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Eine Prophezeiung. Eine abenteuerliche Reise. Und die größte Bedrohung, der sich das beschauliche Waldland jemals stellen musste. Ist die Magie der Freundschaft stark genug, die Heimat zu retten? SEIT der Ankunft eines fremdartigen, bedrohlichen Wesens ist alles anders im Hain. Es raucht und qualmt und stinkt. Der Falke Regenschwinge berichtet von Eindringlingen an den Grenzen des Waldes. Als das seltsame Wesen dann auch noch Feuer spuckt und jemanden verletzt, muss der junge Fuchs Hanta handeln. Alles andere als gut vorbereitet macht er sich gemeinsam mit seinen Gefährten auf die Reise zum weisen Seher Silberauge. In einer unheimlichen Vision spricht der Seher eine Prophezeiung aus, die das Leben Hantas und seiner Freunde für immer verändern wird. Der Besuch wirft aber mehr Fragen auf, als er beantwortet...und die Lösung des Rätsels rückt in weite Ferne. Quer durch ein fantastisches Land führt die Reise, in dem Begegnungen mit wundersamen Kreaturen an der Tagesordnung sind und Idylle und tödliche Gefahr dicht beieinanderliegen. Am Horizont sammelt sich eine unbekannte Gefahr, seelenlos und mechanisch, die droht, den Wald für immer in eine graue Betonwüste zu verwandeln. Zu allem Überfluss fällt eine Horde Geier aus den fernen Nebelbergen im Herzen des Waldlands ein und bedroht die Existenz der Tiere des Waldes. Und was für eine Rolle spielen die magischen Seelensteine dabei? Und der geheimnisvolle Brief, der Hanta anvertraut wurde...? EINE Geschichte voller Spiritualität und Wunder, in der die abenteuerliche Reise durch die Wildnis immer mehr zu einer Reise zu sich selbst wird und am Ende zu einer Erkenntnis führt, die mit ihrer liebevollen Botschaft jeden betrifft - nicht nur die Tiere des Waldlands, sondern auch die Kinder unserer Welt. Der Hain liegt näher, als ihr denkt. Besucht ein verzaubertes Land, das sich gleich vor unserer Haustür befindet und doch gut versteckt vor den neugierigen Blicken der Menschen hinter Büschen und Hecken in unzugänglichen Bereichen der Wildnis liegt. Ein Land, in dem Füchse und Dachse Dörfer bevölkern und Prophezeiungen und die mutigen Taten Einzelner das Schicksal Aller zu lenken vermögen. In dem Wildschweinrotten mit Keulen und Spießen über arglose Händler auf Ochsenkarren herfallen und stolze Hirsche, die Ritter von Schloss Seeblau, als Relikt der höchsten zivilisatorischen Errungenschaft gelten - der vergangenen Zeit der Grafschaft. Kommt in ein Land voller Magie und Wunder. Schlag die erste Seite auf...
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Hanta
Hanta und die Prophezeiung des Sehers
Nick Forester
Die Waldland Chroniken
Buch 1: Der Hain
und die Prophezeiung des Sehers
Nick Forester
Nick Forester
c/o
Felix Baur
Wild Yak Publishing
Zeppelinstr. 57
14471 Potsdam
ISBN: 9783759222862
Titelillustration von Alexander Thümler
http://www.instagram.com/real_nick_forester
All jenen, die eins sind mit dem, was uns umgibt.
All jenen, die die natürliche Welt und ihre grenzenlose, beseelte Schönheit lieben und bewahren.
Und nicht zuletzt…
All jenen, die sich ihrer selbst noch nicht ganz sicher sind und doch ihren Platz in dieser Welt finden werden.
Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen.
Erwachsenen zum Aufwachen.
Jorge Bucay
1
Prolog
»HÖRT mir zu. Ich sehe, wie unter einer toten Baumwurzel mit Blitz und Donner ein Fuchswelpe das Licht der Welt erblickt. Er ist anders als alle anderen Füchse. Sein Fell schimmert eigenartig, sandfarben, fast farblos, und er ist kleiner als seine Geschwister. Durch seine Unsicherheit fällt es ihm schwer, bei der Jagd mitzuhalten. Er unterliegt im kämpferischen Spiel. Ihr misstraut seiner Andersartigkeit. Der Fuchswelpe ist unscheinbar. Unbedeutend. Ihr erkennt nicht die Größe, die ich sehe. Ich sehe sie pulsieren wie ein gleißendes Licht in seinem Herzen, das durch die dunkelste Stunde vor dem Sonnenaufgang dringt. Seine Kindheit ist voller Wunder. Sein junges Leben voll wilder Reisen und seltsamer Gefährten, großer Gefahr, guter Freunde - und auch der Liebe. Ich sehe eine Bedrohung am Horizont. Gigantische, seelenlose Wesen, die wie ein Hornissenschwarm über unser Land herfallen und ihre geifernden Mäuler nicht eher schließen, bis alles schwarz und verkohlt ist. Ich sehe im Sog der Dunkelheit Grabgeier in Schwärmen über das gebeutelte Land ziehen und Angst und Schrecken säen. Ein kaltes, blitzendes Auge, voll Bosheit und Hass, schimmernd wie ein weißer Opal. Ich sehe den jungen Fuchs - er erhebt sich aus der vor Furcht erstarrten Gesellschaft der Tiere und stellt sich der Bedrohung entgegen. Ich sehe Bilder, aber sie sind nicht eindeutig. Ich sehe Wege, die beschritten werden können und Wege, die durch unerwartete Entscheidungen versperrt werden. Dieser junge Fuchs wird über sich hinauswachsen. Es wird der größte Held seit Schattenpelz dem Starken sein, er wird das Schicksal unserer Welt in den Händen halten - zum Guten oder zum Schlechten. Im Frühling des Lebens oder im ewigen Schlaf des Winters. Unser aller Zukunft wird von ihm entschieden werden. Ich bin Silberauge, Seher von der Wolkenpappel, Meister des Vergangenen und Zukünftigen, und dies ist meine Warnung: täuscht euch nicht in ihm. Erkennt, wer er wirklich ist. Die Hoffnung unseres Zeitalters. Unsere einzige Hoffnung.«
2
Entenjagd und Madensuche
HANTA setzte langsam eine Pfote vor die andere. Diesmal musste es klappen. Geduckt bewegte sich der junge Fuchs wie in Zeitlupe zwischen den Schilfrohren hindurch. Seine moosgrüne Leinenweste blieb an einem Seegrashalm hängen. Er hörte ein leises Schnattern hinter einem Büschel Ried. Ein Plätschern. Still, still, Pfote um Pfote. Er spähte zwischen den Halmen hindurch. Die Nachmittagssonne erweckte Licht und Schatten in den Wasserpflanzen zum Leben und fing das Grün seiner Augen ein, die wie Smaragde mit goldenen Einschlüssen funkelten. Da sind sie - eine Gruppe von Enten paddelte in greifbarer Nähe. Seine Schnurrhaare begannen zu zittern und ein Schauer der Anspannung glitt über sein sandfarbenes Fell, das vom Uferschlamm verkrustet war. Weiter, weiter…ein ganz kleines Stückchen noch. Das Schilf strich an seinen Seiten entlang. Gleich bin ich da. Er spannte seinen Körper zum Sprung. Los! Ein Zweig zerbrach unter seinen Krallen und die Enten flatterten mit klatschenden Flügeln auf. Schnatternd und schimpfend flogen sie davon, außer Reichweite. Hanta schrie wütend auf. Er schmiss sich auf den Boden und rollte verzweifelt im seichten Wasser umher. »Wie soll ich denn jemals für mich selbst sorgen können!«, rief er der Welt im Allgemeinen zu. Auf dem Rücken blieb er liegen und starrte die vorüberziehenden Wolken an, die sich langsam vor die Sonne schoben und eine Vorahnung von Regen brachten. Es war ungewöhnlich schwül so früh im Jahr und die Luft bereits drückend wie sonst erst im Spätsommer. »Bestimmt haben die anderen wieder Erfolg gehabt. Und Tatze hat mit Sicherheit das größte Stück mitgebracht.« Er schüttelte sich Sumpfdotterblumen und Morast aus dem Fell und rannte mit knurrendem Magen in Richtung Fuchsbau.
Er lief den Trampelpfad entlang und ließ den Kopf hängen. Er wusste, was er nun zu tun hatte. Mit leeren Händen von der Jagd heimzukehren war keine Option für ihn. Er kannte den besorgten Blick seiner Mutter zu gut, mit dem sie ihn bedachte, wenn er wieder einmal weniger geleistet hatte als die anderen. Sie sagte nie etwas. Eine Lösung wurde immer gefunden - mal hatte sie besonders viele Fische von den Waschbären besorgt, mal hatte Gevatter Dachs wieder sein Beerenbrot vorbei geschickt. Aber er wusste, dass sie sich schrecklich um seine Zukunft sorgte. Und dabei hatte sie doch selbst alle Hände voll zu tun. Die ganze Fuchsfamilie musste umsorgt werden, der Fuchsbau in Stand gehalten werden. Hanta wollte keine Last sein. Nach einer Weile machte der Pfad einen großen Bogen und mündete in einer Gabelung. Der rechte Weg führte in die Felder, wo die schönen Mohnblumen standen. Der linke führte unter einem umgestürzten Baum hindurch. Aus dieser Richtung wehte eine Ahnung von abgestandenem Wasser zu Hanta herüber. Er wandte sich nach links, duckte sich unter dem Baumstamm und drückte seinen Körper auf die andere Seite. Schweren Herzens machte er sich auf den Weg in Richtung des Totholzes am Krötenweiher.
Die Kröten quakten und platschten im Wasser umher. Hanta hatte in der Hitze seine Weste abgelegt. Im toten Gehölz, das das Ufer des Weihers säumte, hielt Hanta nun nach etwas Ausschau. Mit seiner Schnauze schob er Zweige beiseite und mit den Zähnen entfernte er große Rindenstücke, die morsch knackten und unter dem Druck zerbröselten. Kurz darauf hielt er inne und grinste. »Na also, da seid ihr ja.« Mit den Vorderzähnen zog er eine Made aus dem Holz, die immer länger und länger wurde und schließlich mit einem leisen plop, als wäre ein Korken aus einer sehr kleinen Flasche gezogen worden, aus dem Baumstamm flog. Nach wenigen Minuten hatte Hanta eine ganz stattliche Anzahl beisammen und setzte sich neben seine Beute. Er hatte die Maden auf ein Seerosenblatt gelegt. Dort wanden sie sich nun und krochen durcheinander. Irgendwie war er auch ein bisschen stolz auf sich. Es war zwar kein Fleisch, aber satt machten die Dinger trotzdem. Und jetzt könnte keiner mehr sagen, er hätte nicht seinen Teil zum Familienessen beigetragen. Ein echter Jäger hätte vielleicht etwas Anderes mit nach Hause gebracht, aber immerhin. Während er die Maden zu einem kleinen Haufen auftürmte, hörte er ein ganz feines Rascheln, das seinen Ursprung hinter dem morschen Baumstamm hatte. Er lugte über den Baumstamm. Ein Ast dümpelte im Wasser. Darauf rannte eine kleine Spinne umher. »Oh je, du arme kleine Spinne, hast du dich aufs Wasser verirrt?« Hanta kletterte besorgt auf den Baumstamm. Termiten quollen daraus hervor und suchten das Weite. Die kleine Spinne war rundlich, hatte kurze Beinchen und große Kulleraugen, mit denen sie panisch zu Hanta blickte. Immer wieder rutschten ihre Beinchen auf dem glitschigen Ast ab. Sie drohte, ins Wasser zu fallen. Hanta war, als könnte er ein feines Stimmchen um Hilfe rufen hören. Dann plätscherte etwas direkt neben ihm. Hanta sah einen langen, dunkelgrünen Schatten zwischen den Wasserpflanzen auf den Ast zuschwimmen. Ein Hecht, schoss es Hanta durch den Kopf. Die kleine Spinne tat ihm leid, wie sie da so hilflos auf dem Ast hin und her rannte und gleich dem Fisch zum Opfer fallen würde. Kurzerhand fasste er sich ein Herz und streckte sich so weit er konnte…ein bisschen weiter noch…ein bisschen noch…fast war seine Pfote am Ast, als es einen gewaltigen Platscher gab, der Ast kenterte und die Spinne im hohen Bogen ins Wasser flog. Der angreifende Hecht riss sein Maul mit den messerscharfen Zähnen auf und wollte sie auf Nimmerwiedersehen verschlingen, als Hanta nach vorne sprang, seine Pfote ausstreckte und schloss. Das Wasser schluckte ihn. Es war kalt und dunkel und schmeckte nach uraltem Schimmel. Hustend tauchte Hanta auf, öffnete seine Pfote und blinzelte der kleinen dicken Spinne in ihre großen Augen. Acht Augen hatte sie und war ganz weiß, so wie Wolken an einem Sommertag. Er war sich nicht ganz sicher, meinte aber, ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen - so ganz gut konnte er das nicht erkennen. Das Wasser reichte Hanta nur bis an die Hüfte. Seine Pfoten versanken im schlammigen Grund des Teiches. Tropfen fielen aus dem Himmel auf die Wasseroberfläche. Der Hecht hatte in der Unruhe zu viel bekommen, das Weite gesucht und beobachtete die Szene nun aus der Sicherheit der Seerosenblätter im tieferen Wasser. Hanta watete ans Ufer und setzte die kleine Spinne behutsam in einen Wacholderstrauch. Dort schüttelte sie ihren hellen Pelz, sodass die Miniatur-Wassertropfen nur so um sie herumstoben und sagte mit freundlichen Augen und einem piepsigen, kaum hörbaren Stimmchen: »Danke.« Hanta fragte: »Was machst du hier? Ich habe noch nie eine schneeweiße Spinne im Hain gesehen.« Die kleine Spinne sagte: »Etwas Ungeheuerliches geschieht im Waldland. Fremde sind in den Wäldern unterwegs. Ich bin ihnen lange gefolgt und habe schreckliche Dinge gesehen. Und einer ist sogar hie-« Etwas plätscherte im Uferbereich. Die kleine Spinne zuckte zusammen und fuhr herum. Der Hecht war wieder nähergekommen. Die Spinne winkte Hanta mit einem ganz kleinen Beinchen zu. Dann lief sie los und verschwand zwischen den Zweigen, ohne ihren Satz beendet zu haben.
Hanta schüttelte ebenfalls das Wasser aus seinem Fell und stapfte zurück zu seinen Maden. Die Abkühlung hatte in der schwülen Hitze gutgetan und seine Haut erfrischt. Fremde? Schreckliche Dinge? Was meint die kleine Spinne damit? Gerade, als er sich anschickte, das Seerosenblatt zusammenzufalten und den Heimweg anzutreten, ertönte vor ihm ein Geräusch - es klatschte, als ob ein nasser Lappen auf den Boden gefallen wäre. Er sah von seinen Maden auf und blickte in die Augen einer Kröte, die sich auf dem Stamm vor ihm niedergelassen hatte. Sie fixierte ihn mit einem unterkühlten Blick. »Du schon wieder«, sagte sie und ihr Bauch blähte sich empört auf. »Hast wohl nichts Besseres zu tun, als uns das Essen zu klauen.« Hanta biss die Zähne zusammen. »Bist doch ein Fuchs, solltest wohl eher Kaninchen jagen gehen. Kannst du wohl nicht. Bist wohl zu schwach.« Die Kröte sah ihn abschätzig an und zog den Mund in die Breite. »Krööööööööten. Kommt mal her, der Fuchs klaut uns wieder unser Essen.« Das Quaken der Kröten hörte abrupt auf. Eine nach der anderen hüpfte auf den Stamm. Sie begannen alle durcheinanderzuquaken. »Was soll denn das?« »Lass uns unser Fressen!«, »Hau ab!«, »Quak! quak!«. Hanta fühlte das Blut in seine Wangen schießen. »Lasst mich! Ich hab’ genauso ein Recht wie ihr auf die Maden!« Die Kröten verstummten. »Ach ja? Hast du das? Dann solltest du mal lieber zusehen, sie wieder einzusammeln.« Lachend und quakend hüpften die Kröten auf und ab. Während die Krötenbande Hanta verspottete, waren die Maden vom Seerosenblatt heruntergekrochen und hatten das Weite gesucht. »Nein, nein, nein!« Hanta lief hin und her und schnüffelte über den Boden. Aber es nutzte alles nichts. Sie waren weg! Hanta stand wieder mit leeren Händen da und ließ die Ohren hängen. Wieso waren alle immer so gemein zu ihm. Er blinzelte, als ob die Sonne ihn blenden würde. Aber da war keine Sonne mehr, nur Schatten und Moderduft aus dem Weiher und das hämische Quaken der Kröten.
3
Streit mit der Marderbande
MIT eingezogenem Schwanz schlich er vom Krötenweiher zurück zum Pfad. Keine Beute. Wieder einmal. Der Sommer umwehte ihn von allen Seiten und Hanta sog den Duft nach Kräutern und harziger Baumrinde ein. Endlich begann ein leichter Nieselregen zu fallen und die Luft zu erfrischen. Während er trabte und die Landschaft an sich vorüberziehen sah, entspannte er sich ein wenig. Sollten die Kröten doch unken. Wenigstens hatte er seine Familie, sein Zuhause. Hantas Mundwinkel zogen sich leicht nach oben, als er daran dachte, wie seine Mutter den Tisch, einen alten Eichenstumpf, deckte und die Kinder zum Essen rufen würde. Was würde es wohl geben? Mit etwas leichterem Herzen lief er den Bachlauf entlang, der sich vom Krötenweiher am Pfad entlang bis hin zum Fuchsbau schlängelte. Gedankenverloren lief er den Weg hinab und schnappte mit den Zähnen nach ein paar warmen Regentropfen, als ein Ruf ihn aus seinen Tagträumen riss. »Hey! Kleiner!«
Wer war das? Hanta blickte auf und verlor jede Farbe im Gesicht, als er sah, wer ihn gerufen hatte. Oh nein. Bitte nicht. Nicht jetzt. Der Tag war ja wie verhext - wollten die Schwierigkeiten denn gar kein Ende nehmen? Drei junge Tiere, ein Marder, ein Wiesel und eine Ratte, hopsten aus dem Gebüsch auf den Pfad. Hanta versuchte, sich groß zu machen. »Was wollt ihr?« Der größte der drei, ein sehniger Steinmarder mit silbrigem Fell und scharfen Augen, trug eine rote Kniebundhose und einen spitzen Stock im Gürtel. Er sagte: »Wollten nur mal schauen, wer sich hier rumtreibt, ist unser Gebiet, weißt du?«
»Klar weiß er das, ist schließlich ein schlauer, unser Hanta«, mischte sich der zweitgrößte, ein Wiesel in einem schmutzigen Leinenwams, lispelnd ein. Seine Schneidezähne ragten weit aus dem Mund. »Du weißt, was du zu tun hast.« Der dritte, kleinste, eine Ratte mit zerzaustem Fell und einem kranken Auge, das immer wieder in Richtung Ohr blickte und nach ein paar Sekunden wieder zurückzuckte, fügte hinzu: »Und jetzt gib uns, was du gefangen hast. Sonst müssen wir dir wieder weh tun.« Er machte ein keuchendes Geräusch, das sich wie ein herzloses Lachen anhörte. Hanta wich zurück. »Ich habe nichts für euch. Lasst mich doch alle in Ruhe!« Er versuchte, seinen Worten Autorität einzuflößen, aber seine Stimme war zittrig. »Natürlich hast du was, warst doch beim Weiher. Hast sicher die Taschen voll fetter Maden.« Der Mittlere leckte sich über die Lippen. »Gib schon her.« Er schubste Hanta, der das Gleichgewicht verlor und auf dem Hosenboden, mitten in einer Schlammpfütze, landete. Nass war er ohnehin schon, durch sein unfreiwilliges Bad im Krötenweiher. Jetzt war auch noch seine Hose schmutzig. »Hä hä hä«, lachte die kleine Ratte ein hohles Lachen und schob ihr Gesicht vor Hantas, dass sich ihre Nasenspitzen berührten. Ihr linkes Auge wanderte wieder zum Rand des Gesichts und schnellte zurück. Sie fletschte die Zähne und flüsterte: »Jetzt gib uns deine Maden. Mach schon. Das ist unsere letzte Warnung.« Dabei fuhr sie mit den Krallen ihrer rechten Pfote über Hantas Brust. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn und feine Blutperlen traten aus der Wunde. Sie vermischten sich sofort mit dem Regen, der inzwischen in dicken Tropfen auf die vier Tiere fiel. Hanta schlug reflexartig die Rattenpfote beiseite. Sofort sprangen die anderen beiden herbei und drückten ihn lachend zu Boden. Hanta wand sich, konnte sich aber nicht gegen die drei Tiere wehren. Er fühlte seine Wangen wieder heiß und rot werden. Der Große, der längere Zeit geschwiegen hatte, sagte etwas. Wasser lief über das glatte Fell seines Gesichts und tropfte von seinen Eckzähnen, die wie Nadeln in die Luft stachen. Von oben herab sagte er: »Du hast keine Chance gegen uns. Das weißt du. Willst du es enden lassen wie letztes Mal?« Er beugte sich zu Hanta hinab, der jetzt von allen drei umzingelt war und geduckt in der Mitte hockte. Der Marder packte ihn mit beiden Pfoten an der Weste. »Das glaube ich nicht. Ich denke, du hast deine Lektion das letzte Mal gelernt und gibst uns jetzt direkt deine Beute…ohne dass wir dir die Ohren einklemmen.« Lasst mich einfach gehen. Ich will nach Hause. Ganz leise murmelte Hanta: »Ich habe nichts!« Der Mittlere durchsuchte Hantas Hosentaschen, dann seine Leinenweste, trat einen Schritt zurück und sagte mit abschätzigem Blick: »Er hat wirklich nichts. So ein Versager.« Der Große schaute ungläubig, ließ dann aber Hantas Weste los und schubste ihn von sich. Wortlos ging er hinunter auf alle Viere und verschwand platschend im Gebüsch. Die kleine Ratte spuckte auf den Boden, direkt vor Hanta und huschte hinterher. »So ein Versager«, zischte der Mittlere noch einmal, trat mit seiner Hinterpfote Matsch nach Hanta und folgte den anderen. Der Pfad war wieder leer. Hanta saß still da. Mit schmutziger Hose, Matsch im Gesicht und einem langen Kratzer über der Brust. Als wäre die schwarze Wolkenfront hoch oben am Himmel von einer Marderklaue aufgeschlitzt worden, begann es in Strömen zu regnen. Der Kratzer von der Rattenkralle pochte heiß. Hanta mochte keinen Schmerz. Wer mochte schon Schmerzen. Aber die üblichen Kratzer und Schürfwunden vom Spielen und Jagen und selbst die Schikanen des Marders und seiner Kumpane waren nichts im Gegensatz zu dem Gefühl, das sich nun in ihm ausbreitete. Selbst der schlimme Unfall am Tag, an dem die Sonne verschwand, als sein Bein mehrere Wochen zwischen zwei Schienen aus Eichenholz und Leinenbändern heilen musste - selbst der stechende und pochende Schmerz des zersplitterten Knochens damals war erträglicher als dieser Schmerz in der Seele. Der Schmerz der Unzulänglichkeit. Des Andersseins. Des Falschseins. Hanta biss die Kiefer aufeinander und presste so stark er konnte, wie er es immer tat, wenn er etwas fühlte, dass er nicht herauslassen wollte. Er drückte und kaute bis seine Augen tränten und seine Kiefermuskeln fast verkrampften. Je stärker er presste, desto mehr konnte er das unerträgliche Gefühl zurückdrängen in die Tiefen seiner Seele. Dann stand er auf, wischte sich die verschmutzte Hose ab so gut es ging und schüttelte seinen Kopf, wie um aus einem schlechten Traum aufzuwachen. Er lief los, wurde schneller und schneller. Er rannte und rannte und rannte. In diesem Moment, während seine Pfoten den Schlamm aufspritzen ließen und der Schleier aus Wasser ihm die Sicht nahm, traf er eine Entscheidung. Niemals wieder würde er schwach sein. Er würde nie wieder verletzt werden von Mardern oder Kröten oder sonst irgendwem. Er würde stärker werden und es allen zeigen. Und wie könnte das besser gehen, als wenn er ein Jäger würde. Dann könnte er alle beschützen.
4
Das Wesen im Waschbärbau
SCHMETTERLINGE tanzten mit blau schimmernden Schwingen in der vom schweren Regen erfrischten Luft. Der Sand war inzwischen wieder getrocknet und durch die Sonne warm unter den Pfoten. Nur das Klopfen eines Spechts trug sich weit über die Lichtung, die den Eingang zum Fuchsbau umgab. Hanta hockte im Schatten einer toten Baumwurzel und hing seinen Gedanken nach. Vielleicht sollte er einfach verschwinden. Mitten in der Nacht seine Sachen packen und den Fuchsbau verlassen. Auf Nimmerwiedersehen. Aber weiter als zur Baumgrenze des Hains war er noch nie gewesen. Alles was er kannte, waren der Fuchsbau, das Mohnblumenfeld, der benachbarte Krötenweiher und der Kieselbach dahinter, der zum äußersten Rand des Hains führte und im großen Kieselsee mündete. Alles, was dahinterlag, kannte Hanta nur aus den wundersamen Erzählungen des wandernden Luchses. Meri Merkant brachte in unregelmäßigen Abständen Waren in einer hölzernen Kiepe auf seinem Rücken mit und ebenso Geschichten von fernen Gegenden und seltsamen Begebenheiten, die er auf seinen Reisen aufgeschnappt hatte. Vielleicht würde der Luchs ihn mit sich auf Wanderschaft nehmen. Dann könnte er sein Lehrling werden und für sich selbst sorgen. Er könnte doch mit Meri auf Reisen gehen und dabei das Jagen lernen. Er beschloss, den Luchs bei nächster Gelegenheit zu fragen.
Als der Abend anbrach, saß die ganze Fuchsfamilie am Esstisch im Fuchsbau und begutachtete die heimgebrachte Beute. »Gut gemacht. Ihr wart alle ganz sensationell«, sagte die Fuchsmutter und warf alles in einen großen, gusseisernen Topf, der an einem Dreibein über den Flammen der Feuerstelle hing. Der Fuchsvater brummte zustimmend: »Ganz besonders du, Tatze.« Hanta sah bedrückt zu Boden. Lukka, eine der drei Schwestern Hantas, verdrehte die Augen, während sein Bruder Tatze grinste. »Ja, ja, Tatze, ganz toll gemacht, Jagen kannst du besser als die Eiswölfe, aber Denken tust du in etwa so schnell wie eine Nacktschnecke«, sagte sie. Tarla, die kleinste der Schwestern, kicherte, obwohl sie noch nichts wirklich verstand und wackelte mit dem Köpfchen. Tatze zog die Brauen zusammen, aber sagte nichts. Liffi, die aus dem gleichen Wurf stammte wie Lukka, aber als erste geboren worden war, warf Lukka einen strengen Blick zu und rümpfte die Nase: »Streiten könnt ihr draußen wieder, hier drinnen halten wir alle zusammen.« Sie zupfte einen Fladen Beerenbrot auseinander und verteilte die Stücke an die Familienmitglieder. Die Fuchsmutter wischte ihre Pfoten an ihrer Leinenschürze ab, zog ein Gewürzfläschchen hervor und bestäubte den Eintopf damit, bis das Glas leer war. »Schon wieder alle, hoffentlich kommt Meri bald wieder vorbei«, murmelte sie gedankenverloren. »Sagt mal«, begann der Fuchsvater, während er auf einem Fladen kaute, »habt ihr gehört, was den Waschbären zugestoßen ist?« Hanta horchte auf. Die Waschbärfamilie wohnte am Kieselbach hinter dem Krötenweiher und einmal, als er wieder auf Madensuche gegangen war, hatte ein Waschbärmädchen in einiger Entfernung zwischen dem Ried am Kieselbach Fische geputzt. Er war danach öfters zum Krötenweiher gegangen, hatte sie jedoch nicht mehr gesehen. »Nach den schweren Regenfällen der letzten Tage kam wohl etwas den Kieselbach heruntergeschwommen und hat den Bau der Waschbären zerstört. Sie scheinen jetzt in einem Holzverschlag weit weg vom Ufer zu wohnen. In sicherer Entfernung zu dem seltsamen Wesen.«
»Was war denn das für ein Tier? Ein Biber? Ein Otter?«, fragte Lukka. Der Fuchsvater antwortete: »Also, nach allem was ich so gehört habe, hat noch niemand je so ein Ding gesehen. Groß soll es sein. Viel größer als Biber oder Otter, viel größer sogar als die Hirsche aus dem Wald drüben beim Steinhügel. Knallgelb soll das Ding sein, wie eine Hornisse. Es raucht und qualmt und quietscht. Und es knurrt wie ein Bär.« Als er die weit aufgerissenen Augen seiner Kinder sah, fügte er hinzu: »Geht da bloß nicht hin, hört ihr? Das Ding ist gefährlich.« Ernst schaute er über die Gläser seiner Brille mit dem Messinggestell in die Runde und die Fuchskinder nickten brav. Hanta und Lukka warfen sich einen verstohlenen Blick zu und gaben sich ein geheimes Zeichen unter dem Tisch. Es war also beschlossene Sache. Sobald die Fuchseltern schlafen gegangen waren, würden sie sich aus dem Bau stehlen und nachsehen, was für ein mysteriöses Wesen sich im Waschbärbau eingenistet hatte.
Die Sonne ging unter, der Mond ging auf und Ruhe kehrte im Fuchsbau ein. »Hanta«, sagte eine Stimme leise. »Hanta, wir können los.« Es war Lukka, die sich auf Zehenspitzen zu Hantas Schlaflager geschlichen hatte. Tatze schnarchte neben ihnen. Hanta erhob sich und zog fingerlose Handschuhe aus dünnem, hellbraunen Leder über seine Pfoten. Dann hängte sich einen geflochtenen Gürtel aus Schilfgras um, an dem ein kleiner Beutel baumelte. »Was nimmst du da mit?« »Ein paar Kleinigkeiten, man kann ja nie wissen«, sagte er geheimnisvoll. Aber eigentlich waren da nur ein paar Steinchen vom Kieselbach drin, ein spitzer Stock und ein Leuchtglas mit Glühwürmchen. Tatze verschluckte sich im Schlaf und öffnete die Lider. Hanta stand ganz still. Mist. Lukka, die ebenfalls regungslos verharrte, kniff die Augen zusammen. »Der schläft ja immer noch. Scheint ihm nichts auszumachen, ob die Lider offen sind. In seinem Köpfchen ist wohl wirklich nicht allzu viel los.« Die beiden kicherten und schlichen sich an den noch glimmenden Holzscheiten der Feuerstelle vorbei zum Ausgang der Höhle. Hanta strich den Wurzelvorhang beiseite und trat ins Freie. Die Nachtluft war eine Erfrischung nach der Hitze des Tages. Die Grillen veranstalteten ein Konzert in den Sträuchern und der Duft der Pinien wehte ihm in die Nase. In der Nacht fühlte er sich anders. Frei. Niemand beobachtete ihn, und niemand bewertete ihn. Außerdem genoss er die Gesellschaft seiner Schwester Lukka. Seit dem Tag, an dem die Sonne verschwand waren sie unzertrennlich. Das war lange her, als sie noch sehr junge Füchse waren. Er schauderte, als er daran zurückdachte. Die Augen des Geiferers, eines wilden, unbekannten Tieres, das urplötzlich im Hain erschienen war, hatten damals geglüht wie Kohlen. Speichel war von seinen Lefzen getropft. Selbst heute noch konnte Hanta die einzelnen Tropfen glasklar vor seinem inneren Auge in blutige Pfützen fallen sehen. Er glaubte, dass auch Lukka manchmal noch davon träumte, dann wimmerte sie im Schlaf und zuckte mit den Pfoten, als ob sie von etwas davonrenne. Jetzt stand sie neben ihm und Hanta fühlte sich zum ersten Mal am Tag geborgen. Sie stiegen die Anhöhe hinauf, die den Fuchsbau vor neugierigen Beobachtern schützte, und betraten den umliegenden Hain.
Tiefschwarze Nacht umgab sie. Zwischen den Baumkronen funkelten Abermilliarden Sterne am Firmament. Hanta atmete mit ruhigen Zügen die Luft ein, die nach Geißblatt und Moosen duftete. »Was glaubst du, wie weit die Himmelsaugen von uns entfernt sind?« Lukka schaute in den Nachthimmel. »Weiter als wir alle jemals reisen können. Regenschwinge sagt, als junger Falke sei er einmal in der Dämmerung so weit nach oben geflogen, wie ihn die Federn trugen, so weit, dass der Hain nur noch ein Fleckchen war und er in der Ferne schon die Schieferberge sehen konnte. So weit, dass es eisig kalt wurde und er kaum noch atmen konnte - aber die Himmelsaugen seien kein Stück näher gewesen.« Hanta lief ein Stückchen voraus. Sie fuhr fort: »Jede Nacht schauen sie auf uns herab und ihre Augen glühen in der Dunkelheit. Jede Nacht sehe ich die gleichen Muster, aber immer an einem anderen Punkt im Himmel. Sie stehen immer in den gleichen Konstellationen zusammen. Vielleicht ziehen sie in Gruppen zusammen über den Himmel.« Hanta seufzte. »Die haben es gut, ziehen einfach Nacht für Nacht über den Himmel und machen sich keine Sorgen um Jagen und Essen und Marder und Kröten. Die lassen bestimmt nicht einfach ihren besten Freund im Stich.« Lukka sah ihn sanft an und sagte: »Weißt du, Hanta, bei dir ist es manchmal, als würdest du dir selbst ein Bein stellen und darüber stolpern. Das mit Taki war ein Unfall und du warst noch viel zu klein, um etwas daran zu ändern. Es war ein schrecklicher Tag für uns alle - so ein Monster wie der Geiferer ist vorher noch nie auch nur in Sichtweite des Hains gekommen. Und als dann auch noch die Sonne verschwunden ist…« Sie blinzelte und fasste sich wieder: »…und dieser Tag wird uns begleiten, bis wir nicht mehr sind, bis Laub und Eicheln über uns wachen. Aber ein einziger Tag bestimmt nicht unser Leben. Du bist frei und hättest nichts tun können, um Taki zu retten. Er ist gegangen, aber du lebst. Du musst einfach nur lernen, dir mehr zu vertrauen.«
Hanta lief wortlos etwas weiter, bis er schließlich leise sagte: »Ich wünschte, wir beide könnten auch für immer zusammen bleiben wie die Himmelsaugen.« Lukka holte auf und versetzte ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Seite. »Komm schon, das willst du doch nicht wirklich - immer bei deiner Schwester bleiben. Wie sähe das denn aus?« Hanta grinste schief. »Naja, mit dir kann ich reden, du nimmst mich an, wie ich bin. Trotz allem.«
»Was heißt denn trotz allem? Ich weiß nicht, was du meinst.« Mit diesen Worten rannte sie los und rief ihm über die Schulter zu: »Los, Hanta, wer als erster bei der Furt ist, hat gewonnen!«
Als Hanta die Furt erreichte, saß Lukka bereits am Ufer und schwenkte ihre Nase witternd in alle Richtungen. Wenn man ein sehr guter Schwimmer war, konnte man den Kieselbach an besonders ruhigen Tagen auch schwimmend überqueren, wenn nicht gerade Tauwetter in den Bergen das Wasser ins Tal trieb und Bäche und Seen zum Überlaufen brachte. Hanta war kein guter Schwimmer. Für die meisten Tiere war die Furt ein sicherer Weg übers Wasser und erleichterte die Orientierung. Sie diente als Wegmarke für die Tiere, die von hier aus weiter in Richtung Kieselsee zu wandern gedachten oder den Hain über den Fluss verlassen wollten. »Riechst du das?«, sagte Lukka, »Was ist das, es riecht irgendwie…nach Blut.« Hanta hob die Pfote und nahm ebenfalls Witterung auf. Zwischen den Gerüchen nach frischen Blättern und Insekten, modrigen Pilzen und dem feuchten Waldboden lag eine kaum wahrnehmbare Note, die sich auf die Zunge legte wie ein klebriger Film von Blut aus einer Wunde. Mit den Nasen tief am Boden folgten sie im Zick-Zack der Fährte, bis sie an einen großen Haufen Laub kamen. Lukka schob ihre Nase vor. »Darin bewegt sich etwas.« Der Geruch nach Blut schien direkt aus dem Laubhaufen zu kommen. Vorsichtig schob Lukka mit der Schnauze die Blätter auseinander. Hanta kramte in seinem Beutel und holte ein Glas hervor, in dem ein knappes Dutzend Glühwürmchen umherschwirrten. Wie kleine Sternschnuppen warfen sie ihr Licht auf den Blätterhaufen. Zwischen Zweigen und Kellerasseln lag ein Rotkehlchen im Schein der Lampe. Es sah sie aus schwarzen Knopfaugen an und wackelte mit einem Flügel, dessen Schwungfedern mit einer dunkelroten Flüssigkeit verklebt waren. »Hilfe«, piepste es schwach. »Helft mir bitte.«
5
Feuer in der Nacht
HOCH oben über dem Wald zog ein Vogel seine Runden und beobachtete aus starren Augen die Szenerie. Er war größer als selbst die Störche, die im flachen Wasser des Krötenweihers nach Nahrung stocherten und hatte eine Aura, die den Wölfen glich, die von Zeit zu Zeit über die Berge kamen. Anders als die Wölfe strahlte er nicht nur Stärke, sondern auch eine Boshaftigkeit aus, die keinem Tier von Natur aus zu eigen sein sollte. Sein Gefieder war staubgrau wie eine Schotterwüste und sein Federkragen schmutzigweiß. Klauen, scharf wie Kristallsplitter, krönten seine ledrigen Füße. Der gekrümmte Schnabel lief in einer Spitze zu, die aussah, als könnte man damit durch das dichteste Winterfell schneiden. Seine Augen nahmen alles wahr, was sich in einem Radius von vielen, vielen Baumlängen zutrug. Unter ihm zogen wilde Wasserläufe und schroffe Felsenformationen hin, Seen, Hügelkämme mit wandernden Rotten von Wildschweinen und wankende Baumwipfel. Er bog nach Westen ab. Nach einer Weile stillen Flugs wurden die Bäume spärlicher, der Wald lichter und ein Bach mit weiten Kieselfeldern geriet in sein Blickfeld. Als wären es Miniaturen, konnte der große Vogel zwei Gestalten am Ufer wahrnehmen. Ihre Gesichter waren erleuchtet vom grünen Schimmer einer gläsernen Glühwürmchen-Laterne. Das Tier am Himmel keckerte hungrig und glitt lautlos auf dem Wind hinab, in weiten Spiralen, die es immer weiter in Richtung Erde trugen.
Hanta schaute besorgt zu Lukka hinüber, die das Rotkehlchen unter ihren Gürtel gesteckt hatte. Es schlummerte nun. Hanta sagte: »Lass uns nach Hause gehen und ihm helfen!« Lukka dachte kurz nach. »Nein, die Verletzung sieht schlimmer aus, als sie ist.« Sie runzelte die Stirn. »Glaube ich jedenfalls.« Während sie lostrabte, fügte sie hinzu: »Und ich will nicht gehen, ohne das Wesen im Waschbärbau gesehen zu haben.« Hanta warf einen Blick auf den tiefschwarzen Waldweg, der zum Fuchsbau führte. Unheimliche Schatten tanzten darauf, als der Wind durch die Bäume strich. War das eine Bewegung auf dem Weg? Folgte ihnen jemand? Alleine wollte er nicht durch den Hohlweg gehen, also folgte er seiner Schwester widerstrebend, obwohl er lieber das Rotkehlchen versorgt hätte. Es brauchte offensichtlich Hilfe. Nachdem sie um eine von Wacholderbüschen bestandene Biegung gegangen waren, gelangten sie wieder auf den eigentlichen Weg zum Waschbärbau. Der Bau der Waschbärenfamilie war eine vor vielen Sommern umgestürzte Eiche, ausgehöhlt vom Zahn der Zeit und den fleißigen Händen der Waschbären. Der Baumstamm, der vom Ufer ins Wasser hineinragte, war mit blassen Zunderpilzen bewachsen. Er bot einen idealen Unterschlupf für die Waschbären, die bislang darin gewohnt hatten. Jetzt war allerdings keine Spur von ihnen zu sehen. Hanta kniff die Augen zusammen. »Da ist etwas Sonnenblumenfarbenes. Schau mal, da, wo der Stamm auseinandergebrochen ist.« Ihm fiel die kleine Spinne aus dem Krötenweiher ein. Er fragte sich, ob die Fremden, von denen sie gesprochen hatte, etwas mit diesem Wesen zu tun hatten - oder ob es sogar einer dieser Fremden war?
Während die beiden jungen Füchse nichtsahnend am Waldboden herumschlichen, betrachtete sie der große Vogel aus unmittelbarer Nähe. Es war ein Geier, der aus dem Nachthimmel gekommen war wie ein dunkles Omen. Nun saß er auf einem schräg abstehenden Ast, der versteckt im Laubwerk einer Buche im Wind wankte und folgte mit seinen kalten Augen den beiden jungen Füchsen unter sich. Dem Geier knurrte der Magen. Sein Flug war lang und beschwerlich gewesen. Ein paar Happen Frischfleisch würden seinen Hunger stillen. So leichte Beute hatte er lange nicht mehr gehabt.
In der Rinde des Waschbärbaus befand sich eine frische Bruchstelle in Höhe der Wasseroberfläche, die nicht wie üblich glatt vor ihnen lag, sondern brodelte. Langsam schlichen Hanta und seine Schwester in Richtung des Stammes. Etwas knallgelbes war darin zusehen. Sie konnten nicht erkennen, was es war. Ein Knurren ertönte. Ein leises Vibrieren, dann ganz plötzlich viel lauter, dass sogar der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Hantas Haare sträubten sich und er stoppte. Irgendetwas tief in seiner Brust warnte ihn davor, weiterzugehen. »Lukka, lass uns hier verschwinden.« Aber Lukka hörte ihn nicht. Ihre Augen weit aufgerissen, schlich sie geduckt an den Stamm heran. Noch etwa zwei Baumlängen trennten sie von der Eiche. »Lukka, das Wasser, es brodelt immer stärker - und es ist…«, er bewegte seine empfindliche Nasenspitze von links nach rechts, »…heiß? Das Wasser ist heiß.« Im selben Moment lief ein dunkler Schemen an Hanta vorbei, ein dunkler, muskulöser Schatten, der beim Vorbeirennen schwer keuchte. Er folgte Lukka, die ihn noch nicht bemerkt hatte. Als er sie eingeholt hatte, knurrte er sie an: »Stehenbleiben!« Als sei ein Bann gebrochen, drehte sich Lukka um und starrte entgeistert den Schemen in der Nacht an. »Tatze?! Was machst du denn hier?« Hanta hatte ein schreckliches Gefühl im Magen. Irgendetwas stimmt hier nicht. Das Knurren hatte nicht aufgehört, im Gegenteil, es wurde immer lauter. »Kommt von der Eiche weg, hört ihr das Knurren nicht?« Tatze und Lukka ignorierten ihn. »Schwesterchen, du glaubst doch nicht, dass ich euch einfach so das Wesen entdecken lasse - diese Geschichte will ich selbst den anderen erzählen können.« Seufzend sagte Lukka: »Na, dann komm eben mit. Aber sei leise, um Himmels Willen. Dein Gestampfe hört man ja meilenweit.«
»Schon gut, Schwester. Lass uns nicht streiten«. Beiläufig fing er an zu plaudern, als sei es ganz normal, dass sie mitten in der Nacht, heimlich und verboten zum Waschbärbau gekommen waren, um zu sehen, was für ein grausiges Wesen sich dort aufhielt. »Weißt du, ich habe übrigens etwas gelernt heute. Lehrer Langbein war mit uns beim Kieselbach schwimmen-«, er stockte, als er Lukkas prüfenden Blick sah, »in einem ruhigen Seitenarm zumindest. Jedenfalls hat er uns gezeigt, wie man die Strudel im Kieselbach überlebt.« Er machte eine dramatische Pause. Lukka fragte schließlich gelangweilt: »Und…?«
»Man hält die Luft an, lässt sich einfach untergehen und forttragen. Die Strudel im Kieselbach fließen am Grund allesamt zum anderen Ufer.« Triumphierend schaute er in die Runde, aber Lukka war bereits um den Stamm herumgegangen und Hanta blickte ihn fassungslos an. »Tatze, wir sind hier, um zu sehen, welche Kreatur sich hier eingenistet hat, nicht für deine Geschichten.« Angebergeschichten. Hanta wandte sich um und lief Lukka hinterher. Er bekam ein immer schlechteres Gefühl bei der Sache und warnte seine Schwester: »Lukka, pass auf, dass du dich nicht verbrennst in der Hitze.« Lukka spähte fasziniert durch eine Bruchstelle in das Innere des Baus. »Guck dir das mal an, Hanta.« Hanta schlich geduckt mit gesträubtem Fell zu ihr herüber und hob seinen Kopf, um ebenfalls einen Blick zu erhaschen. Im Halbdunkel des Waschbärbaus sah er ein Bild der Zerstörung. Bänke und Tische waren zersplittert und lagen umgestürzt auf dem Boden. Regale mit Töpfen, Pfannen und Tellern standen schief an den Wänden. Und inmitten dieses Chaos lag ausgestreckt auf dem braunen Webteppich ein riesiges, knallgelbes Ungeheuer, das Funken versprühte und wild knurrte. Seine Arme waren dick wie Birken und ein gigantischer Hauer ragte aus seiner Schnauze. Dicker, schwarzer Qualm puffte aus seinen Nüstern. Hanta lief ein Schauer den Rücken hinab. Dann bewegte er sich langsam rückwärts. »Lukka, lass uns hier verschwinden. Das Ding ist zu groß für uns. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.« Tatze war nun auch dazugestoßen und reckte seine Nase noch ein Stück weiter in den Bau als Lukka. Auch sein Rückenkamm war aufgerichtet. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit für euer ewiges Kräftemessen!«, fuhr Hanta seine Geschwister an. Lukka und Tatze schienen wie gebannt von der Gefahr vor ihnen und dem Verlangen, vor dem Anderen nicht das Gesicht zu verlieren. Der ganze Stamm zitterte nun vom Knurren und auch der Boden vibrierte immer stärker. Zwischen den Ritzen in der Rinde sah Hanta Funken springen, wie wenn Baumharz im Feuer knisterte. Das Wasser kochte immer höher. Das schien Lukka und Tatze nicht zu stören. Hanta sprang auf und ab. »Jetzt kommt, das ist zu gefährlich! Lass uns verschwinden. Das Wasser kocht! Ich fühle es, etwas Schlimmes wird gleich passieren. Seht ihr nicht, im Stamm, da glühen seine Augen!« Aber die beiden Geschwister waren wie in einen unheilvollen Bann geschlagen. Sie bewegten sich weiter auf den Stamm zu, als würden sie von einem unwiderstehlichen Magnetfeld angezogen werden. Dabei drängten sie sich gegenseitig immer wieder zur Seite, wie um zu zeigen, wer am mutigsten war. Dann geschah alles ganz schnell. Tatze und Lukka bewegten sich auf leisen Pfoten bis ganz nah an den Stamm heran, Lukka reckte ihren Hals und betrat mit ihrer Pfote das Innere des Waschbärbaus - und die ganze Szenerie ging mit einem ohrenbetäubenden Knall in einem Feuerball auf, der wie ein gigantischer Pilz in den Nachthimmel stieg und den rot erleuchteten Wald in ein Inferno aus Flammen und umherfliegenden Steinen und Holzsplittern verwandelte. Hanta sah die Körper seiner Geschwister durch die Luft wirbeln. Ihr versengtes Fell zog Flammen wie Kometenschweife hinter sich her. Dann erreichte ihn die Druckwelle und presste ihm die Luft aus den Lungen. Während er zu Boden ging, war ihm, als höre er ein schmerzverzerrtes Keckern und das Schlagen großer Flügel. Dann hüllte sich Schwärze um seinen Verstand und er versank im Nichts.
6
Das gelbe Brett der Hornisse
ALS er die Augen öffnete, lag er im Zwielicht auf seinem Schlaflager im Fuchsbau. Hanta fühlte jeden Knochen im Körper - und zwar nicht auf eine angenehme Art. Lukka. Hanta richtete sich abrupt auf, hielt sich die Seite, die von einem Verband bedeckt war, und hinkte zur Öffnung, so schnell ihn seine schmerzenden Glieder trugen. Lukka. Gleißendes Sonnenlicht ließ ihn blinzeln. »Lukka, wo ist Lukka?«, rief er in der Hoffnung, jemand sei da, um ihm die lähmende Angst zu nehmen. Nicht schon wieder. Bilder schossen ihm in den Kopf. Taki, mein Freund Taki. Der Fuchswelpe, mit dem er seine ersten Lebenswochen verbracht hatte. Taki mit den blitzenden, freudigen Augen, Taki, wie er in Todesangst vor dem Geiferer flieht, Taki, wie er auf die Klippe zurennt, strauchelt, stürzt, auf den Abgrund zuschlittert. Nicht schon wieder, ich darf nicht schon wieder jemanden verlieren!
Selbst von so weit oben konnte der Geier, der mit angesengten Federn wieder in die Luft aufgestiegen war, sehen, wie der junge Fuchs ein Bein leicht nachzog. Er konnte sehen, dass er verletzt war, dass Muskeln gezerrt und Haut verbrannt war. Seine Sicht war scharf, sie war seine Waffe. Seine erste Waffe. Danach kamen seine anderen Waffen zum Einsatz. Er verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere und grub seine Klauen mühelos in die steinharte Rinde der Eiche, in deren Wipfel er saß. Einzig ein Eichhörnchen, das eine Haselnuss aus ihrer Schale klaubte, hatte ihn entdeckt und war im selben Augenblick, so schnell seine Füßchen es trugen, in ein Astloch geflohen und äugte nun ängstlich daraus hervor.
Hanta stolperte die Anhöhe hinunter. Er stöhnte. »Wo ist Lukka?«, rief er seinen Eltern zu, die mit Tarla zusammen im Rund vor dem Bau saßen und Leinen aus Pflanzenfasern flochten. »Du bist wach, mein Hanta«, sagte seine Mutter und kam ihm entgegen. »Du hast geschlafen wie ein Murmeltier.« Sie lächelte. Wie kann sie nur lächeln? »Wo ist Lukka?«, sagte Hanta und kam sich vor wie ein verrückter Vogel, der immer wieder den gleichen Satz wiederholte. »Es ist alles in Ordnung.« Mit diesen Worten nahm die Fuchsmutter Hanta in den Arm. Der Vater sagte: »Tatze und Lukka liegen beim Gevatter Dachs im Krankenlager. Liffi ist bei ihnen und hilft bei der Wundversorgung. Die beiden sind übel zugerichtet, aber du kennst sie. Da kommen sie durch.« Mit leiserer Stimme brummelte er: »Ich hab es euch doch gesagt. Das Ding ist gefährlich. Aber es hört ja keiner auf mich.« Noch als der Fuchsvater sprach, flatterte das Rotkehlchen durch die Luft, strauchelte wegen seines geschienten Flügels und landete unbeholfen auf Hantas Schnauze. Hanta fiel ein Stein vom Herzen, der so groß war, dass er seine Schmerzen beinahe vergaß. Lukka lebt. Und Tatze auch. Er plumpste zu Boden und lachte, bis er nach Luft rang. Als er wieder zu Atem kam, steckte er sich einen Strohhalm in den Mundwinkel und setzte sich das Rotkehlchen auf den Bauch. »Und was ist mit dir und deinem Flügel? Hat dich ein Uhu erwischt?«
»Pieps! Ich bin Robpi und ich weiß nicht genau was mit mir geschehen ist«, sagte das Rotkehlchen leise. Hanta musste seine Ohren so nah an den Schnabel des Rotkehlchens halten, dass dessen rostroter Flaum auf seiner Haut kitzelte. »Ich zog gestern einen Regenwurm aus dem alten Flussbett, da wo kein Wasser mehr fließt, weißt du. Und auf einmal ist alles dunkel geworden. Ich habe nur ein Rauschen gehört, als würden gigantische Flügel schlagen, aber…«, Robpi stierte nachdenklich in die Ferne und legte sein Köpfchen schief, »…aber so große Vögel gibt es nicht.« Robpi piepste mehrmals, beruhigte sich dann aber wieder und fuhr fort: »Ich bin sofort losgeflogen und eine Klaue versuchte mich von hinten zu packen und ich bin noch schneller geflogen und die Klaue kratzte schon an meinem Rücken«, Robpi zitterte, »und brachte mich damit aus dem Gleichgewicht und ich bin deswegen gegen einen Baum geflogen und hab mir den Flügel verletzt und ich glaube der große Vogel hat mich deswegen aus den Augen verloren und dann bin ich in den Laubhaufen gefallen und dann hab ich gepiepst und dann habt ihr mich gefunden und gerettet«. Robpi schmiegte sich an Hantas Wange und rieb sein Gefieder an ihm. »Danke.«
Am Nachmittag trabte Hanta mit Robpi auf der Schulter quer über die Steinpilzwiese, die den Fuchsbau in östlicher Richtung umgab, auf einen ausladenden Brombeerstrauch zu. »Siehst du die Brombeerhecke da vorne? Ich muss dir unbedingt etwas zeigen.« Als sie die Hecke erreichten, griff Hanta nach zwei Dornenranken und zog sie auseinander. »Vorsicht Hanta! Die Dornen!«, rief Robpi. Hanta lachte. Er freute sich, endlich jemandem seinen geheimen Ort zeigen zu können. Lukka hatte sich nicht so recht dafür interessiert. »Keine Angst Robpi, ich pass’ schon auf.« Er schlüpfte durch die entstandene Lücke mitten in die Brombeerhecke und sog scharf Luft ein, als ein Zweig seine verbrannte Flanke streifte. Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Nur wenige Lichtstrahlen fielen durch das Gestrüpp. Die Härchen auf seinen Läufen stellten sich schützend auf, um die Körperwärme zu halten. Es war kühl im Dickicht der Hecke. Robpi flatterte hinterher, aber Hanta griff ihn wieder aus der Luft und setzte ihn in die Brusttasche seiner Weste. Robpi machte es sich im grünen Leinen gemütlich. Hanta sagte: »Du musst dich schonen, dein Flügel ist noch verletzt. Weiß du was das für eine Hecke ist? Angeblich wurde sie vor langer, langer Zeit von Schattenpelz dem Starken gepflanzt, um den Hain vor Eindringlingen zu schützen. Dieser heroische Bär hat im ganzen Waldland Tiere in ihrer Heimat besucht, um ihnen beizubringen, wie man mit Dornenhecken, Erdwällen und Wassergräben sichere Horte erschafft. Das war bitter nötig, denn damals kamen in einem besonders harten Winter die Eiswölfe aus dem Norden und jagten unsere Vorfahren durch die Nacht.« Robpi hörte zu, mit Augen groß wie Walnüsse. Hanta fuhr fort: »Ja, und eines Tages kam er auch zum Hain und brachte die Setzlinge der Brombeerhecke mit, die jetzt den ganzen Hain umgibt, da wo er nicht vom Wasser des Kieselbachs geschützt ist. Ich habe diesen Eingang als Welpe entdeckt. Ich vermute inzwischen, dass Schattenpelz ihn absichtlich angelegt hat - als Geheimgang für den Notfall. Vielleicht zur Flucht, wenn alle Hoffnung verloren ist.« Eine Weile krochen sie im Zwielicht des Gebüsches, bis sich der Pfad, der eigentlich mehr ein Wildwechsel war, weitete und in einer Höhle aus Zweigen und Blättern mündete. »Und hier«, Hanta schob ein weiteres Mal die Äste auseinander, »liegt die Welt hinter dem Hain. Das Waldland.« Robpi reckte seinen Hals, um besser sehen zu können und fiel beinahe aus der Westentasche hinaus. Zwischen dem dornenbewehrten Holz der Brombeerhecke erschien eine Landschaft, die die Seele öffnete und das Herz berührte. Goldenes Licht strömte durch die Wipfel von Buchen und Erlen, Rotholzbäumen und Pappeln, deren Wipfel in der Ferne schwankten, Kastanien, Ahorn und ehrwürdigen Eichen. Ein Raubvogel ließ in der Ferne seinen Schrei ertönen. Wolkentupfer zogen über den Himmel, anmutig und leicht. Wasserläufe mäanderten durch das Land und der Wind, auf dem ein Schwalbenschwarm ritt, trug Düfte herüber - bekannte nach Blumen und Harz, und unbekannte, würzig und verheißungsvoll. Hanta atmete tief ein und seufzte. So sehr sein Magen sich aufgeregt zusammenzog, voller Vorahnung auf die Abenteuer dieser fremden und geheimnisvollen Welt, die nur darauf wartete, entdeckt zu werden, wenn er den Blick ins Waldland genoss - so sehr spürte er sein Glück, im sicheren Hain zu leben. Die Welt da draußen ist gefährlich. Beim Gedanken daran, wie seine Geschwister durch die Explosion in die Luft geschleudert worden waren, wurde ihm ganz übel. Es gelang ihm nicht, die Bilder von denen zu trennen, die ihn nachts heimsuchten. Mein Freund Taki. Der Geiferer hat uns zum Steilhang gehetzt. Du bist gestolpert. Du hast du den Halt an der Klippe verloren und bist in die Tiefe gestürzt. Ich habe überlebt, weil ich mich in einer Kuhle versteckt habe. Hanta schauerte. Es war alles meine Schuld. So wie gestern vor dem Waschbärbau. Ich kann einfach niemanden beschützen. Wenn ich nur so stark wäre wie Schattenpelz aus den alten Liedern, dann könnte ich alle retten und alle beschützen. Hanta erblickte etwas, das ihn von seinen trüben Gedanken ablenkte. »Robpi, siehst du das?«, sagte er und deutete mit einer Pfote auf den Wipfel einer nahe stehenden, vom Wind gekrümmten Erle. Robpi kniff die schwarzen Knopfaugen zusammen, legte den Kopf schief und starrte angestrengt in die Richtung, die Hanta ihm wies. »Hmmm…«, sagte Robpi. Er warf Hanta einen scheelen Blick zu und starrte dann wieder angestrengt vage in die gleiche Richtung. »Hmmm…«, sagte er noch einmal, wobei er von einem Bein auf das andere tänzelte und langsam nickte. Hanta hob die Schultern und ließ sie seufzend wieder fallen. »Du weißt nicht, was ich meine, oder?« Hanta merkte sich, wo die Erle ungefähr stand und machte sich auf den Weg aus der Hecke hinaus, in den Hain zurück. Robpi flatterte hinterher und zwitscherte ein unbeschwertes Lied. An der Hecke entlang, am Stein mit den Flechten vorbei, hinter den vier Birken. Das ist doch der Weg zum Kieselbach. Und richtig, die Erle wuchs ganz in der Nähe des Kieselbachs am anderen Ende des Hains. Hanta und Robpi standen jetzt vor dem Baum. Hanta reckte den Hals, um seine Entdeckung wiederzufinden. »Da ist es!«, stieß er hervor, schnappte sich Robpi aus der Luft und hielt seinen Kopf so, dass er es nicht übersehen konnte. Robpi zwitscherte aufgeregt und sagte: »Schon gut, schon gut, ich sehe es. Du meinst das gelbe Dings, das oben in der Baumkrone hängt.«
»Genau. Flieg und schau, ob du es lockern kannst.« Er warf Robpi hoch, der in Richtung Baumkrone auf das gelbe Etwas zutrudelte, es erreichte und darauf landete. Robpi begutachtete das gelbe Fundstück. »Hier ist ein Bild drauf. Und Gekritzel in schwarzer Farbe. Das Bild sieht aus wie eine…ja wie eine schwarze Hornisse. Brrrrr.« Robpi schüttelte sich, dass die Federn nur so flogen. »Ich mag keine Hornissen. Bienen sind mir lieber.« Er zog mit seinem Schnabel an der Platte, dann schob er wild mit den Flügeln schlagend, dann rüttelte er. Die Platte bewegte sich nicht einen Fingerbreit. Robpi kehrte zurück und sagte: »Keine Chance. Du musst hinaufklettern und das Brett lösen. Was ist mit dir, du bist auf einmal so blass.« Hanta wurde nervös - er wollte unbedingt wissen, was das für ein Teil war, hatte aber Höhenangst. Fahrig befummelte er die Rinde des Baumes und schätzte die Höhe ab. Er konnte klettern, ganz gut sogar, aber seine Erfahrung beschränkte sich auf die Dämme und Niederungen, die Wackersteine und Sträucher im Hain. Bäume versuchte er zu vermeiden. Er vermutete, dass das gelbe Brett ungefähr in sechs Ellen Höhe hing. Zwei Ellen waren etwa so viel wie ein Fuchs lang war, von Nasenspitze zum Schwanz. Nicht so hoch, dass ihm wirklich schwindelig wurde, aber hoch genug, um ihm ein gehöriges Unwohlsein zu bereiten. Die krumme Erle stand nicht wirklich senkrecht, sondern in einem sanften Winkel zum Erdboden. Schließlich siegte die Neugier und er bestieg den schiefen Baumstamm über die unteren Zweige und bis hin zur gelben Platte. Er streckte den Arm aus, griff nach der Platte und zog mit einem Ruck daran. Knackend gab sie nach, rutschte ihm aus der Pfote, fiel zu Boden und blieb mit einem knirschenden Geräusch in der Erde stecken. Hanta taumelte, hielt sich fest und atmete tief durch. Sein Bein schmerzte und die versengten Stellen in seinem Fell juckten. Er wusste zwar, dass man heilende Verbrennungen auf keinen Fall wieder aufkratzen sollte, aber in der Schwüle war die Versuchung, sich durch Kratzen Erleichterung zu schaffen, wahnsinnig groß. Er stieg hinab und begutachtete den Fund, auf dessen Kante Robpi saß. Es handelte sich um knallgelbes, plattes Stück aus einem kalten Material, das Hanta fremd war. Die Kanten waren zackig, wie als wäre das Stück aus einem größeren Ding gewaltsam herausgerissen worden. Kann es sein, dass….Hanta ließ seinen Blick in Richtung Waschbärbau wandern, aber schüttelte dann den Kopf. Auf der Platte prangte eine symbolisierte Hornisse, die bedrohlich ihren Stachel ausgefahren hatte. Daneben standen einige Lettern in einer fremden Schrift, die Hanta nicht lesen konnte. »Wenn überhaupt jemand im Hain die Schrift lesen kann, dann Gevatter Dachs«, sagte er. Hanta nahm die geheimnisvolle Platte unter den Arm und machte sich gemeinsam mit dem Rotkehlchen auf den Weg zurück zum Fuchsbau, um herauszufinden, was es mit dem Ding auf sich hatte.
7
Neue Gesichter
»DAS sollte für die beiden Chaoten reichen«, sagte Liffi naserümpfend, schlug Nüsse, Beerenbrot und einen großen Räucheraal in Ölpapier ein und machte sich auf den Weg zum Bau von Gevatter Dachs. Er hatte Lukka und Tatze versorgt und stand nun im Fuchsbau, um über den Stand der Heilung zu berichten. Tarla saß auf dem Schoß der Mutter, klaubte fröhlich mit ihren speckigen Pfötchen Heidelbeeren aus einer Schale und warf sie auf den Boden. Auf dem Eichenstumpf stand ein Tiegel Kräuterbutter neben einem dampfenden, frisch gebackenen Brot. Das Rotkehlchen hopste mit einer Heidelbeere im Schnabel über den Tisch und unternahm von Zeit und Zeit einen unbeholfenen Flugversuch, der oft im Staub zwischen den Pfoten der Füchse endete.
Der Fuchsvater fragte: »Hanta, sag mal, was war das denn nun im Waschbärbau? Und habt ihr die Waschbärfamilie gesehen?« Hanta erzählte, was geschehen war. Nachdenklich wiegte der Vater seinen Kopf. »So etwas Seltsames. Was für ein Tier macht so etwas?«
Die Fuchsmutter blickte besorgt in die Runde. »Keines aus dem Hain. Den Donnerknall hat man bis hier gehört und nun wagt sich niemand mehr auch nur annähernd in die Gegend am Kieselbach. Was nur aus den Waschbären geworden ist. Ich wünschte nur, ihr würdet auf euren Vater hören und euch nicht immer in Schwierigkeiten bringen, gerade du Hanta. Tatze und Lukka stecken das weg, aber du…« Hanta pflückte sein Beerenbrot auseinander, aber ihm war die Lust am Essen vergangen. Ich war ja wohl derjenige, der die anderen davon abhalten wollte. Um das Thema von ihm abzulenken, sagte er: »Vielleicht sollten wir jemanden schicken, der die Waschbären sucht? Bestimmt brauchen sie Hilfe. Sie haben ja auch eine Tochter und wer weiß, ob sie genug zu essen haben.« Ein Rascheln ertönte in einem Haselstrauch gleich neben dem Eichentisch. Hanta kniff die Augen zusammen, doch er konnte nichts Auffälliges an dem Strauch erkennen. »Gleich morgen gehe ich los und sehe nach den Waschbären«, sagte der Fuchsvater, als wieder der Ruf des Raubvogels über den Wolken erklang, den Hanta bereits in der Hecke gehört hatte. Diesmal erschien er viel näher. »Ist das Regenschwinge?« Das Gesicht des Fuchsvaters wandelte sich von Besorgnis zu Erstaunen und wieder zurück. »Regenschwinge hat sich ewig nicht mehr im Hain blicken lassen. Letztes Mal, als er kam, brachte er Kunde von einem Wahnsinnigen, der durch das Land jagte. Und dann kam der Geiferer.« Hantas Magen krampfte sich zusammen. Die Fuchsmutter schien Hantas Unbehagen bemerkt zu haben und legte ihm sanft ihre Pfote auf den Arm. Gevatter Dachs betrachtete ihn aufmerksam und sagte: »Ja, der Geiferer. Das war nicht deine Verantwortung Hanta, das habe ich dir schon sehr oft gesagt. Das war eine Prüfung des Waldes. Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr so recht, aber am Morgen, des Tages, an dem die Sonne verschwand, leuchtete der Himmel blutrot. Dann tauchte diese Kreatur auf, groß wie ein Wolf, mit einer Mähne wie ein Pferd, gefleckt und stark wie ein Gewitter. Sie war es, nicht du, die deinen Freund Taki bis zur Klippe gejagt hat. Sie war es, die dafür verantwortlich ist, dass er hinabgestürzt ist. Als diese Kreatur, der Geiferer, ihr Ende fand, im Knochenloch bei der alten Ulme, wurde der Tag zur Nacht, obwohl es gerade einmal Mittag war. Deswegen nennen wir diese unheilvolle Zeit eben auch den Tag, an dem die Sonne verschwand.« Gevatter Dachs schüttelte den Kopf wie um einen düsteren Gedanken abzuwerfen. Er sagte nichts weiter. Hanta war sich sicher, den Tag gut in Erinnerung zu haben, aber das stimmte anscheinend nicht. Er wusste nicht, dass der Geiferer im, wie hatte Gevatter Dachs es genannt, Knochenloch steckte. Bislang hatte er gedacht, der Geiferer sei einfach so aus dem Hain verschwunden. Er wusste nur, dass die Gegend im Mohnfeld bei der alten Ulme tabu war, niemand, vor allem keines der Tierkinder durfte sich dort blicken lassen, ohne richtig Ärger zu kriegen. Ein drittes Mal ertönte der Ruf eines Raubvogels und riss Hanta aus seinen Gedanken. Der Fuchsvater blickte gen Himmel und murmelte: »Regenschwinges Erscheinen verheißt nichts Gutes. Seltsame Dinge geschehen derzeit, seltsame Dinge.«
Ein Paar fliederfarbener Augen, das von zwei Flecken dunklen Fells gerahmt war, beobachtete das Mahl der Füchse aufmerksam aus einem Haselstrauch heraus. Es gehörte einer jungen Waschbärin, die eine Fasanenfeder und ein paar auf Schnüre gezogene, blaue Holzperlen hinter dem Ohr trug, eine kieselgraue Pumphose, die ihr bis zu den Knöcheln reichte und ein weites Hemd aus violettem Leinen. Sie hielt eine Pergamentrolle, die mit einem Band zugeschnürt war.
»Ich werde eine Laterne aufhängen, damit Regenschwinge im Dunkeln den Hain findet und auf ihn warten.« Der Fuchsvater nahm ein weiteres Bündel mit Proviant auf, das für die Waschbärenfamilie bestimmt war. Dann sagte er: »Und wir sollten darüber nachdenken, ob die junge Waschbärin in der Notunterkunft so gut aufgehoben ist. Wenn wir sie gefunden haben.« Die anderen Tiere murmelten zustimmend, standen auf und schickten sich gerade an, die Nacht einzuläuten und ihren eigenen Geschäften nachzugehen, als erneut etwas im Gebüsch raschelte. Jemand trat aus dem Schatten des Haselstrauchs heraus. »Ähem«, hüstelte die Gestalt, »redet ihr vielleicht über mich?« Die Füchse drehten ihre Köpfe - und Hanta schoss das Blut in die Wangen. Die Waschbärin vom Kieselbach war gekommen. Rasch strich er sich sein Fell auf dem Kopf glatt und klopfte seine Hose ab, aus deren brauner Wolle nun Wolken von Staub und Erde stoben. »Ich bin Keko. Hallo«, sagte die Waschbärin und winkte den anwesenden Tieren zu. Man rückte schnell einen Hocker aus Weidengeflecht an den Eichenstumpf und reichte ihr einen Rindenbecher mit süßem Ahornsaft. Die Dämmerung hatte der Nacht Platz gemacht und so saßen die Tiere im Schein der Laterne eng aneinander um den Tisch herum. Zu Hantas Rechten stützte sich Gevatter Dachs auf einen Stab aus Wurzelholz, der so alt war, dass seine Pfote die Oberfläche schon glattpoliert hatte. An der Spitze des Stabes krümmte sich das Holz in einer Spirale, an die der Dachs allerlei Kuriositäten gebunden hatte: Bündel getrockneter Kräuter, lederne Säckchen, die einen seltsamen Duft absonderten, verwitterte Knochen und frische, junge Wurzeln. Jetzt beugte er sich über die Schriftrolle, die Keko in der Hand hielt. Dabei hielt er seine Halskette aus aufgereihtem Feuerstein mit der Pfote zur Seite, damit sie nicht im Weg hing. Er fragte Keko mit seiner raschelnden Stimme, die sich anhörte, als würde man altes Laub aufwühlen: »Was hast du uns mitgebracht, Kind?« Die Fuchsmutter zog die Stirn kraus und sagte: »Lass sie doch erstmal trinken - sie wird uns schon sagen, wieso sie zu uns gekommen ist.«
»Schon gut«, sagte Keko. »Es gibt eigentlich zwei Gründe, wieso ich hier bin. Wir, also meine Eltern und ich, sind aus unserem Bau geflohen, als das komische Wesen über das Wasser kam. Jetzt sind wir knapp mit Nahrung. Wasser gibt es genug, wir haben eine Unterkunft bei der großen Roteiche aus Stöcken und Blättern gebaut. Da sind immer viele Pfützen.« Gevatter Dachs hob eine Augenbraue und sagte: »Vorsicht vor dem abgestandenen Wasser aus Pfützen, je länger es steht und je wärmer es wird, desto schneller siedeln sich dort krankmachende Geister an. Im Dunkeln kannst du sie sehen - winzige weißgelbe Dinger, wie Würmchen sehen sie aus. Andere legen sich wie ein grünlich-blauer Schleier auf die Oberfläche.« Er löste einen der Beutel, die an seinem Stab baumelten, und reichte ihn Keko. »Sammelt Wasser in einem Topf und kippt zwei Fingerspitzen von diesem Pulver hinein. Wartet solange, wie ein Specht braucht, um durch die Rinde einer Eiche zu kommen. Dann ist es genießbar.« Keko bedankte sich und verstaute den Beutel in ihrer weiten Hose. Während sie die inzwischen schlafende Tarla auf den Knien wiegte, sagte die Fuchsmutter: »Und was das Essen betrifft, Hanta kann mit dir kommen und ein Päckchen mitnehmen. Ich werde dir gleich eines schnüren.« Keko lächelte und bedankte sich ein zweites Mal. Hanta rutschte unruhig auf seinem Schemel hin und her. Der Gedanke, alleine mit Keko zu sein, war aufregend. Er sagte: »In Ordnung.« Keko fuhr fort: »Und das Zweite ist…ich dachte, wenn ich schon mal hier bin…« Ihre Stimme wurde leiser und sie beäugte ihre Schriftrolle, die sie noch immer nicht losgelassen hatte. Gevatter Dachs blickte unter buschigen Augenbrauen aufmerksam hervor. »Ist schon gut, du bist unter Freunden. Du willst uns offensichtlich etwas fragen, was mit dieser Schriftrolle zu tun hat. Ich glaube allerdings nicht, dass einer der hier Anwesenden des Lesens fremder Sprachen mächtig ist. Mich eingeschlossen.« Hanta sah erstaunt auf. Der Dachs war das älteste und gebildetste Tier, das er kannte. Er hatte doch gehofft, dass Gevatter Dachs die geheimnisvolle gelbe Platte untersuchen könnte. Also fragte er, mit einem leichten Ton der Enttäuschung: »Du kannst nicht lesen? Ich dachte immer, du wüsstest alles.« Gevatter Dachs zog seine Mundwinkel zu einem Grinsen hoch und entblößte ein Gebiss, das einst stark gewesen sein musste, aber jetzt mehr nach dem Totholz am Krötenweiher aussah. Schwarzbraun und mit vielen Lücken. »Der Hain ist meine Heimat und der Mittelpunkt meines Wissens. Alles, was wir hier brauchen, liegt in meinen Fähigkeiten. Unsere einfache Waldschrift beherrsche ich, aber es gibt viele Sprachen und Dialekte im Waldland. Wir im Hain bedienen uns tatsächlich auch einer speziellen Form der Waldschrift, die von Fremden nicht unbedingt verstanden wird. Ich habe die Heilkunst von meinem Vater gelernt, und der von seinem Vater, der sie von seinem Vater gelernt hat. Und auch der ist nie wirklich außerhalb unserer Gegend gewesen. Ich bin ein Heiler, Hanta, kein Gelehrter. Ich bin kein Baumling, auch wenn es für euch manchmal so erscheint, weil ich ein wenig mehr über die Phänomene der Natur und des Körpers weiß als andere.« Hanta wagte nicht, zu fragen, was ein Baumling war, da anscheinend alle anderen wussten, was ein Baumling war. Oder zumindest so taten. Keko seufzte und sagte: »Also könnt ihr auch nicht entziffern, was hier geschrieben steht? Dann muss ich warten, bis endlich jemand kommt, der Lesen kann.« Der Fuchsvater mischte sich in die Unterhaltung ein: »Ich habe heute Regenschwinge am Himmel gehört, der kann Lesen. Er müsste jeden Augenblick eintreffen.« Dabei blickte er suchend gen Himmel. Der war pechschwarz, bis auf einen Schwarm Glühwürmchen, die über die Wiese tanzten und einen Hauch von grünem Licht auf die Blätter warfen.
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Das Manuskript