Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Zwillinge Hannah und Ermias kommen als Flüchtlinge aus Eritrea nach Oberbayern. In ihrer neuen Schulklasse werden sie wegen ihrer Hautfarbe abgelehnt. Dann aber freunden sie sich mit dem Wirtsbuben Lukas an. Er nimmt sie mit zum Angeln und erklärt ihnen, wie das Leben in Deutschland funktioniert. Als Lukas eines Tages nicht da ist, verirren sich die Geschwister beim Schwammerlsuchen im Wald und stoßen auf Kriminelle, die das Lösegeld aus einer Entführung zählen. Mit knapper Not gelingt es ihnen, der Bande zu entkommen. Lukas ist von dieser Geschichte begeistert. Er lässt sich das Versteck zeigen und stiehlt einen Teil der Beute. Nun machen die Kriminellen Jagd auf die Kinder … "Hannah" zeigt, dass man durch die Begegnung mit einer fremden Kultur viel lernen kann und dass eine Freundschaft mit Zuwanderern das Leben schöner und reicher macht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 175
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über den Autor:
Rainer Georg Zehentner, Jahrgang 1963, ist geschieden und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
Er wuchs auf einem kleinen Hof auf, lernte die Bauernarbeit, war als Maurer, Altenpfleger und Fremdsprachenkorrespondent tätig, studierte in Salzburg Germanistik und Geschichte und arbeitete 26 Jahre als Zeitungsredakteur, zuletzt als Chefredakteur einer Wochenzeitung in Gründung.
Rainer Georg Zehentner schreibt Geschichten für Kinder, Heimatgeschichten und historische Romane. Er lebt mit seiner Katze „Naomi“ am Waginger See.
Von Rainer Georg Zehentner
Hannah
Ein Mädchen aus Afrika findet eine Heimat in Bayern
1. Auflage: Mai 2022
Erschienen im Eigenverlag
Kirchanschöring, Mai 2022
Autor: Rainer Georg Zehentner
Illustratorin: Lisbet Werner
Layout: Kenlly Mayela Zehentner
Lektorin: Isabella Stockhammer
Danksagung
Gewidmet Ulrich Bäder, ohne den ich dieses Buch nie geschrieben hätte.
Vorgeschichte: Ein winziges Dorf und ein winziges Land
Das ist die Geschichte von Hannah, Ermias und Lukas. Es ist die Geschichte einer Freundschaft, in der es um viel Geld und ein gefährliches Abenteuer geht.
Lukas Anfang kam aus Kirchleiten, einem winzigen Dorf in Bayern.
Hannah und Ermias kamen aus Eritrea, einem winzigen Land in Afrika.
Kirchleiten, das waren eine Dorfstraße, die sich über einen Hügel schlängelte, ein kleiner See und zwanzig Bauernhäuser. Wie in jedem richtigen Dorf gab es ein Wirtshaus und eine Kirche. Lukas´ Eltern gehörte die Tafelwirtschaft. Die Tafelwirtschaft war uralt und stand ganz oben auf dem Hügel. Auch die Kirche war uralt und stand gegenüber dem Wirtshaus.
Fast alle Kirchleitener hatten einen Obstanger, Felder, Wiesen und Kühe. Die Obstanger zogen sich im Sommer wie ein grünes Band um das Dorf herum. Dort gab es Vögel, Eidechsen und andere Wildtiere, Kirschen, Äpfel und Birnen. Am besten gediehen aber die Zwetschgen. Die Leute sagten, Kirchleiten sei ein Zwetschgendorf. Die Zwetschgen eigneten sich, um daraus das Kirchleitener Zwetschgenwasser zu brennen. Oder man machte Zwetschgendatschi aus ihnen. Den besten Zwetschgendatschi konnte die Tafelwirtin Svetlana Anfang backen. Die Tafelwirtin war Lukas´ Mutter. Sie kam nicht aus Kirchleiten, sondern aus einer großen Stadt im hohen Norden. Soviel zu Kirchleiten und zu Lukas.
Kommen wir nun zu Hannah und Ermias. Sicher habt ihr im Fernsehen die Bilder von den Flüchtlingen aus Afrika gesehen, die in Schlauchboote steigen, um über das Mittelmeer zu gelangen. Das ist lebensgefährlich, und viele von ihnen kommen dabei um. Deshalb sei an dieser Stelle gleich angemerkt: Einer solchen Gefahr mussten sich Hannah und Ermias niemals aussetzen. Sie kamen nicht über das Meer, sondern auf dem Luftweg nach Deutschland. Aber weil Hannah und ihr Zwillingsbruder schwarze Kraushaare und eine dunkle Haut hatten, meinten alle gleich, sie wären in einem Schlauchboot gekommen. Selbst einige Lehrer glaubten das. Vielleicht passieren einige Dinge nur deshalb, weil die Menschen die Bilder vom Fernsehen im Kopf haben und darum falsche Dinge annehmen.
Hannah und Ermias sind ein gutes Beispiel dafür, dass das wirkliche Leben ganz anders ist als das, was wir jeden Tag im Fernsehen erleben können. Hannah und Ermias waren anders als die meisten Flüchtlinge. Zum Beispiel sprachen sie bereits sehr gut deutsch, als sie nach Kirchleiten kamen, denn sie waren mit deutschen Kinderbüchern aufgewachsen. Wie Lukas Anfang stammten sie ebenfalls aus einem winzigen Dorf, aber einem Dorf in Eritrea. Ihre Mutter Miriam hatte sogar einmal in Deutschland studiert.
Einige Wochen, bevor unsere Geschichte beginnt, wurden Hannah und Ermias und ihre Eltern zusammen mit weiteren Menschen aus Eritrea und zwei jungen Männern aus Afghanistan im Schneiderhaus einquartiert. Das Schneiderhaus war eine sogenannte Asylunterkunft. Das Gebäude war von Wald umgeben. Es stand im Seeholz, direkt am Kirchleitener See. Ermias war ein dünner Junge mit langen Beinen. Er konnte laufen wie der Wind. Das wird in unserer Geschichte eine wichtige Rolle spielen. Seine Zwillingsschwester Hannah war um einen Kopf kleiner als er, ein schmächtiges Mädchen mit lustigen schwarzen Locken. Im Laufen war sie weniger begabt als ihr Bruder. Ehrlich gesagt, lief sie überhaupt nicht gern. Sie war die Gemütlichere von beiden. Dafür war sie im Denken umso schneller. Auch das wird eine Rolle spielen in unserer Geschichte.
Das Schönste an Hannah waren ihre großen schwarzen Augen. Ihr Blick war herausfordernd, klug und sanft. Lukas Anfang hatte in seinem ganzen Leben nie etwas Schöneres gesehen als diese Augen. Und dieses Leben dauerte immerhin schon zehn Jahre. Aber er schämte sich, Hannah anzusprechen; denn ihre Haut war dunkel. Und daran musste sich Lukas erst gewöhnen.
Das ist seltsam, und ich will es euch gerne erklären: Lukas hatte von klein auf gelernt, dass es nicht gut war, anders zu sein als die anderen. Denn wer anders war, konnte in der Schar nicht mitlaufen. Die Kirchleitener waren aber lauter Menschen, die am liebsten in der Schar mitliefen. Das hatten sie von ihren Eltern gelernt, und die hatten es ihrerseits von den Großeltern gelernt und immer so weiter, seit es das Dorf gab.
Mit gutem Recht hätte man sagen können, Lukas Anfang habe Vorurteile. Aber er hatte nicht deshalb Vorurteile, weil er denkfaul, dumm oder böse gewesen wäre, sondern weil ihn noch niemand vom Gegenteil überzeugt hatte. Deshalb empfand Lukas Hannahs dunkle Hautfarbe wie einen Makel. Das war dumm. Aber diese Dummheit hinderte ihn nicht daran, später klüger zu werden.
Hannah und Ermias hatten nicht nur eine dunkle Haut; sie gehörten auch zu jenen Fremden, über die die Männer in der Gaststube der Tafelwirtschaft von oben herab sprachen: Diese Ausländer seien nur gekommen, um auf Kosten der fleißigen Deutschen zu leben. Lukas Anfang passte gut auf, was die Männer sagten. Er bewunderte sie, weil sie erwachsen waren und als „fleißige Deutsche“ ihr eigenes Geld verdienten, jenes Geld, mit dem sie ihre Zeche bezahlten und von dem schließlich Lukas´ Eltern und somit auch er selbst lebten.
Zum Glück hatte Lukas eine Mutter, die sogar noch ein wenig gescheiter war als die Männer in der Gaststube. Sie war anders als die meisten Kirchleitener. Denn sie war aus einer großen Stadt im hohen Norden gekommen. Anders als den Afrikanern, nahm ihr niemand übel, dass sie zugewandert war. Sie war eine stets freundliche Wirtin und die beste Köchin in der Gegend. Außerdem war ihre Haut nicht dunkel, sondern weiß. Das war es, worauf die Gäste Wert legten.
Lukas wuchs also in der Tafelwirtschaft auf. Die Tafelwirtschaft war ein geheimnisvolles Gebäude. Das wird in unserer Geschichte noch eine sehr wichtige Rolle spielen. Früher hatte das Gebäude einmal als Gefängnis gedient. Die Gefangenen waren im Kellergewölbe eingesperrt und mussten dort auf ihre Verhandlung warten, die nicht mit ihnen in Kirchleiten selbst, sondern ohne sie in der Residenzstadt stattfand. So war das damals üblich. Für manch einen endete das sehr übel.
Im Keller der Tafelwirtschaft gab es seit langem keine Gefangenen mehr, sondern nur die dicken runden Kirchleitener Kartoffeln und den süffigen Tafelwirtswein. Aber in den Wänden waren noch die verrosteten Verankerungen zu sehen, wo einst die Gefängnisgitter angebracht waren. Das war bei weitem nicht alles: Es gab auch noch eine Abhöranlage. Damit waren vor Jahrhunderten die Gefangenen heimlich belauscht worden. Die Vorrichtung war denkbar einfach. Sie bestand aus gut verborgenen Schächten, die die Verliese mit Räumen im Erdgeschoß verbanden. Außer Lukas und seinen Eltern wusste jedoch niemand davon.
Die großen Ferien
Lukas Anfang führte ein freies Leben. Das kam daher, dass seine Eltern keine Zeit hatten, ständig auf ihn aufzupassen. Lukas war das ganz recht, denn das Dorf war für ihn wie ein großer Abenteuerspielplatz. Es gab viele Kinder, und Lukas war so etwas wie ihr Anführer. Zumindest war er immer vorne dran, wenn es galt, Streiche zu spielen oder sich auf Abenteuer einzulassen. Er war nicht boshaft und wollte niemandem Schaden zufügen. Aber er war unglaublich neugierig. Seine Neugierde verleitete ihn dazu, dumme Dinge anzustellen. Mal fiel er von einem hohen Baum, mal fing er sich selbst mit dem Haken seiner Angel, mal lief er um sein Leben, weil er mit einem Stecken in ein Wespennest gestochert hatte.
Lukas war nicht groß, sondern ziemlich klein, aber wieselflink. Und er konnte laufen wie der Wind, vermutlich deshalb, weil er leicht war wie ein Spatz. So jedenfalls sagte es die Kernbäuerin. Aber das war gar nicht freundlich gemeint. Viel eher wollte sie Lukas ein wenig herabsetzen, damit ihr eigener Sohn, der Andreas, in einem besseren Licht erschien. Andreas Kern war fast genauso alt wie Lukas, aber doppelt so schwer. Er war stärker als Lukas, aber langsamer. Andreas musste schon schnaufen, wenn er nur die Treppe zum Klassenzimmer hinaufstieg. Für Lukas hingegen war kein Baum zu hoch, kein Baumstamm zu glatt: Er kletterte hinauf wie ein Eichkätzchen. Bei aller Verschiedenheit waren die beiden Buben aber doch Freunde.
In den großen Ferien erforschte Lukas die Bäche rund um Kirchleiten. Oder er streifte am Seeufer umher. Dort lagen alte Reifen und Fahrräder im Schilf. Einmal stieß er auf einen Aal, der träge in der Sonne lag und zurück ins Wasser glitt, als Lukas ihn mit einem Stecken anstupste.
Wenn er sonst nicht wusste, was er tun sollte, angelte er in den Fischteichen. Dabei durfte man sich auf keinen Fall erwischen lassen. Sonst drohte großer Ärger. Es gab Teiche mit Forellen und Teiche mit Karpfen und Karauschen. Die Karauschen sind Verwandte der Goldfische. Lukas löste sie vorsichtig vom Haken und warf sie zurück ins Wasser. Die Forellen und Karpfen brachte er seiner Mutter. Die Tafelwirtin fragte nicht lange nach der Herkunft der Fische. Sie war nicht gut im Fragenstellen; aber sie war eine gute Köchin, und Lukas liebte ihre „Karpfen blau“ mit gekochten Erdäpfeln, gehackter Petersilie, einer Prise Muskat, angebräunter Butter und einer großen Portion Mutterliebe.
Einige Sommertage in den großen Ferien waren so heiß, dass Lukas keine Lust auf Angeln oder Umherstreifen hatte. An solchen Tagen ließen er und Andreas Kern sich auf einem Floß, das sie aus Treibholz und Kanistern gebaut hatten, über den See treiben. Manchmal schwammen sie neben dem Floß her, manchmal versuchten sie, bis auf den Grund zu tauchen. Das Wasser in der Tiefe war klar und kalt. Drunten, wo die Dunkelheit beginnt, sahen sie im Dämmerlicht große Steine, unter denen sich uralte Waller versteckten. Die Ergebnisse dieser Fahrten waren verschieden. Mal trieb ihr Floß hinüber nach Wiesen, mal hinunter ins Schilfland, wo der Totenbach in den See mündete. Der Totenbach hieß so, weil er im Kirchleitener Friedhof entsprang.
„Schwarz wie die Nacht“
Braungebrannt und sorgenfrei ließen Lukas Anfang und Andreas Kern das neue Schuljahr auf sich zukommen. Sie besuchten die Grundschule. Diese befand sich nicht in Kirchleiten, sondern in Wiesen, wo auch das Rathaus und die Polizeiinspektion waren. Das war genau auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Lukas war nur ein mittelmäßiger Schüler, nicht, weil er dumm gewesen wäre, sondern weil er keine Zeit zum Lernen hatte. Seine Abenteuer waren ihm wichtiger. Ganz besonders hasste er Hausaufgaben. Aber zwei Fächer liebte er doch: Mathematik und Sport. Denn darin war er der Beste. Deutsch mochte er überhaupt nicht. Wie alle Kinder in Kirchleiten sprach er bairisch und hatte Probleme mit der Schriftsprache.
Dann war der erste Schultag da. Lukas und Andreas kamen in die vierte Klasse. Wie an jedem Schultag, hielt Andreas Kern für Lukas einen Platz neben sich im Schulbus frei. Wie in jedem Schuljahr suchten sich die beiden Freunde ganz hinten im Klassenzimmer zwei Plätze nebeneinander. Andreas Kern und Lukas Anfang waren die coolsten Jungen in der Klasse. Jedenfalls hielten sie sich selbst dafür.
Als Lukas und Andreas den Raum betraten, fiel ihnen sofort auf, dass es zwei Neue gab, einen Buben und ein Mädchen, deren Erscheinungsbild ins Auge stach: Sie hatten krauses Haar, und ihre Haut war schwarz wie die Nacht. So schien es Lukas am Anfang. Die Neuen saßen ganz vorn, starrten auf den Tisch vor sich, der ans Lehrerpult stieß, und wagten es nicht, irgendjemandem in die Augen zu schauen. Man sah, dass sie sich überhaupt nicht wohlfühlten in ihrer dunklen Haut.
„Ich werd´ verrückt: Wir haben zwei Neger in der Klasse!“, rief Lukas. Er rief es mit Absicht so laut, dass jeder in der Klasse es hören konnte. Die Neuen taten, als hätten sie nichts gehört, und Lukas dachte: Ach so, die verstehen wohl kein Deutsch.
„Ich glaube, die haben sich verlaufen. Und das gleich um ein paar tausend Kilometer“, rief Andreas Kern und versuchte, noch lauter und noch cooler zu sein als Lukas. In Wahrheit wirkte er nicht cool, sondern bedrohlich; denn er war größer und viel schwerer als die Neuen. „Jedenfalls gehören sie nicht hierher zu uns!“, rief er, und alle in der Klasse hörten es. Die Kinder grinsten, sagten aber nichts.
Die Neuen rührten sich nicht, sondern schienen immer kleiner zu werden. Andreas stand auf, ging nach vorne und baute sich provokativ neben ihrem Tisch auf. Die Neuen starrten auf ihre Hände.
„Na, ihr Neger, was wollt ihr denn hier bei uns? Ihr habt euch wohl verlaufen?“, sagte Andreas, und Lukas fragte sich, warum sein Freund immer gleich übertreiben musste. Doch das schlechte Beispiel wirkte ansteckend. Denn nun kreischte ein Mädchen in der zweiten Bankreihe los:
„Iiiii-iiiii, schaut euch die an! Die sind ja braun wie Scheiße!“
Einige Mädchen begannen aufgeregt zu kichern. In diesem Augenblick betrat Frau Meier das Klassenzimmer. Sofort wurde es leise.
„Franziska Huber!! So etwas will ich nie wieder hören“, wies die Lehrerin das Mädchen zurecht. Frau Meier wartete, bis alles mucksmäuschenstill war. Dann sprach sie weiter:
„Scheiße gibt´s in diesem Klassenzimmer nur in deinem Mund, Franziska! Schäm dich!“
Auch den vorlauten Andreas Kern knöpfte sich Frau Meier vor:
„Nein, Andreas, die beiden haben sich nicht verlaufen. Sie heißen Ermias und Hannah und gehören jetzt zu uns. Sie haben eine weite gefährliche Reise hinter sich. Ich finde es schön, dass sie es geschafft haben und dass sie jetzt hier sind. Und es ist überhaupt nicht nötig, ihnen zu zeigen, dass du hier drinnen der Coolste bist. Setz dich auf deinen Platz!“
Das saß. Die ganze Klasse hatte Respekt vor Frau Meier.
„Denen werden wir schon noch beibringen, was hier bei uns gespielt wird“, brummte Andreas und schlich sich auf seinen Platz zurück.
„Ob die wohl drunten im Schneiderhaus wohnen? Mama hat erzählt, dass dort Flüchtlinge einquartiert werden“, flüsterte ihm Lukas ins Ohr.
„Bestimmt sind das Kinder von denen“, meinte Andreas. „Ab heute müssen wir gut auf unsere Geldbeutel aufpassen. Neger sind dumm, weil sie mit den Affen verwandt sind. Und sie stehlen wie die Raben, weil sie nix arbeiten.“
Die Klassleiterin Beate Meier stellte der Klasse die neuen Schüler noch einmal vor: Hannah und Ermias seien aus Eritrea gekommen. Sie wohnten zusammen mit ihrer Familie drüben in Kirchleiten. Wie alle anderen Kinder müssten auch sie in die Schule gehen. Und ja, sie würden bereits sehr gut deutsch verstehen. Die Klasse sollte sich deshalb zusammenreißen und sich gut überlegen, welche Wörter sie in den Mund nahm. Beschimpfungen werde sie nicht dulden, so Frau Meier.
„Eritrea ist ein kleines Land in Ostafrika. Früher war es Teil eines sehr viel größeren Lands: Äthiopiens. Leider führt Eritrea schlimme Kriege mit seinen Nachbarn. Deshalb musste die Familie von Hannah und Ermias flüchten“, erklärte Frau Meier.
„Äthiopien ist die Wiege der Menschheit“, rief Lukas nach vorne. Er wusste solche Dinge. Wenn er nicht im Dorf sein Unwesen trieb oder auf Bäume kletterte, steckte er seine Nase in Bücher. Er war ein richtiger Bücherwurm, und er hatte das Glück, sich spielend merken zu können, was er gelesen hatte. Deshalb wusste er: Von Äthiopien aus hatten sich vor langer Zeit die ersten Menschen auf den Weg gemacht, um nach und nach die ganze Welt zu besiedeln. Wenn man es genau betrachtete, stammte die Menschheit von einer einzigen Sippe ab, die in Äthiopien gelebt hatte. Lukas wusste aus seinen Büchern noch mehr: In Äthiopien gab es Kaffee und Weihrauch, Elefanten, Gazellen und Löwen. Außerdem gab es dort Berge, die sogar noch höher als die Berge in Bayern waren.
Lukas überlegte, ob Hannah und Ermias ihnen ein wenig ähnelten - den ersten Menschen. Er fand diesen Gedanken aufregend und wurde neugierig auf die Zwillinge. Und er nahm sich vor, sie nach Schulschluss anzusprechen.
„He, das ist cool: Bei euch stand die Wiege der Menschheit“, sagte Lukas zu Ermias nach dem letzten Gong. Etwas Gescheiteres fiel ihm nicht ein, um Bekanntschaft mit ihm und seiner Schwester zu knüpfen. Ermias grinste, schwieg aber. Er war ziemlich schüchtern. Stattdessen antwortete Hannah, die anscheinend das Wort führte.
„Ja, stimmt. Aber du solltest auch wissen, dass die ersten Menschen nicht wie wir, sondern wie du ausgesehen haben. Sie waren weiß. So schön dunkel wie wir sind Menschen erst viel später geworden, als sie begannen, sich weiterzuentwickeln.“
Lukas fand, das klang frech. Diese Hannah war nicht aufs Maul gefallen. Das imponierte ihm.
Das Schneiderhaus
Es dauerte nicht lange, bis Lukas Anfang und Andreas Kern es herausfanden: Hannah und Ermias wohnten tatsächlich im alten Schneiderhaus drunten am See. Dort waren mehrere Familien aus Afrika und Afghanistan einquartiert worden - etwa zwanzig Menschen.
Der Name „Schneiderhaus“ war kein Zufall. In dem Haus hatte früher tatsächlich einmal ein Schneider gewohnt, der letzte Schneider im Dorf, ein armer Schlucker. Noch heute erzählten die Leute, dass er Hunde geschlachtet hatte. Stellt euch das vor: Es gibt Menschen, die so arm sind, dass sie Hunde schlachten! So etwas faszinierte Lukas. Aus reiner Neugier war er im letzten Jahr durch ein kaputtes Fenster ins Schneiderhaus eingedrungen. Dort roch es seltsam und streng. Es stank nach gekochtem Hund, war Lukas sich sicher, und das Haus wurde ihm ein wenig unheimlich. Es gab dort nichts außer einer Eidechse, die eine Wand hinauflief, und Eimern mit eingetrockneter Farbe. Der Rasenplatz hinter dem Haus war von Brennnesseln bedeckt und mit Haselnusssträuchern zugewachsen. Auch einen morschen Bootssteg gab es, der sehr weit in den See hineinragte.
Bald nach Lukas´ heimlichem Besuch wurde das alte Gebäude aus seinem Dornröschenschlaf gerissen: Im Frühjahr ließ die Gemeinde das Schneiderhaus sanieren und erweitern, den Steg reparieren, den Rasenplatz umackern und neu einsäen. In der Bürgerversammlung berichtete Bürgermeister Sebastian Kastenhuber, was es damit auf sich hatte: Die Gemeinde werde im Schneiderhaus Asylbewerber unterbringen. Sie sei in der Pflicht. Der Landkreis habe ihr ein Kontingent von zwanzig Zuwanderern zugewiesen, da könne man nichts machen.
Asylbewerber hießen diejenigen Flüchtlinge, die nicht nur auf der Durchreise Station in Deutschland machten, sondern einen Asylantrag stellten, um für immer bleiben zu können. Auch die Eltern von Hannah und Ermias hatten einen Asylantrag gestellt. Flüchtlinge aus Eritrea hätten gute Chancen, als Asylbewerber anerkannt zu werden, wusste Bürgermeister Kastenhuber. Lukas war dabei, als er es seinen Eltern in der Wirtshausküche erzählte.
„Ich hoffe, sie können bleiben!“, sagte die Tafelwirtin zu Lukas.
„Aber Mama, das sind ja lauter Neger“, entgegnete Lukas.
„Du dummer Bub“, sagte die Tafelwirtin. „Deine Vorfahren waren ja auch nicht lauter Deutsche. Ich selbst komme aus Sankt Petersburg. Deine Vorfahren mütterlicherseits sind alle Russen und Finnen. Ein Großvater deines Vaters kam aus Italien, ein anderer aus Österreich. Du bist eine Promenadenmischung, Lukas Anfang!“
„Ein österreichischer Urgroßvater! Es ist schon hart, mit einer solchen Bürde leben zu müssen“, grinste Lukas. Seine Mutter merkte, dass er sie auf den Arm nehmen wollte, und knuffte ihn in die Seite.
Das Kampfflugzeug
Schon sehr bald begann Lukas, die Anwesenheit von Hannah und Ermias in der Klasse als Herausforderung zu empfinden. Sie waren zwar nicht gefährlich, im Gegenteil: Beide waren schüchtern und sehr still. Es ging um etwas anderes: Beide machten Lukas ausgerechnet in seinen Lieblingsfächern Konkurrenz. Seit Hannah da war, sah Lukas seine Stellung als allerbester Kopfrechner der Klasse in Gefahr. Das war schon etwas Unerhörtes.
Lukas liebte die Mathestunden noch mehr als die Sportstunden. Er war nicht nur im Turnen, sondern auch im Denken wieselflink und stets schneller als die anderen. Er hatte einen Kopf für Zahlen und sehr viel Übung im Kopfrechnen. Er selbst hielt sich für ein Mathegenie oder zumindest für den besten Kopfrechner in der Klasse. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihm diese Ehre streitig zu machen.
Dann tauchte Hannah auf. Es stellte sich sofort heraus, dass Hannah im Kopfrechnen ebenfalls ein Genie war. Andreas Kern hatte also nicht Recht, wenn er sagte, dass Menschen aus Afrika dümmer sind als die Kirchleitener. Ausgerechnet ein Flüchtlingskind aus Afrika konnte genauso schnell denken wie Lukas. Bei den endlosen Kettenrechnungen, die Frau Meier den Kindern in jeder Mathestunde stellte, war Hannah schneller als Lukas, und ihre Ergebnisse waren selbst dann richtig, wenn Lukas sich einmal verrechnet hatte, weil die Aufgabe zu schwer gewesen war.
Frau Meier liebte es, die Schüler mit Kettenrechnungen zu „quälen“.
„Mehr braucht ihr nicht: Ihr müsst rechnen, schreiben und lesen können. Dann fehlt es nicht mehr weit“, pflegte sie zu sagen. „Und vergesst nicht: Heuer entscheidet es sich, wer von euch aufs Gymnasium kann. Also strengt euch an!“