Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert -  - E-Book

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Beschreibung

Das 20. Jahrhundert sei ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen, schrieb der Schriftsteller Amos Elon. Arendt prägte maßgeblich zwei für die Beschreibung des 20. Jahrhunderts zentrale Begriffe: Totalitarismus und Banalität des Bösen. Das liegt auch daran, dass Arendts Urteile selten unwidersprochen blieben. Der Band folgt ihrem Blick auf das Zeitalter totaler Herrschaft, Antisemitismus, die Lage von Flüchtlingen, die Erblasten der Nachkriegszeit, den Eichmann-Prozess, das politische System und die Rassentrennung in den USA, Zionismus, Feminismus und Studentenbewegung. Mit Beiträgen unter anderem von Micha Brumlik, Ursula Ludz, Jerome Kohn, Wolfram Eilenberger, Barbara Hahn, Thomas Meyer und Ingeborg Nordmann.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de© 2020 Stiftung Deutsches Historisches Museum und Piper Verlag GmbH, München 2020, und die AutorenCovergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCovermotiv: Courtesy of the Hannah Arendt Bluecher Literary Trust / Art Resource, NYSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Einleitung

Jüdisches Selbstverständnis

Micha Brumlik

Nationaljüdische Ambivalenz

Liliane Weissberg

Hannah Arendt und ihre »wirklich beste Freundin, die nur leider schon hundert Jahre tot ist«

Thomas Meyer

Von »Wir Flüchtlinge« zu »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«

Chana Schütz

Zu treuen Händen

Fred Stein fotografiert Hannah Arendt

Totale Herrschaft

Felix Axster

Inspiration und Irritation

Stefan Auer

Arendt-Lektüre in Osteuropa

Die Nachkriegszeit

Marie Luise Knott

Feuerzange, Urwald, Schlächterhund oder Die Wiedersehensfrage

Ingeborg Nordmann

Rückkehr nach Europa?

Anna Pollmann

Urteil und Wahn

Antje Schrupp

Weder meinen noch wissen, sondern: urteilen

Die Vereinigten Staaten

Antonia Grunenberg

Verlust des Anfangs

Jerome Kohn

Die Urteilskraft

Roger Berkowitz

Zur Kritik an Hannah Arendts »Reflections on Little Rock«

Barbara Hahn

Die »eigene« und andere Sprachen

Hannah Arendt persönlich

Juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit

Werner Renz

Hannah Arendt in Jerusalem und die Kontroverse um ihren Prozessbericht

Susanne Baer

Urteilen

Claudia Christophersen

Der lange Weg zur »Lex Arendt«

Protestbewegungen

Norbert Frei

Im Saftladen

Astrid Deuber-Mankowsky

Wie zusammen leben?

Milo Rau

»Denken ohne Geländer«

Hannah Arendt fotografiert Verwandte und Freunde

Politisches Denken

Wolfram Eilenberger

Hannah Arendt und Martin Heidegger

Marcus Llanque

Arendts Politikverständnis und seine Relevanz für das 21. Jahrhundert

Ursula Ludz

Unendliche Gespräche zwischen Menschen

Susan Neiman

Hannah Arendts Begriff des Urteilens

Anhang

Autorinnen und Autoren

Verwendete Literatur

Bildnachweis

Einleitung

Das 20. Jahrhundert sei ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen, meinte der Schriftsteller Amos Elon. Arendt prägte jedenfalls maßgeblich zwei Begriffe: »totale Herrschaft« und »Banalität des Bösen«. Insbesondere Letzterer hat zu heftigen internationalen Kontroversen geführt. Arendts Urteile sind überhaupt selten unwidersprochen geblieben. Das zeigt, wie eigen jeweils ihre Form des Urteilens war. Und das hat uns dazu motiviert, sie ins Zentrum einer Ausstellung über die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu stellen. Der vorliegende Essayband begleitet diese Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin.

Eine Beschäftigung mit Hannah Arendt ist immer auch eine mit politischer und historischer Urteilskraft. Der Begriff stammt von Kant. Heute verbindet er sich mit der wichtigsten politischen Denkerin des 20. Jahrhunderts. Aber anders als bei Kant ist Urteilskraft für Arendt kein ästhetisches, sondern ein politisches Vermögen. Arendt ging es um nicht weniger als um die Bedingungen des politischen Handelns und Urteilens im säkularen Zeitalter, das über keinen absoluten Wahrheitsbegriff als Richtschnur des Handelns mehr verfüge. Deshalb hatte die Frage nach dem politischen und historischen Urteilsvermögen für sie einen so hohen Stellenwert. In diesem Sinn sprach Arendt von einem »Denken ohne Geländer«, auf das wir in der Beurteilung historischer Ereignisse angewiesen seien. Ganz prinzipiell steht damit auch die Ausbildung von Urteilskraft im Fokus historischer Museen.

Die Herausforderung des »Denkens ohne Geländer« stellte sich Hannah Arendt nicht zuletzt persönlich. Seit ihrer Flucht aus Deutschland äußerte sie sich immer wieder als öffentliche Intellektuelle zu aktuellen Ereignissen und löste oft heftige Kontroversen aus. Ihre scharfen Urteile – etwa über totale Herrschaft, Antisemitismus, die Lage von Flüchtlingen, die Erblasten der Nachkriegszeit, die Atombombe, den Eichmann-Prozess, das politische System und die Rassentrennung in den USA, Zionismus, Feminismus und Studentenbewegung – sorgen weiter für Aufsehen. Die Ausstellung wie das Buch folgen Arendts Blick auf das Zeitalter und stellen Werk und Leben vor, das selbst die Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt. Im Zentrum steht nicht die Philosophin, sondern Arendt als Intellektuelle, die das Wagnis der Öffentlichkeit nicht scheute.

Der Band versammelt 19 Essays, die das 20. Jahrhundert nach zeitgeschichtlichen Schwerpunkten ordnen, welche Arendts Urteile herausgefordert haben. Überdies erhalten einige dieser Schwerpunktthemen noch einmal eine gedankliche Fokussierung durch eine kleine Sammlung genereller Statements über das Urteilen.

Jüdisches Selbstverständnis

Im Beitrag von Micha Brumlik geht es um Arendts Verhältnis zum Zionismus. Hannah Arendts Ausstieg aus der akademischen Philosophie und ihre Wende zur Politik wurde durch den wachsenden Antisemitismus Ende der 1920er Jahre ausgelöst. Sie begann sich für die säkulare Geschichte des Judentums zu interessieren. Damit einher ging auch ihre Beschäftigung mit dem Zionismus. Sie habe, so Brumlik, am Zionismus gewürdigt, dass er die Skepsis an der Assimilation geweckt habe. Als Legitimation für ein säkulares Nationaljudentum aber habe sie ihn heftig kritisiert.

Liliane Weissberg findet die Skepsis an der Assimilation auch in Arendts Biografie über Rahel Varnhagen bestätigt. Weissberg thematisiert außerdem die durch Flucht und Exil verzögerte Publikation von Arendts Rahel-Buch und zeigt, wie noch die erste deutsche Veröffentlichung im Jahr 1959 unter den verlängerten Kontinuitäten des Nationalsozialismus stand.

1943 veröffentlichte Arendt in einer amerikanisch-jüdischen Zeitschrift den Artikel »Wir Flüchtlinge«. Er beschreibt, neben der Dankbarkeit gegenüber dem Exilland, vor allem die Scham, die es bedeutete, Flüchtling zu sein. Der Verlust eigener finanzieller Mittel, des Berufes und der sozialen Anerkennung wurden als tiefe Demütigung erfahren. Arendts Darstellung der Lage hat nicht an Aktualität verloren. Im Essay von Thomas Meyer wird aber auch deutlich, wie Hannah Arendt aufgrund ihrer eigenen Erfahrung als Staatenlose die Idee vom »Recht, Rechte zu haben« entwickelte und damit einen Markstein im Menschenrechtsdiskurs setzte.

Chana Schütz dokumentiert Arendts Arbeit für die Jewish Cultural Reconstruction (JCR) – dabei geht es um Raub und Restitution, ein mehr als aktuelles Thema. 1949 wurde Arendt in New York Geschäftsführerin der JCR, deren Aufgabe es war, von den Nazis geraubtes Kulturgut ausfindig zu machen und in die USA und Israel zu überführen.

Totale Herrschaft

1951 erschien Arendts Buch The Origins of Totalitarianism in den USA, in dem sie Ideologie und Terror als Elemente der neuen Herrschaftsform analysierte. Felix Axster stellt das Imperialismus-Kapitel in den Mittelpunkt seines Essays. Zweifelsohne, so Axster, trug Arendts Analyse erheblich zur heutigen Debatte über die Verbindungslinien zwischen Kolonialismus und totaler Herrschaft bei. Irritierend bleibe jedoch ihre enge Anlehnung an Joseph Conrads Roman Herz der Finsternis und seine Beschreibung der Kolonisierten als schattenhafte »Gespensterwelt«.

Arendts Sichtweise auf Nationalsozialismus und Stalinismus als zwei Varianten totaler Herrschaft hat ihr bei westlichen Linksintellektuellen oft das Adjektiv »konservativ« eingetragen. So begrüßte Arendt den Aufstand in Ungarn 1956 als poststalinistische spontane Revolution im Namen der Freiheit. Stefan Auer fragt nach der Beziehung dissidenter Intellektueller in Mittel- und Osteuropa zu Arendts Totalitarismus-Theorie und lässt Arendts Urteile über die Protestbewegung in Ungarn 1956 vor den Ereignissen von 1989 Revue passieren.

Die Nachkriegszeit

Für Hannah Arendt war ein Leben in Deutschland nach dem Holocaust bald undenkbar geworden. Ihr Interesse an den politischen Entwicklungen blieb jedoch groß. Marie Luise Knott beschreibt, mit welchen zwiespältigen Gefühlen Hannah Arendt den Deutschen bei ihrem ersten Besuch 1949 begegnete und unter welchen Bedingungen ihr allein das Schreiben für eine deutsche Zeitschrift möglich schien.

Es blieb jedoch nicht bei diesem einen Besuch: Bis in die 1970er Jahre unternahm Arendt 14 weitere ausgedehnte Reisen nach Deutschland und Europa. Ingeborg Nordmann beleuchtet die Gründe und Aktivitäten. Immer wieder wurde Arendt zu Vorträgen an Universitäten, Rundfunkanstalten und Tagungen eingeladen wie dem Kongress für kulturelle Freiheit in Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt oder dem Internationalen Kulturkritikerkongress in München.

Im Beitrag von Anna Pollmann geht es um den Disput zwischen Arendt und ihrem ersten Ehemann Günther Anders über die politische Bedeutung der atomaren Bedrohung Ende der 1950er Jahre. Anna Pollmann zeigt, wie sehr die spannungsgeladene Auseinandersetzung auch den unterschiedlichen Positionierungen beider im Ost-West-Konflikt geschuldet war.

Antje Schrupp reflektiert in ihrem Statement, warum Urteilen ein persönliches Wagnis ist und warum es vom Meinen und Wissen zu unterscheiden ist.

Die Vereinigten Staaten

1951 erhielt Hannah Arendt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Dies war alles andere als eine Formalie für sie. Arendt war eine ebenso große Bewunderin der Amerikanischen Revolution wie eine scharfe Kritikerin der amerikanischen Verhältnisse der 1950er und 1960er Jahre. Antonia Grunenberg setzt beides in eine Beziehung und zeigt, wie sehr Arendts rigorose Ablehnung der amerikanischen Massengesellschaft wie auch des Vietnamkriegs rückgebunden blieb an das republikanische Gründungsideal, in dem der Staat nicht von der Nation und die Politik nicht von der Gesellschaft dominiert ist.

Jerome Kohn berichtet in seinem Statement, wie Hannah Arendt ihren amerikanischen Studierenden Kants Kritik der Urteilskraft näherbrachte, indem sie diese mit den Vorbereitungen für eine Dinnerparty verglich.

Eine der heftigsten Diskussionen, die Arendt in den USA auslöste, betraf die Politik der Rassentrennung. Nachdem der Supreme Court über ihre Aufhebung an öffentlichen Schulen entschieden hatte, kam es 1957 an der High School von Little Rock in Arkansas zu Ausschreitungen, bei denen schwarze Schülerinnen und Schüler von Weißen am Betreten der Schule gehindert wurden. Daraufhin entsandte die Regierung die Nationalgarde. Die öffentliche Meinung sprach sich mehrheitlich für den Einsatz aus. Nicht so Hannah Arendt. Geradezu genüsslich provokant warnte sie vor staatlicher Einmischung in Schulfragen. Eine Debatte, so Roger Berkowitz, die immer noch aktuell ist.

In den Themenkreis »Hannah Arendt und die USA« gehört auch der Beitrag von Barbara Hahn. Sie reflektiert in ihrem Essay über Arendts Schreiben in deutscher und englischer Sprache. Hahn belegt, wie wichtig für Arendt bis zuletzt die Unterscheidung von Muttersprache und Sprache des Exils blieb, weil sie die Unterscheidung zweier ganz unterschiedlicher kultureller Kontexte einschloss.

Juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit

Berühmter als alle ihre anderen Bücher wurde Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Das liegt auch daran, dass es bis heute das umstrittenste ist. Im Frühjahr 1961 reiste Arendt im Auftrag der Zeitschrift The New Yorker zum Eichmann-Prozess nach Jerusalem. Werner Renz rekonstruiert die Kontroverse, die Arendts Bericht in Amerika, Israel und Deutschland auslöste. Neben den Hauptpunkten ihrer Kritiker, die Arendts Charakterisierung Eichmanns als banal und ihr Urteil über das Verhalten jüdischer Funktionäre infrage stellten, legt der Beitrag ein besonderes Augenmerk auf Arendts Wahrnehmung der Überlebenden und Angehörigen von Überlebenden, die im Prozess als Zeugen erstmals in der Öffentlichkeit von ihrem Leiden berichteten.

Susanne Baer erörtert dazu in ihrem Statement Arendts Umgang mit dem Urteilen als professionelle und institutionalisierte Form des Rechts.

Zur juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit gehört auch Arendts persönlicher Wiedergutmachungsantrag von 1966, der als »Lex Arendt« Rechtsgeschichte schrieb. Claudia Christophersen hat Arendts in der Forschung bislang wenig thematisierte Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht aufgearbeitet.

Protestbewegungen

Im Juni 1968 schrieb Hannah Arendt aus New York an Karl Jaspers nach Basel: »Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848.« Norbert Frei erörtert Arendts Sympathien für die Proteste amerikanischer Studenten gegen den Vietnamkrieg sowie ihre Begeisterung für den Pariser Mai und fragt nach den Gründen ihrer erheblich kritischeren Sicht auf die deutsche Studentenbewegung.

Mit den Studentenprotesten einher ging auch eine neue feministische Bewegung. Gemeinsam mit Simone de Beauvoir und Susan Sontag zählte Arendt zu den einflussreichsten weiblichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Zum Feminismus blieb sie jedoch auf Distanz. Dass es sich dabei nicht nur um die theoretische Skepsis gegen eine Bewegung handelte, die das Private zum Politischen erklärte, erörtert Astrid Deuber-Mankowsky an einer Auseinandersetzung zwischen Hannah Arendt und Elfride Heidegger.

Milo Raus Statement empfiehlt Arendts »Denken ohne Geländer« als Leitplanke für politischen Protest und rät, auch der nicht siegreichen Sache im eigenen Urteil treu zu bleiben.

Politisches Denken

Das letzte Schwerpunktthema des Bandes bündelt eine Reihe von Beiträgen, die noch einmal grundsätzlich nach Motiven, Inspirationen und Quellen von Arendts politischem Denken fragen. Wolfram Eilenberger erläutert, inwieweit Arendt ihre politische Theorie – gerade auch in ihrer Abgrenzung – im Dialog mit dem Denken Heideggers entwickelte.

Marcus Llanque stellt die Frage: Ist ein Politikverständnis, das einerseits von der Erfahrung totalitärer Herrschaft geprägt und andererseits vom Ideal der Antike inspiriert ist, noch relevant für das 21. Jahrhundert?

Der Essay von Ursula Ludz handelt von der Freundschaft. Für Hannah Arendt waren Freundschaften mehr als das Vergnügen der Geselligkeit. Sie bedeuteten gelebte Pluralität. Ludz stellt Freundinnen und Freunde Arendts vor und zeigt, wie sehr das Freundschaftshandeln, das sich der Welt öffnet, für Arendt dem politischen Handeln ähnelt.

Susan Neiman erinnert mit ihrem Statement an Arendts Bewunderung für Immanuel Kant, für den Urteilskraft weniger eine Sache der Theorie als der Übung war.

Abbildungen

Der Band ist reich bebildert mit Objekten der Ausstellung, die aus der Sammlung des DHM und anderen Sammlungen, etwa dem Hannah Arendt Bluecher Literary Trust, stammen. Neben zeitgeschichtlichen Dokumenten und Objekten in den Essays gibt es eigenständige Bildstrecken. Eine ist dem Fotografen Fred Stein gewidmet. Denkt man an Hannah Arendts Erscheinung, so stellen sich schnell bestimmte Fotos ein, die unser Bild von ihr geprägt haben. Eher unbekannt ist, dass es sich zumeist um sorgfältig inszenierte Aufnahmen von Fred Stein handelt, der Hannah Arendt zwischen 1944 und 1966 immer wieder zu Fotosessions traf. Eine weitere Bildstrecke zeigt Gegenstände aus ihrem Besitz, die viel über den persönlichen Stil Arendts erzählen: ein elegantes Pelzcape, die Brosche, die sie beim Fernsehinterview mit Günter Gaus trug, ihre Aktentasche, eine goldene Kette, die ihr Karl Jaspers schenkte. Vieles davon wird hier das erste Mal publiziert. Dazu gehört ebenfalls Arendts silberne Minox, besser als »Spionagekamera« bekannt. Der Band stellt in einer weiteren Bildstrecke Arendt als Fotografin vor, die Aufnahmen von Freundinnen, Freunden und Verwandten machte.

 

Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert mit großer Leidenschaft und Energie realisiert haben. Besonderer Dank gebührt der Projektassistentin Ulrike Kuschel und der Registrar Susanne Narock sowie Andrea von Hegel stellvertretend für die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums. Begleitet wurde die Ausstellungsvorbereitung von einem engagierten Fachbeirat bestehend aus Dr. Nicolas Berg, Prof. Dr. Astrid Deuber-Mankowsky, Prof. Dr. Moritz Epple, Dr. Jan Gerchow, Prof. Dr. Werner Konitzer, Dr. Chana Schütz und Prof. Dr. Liliane Weissberg.

Die Gestaltung der Ausstellung lag in den Händen des Büros für museale und urbane Szenografie chezweitz. Sie haben die Gedanken und Kontroversen von und um Arendt in eine ebenso anschauliche wie anspruchsvolle Architektur übertragen, die auch den zahlreichen medialen Elementen ihren gebührenden Raum lässt. Für die Ausarbeitung des didaktischen Begleitprogramms danken wir Friedrun Portele-Anyangbe, Wiebke Hölzer und Brigitte Vogel-Janotta vom Fachbereich Bildung und Vermittlung, für das wissenschaftliche Begleitprogramm zeichnet Nike Thurn verantwortlich. Abschließend gilt unser Dank allen Leihgebern sowie den Autorinnen und Autoren, Anna Pollmann und Dorit Aurich für das Lektorat sowie Ilka Linz und Anne Stadler für die engagierte Betreuung des Bandes.

 

Dorlis Blume, Monika Boll und Raphael Gross

Jüdisches Selbstverständnis

Micha Brumlik

Nationaljüdische Ambivalenz

Hannah Arendt und der Zionismus

Die politische Debatte im wiedervereinigten Deutschland hat Hannah Arendt neu entdeckt und damit zur Renaissance einer Theorie geführt, die bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in aller Munde war, eine Theorie, die in den 1970er Jahren massiv kritisiert wurde und in den frühen 1980er Jahren fast vergessen war: die Totalitarismustheorie. Arendts Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft[1] präsentierte nicht nur ihren ganz eigenen philosophischen Zugang zum Bereich der Politik, mehr noch: Es war zugleich nicht weniger als eine höchst radikale Form jüdischer Selbstvergewisserung in der Moderne. In Elemente und Ursprünge resümiert Arendt nicht nur die erste Hälfte des mörderischen 20. Jahrhunderts, mindestens so sehr lässt sich dieses Opus magnum als eines der gewichtigsten Werke des modernen Judentums lesen, und zwar in einer seiner säkularen Varianten, dem Nationaljudentum. Das heißt: Wenn das moderne (National-)Judentum es je zu einer systematischen philosophischen Begründung gebracht hat, dann liegt sie hier vor. Und das dem Umstand zum Trotz, dass Hannah Arendt unmittelbar nach dem Krieg zu den schärfsten Kritikerinnen des politischen Zionismus zählte.[2] Dabei ist Arendts Nachdenken über das Grundproblem jüdischer Existenz in der Moderne der klassischen Antike und der deutschen Existenzphilosophie stärker verpflichtet als der jüdischen Überlieferung. Dieser Umstand ist weniger Ausdruck einer historischen Ironie als jener paradoxen Situation des sich emanzipierenden Judentums, das jüdische Existenz auf die Höhe seiner Zeit bringen wollte.

Arendt analysiert die Wurzeln des Totalitarismus, zu denen der Antisemitismus – im Unterschied zum Judenhass – wesentlich gehört, im Zusammenhang mit dem Niedergang der Nationalstaaten Mitte des 19. Jahrhunderts. Der durch die Expansion des Kapitals verursachte Übergang vom Nationalismus zum Imperialismus führe demnach in den Kolonien zu einer Form politischen Handelns, in der die zivile Kontrolle von Polizei und Bürokratie prinzipiell aufgegeben würde, während sich in den Mutterländern das bisher privatistisch verstehende Bürgertum im Sinn des Imperialismus radikalisiere. Der Antisemitismus entstehe in diesem Zusammenhang als massenhafte Reaktion auf die zunehmende Intransparenz politischen Handelns, die Undurchsichtigkeit der Beziehungen zwischen Parlament, Kapital und Regierung. Als Massenbewegung entzündete er sich an einer gesellschaftlichen Frage, die Hannah Arendt für ein objektives Problem hält: der »Judenfrage«. Diese besteht in Arendts Deutung darin, dass »die Juden fortfuhren, einen mehr oder minder geschlossenen Körper innerhalb der Nation zu bilden«, während »das gesellschaftliche Vorurteil […] in dem Maße [wuchs], in welchem Juden aufgrund ihrer Assimiliertheit in die bürgerliche Gesellschaft einzudringen wünschten.«[3]

Nach Arendts Überzeugung waren jüdische Familien mit ihren internationalen Verbindungen erst die Geldgeber der fürstlichen Begründer des Territorialstaats, fungierten dann als Finanziers der kolonialen Ausdehnung, um im Zeitalter des Imperialismus ihrer Rolle verlustig zu gehen. Der so entstandene Reichtum und Einfluss ohne Macht stempelte sie zu Zielscheiben des Ressentiments der Massen. Dass die Juden sich der entsprechenden Angriffe nicht angemessen erwehrten, läge an ihrer Distanz zu jeder politischen, kulturellen und auch ökonomischen Macht, was sich nach Arendts wirtschaftshistorischer Überzeugung in der Tatsache niederschlug, dass sich die Juden nur selten bereit fanden, ihr Kapital in industrielle Unternehmungen zu investieren – eine Überzeugung, die als Tatsachenbehauptung durchaus bestreitbar ist. Nicht nur die herausragende Bedeutung jüdischer Unternehmer im russischen und rumänischen Eisenbahnbau, in der polnischen Hüttenindustrie sowie in der böhmischen Waffenindustrie belasten Arendts These. Die vermeintliche Distanz der Juden zur Macht aber und die damit verbundene Unfähigkeit, den Antisemitismus zu verstehen, führten ihrer Meinung nach dazu, dass die Juden als Volk eine politische Anomalie darstellten. Diese Anomalie »lag in der Tatsache, daß hier ein Volk in eine politische Rolle gedrängt wurde, das selbst keine politische Repräsentanz hatte. […] Als Fremde und auf Grund ihrer politischen Traditionslosigkeit wußten die Juden weder etwas von dem Unterschied zwischen Volk und Regierung noch von der nationalstaatlichen Spannung zwischen Staat und Gesellschaft.«[4] Deshalb gehöre es zu den wesentlichen Bestandteilen jüdischer Geschichte im imperialistischen Zeitalter, »daß die Juden weder je wirklich wußten, was Macht war, auch nicht, als sie sie fast in Händen hatten, noch je wirklich Interesse an Macht hatten […]«.[5]

Arendts Analyse des jüdischen Schicksals ging somit von zwei normativen Voraussetzungen aus: erstens, dass die Juden im ethnischen Sinne ein Volk darstellen – das ist die u. a. vom politischen Philosophen Leo Strauss ihrer notwendigen Glaubenslosigkeit wegen charakterisierte »nationaljüdische« Position. Zweitens unterstellte Arendt, dass alleine die Konstruktion des homogenen Nationalstaats als Ausdruck des territorial und damit politisch begrenzten Willens demokratischer Rechtssetzung in der Lage ist, dem Individuum der Moderne nicht nur den Schutz des Rechts zu gewähren, sondern ihm auch die Chance zu geben, »sich in einer gemeinsam errichteten Welt sichtbar zu bewähren und so einzurichten, daß jede große Leistung und außerordentliche Handlung einer Nachwelt zuverlässig überliefert werden kann«.[6]

Arendts Kritik am jüdischen Assimilationismus und Chauvinismus und an der Flucht des jüdischen Bildungsbürgertums ins menschheitlich Allgemeine korrespondiert in Elemente und Ursprünge mit dem Hinweis, dass erst der »westeuropäische Zionismus« die objektive Realität der Judenfrage nicht mehr verleugnet habe und es zudem der »postassimilatorische Zionismus« gewesen sei, der mit seinem Einfluss auf die jüdische Intelligenz die Juden Deutschlands und Österreichs vor den schlimmsten Auswüchsen des Antisemitismus der 1930er Jahre bewahrt habe.[7]

Arendts Bezug auf den postassimilatorischen Zionismus trägt einen Namen: den ihres engen Freundes Kurt Blumenfeld. Geboren 1884 in Marggrabowa, Ostpreußen, gestorben 1963 in Jerusalem, studierte er in Berlin, Freiburg und Königsberg Jura. Seit 1904 im organisierten Zionismus aktiv, gehörte Blumenfeld zu den Gründern des »Keren Hayesod«, des zionistischen Gründungsfonds. Blumenfeld präsidierte der Zionistischen Vereinigung für Deutschland ununterbrochen seit 1924, bis er 1933 ins damalige Palästina emigrierte. In den 1940er Jahren wurde Blumenfeld Mitglied des linkszionistischen, auf einen binationalen Staat setzenden »Brit Schalom«, der von dem Soziologen und Leiter des Palästina-Amtes, Arthur Ruppin, gegründet wurde und dem es vor allem um die Frage eines gedeihlichen und friedlichen Zusammenlebens von Juden und Arabern ging. Blumenfeld freilich verließ die Gruppe, die die Staatsgründung ablehnte, reumütig noch vor dem Mai 1948.

Das in Elemente und Ursprünge von Arendt scharfsinnig entfaltete Kategorienpaar von »Paria« und »Parvenü«, mit dem sie ihre Analyse des deutschen Judentums betrieb, stammte von Blumenfeld, der den Pariabegriff seinerseits Max Weber entlehnt hatte. Blumenfelds Einfluss brachte Hannah Arendt dazu, als erklärte Nichtzionistin 1933 illegal für die Zionistische Vereinigung für Deutschland tätig zu werden.

Ausweis der Zionist Organisation London von Hannah Stern (Arendt), ausgestellt in Paris, 24. Juli 1934  [1]

Die Freundschaft zerbrach später – wie viele andere – an Arendts Buch Eichmann in Jerusalem (1963), nicht aber, wie man hätte denken können, an ihrer Kritik des Zionismus nach dem Krieg.[8] Ohne Arendts einschlägige Eichmann-Artikel im New Yorker selbst gelesen zu haben, war der schon schwer erkrankte Blumenfeld über die ihm kolportierten Thesen außerordentlich empört und starb unversöhnt. Den Vorwurf, es an »Ahabhat Israel«,[9] an Liebe zu Israel, mangeln zu lassen, erhob 1963 auch Gershom Scholem – ein Vorwurf, den Arendt mit guten Gründen zurückweisen konnte: Freundschaft und Liebe gehörten der privaten, nicht der politischen Sphäre an. »Politisch werde ich immer nur im Namen der Juden sprechen, sofern ich durch die Umstände gezwungen bin, meine Nationalität anzugeben.«[10]

Bei diesem Konflikt ging es um die Angemessenheit des stets ambivalenten deutschen Zionismus und vor allem um die Stichhaltigkeit von Arendts persönlicher und theoretischer Haltung zur politischen Existenz von Juden. Für Arendt selbst war klar, dass sie politisch »immer nur im Namen der Juden sprechen« könne. Diese Haltung drückte sich unmittelbar nach der Befreiung der letzten Konzentrations- und Vernichtungslager und der Kapitulation des »Dritten Reichs« in einer Kritik des Zionismus aus. So unterzog sie in ihrem in der Zeitschrift Menorah veröffentlichten Artikel »Zionism Reconsidered« von 1945 den politischen Zionismus einer radikalen Kritik. Nicht nur, dass dieser Zionismus ob der Besiedlung Palästinas mit dem Imperialismus paktieren müsse, mehr noch: Arendt kritisierte zudem die Sinnlosigkeit einer Staatsgründung angesichts des Umstands, dass seinerzeit »Rommels Armee die Juden in Palästina mit genau dem gleichen Schicksal bedrohte wie in den europäischen Ländern«.[11]

Das Beharren der Zionisten auf einer Staatsgründung in Palästina erschien Arendt als nichts anderes denn »die kritiklose Übernahme des Nationalismus in seiner deutschen Version«.[12] In Elemente und Ursprünge räumte sie dem Zionismus immerhin ein, die »Judenfrage« gelöst zu haben, freilich unter der fatalen Bedingung »eines inzwischen erst kolonisierten und dann eroberten Territoriums«, und dass dies »wie nahezu alle Ereignisse unseres Jahrhunderts auch nur zur Folge gehabt hat, daß eine neue Kategorie, die arabischen Flüchtlinge, die Zahl der Staaten- und Rechtlosen um weitere siebenhundert- bis achthunderttausend Menschen vermehrte«.[13]

Indem Arendt nüchtern den Umstand vermerkt, dass nur ein Nationalstaat Menschenrechte garantieren kann, andererseits aber auch jeder Nationalstaat Menschenrechte verletzt, erweist sich ihr am republikanischen Freiheitsideal orientierter Nationalstaatsbegriff als genaues Gegenteil der auch vom politischen Zionismus bemühten ethnischen Nationalstaatsidee. Diesen Gegensatz entfaltet Arendt 1945 in einer scharfen Kritik an zwei Resolutionen der Zionistischen Weltorganisation, die diese 1942 in Washington, im sogenannten Biltmore-Programm, und dann noch einmal 1944 in Atlantic City verabschiedet hatte.[14] Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Massenvernichtung und des Drängens der aktivistischen politischen Führung des Jischuw, der jüdischen Gemeinschaft in Palästina vor der Gründung des Staates Israel, namentlich David Ben-Gurions, hatte man sich dem Ziel verschrieben, ein »freies und demokratisches Gemeinwesen zu errichten, das ganz Palästina ungeteilt und ungeschmälert«[15] umfassen soll. Arendt stellt fest, dass damit die Zionisten insgesamt die Programmatik der zionistischen Rechten, der »Revisionisten«, übernommen hätten, und kritisiert dieses Programm nicht nur seines für sie unverhohlenen Nationalismus, sondern vor allem seiner (außen-)politischen Konsequenzen wegen: »Der Nationalismus ist schon schlimm genug, wenn er auf nichts anderes als die rohe Stärke der Nation baut. Sicherlich schlimmer ist aber ein Nationalismus, der notwendigerweise und eingestandenermaßen von der Stärke einer fremden Nation abhängig ist. Dieses Schicksal droht dem jüdischen Nationalismus und dem vorgesehenen jüdischen Staat, der unvermeidlich von arabischen Staaten und arabischen Völkern umgeben sein wird. Selbst eine jüdische Mehrheit in Palästina«, die tatsächlich im Herbst 1945 demografisch in keiner Weise absehbar war, so folgert Arendt weiter, »ja, sogar eine Umsiedlung aller palästinensischen Araber, die von den Revisionisten offen gefordert wird, würde nichts grundlegendes an einer Situation ändern, in der die Juden entweder eine auswärtige Macht um Schutz gegen ihre Nachbarn ersuchen oder eine wirksame Verständigung mit ihren Nachbarn erreichen müssen.«[16]

Georg Goldstein: Herzl Street, Tel Aviv, 1942  [2]

Arendt erschien der politische Zionismus – getragen von der »moralische[n] Aristokratie des westlichen Judentums«,[17] einer »Aristokratie«, die anders als das östliche Judentum in keiner Weise revolutionär war – letztlich als unpolitisch: Auch für die westlichen Zionisten war Palästina »ein idealer Ort außerhalb der trostlosen Welt, an dem man seine Ideale verwirklichen und eine persönliche Lösung für politische und soziale Konflikte finden konnte«.[18] Doch während der sozialistische Zionismus für seine »Weltlosigkeit« – ein Ausdruck Martin Heideggers für mangelnde existenzielle Verwurzelung – mit Blindheit gegenüber der arabischen Frage bezahlen musste, hatte der westliche Zionismus als bürgerliche Avantgardebewegung einen möglicherweise noch höheren Zoll zu begleichen: einen konstitutiven Mangel an Demokratie und republikanischem Geist. »So traurig es auch für jeden sein muß, der an das Prinzip der Regierung des Volkes und für das Volk glaubt, – Tatsache ist, daß eine politische Geschichte des Zionismus die unter den jüdischen Massen entstandene genuine nationalrevolutionäre Bewegung ohne weiteres übergehen könnte. Die politische Geschichte des Zionismus hat sich vornehmlich mit Kräften zu befassen, die nicht aus dem Volke kamen […].«[19] Mit Ausnahme des von ihr favorisierten französischen Zionisten Bernard Lazare habe kein führender Zionist dem jüdischen Volk die Willenskraft zugetraut, »sich die Freiheit zu erobern statt zur Freiheit gebracht zu werden. Kein offizieller Führer des Zionismus hat es dementsprechend gesagt [sic], mit den revolutionären Kräften in Europa gemeinsame Sache zu machen.«[20]

Bernard Lazare, geboren 1865 in Nîmes, gestorben 1903 in Paris, war zunächst Sozialist und radikaler Assimilationist, setzte sich schon 1894 mit dem Antisemitismus auseinander, war ein Freund des katholischen Schriftstellers Charles Péguy und widersprach Theodor Herzl auf dem Zweiten Zionistenkongress 1898, indem er gegen die Gründung eines Jewish Colonial Trust, einer jüdischen Kolonialbank, stimmte.

Die vermeintliche »Weltlosigkeit« des sozialistischen Zionismus und die republikanischen Defizite des bürgerlichen Zionismus zeigen für Arendt nicht nur dessen Versagen in der arabischen Frage an, sondern erklären schon früh, warum diese Bewegung auf die brennenden Zukunftsfragen keine Antwort haben wird und auf die bedeutendste Frage der Vergangenheit keine Antwort haben konnte: auf den mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten. Arendt war so gut wie allen aufmerksamen Beobachtern des Zweiten Weltkriegs klar, dass es ausschließlich die britische Armee in Ägypten war, die die Juden Palästinas vor dem Massenmord gerettet hatte. Von alledem – auch das wirkte nicht prophetisch, sondern prognostisch – werde vor allem das amerikanische Judentum profitieren. Mit der seit der Biltmore-Konferenz akzeptierten, von den Revisionisten artikulierten Annahme von der in Israel existierenden hebräischen Nation und dem in der Diaspora lebenden jüdischen Volk werde es zu einem neuen, gestärkten Selbstverständnis finden. Doch auch dies werde das grundsätzliche politische Dilemma des jüdischen Volkes und mit ihm des Zionismus nicht lösen.

Im Zeitalter des absehbaren Endes des Nationalstaats nämlich, über dessen Niedergang sogar bei all seinen Fehlern »für die Juden nicht der geringste Grund […] zu jubeln«[21] bestehe, werde es als künftige Formen politischer Vergemeinschaftung nur noch Imperien oder Föderationen geben. Während die Föderationslösung den Juden und anderen kleinen Völkern immerhin eine gewisse Überlebenschance einräumen könnte, werde jede imperialistische Lösung »als Ersatz für den überlebten Nationalismus, der einst die Menschen in Bewegung setzte, imperialistische Leidenschaften« schüren. »Der Himmel«, so Arendts Kassandraruf, »möge uns beistehen, wenn das eintrifft.«[22]

Es wäre allerdings unredlich, sich Arendts prophetisch-prognostische Einsichten in das Dilemma des staatsbildenden Zionismus zu eigen zu machen, ohne die zum Teil heftige Kritik an ihrem Zionismus-Aufsatz zu erwähnen. Dieser Aufsatz, den Arendt Scholem mehr oder minder arglos zugesandt hatte, hat diesen »ungewöhnlich tief enttäuscht […] und zum Teil auch erbittert«,[23] so sehr, dass er Arendt grundsätzlich nicht nur einen »diffus bleibenden Golus-Nationalismus«,[24] sondern zudem »trotzkistische antizionistische Begründungen«[25] vorhielt. Scholem bekennt sich als »Nationalist« und zugleich als Anarchist, der er seit frühester Jugend war – als jemand, dem das »Staatsproblem vollkommen schnuppe« sei, da er nicht daran glaube, dass die Erneuerung des jüdischen Volkes von der Frage seiner sozialen Organisation abhänge.[26] Er räumt ein, den Juden nach 1945 nicht übel nehmen zu können, progressive Theorien nicht mehr zu berücksichtigen, und gibt »schweren Herzens« zu, sowohl für einen binationalen Staat als auch für eine Teilung des Mandatsgebiets stimmen zu können – ein Weg, über den sich Arendt mit »erstaunlicher Unwissenheit« mokiert habe.[27] Wirklichen Widerspruch aber löste Arendts Hinweis aus, dass die Möglichkeit einer Zerstörung des Jischuw durch Rommels Armeen den Zionismus widerlegt habe. Als realistisch denkender Gegner des religiösen Messianismus behauptet Scholem, dass kein vernünftiger Zionist jemals mehr versprochen habe als eine Milderung des antisemitischen Verfolgungsdrucks – eine Aussage, die indes nichts mit Herzls Überzeugung zu tun hat, durch die Gründung eines Judenstaats den Antisemitismus zum Verschwinden zu bringen. Dem hätte Arendt denn doch noch zustimmen können.

Liliane Weissberg

Hannah Arendt und ihre »wirklich beste Freundin, die nur leider schon hundert Jahre tot ist«

Freundschaften

Hannah Arendt war gerade 15 Jahre alt, als sie Anne Mendelsohn kennenlernte. Arendt lebte in Königsberg, die drei Jahre ältere Mendelsohn in Allenstein, aber beide jungen Frauen verband trotz dieser Distanz bald eine enge, lebenslange Freundschaft. Mendelsohn stammte wie Arendt aus einem jüdischen Haus und sollte später ebenfalls Philosophie studieren. 1928 promovierte sie in Hamburg mit einer Arbeit über Die Sprachphilosophie und die Ästhetik Wilhelm von Humboldts als Grundlage für die Theorie der Dichtung. Noch während ihres Studiums entdeckte Mendelsohn bei einem Buchhändler eine dreibändige Sammlung der Briefe Rahel Varnhagens. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde (1834) wurde von Karl August Varnhagen von Ense herausgegeben und stellte eine chronologisch konzipierte Briefauswahl dar, die gleichzeitig an die Autorin, seine Ehefrau, erinnern sollte; Rahel starb ein Jahr vor der Veröffentlichung der Bände. Die Briefautorin hatte die Brüder Humboldt gekannt, Mendelsohns Bücherfund fügte sich daher in den Kontext ihrer akademischen Interessen ein. Aber Mendelsohn machte die Bände Arendt zum Geschenk. Damit trat nun eine dritte Frau in die Beziehung ein, die zu ihrer Zeit als Rahel bekannt gewesen war und nun für Arendt, wie diese später schrieb, ihre »wirklich beste Freundin« werden sollte.[28]

Rahel Levin (1771–1833), die sich nach 1812 Rahel Robert oder Robert-tornow und nach ihrer Taufe und Heirat Rahel Antonie Friederike Varnhagen, schließlich auch Friederike Varnhagen von Ense nannte, war die Tochter des jüdischen Berliner Juweliers, Bankiers und Hoffaktors Markus Levin und seiner Frau Chaje. Der Vater starb 1790. Rahel war schon als junges Mädchen mit einigen seiner Kunden und Kundinnen bekannt. Etwa drei Jahre nach dem Tod des Vaters begann sie, diese und andere Gäste in ihr Elternhaus zum Tee einzuladen. Ihr Talent als Gastgeberin war groß, ihre Konversation hochgerühmt. Freundinnen aus der jüdischen Gemeinde Berlins fanden sich bei ihr ein, aber auch Schauspieler und Künstler, Diplomaten und Adelige. Arendt beschrieb die Zeit, in der Gesellschaften dieser Art möglich waren, später in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (dt. 1955) als kurzen Augenblick einer sozialen Utopie, der nur bis zum Einmarsch Napoleons in Berlin 1806 andauern konnte – dann nahm auch das nationale Gedankengut überhand. Rahel führte ihre Gespräche in Briefen weiter, welche unter Freunden zirkulierten und die Zeit ihrer Gesellschaften überdauerten.

Arendt begann noch vor dem Abschluss ihrer eigenen Dissertation zum Liebesbegriff bei Augustin im Jahr 1928 mit einer intensiven Lektüre der Briefe. 1929 heiratete Arendt den Philosophen Günther Stern, der zunächst in Frankfurt am Main an seiner Habilitation arbeitete. 1931 zogen beide nach Berlin, wo er als Journalist Arbeit fand. Für Arendt bot der Umzug die Gelegenheit, Rahels Briefe im Original zu studieren. Karl August Varnhagen hatte noch zu Rahels Lebzeiten begonnen, Briefe von Rahels Korrespondenten und Korrespondentinnen zurückzufordern und zu sammeln; dem Buch des Andenkens sollten weitere Briefbände folgen. In der Staatsbibliothek in Berlin lagerten Tausende von Briefen aus seinem Nachlass, darunter sehr viele, die bislang nicht oder nur teilweise publiziert waren. Arendt konzentrierte sich vor allem auf die ursprüngliche Auswahl des Buchs des Andenkens, und es war ihr möglich, die vom Herausgeber eliminierten Briefstellen in ihrer eigenen Buchkopie handschriftlich zu ergänzen und Texte zu korrigieren. All dies waren Vorarbeiten zu einem neuen Buch, das Arendt über Rahel verfassen wollte. Dieses Buch widmete sie später jener anderen Frau und Freundschaft, die es ermöglicht hatte: »FÜRANNE seit 1921«.

Arendt wollte mit ihrem Text Rahels eigenen Gedanken folgen und reihte Zitate aus ihren Briefen aneinander.[29] Einem solchen experimentellen Projekt ging eine starke Identifikation Arendts mit ihrer neuen besten Freundin voraus. In der Zeit eines lautstark werdenden Antisemitismus fand Arendt eine historische Person, deren Erfahrungen als Jüdin sie zu verstehen, wenn nicht zu teilen glaubte. Arendt war mit keiner Universität mehr affiliiert, und sie bemühte sich bei verschiedenen Stiftungen um ein Stipendium für ihre Studie. Bereits 1929 suchte sie diesbezüglich Rat bei ihrem Doktorvater Karl Jaspers. Jaspers hatte schon an Arendts Dissertation Kritik geübt, aber hinsichtlich ihres neuen Buches zeigte er besonderes Unverständnis. Warum thematisierte Arendt Rahels Judentum so sehr? Arendts Briefwechsel mit Jaspers von 1929 bis 1933 konzentrierte sich allerdings nicht nur auf Rahels Judentum, sondern auch auf eine Bestimmung der »fatale[n] Sache« des »deutschen Wesen[s]« und auf Arendts Verständnis ihrer eigenen Identität.[30] Jaspers beendete in dieser Zeit ein Buch zu Max Weber, das 1932 unter dem Titel Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren im Oldenburger Gerhard Stalling Verlag erschien, der sich kurze Zeit später der Nationalsozialistischen Partei andienen sollte.

Jaspers war jedoch bereit, Arendts Projekt mit Empfehlungsschreiben zu fördern. Für ihre Stipendienanträge bat er nicht nur den evangelischen Theologen Martin Dibelius um zusätzliche Unterstützung, sondern auch seinen Freund Martin Heidegger, der einen Empfehlungsbrief für seine ehemalige Studentin und Geliebte schrieb. 1930 bekam Arendt einen positiven Bescheid von der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler. So sollte auch Heidegger, der nur drei Jahre später der NSDAP beitrat, dazu betragen, Arendts Biografie einer Jüdin zu ermöglichen.

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