sandig am Strand.

»Der ist gemacht«, kommentiert David sachlich.

»Der wer?« Carmen kann kaum glauben, was sie da sieht.

»Na, ihr Busen!«

Carmen richtet sich auf. Da steht sie neben ihm halb ausgezogen im Body, und er schaut sich den gemachten Busen einer Lydia an. Ist das noch normal?

»Sag mal«, beginnt sie aufgebracht, aber da klingelt es an der Haustür.

»Das wird der Italiener sein.« David springt auf. »Wird auch Zeit, ich habe wirklich Hunger!«

Carmen verkneift sich den Hinweis auf ihren Geldbeutel im Flur. Wenn David seine Zeit und Energie mit Spielen vertut, und das nun offensichtlich auch schon im Büro, dann muss er selbst auf die Schnauze fliegen. Oder liegt sie da falsch? Schließlich liebt sie ihn doch, dann kann sie ihn auch finanziell unterstützen. Aber hilft es ihm, wenn sie ihm das ständige Durchmogeln leicht macht?

Carmen steht noch immer regungslos neben dem Computer. Lydia, denkt sie. Lydia und … was war das? Ein Mafiaspiel. Sie schüttelt den Kopf.

Ist er süchtig? Spielsüchtig? Wen kann sie danach fragen?

Sie hört David in der Küche rumoren, und kurz darauf kommt er mit zwei Platten heraus. Er wirkt so unbeschwert männlich, dass es Carmen schier die Tränen in die Augen treibt. Es muss doch zu schaffen sein, denkt sie und geht ihm entgegen. Es kann doch nicht so schwer sein, ihn von diesen Kunstmenschen wegzulocken. Echte Haut gegen Tastatur, beschließt Carmen und nimmt ihm eine Platte mit Antipasti ab. Die italienischen Vorspeisen lassen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Riech mal.« David hält ihr die andere Platte unter die Nase. Die scharf angebratenen Gambas liegen in kleinen Nestern aus Linguini und duften verführerisch nach Knoblauch und Chili.

»Willst du alles zusammen essen?« Carmen hält die Antipasti hoch.

»Heute sind wir maßlos«, scherzt David und zupft mit seiner freien Hand an ihrem Bodyträger. »Los jetzt, sonst wird es kalt!«

Carmen hat die Windlichter, Kerzen und Teelichter, die sie im Garten und auf der Terrasse verteilt hat, bereits angezündet, und als sie eine halbe Stunde später die Teller von sich schieben und David die Gläser noch einmal nachfüllt, ist Carmen mit dem Leben versöhnt. Die Stimmung ist friedlich, der Sommerabend mit seinen Geräuschen und Gerüchen perfekt. Eine Spatzenfamilie fliegt herbei, die Vögel verteilen sich laut zwitschernd im Gebüsch, beäugen das Brot auf dem Tisch und machen sich über die Krümel her, die David ihnen zuwirft. Mit der einsetzenden Dämmerung beginnen die Grillen zu zirpen, und ein lauer, weicher Wind streicht immer wieder wie eine warme Strömung ums Haus.

Carmen hat ihre Beine auf Davids Schoß gelegt, und er streichelt sanft ihr Schienbein. Sie schauen zu, wie der Mond in dem nächtlichen Himmel aufsteigt, und lauschen einer alten CD, die David eingelegt hat.

»Früher haben wir das oft gemacht.« Carmen zeigt in den Himmel.

»Was meinst du?«

»Nun …« Carmen hält Davids Hand fest und zieht sie sanft auf ihren Oberschenkel. »Auf die Sternschnuppen gewartet.«

David nickt. »Stimmt.«

»Was hast du dir denn da eigentlich immer gewünscht?«

»Das darf man nicht sagen, sonst wird es nichts …« Seine Hand krabbelt unter ihrer Hand an ihrem Oberschenkel hoch.

»Aber es ist doch schon so lange her. Ist es denn in Erfüllung gegangen?«, will sie wissen, und ein wohliges Gefühl durchflutet ihren Körper. Je höher seine Finger wandern, umso heftiger strömt die Wärme in ihren Unterleib. Carmen spürt, wie sie feucht wird, und nimmt die kleinen, vertrauten Zuckungen wahr, die alles so erwartungsvoll pulsieren lassen.

Davids Finger gleiten unter die Druckknöpfe ihres Bodys, und Carmen drückt sich ihm entgegen. Noch sitzen sie in ihren Korbstühlen nebeneinander, aber der Holzboden der Terrasse hat die Wärme des Sommertags gespeichert, und als sich Carmen jetzt langsam hinuntergleiten lässt, folgt David ihr nach, ohne seine Finger aus ihr zu nehmen. Ihr Körper reagiert mit leisem Stöhnen aus den Tiefen ihrer Brust, und Carmen spürt, wie es heftiger wird, und auch, wie ihr Körper sich ihm entgegendrängt. Während sie seinen Gürtel und die Hose öffnet, spürt sie, wie ausgehungert sie ist, und nimmt sich nicht einmal die Zeit, ihn ganz auszuziehen, sondern stößt ihn in sich hinein, sobald er hart und erigiert zum Vorschein kommt. Und so schnell, wie sie über ihn herfällt, so schnell ist es auch vorbei.

Für Carmen zu schnell.

Erstaunt hält sie inne und lässt ihn und sich abebben, aber es ist vorbei, daran gibt es keinen Zweifel. Das ist ja noch nie passiert, denkt sie. Aber vielleicht war auch er zu ausgehungert? Heißhungrig wie sie? Aber warum wich er ihr dann immer aus, statt auf sie zuzukommen?

»Hui«, sagt sie und schaut ihm ins Gesicht. »Wie wäre es mit einer Fortsetzung?«

David versucht sich eine bequemere Haltung zu verschaffen und reibt seinen Ellbogen. »Scheiß Bangkirei«, schimpft er. »Wir werden überall Splitter in der Haut haben!«

»Ich spüre nichts, und ich liege schließlich unten!« Carmen richtet sich auf.

»Frauen sind generell schmerzunempfindlicher.« Sein Zeigefinger stippt gegen ihren Bauchnabel. »Darum werdet ihr uns auch nie verstehen können.«

»Bitte was?« Carmen zieht an seinem Poloshirt. »Willst du das Zeug vielleicht ausziehen, und wir machen es uns bequemer?«, lockt sie und deutet auf die Liege. »Die ist noch brandneu. Um nicht zu sagen: jungfräulich!«

David setzt sich auf. »Ich bin ein alter Mann, was denkst du denn?«

»Jetzt hör aber auf! Du bist vierundvierzig! Was ist das schon!«

Davids Handy vibriert gegen seinen leeren Teller.

»Eine SMS?« Carmen schaut zum Tisch hoch. »Wer kann denn das sein?«

David löst sich von ihr, steht auf und macht sich die Hose zu. »Keine Ahnung. Aber ich hol uns mal ein Wasser.«

Als sie auch aufsteht, ist sein Handy verschwunden.

»Ich bin frustriert!« Carmen holt tief Luft. »Sag doch selbst, das ist ein totaler Mist, da wäre nix ja besser gewesen, hast du so was schon mal gehört? Kommt zu früh und haut dann auch noch mit seinem Handy ab? Wahrscheinlich zu Lydia an den PC. Ist der reif für die Klapse, oder bin ich es?«

»Gemach, gemach.« Lauras Stimme klingt beruhigend an ihr Ohr. »Er hat mit dir geschlafen, das wolltest du doch!«

»Aber wie. Das war doch total für den Arsch! Heute Abend kriegt er eine Kriegserklärung. Jetzt soll er mir endlich sagen, was los ist.«

Carmen faucht in ihr Handy, und als es hinter ihr hupt, sieht sie zuerst das Grün der Ampel vor sich und dann im Rückspiegel die Polizei. »Mist, verdammter Mist!« Schnell nimmt sie ihr Handy vom Ohr, aber es ist schon zu spät. Der Wagen hinter ihr lotst sie zur nächsten Bushaltestelle, und als sie von dort wieder ausschert, ist sie um 40 Euro ärmer und um einen Punkt in Flensburg reicher.

Britta wirft ihr beim Eintreten in ihr Büro nur einen kurzen Blick zu.

»Cappuccino?«

»Ich suche mir jetzt einen potenten Mann!«, gibt Carmen aufgebracht zur Antwort.

»Hatten wir so etwas nicht schon mal?« Britta steht auf, um zur Kaffeemaschine in den kleinen Nebenraum zu gehen.

»Damals war es die Antwort auf die Anmache all dieser hirnlosen Idioten, aber heute ist es die Antwort auf Davids nachlassendes Interesse!« Sie starrt Britta aus zusammengezogenen Augen an. »Das ist doch wohl legitim, oder?«

»Und wird auch einfacher sein.« Britta bleibt lächelnd stehen.

Carmen wirft ihre Tasche schwungvoll auf ihren Bürostuhl. »Wieso?«

»Na, als potent gibt sich doch nun wirklich jeder aus!«

Widerwillig muss Carmen lachen. Britta hat recht, das Ganze ist absurd.

Trotzdem beschäftigt sie es den ganzen Morgen. Sie kann sich nicht konzentrieren und nimmt schließlich einen Zettel zur Hand, auf der ihr eine Frau eine Telefonnummer notiert hat. Sie wollte beraten werden, hatte sie ihr bei der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Bekannten gesagt. Das sagen bei solchen Feiern so manche, und nachher wird es doch nichts, aber jetzt findet sie es eine gute Möglichkeit, um aus dem Büro herauszukommen.

»Ich muss dann wieder los.«

»Wohin geht’s denn?«

»Ach, zu Frau Richter.«

Britta schaut kurz auf den Zettel. »Ja, die haben groß gebaut, das könnte was werden.«

»Ja?« Carmen wirft ihr einen Blick zu. Britta erstaunt sie immer wieder. »Wo ist denn diese Teichblumenstraße? Wissen Sie das auch?«

»Na ja«, Britta deutet zur aufgeschlagenen Tageszeitung, »das war ja lang genug Stadtgespräch. Andere hätten dort am Naturschutzgebiet nie bauen dürfen.«

»Andere?«

Britta Berger sieht sie forschend an.

Carmen überlegt. Steht sie auf der Leitung? »Ach, die Richters«, sagt sie schließlich. »Das Hoch- und Tiefbauunternehmen.« Sie fasst sich an den Kopf. »Dann war die blonde Frau … darauf bin ich überhaupt nicht gekommen. Sie ist mit diesem Menschen verheiratet?«

Britta zuckt die Achseln. »Offensichtlich gut verheiratet.«

»Na«, Carmen dreht den Zettel in der Hand, »da bin ich ja gespannt. Ich hatte keine Ahnung …« Tatsächlich hat sie gedacht, dass das wieder so eine überspannte High-Society-Tussi sei, die alles Mögliche erzählt und zum Schluss nichts hat. Darum hat Carmen es mit der Kontaktaufnahme auch überhaupt nicht eilig gehabt. Carmen überlegt. Die Party ist gut drei Wochen her. Ein Wunder, dass sie den Zettel überhaupt so lange aufbewahrt hat.

»Gab es da nicht so einen komischen Skandal, weil dieser Richter eine Partei unterstützt hat?«

»Parteispende, ja«, bestätigt Britta. »Mein Mann war da involviert.«

Sie klingt aufrichtig stolz. Carmen stutzt. Ja, klar, ihr Mann ist bei der Polizei. Ihr Mann, der zukünftige Papa. Unwillkürlich mustert Carmen Brittas Bauch. »Hat Ihr Mann ihn festgenommen?«

»Nein.« Britta lacht mit strahlenden Augen. »Nur Polizeischutz, als die Staatsanwaltschaft das Firmengebäude nach belastendem Material, Akten und so, durchsuchte.«

»Nichts gefunden?«

Britta schüttelt den Kopf. »Der Herr Richter ist ein alter Fuchs, hat mein Mann gesagt. Einer wie Franz Josef Strauß. Oder wie die alten Großindustriellen. Die haben alles gut im Griff.«

»Alle gut im Griff.« Carmen nimmt das Telefon zur Hand und tippt die Nummer ein. Alle gut im Griff, denkt sie. Mafia War. Und David hat sich gerade eine Waffe besorgt – von Lydia.

Wenn David das gebaut hätte, wäre er für alle Zeiten saniert gewesen. Mehr kann Carmen nicht denken, denn es ist kein Haus, sondern ein Anwesen mit Tor, Auffahrt und Golfrasen. Für Carmens Geschmack allerdings zu steril. Sie hätte hier gleich mal ein bisschen Unkraut wachsen und einige Kaninchen herumspringen lassen, das hätte der Sache etwas Charakter verliehen. Carmen hält den Wagen an und schaut sich um. Kann sie hier einfach so neben dem Eingang parken? Während sie noch unschlüssig sitzen bleibt, geht die Haustür auf, und Rosi Richter kommt ihr entgegen.

Sie wirkt, als käme sie frisch vom Friseur und von der Kosmetikerin. In Carmen regt sich das Verlangen, ihr mal kurz mit allen zehn Fingern durch die zementierten Haare zu fahren. Viel zu perfekt, denkt sie. Hat sie bei der Geburtstagsfeier auch so künstlich ausgesehen? Sie kann sich nicht recht erinnern.

»Lassen Sie ihn einfach stehen.« Rosi wartet, bis Carmen ausgestiegen ist, und streckt ihr dann die Hand hin. »Schön, dass es doch noch klappt!«

Ihr Händedruck ist längst nicht so lasch, wie Carmen erwartet hat, und ihre blauen Augen strahlen unter den dichten langen Wimpern. Falsch, denkt Carmen. Was für ein Aufwand, die einzeln aufzukleben.

»Ja, hat ja auch lang genug gedauert«, versucht Carmen einen Scherz und denkt dabei, dass sie schließlich als Beraterin und nicht als Freundin gerufen wurde. Es kann ihr doch egal sein, wie die Frau aussieht.

»Kommen Sie.« Leichtfüßig springt Rosi die breiten Stufen zur offenen Eingangstür hinauf.

Carmen geht nachdenklich hinter ihr her. Die Jeans und die lockere Bluse wollen so gar nicht zu ihrem Kopf passen. Wie alt sie wohl ist? Carmen mustert Rosis schmale Hinterfront. Sie wirkt durchtrainiert und drahtig, aber als Millionärsgattin hat man sicherlich den ganzen Tag Zeit für Sport und Körperpflege.

»Haben Sie Lust auf einen Cappuccino?«, fragt Rosi über die Schulter hinweg und geht, ohne auf eine Antwort zu warten, zielstrebig durch den Flur auf eine Tür zu.

Carmen hätte eine große Halle mit Marmorböden, Freitreppe und mannshohen Gemälden erwartet. Aber es wirkt hier drin eher wie in einem alpenländischen Hotel. Besonders die Wände aus rohen Holzdielen erstaunen sie.

Lächelnd dreht sich Rosi nach ihr um. Carmen fühlt sich ertappt. Offensichtlich hat sie dieses Lächeln schon seit ihrem Eintritt auf den Lippen. »Das ist der ganze Stolz meines Mannes«, sagt sie, und das Lächeln verstärkt sich.

»Das?« Carmen schaut zurück. Alter Steinfußboden und einige Bilder und Fotografien auf den dunklen Wänden, die irgendwie seltsam anmuten.

»Ja, das!« Rosi nickt bestätigend und drückt die Tür auf. Die Küche ist Hightech mit einer ansprechenden Kücheninsel in der Mitte, viel Edelstahl in Kombination mit altholländischen Kacheln.

Jetzt stiehlt sich ein Lächeln auf Carmens Lippen.

Rosi sieht es und lacht. »Was denken Sie jetzt?«

»Keine Ahnung!« Carmen schüttelt leicht den Kopf. »Seltsam. Irgendwie seltsam«, sagt sie dann. »Eine seltsame Kombination. Von außen wirkt das Haus ganz anders.«

»So? Und wie?«

»Wie die Vorzeigevilla eines Bauunternehmers.«

Ende der Leseprobe