Hannes und Julius - Norbert Lingen - E-Book

Hannes und Julius E-Book

Norbert Lingen

0,0

Beschreibung

Hannes und Julius kennen sich schon seit dem Kindergarten und gehen gemeinsam in die gleiche Klasse. Die beiden Kinder sagen von sich, dass sie ein tolles Team sind. Sie wohnen in Neuwerk, direkt am Marktplatz, auf dem zweimal am Jahr die Kirmes stattfindet. Hier ereilt Hannes sein erstes Pech, als er auf der panischen Flucht vor einem bösen Kirmesmann im schnellsten Sprint die Haustüre nicht ganz erwischt. Die Platzwunde muss genäht werden, was ihm, weil er wegen der eingesparten Betäubungsspritze heftig weinte, den Schimpfnamen Flaschenkopf vom Arzt einbringt. Doch so etwas hält unsere beiden Helden nicht auf. Die beiden sind im erzkatholischen Neuwerk auch Messdiener, wie eigentlich alle Jungs in ihrem Alter. Hannes glaubt ganz stark an Gott und so versieht er nicht nur seinen Messdienst sehr sorgfältig, sondern spielt auch mit den anderen Kindern, nur die evangelischen dürfen nicht mitspielen, im Garten Prozession, was gravierende Folgen für den Blumenschmuck in Opas Beeten hat. Es gibt auch herzzerreißende Ereignisse, zum Beispiel als Hannes kleine Freundin Susanne plötzlich stirbt und Hannes und Julius in ihrer Trauer erst recht auf ihr tolles Team schwören. In den Sommerferien ist ihr Einfallsreichtum nicht zu stoppen. Sie werden sie Wissenschaftler und wollen das Innere der Erde erforschen. So graben sie bis zum Grundwasser, als ihnen das Wasser von oben einen Strich durch die Rechnung macht. Sie "leihen" sich Opas Obstkisten aus und konstruieren daraus ein tolles Haus. Der abschließende rote Farbanstrich hat Opa aber nicht überzeugt. Dass Hannes und Julius am Ende genauso rot waren wie das Haus, hat die Sache nicht besser gemacht. Mit viel Humor werden Jugenderinnerungen aus dem Alltag des Autors erzählt, lustige und spannende Abenteuer einer Kindheit in den sechziger Jahren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 188

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Hannes und Julius

Titel Seite1Zu Beginn2Hier leben Hannes und Julius3Der Flaschenkopf4Piraten am Marktplatz5Omas Unterhose6Das Baumhaus7Im Schrebergarten8Die Prozession9Messdiener10Susanne11Der Schäferwagen12Busfahren im Park13Die Tanzschule14Bis zum Grundwasser15Urlaub in Italien16Sonntags auf dem Friedhof17Die neue Waschmaschine18Rote Kisten19Das Maleratelier20Im Kohlenkeller21Der „Arschtritt“22Der brennende Kochtopf23Der Weihnachtsabend24Das war’s fürs erste

Hannes und Julius

Geschichten von Piratenund Flaschenköpfen

Norbert Lingen

© 2021 Norbert Lingen

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch

Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung

des Verfassers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagentwurf Norbert Lingen

Zu Beginn

Geschichten, die so oder so ähnlich zu allen Zeiten geschehen. Kinder gestalten, wenn man sie nur lässt, ihre Kindheit aktiv und positiv. Sie sind einfallsreich, rücksichtslos bei der Durchsetzung ihrer Ziele und kreativ beim Einsatz der notwendigen Mittel. Topmanager könnten den ein oder anderen taktischen Winkelzug von ihnen lernen. Kinder schaffen es, Spaß zu haben und dabei Lebenserfahrung zu sammeln. Sie gehen Risiken ein, die Erwachsene sich niemals trauen würden. Dabei haben sie erfreulicherweise meist eine riesengroße Portion Glück. Die kleinen, manchmal auch blutigen Missgeschicke, machen sie stärker und schaden letztlich nicht.

Für die Erwachsenen ist das kein Kinderspiel. Sie erleben mit ihren Kindern ein auf und ab von mittleren Katastrophen, kleinen Dramen und Verhängnissen. Aber auch heitere und fröhliche Augenblicke, nachdem ihr erster Ärger verflogen ist.

Die folgenden Geschichten von Hannes und Julius beschreiben gescheite Kinderideen, deren nicht immer so geniale Umsetzung und die große Lebensfreude als Quell der Inspiration. Auf jeden Fall haben es die beiden immer gut gemeint.

Norbert Lingen

*

Hier leben Hannes und Julius

Hannes und Julius sind dicke Freunde. Sie sind immer zusammen, wie zwei Brüder. Hannes kann sich an keinen Tag erinnern, den er nicht mit Julius verbracht hätte. Sie besuchen die 3b der Katholischen Grundschule. Sie waren schon gemeinsam im Kindergarten. Hannes hat dunkle, aber nicht ganz schwarze, Haare. Seine braunen Augen glitzern meist lustig, die Nase ist vielleicht etwas zu dick. Auch die Ohren stehen ein wenig zu sehr ab. Alle sagen, dass er „auf Mama kommt“ oder „Du bist ganz die Mama“. Hannes spielt für sein Leben gerne Fußball, aber so richtig sportlich ist er nicht. Jedenfalls hat er es noch nie geschafft im Sportunterricht das Kletterseil hoch zu kraxeln oder weiter als fünf Meter zu springen. Dafür ist Hannes ein schlauer Kerl, aber faul. In der Schule hört er immer wieder, er könne doch eigentlich viel mehr als er zeige. Hannes liebt Bücher. Er liest viel und kennt alle wichtigen Abenteurer, Ritter und Piraten der Weltliteratur. Auch malt und bastelt er gerne. Alle sagen er habe Talent. Das gilt auch für Musik und singen. Im Winter trägt er eine lange Lederkniebundhose und im Sommer eine kurze Lederhose. Mama findet das praktisch, denn die Lederhosen müssen nicht gewaschen werden. Hannes ist es egal, denn sein eigenes Aussehen interessiert ihn nicht besonders.

Julius hat blonde Haare, ist drahtig, sportlich und ein guter Fußballspieler. Er hat Sommersprossen auf der Nase und seine blauen Augen blicken vergnügt in die Welt. Julius ist lebhaft und erfindungsreich. Er will Forscher werden und ist entsprechend neugierig. Allerdings ist er in der Schule auch nicht fleißiger als Hannes. Sonst hätten sie auch zu wenig gemeinsame Freizeit. Er ist ebenso wie Hannes gekleidet. So kann man wenigstens erkennen, dass sie dicke Freunde sind.

Die beiden sind Nachbarn. Hannes wohnt in der Dämmerstraße 164 und Julius links daneben im Haus mit der Nummer 162. Hinter den Häusern ist der gepflasterte Hof, der durch einen Maschendrahtzaun getrennt ist. Der Zaun verläuft auf einem Sockel, dem Mäuerchen. Auf ihm sitzen die beiden meist und können miteinander reden, spielen oder die täglichen Verabredungen treffen. Das ist ihr Treffpunkt. Hannes und seine Familie wohnen im ersten Stock. Unten im Erdgeschoss wohnen Oma und Opa. Oma ist immer zu Hause. Opa arbeitet in der Fabrik und danach ist werkelt er in seinem Garten, entweder hinter dem Haus oder in seinem Schrebergarten. Bei Julius ist es das gleiche. Er wohnt mit seinen Geschwistern und Eltern auch im ersten Stock und die Oma wohnt im Erdgeschoss. Julius‘ Opa ist schon tot.

Sie wohnen in Reihenhäusern, die in einem Hufeisen um einen großen Platz, dem Marktplatz, stehen. Die Häuser sind aus rotem Ziegel und haben schwarze Dachpfannen. Die Fenster sind mit rot grünen Fensterläden versehen. Am Badezimmerfenster über der Haustüre gibt es einen Fahnenständer. Die Fahne wird an hohen Feiertagen herausgehängt. Das ist zur Fronleichnamsprozession, weil die Prozession jedes Jahr am Marktplatz vorbeizieht und zur Kirmes. Der Marktplatz ist nicht bebaut. Dort findet zweimal im Jahr die Kirmes statt, im Frühjahr die Frühkirmes und im Herbst die Spätkirmes. Irgendwann später wird auf diesem Platz ein Park angelegt werden mit Wiesen, Bäumen, Büschen, Wegen und Bänken zum Sitzen. Im Grunde nur für Erwachsene, aber das stört die Kinder beim Spielen nicht weiter.

Neben Mama und Papa hat Hannes einen Bruder und eine Schwester. Mit seinem Bruder versteht er sich prächtig. Sie spielen oft zusammen. Er heißt Kalli und ist zwei Jahre jünger als Hannes. Kalli ist der kleine Liebling der Familie. Hannes hat das Gefühl, dass der kleine Süße vor allem bei Oma mit allem durchkommt. Opa sagt, Kalli sei verwöhnt. Das meinen Hannes und seine Schwester auch. Kalli bekommt immer Wutanfälle, wenn etwas nicht nach seinem Kopf geht. Sonst ist Kalli lebhaft und kaum zu bändigen. Mama nennt ihn deswegen Höppel.

Hannes Schwester ist ein Jahr älter als er. Sie heißt Maxie und hat immer recht. Maxie führt das Kommando unter den Dreien. Sie ist ordentlich und hat ihr Zimmer immer aufgeräumt. Sie ist fleißig, hat immer Geld und sie weiß was sie will. Obwohl sie meistens nervt, bewundert Hannes sie auch. Sie traut sich was, wenn es um die Meinungsfreiheit in der Familie geht. Papa sagt immer:

„Wer seine Füße unter meinen Tisch stellt, der macht auch das was ich sage.“

Dieser Meinung war Maxie noch nie, denn Papa kann schließlich nicht immer Recht haben. Das gab manchmal Riesenärger mit Papa. Maxie sorgt auch dafür, dass Hannes und Kalli ihre kleinen täglichen Pflichten im Haushalt ordentlich erledigen. Dafür wird sie nicht gerade geliebt von den beiden. Aber Mama muss arbeiten und hat wenig Zeit für den Haushalt. Papa behauptet, zwei linke Hände zu haben und er sieht die Hausarbeit auch nicht als seine Aufgabe an. So ist es wohl richtig von Maxie, Mama unter die Arme zu greifen.

Die beiden Jungs Hannes und Kalli sind gerne unten bei Oma und Opa. Oma besitzt eine weiße, goldverzierte Blechdose mit Deckel. Dort bewahrt sie kleine Leckereien, wie Haribo-Konfekt, Gummibärchen oder Zuckerbonbons auf. Jeden Tag dürfen die Kinder herunterkommen und sich eine Süßigkeit aus der wertvollen Blechdose aussuchen. Sie steht bei Oma im Küchenschrank. „Wir holen Lakritz bei der Oma“ heißt es immer. Sie achten darauf, dass sie keinen Tag verpassen. Manchmal aber ist Kalli, der kleinste in der Familie, der schnellste und holt gleich für Hannes und Maxie die Süßigkeit mit, die er, bis er oben ist, schon aufgefuttert hat. Das hat für Kalli nie irgendwelche Folgen, weil ihm, dem kleinen süßen Jungen, eine solche Niedertracht von den Erwachsenen nicht zugetraut wird. Da können Hannes und Maxie meckern, schimpfen und weinen wie sie wollen. An solchen Tagen gibt es für sie keine Süßigkeit von unten.

Die liebste Beschäftigung der beiden Freunde Hannes und Julius ist Fußballspielen. Jeden Tag nach der Schule sind sie verabredet zum Fußballspiel. Zuerst die Hausaufgaben, dann auf die Fahrräder schwingen, den Fußball auf den Gepäckträger geklemmt und los geht’s zum Bolzplatz. Der ist nur einige hundert Meter weg.

„Heute spielen wir auf ein Tor“, ruft Julius und springt von seinem Fahrrad.

„Ok“, sagt Hannes „Ich greife zuerst an.“

Und Hannes legt sich den Ball am Anstoßpunkt in der Mitte des Bolzplatzes zurecht. Den Anstoßpunkt und alle anderen Linien muss man sich vorstellen, denn der Platz ist ein echter Acker, mit einigen Grasinseln, aber sonst nur die blanke Erde. Vor den Toren ist der Boden besonders stark beansprucht, so dass sich dort leichte Kuhlen gebildet haben, die sich nach einem Regenguss in große Pfützen verwandeln. Dann macht das Spielen besonderen Spaß. Speziell die Torwartparaden arten manchmal in eine wahre Schlammschlacht aus. Mama ist nicht begeistert über die zusätzliche Wäsche, was für die Jungs aber nichts ändert.

Abwechselnd wird angegriffen und verteidigt. Hannes greift als erster an. Er läuft los und Julius steht mit angewinkelten Knien verteidigungsbereit in seinem Tor. Julius ist ein guter Torwart und Hannes scheitert beim ersten Anlauf an Julius‘ guter Reaktion. Gewechselt wird immer erst wenn ein Tor gefallen ist.

Hannes greift wieder an und Julius springt in die rechte Ecke. Er erreicht den Ball noch mit den Fingerspitzen. Kein Tor, aber eine Ecke.

„Drei Ecken, Elfmeter“, ruft Hannes.

Geht der Ball dreimal über die Torauslinie gibt es einen Elfer. Beim nächsten Angriff verzichtet Hannes auf einen Fernschuss, sondern umdribbelt Julius und schießt sein Tor. Er jubelt ordentlich und stellt sich dann seinerseits ins Tor. So geht es den ganzen Nachmittag hin und her.

Oft kommen auch noch andere Jungs aus der Nachbarschaft. Dann können sie Mannschaften bilden und echte Fußballspiele ausrichten. Das macht am meisten Spaß. Hannes Bruder Kalli ist oft dabei, auch der Uli von nebenan und die beiden Brüder Harald und Roland, mit denen Hannes eigentlich nicht spielen darf, weil sie evangelisch sind. Aber wenn sie eine Mannschaft brauchen und nicht genügend Kinder da sind, setzen sie sich schon einmal über das Verbot hinweg, zumal Hannes es sowieso nicht versteht. Hannes ist Messdiener und hört in der Kirche immer, dass Jesus alle Menschen gleichbehandelt. Warum dann nicht auch die evangelischen? Außerdem ist der Bolzplatz so weit weg von zu Hause, dass es von den Erwachsenen niemand mitbekommt.

Wenn es Abend wird, nehmen Julius und Hannes den Ball, steigen auf ihre Fahrräder und fahren nach Hause.

Morgens ist Mama arbeiten. Dann kümmert sich Oma darum, dass Hannes und Kalli in die Schule kommen. Kalli ist Erstklässler. Das erkennt man an dem kleinen Schwämmchen, das aus seinem Lederranzen an einer Schnur heraushängt. Er braucht es, um die Schiefertafel, auf der Erst- und Zweitklässler schreiben und rechnen üben, sauber zu machen. Die eine Seite der Tafel ist mit karierten Linien zum Rechnen versehen, die andere Seite mit Linien zum Schreiben.

Hannes ist froh, dass er als Drittklässler nun Hefte und einen Füller benutzen kann. Da kommt man sich nicht mehr so klein vor. Außerdem zerbrechen die Schiefertafeln ab und zu. Hannes ist das ein oder zweimal auf dem Schulweg passiert.

Zur Schule müssen alle Kinder an einem Haus vorbei, in dem eine asoziale Familie wohnt. Das erkennt man daran, sagt Papa, dass die Familie sechs Jungs hat, die alle in der Schule schon sitzen geblieben sind. Die sechs Jungs sind eine gefühlte Gefahr für die Schulkinder, die jeden Tag hoffen, ohne Androhung von Prügel oder Beschimpfung an diesem Haus vorbei zu kommen. Hannes und Julius sind keine Schläger, so dass sie jeden Mittag etwas ängstlich versuchen, möglichst unbeschadet an diesem Haus vorbei zu kommen. Wenn sich jemand von den Rabauken blicken lässt, siegt der Fluchtinstinkt, so dass die Schiefertafel auf der Flucht ein oder zweimal zu Bruch gegangen ist.

Hannes versteht nicht genau, was mit asozial gemeint ist, außer, dass man Angst vor Prügel haben muss. Einer der sechs Jungs ist in Hannes’ und Julius‘ Klasse. Er heißt Friedel. Er kommt immer zu spät, hat nie seine Hausaufgaben gemacht und fehlt oft. Aber er hat den beiden noch nie Prügel angedroht und ist eigentlich ganz nett, wenn man mit ihm spricht. Hannes und Friedel freunden sich ein wenig an. Später geht es soweit, dass Hannes und Julius durch Friedel einen Schutzstatus bekommen, so dass sie immer ungehindert an diesem gefährlichen Haus vorbei gehen können.

Hannes und Julius wohnen in Neuwerk. Neuwerk gehört zu einer Großstadt am Niederrhein, ist aber in Wirklichkeit ein Dorf mit einer alten Klosterkirche mit Kloster und Krankenhaus, einer neuen Pfarrkirche, einem Friedhof und vielen Wohnhäusern. Rund um den Marktplatz gibt es einige Geschäfte, wo Hannes häufiger einkaufen muss. Neben dem Milchladen Meisen und dem Bäcker Gülden kauft Hannes im kleinen Lebensmittelgeschäft von Frau Siemes, das immer Bismarckheringe und Matjes in der Auslage anbietet. Gegenüber ist der Metzger Van de Kraan, wo Hannes meistens am Samstag Panhas holt. Schauten ist eines der Lieblingsgeschäfte der Schulkinder, weil dort Schulhefte und Stifte, aber vor allem Süßigkeiten verkauft werden. Zur Fastnachtszeit gibt es dort künstliche Schnurrbärte und Masken. Schwarze Zylinder liegen ganz oben im Regal und die gibt es seltsamerweise während des ganzen Jahres dort. Die sind wohl nicht zum Verkleiden. Eine Straße weiter befindet sich der beste Laden, der Spielzeugladen Adrians. Dort kaufen Hannes und Julius zu Fastnacht immer die Munition für ihre Flänchen- und Schreckschusspistolen. Sonst geben sie ihr Taschengeld für Matchbox Autos und für ihre Fahrräder aus. Beide haben schon Fuchsschwänze, die an einer langen Stange seitlich hinter dem Sattel befestigt sind, bunte Nabenputzer aus Filz sowie Speziallenkergriffe aus Leder mit bunten Plastikbändern an den äußeren Enden. Einen Tacho und einen Kilometerzähler haben beide ebenfalls. Der große Traum für Hannes und Julius ist ein Bananensattel, wie die Bonanzaräder einen haben. Aber dafür reicht bisher das Geld nicht. Hannes hat versucht, sich bei seiner Schwester Maxie Geld zu leihen, worauf sie sich aber - wie immer - nicht eingelassen hat.

Hannes und Julius verstehen sich blind. Sie sind eben beste Freunde. Es ist immer ein besonderer Moment, wenn Hannes und Julius eine neue Idee aushecken. Dann ruft einer der beiden immer:

„Was sind wir?“

„Ein tolles Team“, antworten beide mit voller Begeisterung und klatschen ihre beiden rechten Handflächen ab. Das ist der Moment wo alle Welt sicher sein kann, dass bald etwas passieren wird.

*

3Der Flaschenkopf

Es ist Frühling, die Frühkirmes steht vor Tür und das im wahrsten Sinne des Wortes. Steht doch die „Raupe“ jedes Mal direkt vor Hannes Haustür. Von den großen Lastzügen mit den Teilen für die Fahrgeschäfte kommen jeden Tag mehr. Hannes und Julius haben sich nach der Schule verabredet. Sie müssen unbedingt wissen, was in diesem Jahr die Kirmes zu bieten hat. Sie haben abends vorher im Hof auf ihrem Mäuerchen gesessen und spekuliert, welche Fahrgeschäfte wohl kommen würden.

„Hoffentlich kommt dieses Jahr endlich einmal ein Riesenrad“, träumt Hannes.

„Niemals“, sagt Julius, „das gab es noch nie in Neuwerk. Da müssten wir nach Düsseldorf fahren“.

„Aber dann wenigstens eine Achterbahn, die war auch noch nie hier.“

„Ja, das wäre toll“, aber Julius glaubt nicht daran.

„Ganz sicher kommt wieder die Raupe“, meint Hannes. Die steht immer direkt vor seiner Haustüre

„Und ein Selbstfahrer“, ruft Julius.

„Die Raketen, die man rauf und runter steuern kann, kommen sicher auch wieder.“

„Weißt du was? Morgen direkt nach der Schule gehen wir über den Marktplatz und schauen was los ist. Dann werden die meisten Lastwagen schon da sein“, schlägt Hannes vor und Julius stimmt begeistert zu.

„Was sind wir?“, ruft Julius.

„Ein tolles Team“, brüllen beide und schlagen die Handflächen der rechten Hand gegeneinander und schlendern zufrieden nach Hause.

Die Schule am nächsten Morgen dauert besonders lange und richtig bei der Sache sind die beiden nicht. So gibt es einige strenge Ermahnungen von Fräulein Hörkens, der Klassenlehrerin der beiden. Sobald es zum Schulende klingelt, rennen die beiden los. Sie wollen noch vor dem Mittagessen eine Runde über den Platz drehen.

Hannes und Julius wissen gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollen und streunen über den Marktplatz.

„Schau mal dort, sind das nicht die Teile für die Raupe?“, fragte Julius.

„Ja“, meint Hannes.

Er erkennt die bunten Wagen, die hintereinander auf das Karussell gebaut werden und im Kreis fahren. Dabei geht es sehr schnell bergauf und bergab und wenn das Verdeck zugeht, was die älteren Pärchen unverständlicherweise besonders mögen, sieht es tatsächlich wie eine sich schlängelnde Raupe aus.

„Sieh mal, dahinten werden die Selbstfahrer aufgebaut“, ruft Julius.

Sie rennen gleich hin, denn der Autoscooter ist der absolute Hit bei den Kindern. Sie schauen sich alles genau an, wie die Kirmesleute die Teile aus den großen Anhängern laden, zum Platz tragen und zusammenbauen. Sie achten darauf, dass sie den Kirmesmännern nicht in Quere kommen. Die sehen nicht sehr vertrauenerweckend aus. Mama hat Hannes immer vor den Kirmesleuten gewarnt.

„Komm den Kirmesmännern nicht zu nahe. Die schnappen dich und nehmen dich mit. Dann musst du dein ganzes Leben lang herumziehen und Karussells aufbauen“, hat Mama Hannes nicht nur einmal gewarnt.

Das hat auch mächtig Eindruck auf Hannes gemacht. Die Kirmesmänner, in ihren schmutzigen Jeanshosen, mit ihren muskulösen Armen, kräftigen Händen und langen Haaren sehen schon gefährlich aus. Das Herumziehen und ein Leben lang Karussells aufzubauen, stellt er sich dagegen gar nicht so schrecklich vor. Trotzdem ist ein Heidenrespekt vor den Kirmesmännern geblieben und er hält sich von ihnen so gut es geht fern.

Jetzt sehen Hannes und Julius den Lastwagen mit den Überschlagschaukeln. Das sind die Schaukeln für Größere, mit denen man, im Gegensatz zu den Schiffschaukeln, einen vollständigen Überschlag hinbekommt. Sie rennen hin. Hannes passt einen Moment nicht auf und läuft einem Kirmesmann vor die Füße, der die lange und schwere Stange, die er trägt, fallen lassen muss, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Er flucht mit seiner tiefen und lauten Stimme und macht sich an die Verfolgung von Hannes.

„Verfluchter Bengel. Kannst du nicht aufpassen wo du hinläufst. Wenn ich dich erwische dann gibt’s aber was.“

Hannes kriegt Panik. Jetzt laufen alle Schauergeschichten, die er von Mama und Papa und auch von Oma über böse Kirmesmänner gehört hat, wie ein Film in seinem Kopf ab. Er kann nicht mehr klar denken und rennt blind los. Vor lauter Angst ist er nicht mehr Herr seiner Sinne. Ihm rast nur noch ein Gedanke durch den Kopf.

„Hoffentlich kriegt der mich nicht. Ich will nicht entführt werden.“

Er rast in Richtung seiner Haustüre. Die ist zum Glück nicht weit weg. Er bemerkt nicht, dass der Kirmesmann mit einer abfälligen Handbewegung die Verfolgung abgebrochen hat und sich wieder seiner Arbeit zuwendet. Hannes hastet blind weiter. Er will nur noch in die schützenden Arme von Mama oder Oma.

Nun sind die Eingangstüren von Hannes’ und Julius‘ Reihenhäusern innenliegend. In der Maueröffnung befindet sich eine Treppe mit vier Stufen und Podest, an dessen Ende sich die Haustüre befindet. In seiner blinden Kopflosigkeit und seiner Verzweiflung rennt er auf die Maueröffnung zu. Er will die vier Stufen in zwei Schritten nehmen und ganz schnell klingeln. Doch er trifft die Maueröffnung nicht. Er donnert mit seinem Kopf gewaltig gegen die Mauerecke. Es gibt einen mächtigen Schlag. Das heftige Dröhnen im Schädel hört so schnell nicht wieder auf. Er wird panisch als er das Blut über sein Gesicht fließen spürt. Er klingelt hektisch und klopft gegen die hölzerne Haustüre. Jetzt hört er Oma, die nicht mehr so schnell kann, etwas vor sich hin brummelnd wie „Alles mit der Ruhe“, zur Haustüre kommen.

Sie öffnet die Haustüre und bekommt einen Riesenschrecken als sie den blutüberströmten Enkel herzzerreißend weinend vor sich stehen sieht. Sie ruft sofort Mama, die zum Glück zu Hause ist. Sie greift sich Hannes an der Hand und die beiden laufen über den Marktplatz, mitten zwischen den halb aufgebauten Karussells und den düsteren Kirmesmännern hindurch, zum gegenüberliegenden Krankenhaus. Mama ist Krankenschwester im Neuwerker Krankenhaus und kommt deshalb ganz schnell hinein und weiß auch wo sie hin muss. Sie laufen in die Unfallambulanz. Dort ist der diensthabende Chirurg gleich zu Stelle. Er schaut sich die Wunde an Hannes Schläfe an, der immer noch schluchzt und schnieft.

„Mensch Junge, stell dich nicht so an. Das ist eine kleine Platzwunde. Die muss nur schnell genäht werden.“

Alles wird für die Operation vorbereitet. So langsam beginnt die Wunde an Hannes’ Kopf zu pochen. Er ist immer noch völlig durcheinander wegen des Riesenschreckens vor dem Kirmesmann. Der Arzt muss zuerst die Wunde desinfizieren und bestreicht sie mit Jod.

„Aua“ brüllt Hannes und zuckt zusammen, weil das fürchterlich brennt.

„Meine Güte“ schimpft der Arzt, „Du bist doch ein großer Junge. Da weint man nicht.“

Nun nimmt er die gebogene Nadel und einen Faden und will zu nähen beginnen. Mama unterbricht den Arzt und fragt:

„Bekommt der Junge denn keine Betäubungsspritze?“

„Nein, das ist doch nur eine Kleinigkeit. Zwei, drei Stiche und die Sache ist vorbei. Ihr Junge soll sich mal nicht so anstellen“, und er sticht zu.

Hannes brüllt auf. Das sind die schlimmsten Schmerzen, die er je hat aushalten müssen. Mit jedem Stich tut es wieder weh. Und er schreit und schreit und schreit.

Der Arzt ist, nachdem er seine Arbeit abgeschlossen hat, richtiggehend wütend und beschimpft Hannes mit den Worten:

„Du bist ein Flaschenkopf“, und stürmt aus der Ambulanz.

Die Ambulanzschwester schüttelt nur den Kopf und flüstert meiner Mama zu:

„Ein richtiger Metzger“, und verbindet Hannes die Wunde an der linken Schläfe.

Mama und Hannes gehen Arm in Arm nach Hause, wieder über den großen Kirmesplatz bis zu ihrem Haus. Sie gehen zusammen die Treppe zur Haustüre hoch und Mama lacht:

„Siehst du jetzt haben wir die Treppe getroffen, ohne die Mauer zu streifen.“

Hannes findet diese Bemerkung gar nicht lustig. Sie gehen hoch und Hannes geht gleich ins Bett. Seine Wunde pocht gewaltig und er kann nicht auf der rechten Seite liegen. So schläft er mehr schlecht als recht. Beim Frühstück denkt er über die gestrigen Vorkommnisse nach.

Zweifellos ist Hannes die ganze Geschichte unangenehm. Er kann doch in der Schule und beim Fußball nicht erzählen, dass er den Eingang des Hauses nicht genau getroffen hat. Und die panische Angst vor dem Kirmesmann geht ja auch niemanden etwas an. Darüber muss er mit Julius, denn er war schließlich Zeuge der Ereignisse, noch beraten.

*

Piraten am Marktplatz

Wenn die Kirmes wieder abgebaut ist, präsentiert sich der Marktplatz als eine graue, leere und nicht asphaltierte Fläche. Sie ist nicht ganz eben. Es gibt einige großflächige leichte Vertiefungen, die sich nach anhaltendem Regen, den es ins Neuwerk häufig gibt, in riesengroße Pfützen verwandeln. Wenn die Pfützen riesig und richtig tief sind, geht Hannes das Wasser bis knapp unters Knie.

Nach der Schule stehen Hannes und Julius am Strand des riesigen Weltmeeres auf dem Marktplatz.

„Wir spielen Piraten“, schlägt Hannes vor.

Also verwandeln Hannes und Julius sich in gefährliche Piraten auf den sieben Weltmeeren. Die größte Pfütze hat in der Mitte eine Insel, die als Schatzinsel und Piratenschlupfwinkel dient. Piraten benötigen auch Piratenschiffe. Hier kann Hannes’ Opa helfen. Oma sagt immer, dass Opa ein Jäger und Sammler sei, der nichts liegen lassen könne. Wenn Sperrmüll ist, ist Opa mit seinem Fahrrad mit Anhänger unterwegs und schafft Sachen mit dem Kommentar: „Das kann man sicher noch einmal brauchen“, in den Keller oder in den Stall hinter dem Haus.

So sind Holzbretter bei Opa niemals knapp. Nägel gibt es in rauen Mengen, denn Opa hat die Angewohnheit, alte und rostige Nägel aus den gesammelten Brettern mit der Kneifzange heraus zu ziehen und zu sammeln. Die könnte man ja noch mal brauchen.

Material für ein oder zwei Piratenschiffe ist also grundsätzlich verfügbar. Es ist allerdings in Besitz von Hannes‘ Opa, was mit allen Wassern gewaschene Piraten nicht weiter kümmert. Hannes und Julius suchen sich einige große Bretter aus, nageln hier und dort etwas hin und schleppen ihre Piratenschiffe zum Stapellauf an die Küste des unendlichen Ozeans. Das ist ein mühsames Unterfangen, die schweren Schiffe über Land bis an die Küste zu bringen. Hannes und Julius kriegen das ohne weiteres hin. An der Küste angekommen, werden die Piratenschiffe getauft.

Hannes: „Ich taufe dich auf den Namen ‚Eagle‘, auf das immer eine Handbreit Wasser unter deinem Kiel sei.“

Julius holt mit seinem Arm weit aus und wirft die imaginäre Flasche an den nicht vorhandenen Rumpf des Piratenschiffes und ruft mit tiefer und ehrfurchtgebietender Stimme:

„Du wirst getauft auf den Namen ‚Hell and Fire‘, auf das du niemals untergehst.“

Nun kommt der Stapellauf. Die beiden schieben ihre Schiffe in das Wasser. Zum Glück ist kein starker Wellengang. Hannes und Julius atmen auf. Immerhin schwimmen die schweren Bretter und gehen nicht unter. Wenn sie sich allerdings daraufsetzen, sinken sie unter Wasser und stoßen gleich auf Grund.

Das macht nichts. Sie tragen beide Gummistiefel und können so durch die Weltmeere waten und ihre gefährlichen Schiffe vor sich hinschieben. Die selbstgemalten Piratenflaggen flattern in der frischen Seebrise.

„Käpt’n Silver“, ruft Hannes, „Viermaster in Sicht.“

„Scheint ein Spanier zu sein, Käpt’n Hook“, antwortet Julius.

„Alle Mann an Deck. Fertigmachen zum Angriff.“ Käpt’n Silver schwingt den erdachten Säbel über seinem Kopf.

Käpt’n Hook brüllt: „Kanonen feuerbereit… und Feuuuuuer.“

„Volltreffer“, jubelt Silver und befiehlt mit Nachdruck: „Fertigmachen zum Entern.“