Harms und die Schatten der Kinder - Kai Riedemann - E-Book

Harms und die Schatten der Kinder E-Book

Kai Riedemann

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Beschreibung

Auch in seinem neuen Job als Friedhofsgärtner findet Ex-Polizist Paul Harms keine Ruhe. Was steckt hinter den Drohungen, die offenbar gegen seine frühere Kollegin Annette Rabenstein gerichtet sind? Als sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten, ist der Ermittler wider Willen erneut mittendrin in einem rätselhaften Fall. Seine Recherchen führen ihn an die Ostseeküste und weit zurück in die Vergangenheit - zu den Schatten der Verschickungskinder aus den 1960er-Jahren. Zweiter Fall des Ermittlers mit einer Gabe, die Fluch und Segen zugleich ist: Harms erlebt Verbrechen, als wäre er selbst dabei gewesen.

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Seitenzahl: 204

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Autor

Kai Riedemann wurde 1957 in Elmshorn (Schleswig-Holstein) geboren und ist heute überzeugter Wahlhamburger. Das Studium der Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft schloss er mit einer Dissertation über die Comic-Strip-Serie »Peanuts« ab. Seitdem arbeitet er als Redakteur bei TV-Zeitschriften.

Erste Kurzgeschichten erschienen schon während der Schulzeit, u. a. in der Heftroman-Serie »Raumschiff Promet« und dem »Heyne SF-Story-Reader«. Obwohl inzwischen mehr als 250 Veröffentlichungen in Genres wie Science-Fiction, Fantasy, Krimi, Kinderliteratur sowie als Beiträge für Kabarett und Kindertheater folgten, ist Schreiben stets ein Hobby geblieben.

Im Jahr 2024 erschienen seine besten Science-Fiction-Storys unter dem Titel »Die Welten des Kai Riedemann«. Zum Krimi-Genre kam er vor allem durch seine zehnjährige Tätigkeit als Lektor einer Kurzkrimi-Rubrik für eine Zeitschrift.

Kinderseelen sind wie Schmetterlingsflügel,

genauso zart und zerbrechlich.

Kapitel 1

Donnerstag, 29. Juni:

Ewige Lichter erlöschen, und auch einem Riesenbaby fehlt die Erleuchtung

Freitag, 30. Juni:

Harms geht vor Anker, und Annette geht grußlos

Samstag, 8. Juli:

Tee ist gut für die Seele, und Harms fühlt sich schlecht

Sonntag, 9. Juli:

Ein Friedhofsgärtner blickt auf Vergängliches, und Amor zielt auf Venus

Donnerstag, 13. Juli:

Trottellummen fliegen, und eine Hand landet im Labor

Samstag, 15. Juli:

Apollo 11 enttäuscht, und eine Rentnerin überrascht

Sonntag, 16. Juli:

Ein Polizeibericht liefert Tatsachen, und Harms sieht den Tod

Montag, 17. Juli:

Kirchererbsencurry verleiht Flügel, und Ameisen werden paarungswillig

Dienstag, 18. Juli:

Eine Tote schwimmt im Fleet, und auch die Eisprinzessin taucht wieder auf

Mittwoch, 19. Juli:

Fatih schnuppert, und Harms schmeckt nach Lakritz

Donnerstag, 20. Juli:

Harms hängt Uwe Jensen ab, und ein Verdächtiger hängt an der Decke

Kapitel 2

Samstag, 29. Juli:

Zaunwinde begräbt das Zwergmispelbeet, und eine Urne kommt in die Erde

Samstag, 5. August:

Die Addams-Family serviert Überraschungen, und die Hankes schenken ein

Mittwoch, 9. August:

Harms rückt eine Vase gerade, und das Riesenbaby schaut ihn schief an

Freitag, 11. August:

Harms macht seinen Job, und Inga macht der Polizei die Hölle heiß

Samstag, 12. August:

Das Meer ist besser als Gülle, und eine Kellnerin weiß mehr

Sonntag, 13. August:

Eine Spur wird heiß, und ein Berg bleibt kalt

Sonntag, 13. August:

Karla riecht nach Sonnenöl, und ein Täter wird bestechend

Kapitel 3

Dienstag,15. August:

Harms sucht nach Gold, und Inga findet einen Namen

Mittwoch, 16. August:

Karla fährt nach Vorschrift, und am Lehrerpult steht der Rohrstock

Donnerstag, 17. August:

Ein Messer verbindet, und ein Altar trennt

Freitag, 18. August:

Wellen nagen am Ufer, und Nager übernehmen die Macht

Sonntag, 20. August:

Hilde Jakobsen erinnert sich, und Tatjana Petrowa outet sich

Montag, 21. August:

Buxus sempervirens ist tot, und die Vögel schweigen

Montag, 21. August:

Ein Herz aus Stein glänzt, und ein Kromfohrländer knurrt

Kapitel 4

Donnerstag, 24. August:

Harms findet eine ertränkte Tulpe, und einem Gesuchten geht es auch nicht besser

Donnerstag, 24. August:

Weißbier schlägt Döner, und ein Engel bringt den Tod

Samstag, 26. August:

Harms sieht einen Mord, und Rie- senohrspringmäuse hören alles

Samstag, 2. September:

Zuckerwatte lockt, und espressobraune Augen drohen

Sonntag, 3. September:

Die Vergangenheit ist entsorgt, und ein Kuss bleibt unvergessen

Sonntag, 3. September:

Harms kennt den Schuldigen, und Karla kennt keine Angst

Epilog

Montag, 4. September:

Möwen suchen nach Miesmuscheln, und im Strandkorb findet man Vertrauen

Kurzgeschichte

Harms

und der Tod auf der Cowboyinsel

KAPITEL 1

Donnerstag, 29. Juni:Ewige Lichter erlöschen, und auch einem Riesenbaby fehlt die Erleuchtung

Die stürmische Nacht hat Spuren hinterlassen. Trockene Äste, die den Naturgewalten nicht standhalten konnten, liegen quer über den Gräbern, umgeknickte Rosenstöcke lassen ihre gerade erst erblühten Köpfe hängen. Kerzen in roten Plastikbechern, die als Ewiges Licht an die Gegenwart Gottes erinnern sollten, sind erloschen und über die Rasenflächen verstreut. Auf den Wegen steht das Wasser. Sogar die großen grünen Abfallbehälter hat der Sturm umgeworfen, ihre Deckel dürften wie Frisbeescheiben durch die Gewitterluft geflogen sein. Harms wird sie zwischen den Grabsteinen zusammensuchen müssen.

Viel Arbeit für einen Donnerstagmorgen, an dem sich der Friedhofsgärtner aus Leidenschaft eigentlich um die Neugestaltung einer Freifläche kümmern wollte. Bienenfreundliche Beete. Doch das muss warten.

Paul Harms unterdrückt ein Seufzen und blickt zum Himmel, über den noch immer dunkle Wolken jagen. Vermutlich wird es weitere Schauer geben. Er stapft mit seinen grünen Gummistiefeln durch Pfützen, bis er ein Grab erreicht, das fast vollständig von einem abgebrochenen Ast der nahen Trauerbuche bedeckt wird. Ausgerechnet dieses Grab. Harms weiß nur zu gut, wer dort beerdigt wurde. Hendrik Rasmussen, 27 Jahre alt, Politologiestudent. Angeblich Opfer eines Verkehrsunfalls, in Wahrheit getötet durch jene rechtsextreme Esoteriksekte, die auch ihn fast auf dem Gewissen gehabt hätte. Nicht darüber nachdenken, nicht schon wieder die Feuersbrunst von damals nacherleben. Das Kapitel ist abgeschlossen.1

Harms wuchtet den Ast vom Grab. Die im letzten Jahr sorgsam gepflanzten Golderdbeeren haben nicht gelitten, nur der Porzellanengel, den Sarah Rasmussen für ihren toten Bruder aufgestellt hat, beklagt einen fehlenden Flügel. Vom Grabstein, auf dem damals die Sekte »Fahr zur Hölle!« und darunter ein Hakenkreuz gemalt hatte, entfernt er einen weiteren Ast.

»Die Geschichte lässt dich nicht los, oder?«

Harms dreht sich um und blickt dem Frager verblüfft ins Gesicht. Ein Déjà-vu-Gefühl überfällt ihn mit aller Macht. Der Mann ist zu groß, zu dick, seine Nase ist zu breit und sein Haar zu rot. Ein Riesenbaby, das sich nie in der Menge verstecken könnte. Uwe Jensen, Kriminalhauptkommissar und ehemaliger Kollege des jetzigen Friedhofsgärtners.

»Ich will keinen neuen Fall, Uwe.«

Der Rothaarige öffnet den Mund, sagt aber erst mal nichts. Nur seine graugrünen Augen weiten sich.

»Du hättest Hellseher werden sollen, Paul.«

»Bin ich doch auch. Beim letzten Mal, als du hier auf meinem Friedhof aufgetaucht bist, fing jedenfalls alles wieder an.«

»Sei nicht unfair. Das war mein Fall. Du hast dich eingemischt.«

Klingt ernst. Grinst das Riesenbaby dabei? Nach all den Jahren fällt es Harms immer noch schwer, solche Aussagen seines Freundes richtig einzuschätzen.

Er rückt den Porzellanengel gerade und steigt dann über die niedrige Lebensbaumhecke zurück auf den Weg zwischen den Gräbern.

»Hast du Zeit für mich, Paul?«

»Nein.«

»Ich brauche deinen Rat.«

»Nein.«

»Okay. Setzen wir uns auf die Bank dort drüben.«

»Nein.«

Trotzdem folgt Harms dem ehemaligen Kollegen, befreit die Holzbank von Blütenresten und herzförmigen Blättern, die aus der Höhe der Lindenbäume herabgefallen sind, wischt die Spuren des Regens weg, setzt sich und wartet.

Jensen setzt sich ebenfalls und schweigt.

»Keine guten Nachrichten?«

Jensen schweigt weiter und blickt zu Boden. Rund um die Bank wimmelt es von rotschwarzem Getier. Gemeine Feuerwanzen. Sie lieben es gesellig. Auf einem trockenen Zweig direkt neben seinen Füßen sitzen sie zu Dutzenden, als wollten sie sich das Holz mit vereintem Hunger einverleiben. Jensen mag es nicht gesellig und bleibt lieber allein.

Die Feuerwanzen halten sich daran, die Ameisen nicht. Gleich zehn krabbeln über die Rückenlehne der Bank näher. Sie haben es auf das grasgrüne Hemd abgesehen, das der Kriminalhauptkommissar unvorsichtigerweise angezogen hat. Dazu gesellen sich Spinnen und winzige weiße Insekten, die wie Albinozombies auf ihn zukriechen.

»Raus mit der Sprache«, brummt Harms. »Bevor dich die Viecher auffressen. Geht es um Mariella Pelanda?«

»Indirekt. Du weißt ja, dass sie nach der Geschichte mit der Sekte suspendiert wurde. Das Ermittlungsverfahren zieht sich. Es geht um ihre Nachfolgerin im Team. Annette Rabenstein.«

»Hat sie es also geschafft.«

»Ja, Paul. Sie wurde zur Kriminalkommissarin befördert. Hat sie deiner guten Ausbildung zu verdanken.« Jensen schubst zwei besonders aufdringliche Ameisen vom Hemdkragen.

»Was ist mit ihr?«

Das Riesenbaby fährt sich mit der rechten Hand übers struppige rote Haar, aus dem prompt eine Ameise fällt, und zieht ein zerknicktes Stück Papier aus der hinteren Jeanstasche.

»Lies selbst. Dann verstehst du, warum ich hier bin.«

Die Kopie eines Polizeiprotokolls. Kurz und sachlich. An einigen Stellen durch das mehrfache Knicken schwer lesbar.

Harms liest. Die bürokratenhafte Sprache ist ihm vertraut. Er hofft nur, dass sich nicht wieder Bilder in seinen Kopf schleichen. Bilder, die ihn jedes Detail des Geschehens erleben lassen. Er hofft vergeblich.

Auf den Blättern der Petunien glitzert der Morgentau. Nur das Gurren der Tauben unterbricht die Stille auf dem Hermannsplatz. Die Vögel hüpfen über das Dach des schmucklosen Polizeigebäudes, picken in den Rundbeeten, hocken auf der Rückenlehne der einzigen Parkbank. Eine Elster flattert herbei und verjagt die Tauben. Sie interessiert sich für das Paket, das auf dem rissigen Holz der Bank liegt. Braunes Packpapier, mit grober Schnur zusammengebunden. Während sich die aufgehende Junisonne in den Fensterfronten spiegelt und die dahinterliegenden Büros langsam aufheizt, ruht das Paket im Schatten einer Eiche. An der rechten Seite ist das Papier durchgefeuchtet, rote Flüssigkeit tropft auf die Pflastersteine. Die Elster zerrt neugierig an der Schnur, lässt aber schnell von ihrer Beute ab. Auch sonst scheint niemand das Paket zu beachten. Bis eine Frau im zu engen Polyacrylkleid mit ihrem Rehpinscher nähertrippelt. Der Hund zerrt an der Leine, springt auf die Parkbank, schnuppert, stellt seine Ohren auf und beginnt zu kläffen. Die Frau will ihn weiterziehen. Dann entdeckt sie die rote Pfütze am Boden und schreit.

Szenenwechsel. Polizisten haben die Parkbank im Schatten der Eiche abgeriegelt. Rotweißes Plastikband flattert im Wind, während die Flüssigkeit weiter tropft. Durch die plötzliche Hektik haben die Tauben längst das Weite gesucht. Die Zahl der Uniformierten übersteigt das übliche Maß, da der Fundort direkt vor dem Dienstgebäude liegt. Stimmengewirr, Kameras klicken. Die Redaktionsbüros der Presse befinden sich ebenfalls fast in Sichtweite. Während die Frau mit dem Rehpinscher ihre Entdeckung zu Protokoll gibt, gehen die Experten der Spurensicherung auf dem Hermannsplatz akribisch vor. Proben nehmen, nach Fuß- und Fingerabdrücken suchen. Auf dem Paket ist kein Absender vermerkt, wohl aber ein Empfänger. »Annette« steht handschriftlich in der rechten unteren Ecke, fast unleserlich durch die Flüssigkeit, die das braune Packpapier durchnässt und immer noch tropft. Da der Boden etwas abschüssig ist, bahnt sich ein rotes Rinnsal den Weg zum nächsten Petunienbeet.

Die Bilder verblassen. Das Paket. Der Rehpinscher. Das flatternde Absperrband im Wind. Nein, übersinnliche Fähigkeiten hat Harms nicht. Die Filme, die vor seinen Augen ablaufen, fügen lediglich alle Details zusammen. Einzelbilder, die sich zu einem neuen Ganzen verbinden, so lebendig und plastisch wie die Wirklichkeit. Keine Fantasie, sondern das Ergebnis von Tatsachen. Bei den Kollegen von der Mordkommission hieß Harms trotzdem »Spökenkieker«. Es hat ihn nicht gestört, denn im Norden klingt diese Bezeichnung fast schon liebevoll. Spökenkieker. Geisterseher. Hellseher.

Jensen weiß das alles und schweigt. Er lässt Paul Harms genug Zeit, um die Bilder zu verarbeiten. Er kennt auch die Probleme, die sein ehemaliger Kollege damit hat. Der Spott der anderen Ermittler tat nicht weh, aber die Filme selbst schmerzten immer mehr. Wenn er nach dem Lesen der Obduktionsberichte und Tatortprotokolle plötzlich die Qualen der Opfer erlebte. Wenn er direkt vor sich sah, wie sich kräftige Hände um einen Hals schlossen, wie Kinder missbraucht oder getötet wurden. Das hält man nicht aus. So emotionslos das Riesenbaby oft auch wirken mag, die Entscheidung von Paul Harms, damals den Dienst zu quittieren, konnte er nachvollziehen. Hat er zumindest gesagt.

Nicht gutheißen, aber nachvollziehen.

»Hast du das ganze Protokoll gelesen?«, fragt Jensen.

Harms schüttelt den Kopf.

»Nicht bis zum Schluss. Zu viele Bilder.«

»Dann fasse ich den Rest für dich zusammen. Die Überwachungskameras haben nichts Verwertbares geliefert. Die Bank, auf der das Paket lag, wird komplett von der Eiche verdeckt. Zu sehen ist kurz mal eine Gestalt im dunklen Kapuzenpulli. Zu unscharf.«

»Könnte also auch Arnold Schwarzenegger sein.«

»Warum? Dafür war die Gestalt zu klein.« Humor gehört bei Uwe Jensen nicht zur Kernkompetenz. »Ach so, entschuldige. Weiter. Auf dem aufgeweichten Packpapier haben die Kollegen eine Zeichnung entdeckt. Vielleicht ein Vogel. Im Paket selbst waren eine tote Ratte und eine Hand aus Plastik. So etwas gibt es ja für Halloween zu kaufen. Außerdem ein Foto von einem bislang nicht identifizierten Gebäude.«

»Und das Blut?«

»Kunstblut, wie es für Theater und Film verwendet wird. Sagen die Laborexperten.«

»Also ein makabrer Scherz?«

Uwe Jensen zuckt mit den Schultern. »Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch eine Warnung. An eine Annette. Annette Rabenstein. Wäre möglich, oder?«

Harms brummt etwas Unverständliches. »Vieles ist möglich. Es gibt mehr als eine Annette auf der Welt.«

»Aber nicht in unserer Mannschaft. Der gezeichnete Vogel könnte ein Rabe sein. Außerdem verhält sie sich merkwürdig.«

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Mit ihr reden. Du hattest immer ein gutes Verhältnis zu ihr.«

Harms brummt wieder. Das mit dem guten Verhältnis möchte er nicht kommentieren. Ja, sie hatten mal ein gutes Verhältnis. Aber das ist lange her. Annette Rabenstein. Er hat sie aus seiner Erinnerung verdrängt.

Also steht Harms auf, klopft den Schmutz der Parkbank von der Arbeitshose, scheucht dabei ein schreckhaftes Wildkaninchen auf und geht wortlos zurück zum Grab.

»Ich habe zu tun. Das siehst du doch, Uwe.«

Jensen folgt ihm. Seine Jeans haben hinten dunkle Flecken. Das Holz der Bank war zu nass vom letzten Unwetter. Die rotschwarzen Feuerkäfer bleiben zurück, nur einige Ameisen krabbeln unbemerkt weiter auf seiner Schulter.

»Paul, bitte! Tu es für Annette. Irgendetwas stimmt da nicht.«

»Nein!«, sagt Harms. »Ich lasse mich nicht wieder in einen neuen Fall hineinziehen. Ich bin jetzt Friedhofsgärtner.« Er packt mit einer zu energischen Bewegung den mächtigen Ast, der auf Hendrik Rasmussens Grab gelegen hat, um ihn zum Hauptweg zu schleifen. Der ist von herabgefallenen Blütenresten der Linden wie von einem gelbbraunen Teppich bedeckt. Er sieht nicht, dass Uwe Jensen lächelt.

Freitag, 30. Juni:Harms geht vor Anker, und Annette geht grußlos

Sie sitzt an ihrem Stammplatz und blickt nicht mal auf, als Paul Harms »Hallo!« sagt. Alles hier ist dunkel. Die Tische, die Balken, die maritime Dekoration am Tresen. Dagegen kämpfen die von der ebenfalls dunklen Decke herabhängenden Laternen vergeblich an. Ihr Licht reicht allerdings, um das Labskaus auf ihrem Teller erkennen zu können. Kriminalkommissarin Annette Rabenstein stochert darin herum, spießt schließlich ein Stück Rote Bete auf und betrachtet nachdenklich das kleine Rosentattoo auf ihrem Handrücken.

»Du hättest gebratene Heringe bestellen sollen«, sagt Harms. Heute ist Freitag und somit Heringstag im ›Anker‹.

»Danke für den Tipp. Hat Uwe dich geschickt?«

»Vielleicht.«

»Uwe nervt.«

»Er macht sich Sorgen um dich.« Harms schiebt die Salzund Pfefferstreuer zur Seite, um mehr Platz auf dem rustikalen Holztisch zu haben.

»Unsinn. Außerdem war es kein Blut.«

»Wie bitte?«

»In dem Paket. Nichts, was auf ein Verbrechen hinweist. Einfach nur Theaterblut.«

»Ich weiß. An deiner Stelle würde ich das Ganze trotzdem nicht auf die leichte Schulter nehmen.«

»Danke. Und was ist die Botschaft hinter deiner Botschaft?«

Annette schiebt sich ein Stück Spiegelei in den Mund und spült mit einem Schluck Pils nach.

»Keine Botschaft. Nur eine freundliche Ermahnung zur Vorsicht an die reizende Kollegin Annette Rabenstein.«

Die Kellnerin bringt ihm ungefragt ein Glas Rotbier. Der ehemalige Kriminalhauptkommissar ist nicht das erste Mal hier. Und nicht das erste Mal mit Annette.

»Uwe hält die Sache mit dem Paket keineswegs für einen Scherz.«

»Sondern?«

»Eine Drohung.«

»Kinderkram. Plastikhand und tote Ratte in braunem Packpapier, direkt vorm LKA abgelegt. Vergiss es einfach, Paul.« Ihr blasses Gesicht mit der zu großen Brille wirkt wie versteinert. Harms fragt sich, was wirklich in seiner ehemaligen Kollegin vor sich geht. Im schummerigen Licht der Laterne über dem Tisch kann er ihre Augen nicht sehen.

»Uwe ist da anderer Ansicht. Außerdem …« Er schlürft den Schaum von seinem Bier. »Außerdem stand der Name Annette auf dem Paket.«

Sie wirft den Kopf so heftig zurück, dass die blonden Locken auf und ab tanzen.

»Ach ja? Und was soll ich jetzt mit dieser Information anfangen? Weißt du, wie viele Annettes jetzt zittern müssten?«

Dazu sagt Harms nichts mehr. Sein Blick wandert von einem Labskausfleck auf dem Holztisch über die grünen Vorhänge bis zum Gewirr aus abenteuerlichen Dekorationsstücken an der Decke. Annette kaut. Seine rechte Hand umklammert das Glas mit dem Rotbier. Warum ist sie so aggressiv? Was ist geblieben von dem alten Vertrauen?

»Bist du nur gekommen, um mir das zu erzählen?«

Harms schweigt weiter. Vielleicht hätte er tatsächlich wegbleiben sollen. Einfach Uwe Jensens Bitte ignorieren. Schließlich hat er als Friedhofsgärtner längst nichts mehr mit dem Polizeialltag zu tun. Doch seitdem ihm das Riesenbaby mit den roten Haaren das Protokoll gezeigt hat, lassen ihn die Bilder in seinem Kopf nicht mehr los. Als wäre er dabei gewesen, als hätte er das Blut aus dem Paket tropfen sehen. Eine besondere Gabe, Fluch und Segen zugleich.

Annette. An diesem Tisch haben sie oft nach Dienstschluss gesessen und über Probleme geredet. Über Fälle und Selbstzweifel. Über Ärger mit Kollegen. Über Karriere. Annette, die gute Freundin, mit der man reden und lachen kann. Er hat ihr vertraut. »Du könntest die Kleine ja adoptieren«, hat seine Frau Karla mal in einem Anfall von Eifersucht gesagt. Jetzt schweigen sie sich hier im ›Anker‹ an.

»Du nimmst das einfach zu ernst.« Sie schiebt den Teller mit dem Labskaus endgültig zur Seite. »Außerdem bin ich alt genug, um selbst auf mich aufzupassen.«

Harms zuckt mit den Schultern. »Vielleicht hast du einen ehemaligen Liebhaber abserviert.«

»Was?« Annettes schmales Gesicht zuckt. Täuscht er sich oder sind ihre großen Augen jetzt sogar weiter aufgerissen als sonst?

»Eine amputierte Hand und Kunstblut. Hört sich nach gefährlichem Stalking an.«

»Du spinnst.« Sie steht auf und geht an den Tresen, um zu bezahlen. Ein merkwürdiges Bild: die kleine zierliche Annette vor dem wuchtigen dunklen Holztresen, über ihrem Kopf das Stillleben aus Backbordlampen, Steuerrädern und Tauwerk. Er muss ihr nicht folgen, um genau vor sich zu sehen, wie sie grußlos das Lokal verlässt. Mit steifen energischen Schritten biegt sie nach rechts ab, das Knallen ihrer Stiefelabsätze hallt von den Wänden wider, während sie am benachbarten Südamerikahaus vorbei in Richtung Rathausplatz geht.

Samstag, 8. Juli:Tee ist gut für die Seele, und Harms fühlt sich schlecht

Die morgendliche Joggingrunde durch die Kleingärten fällt aus. Es gießt in Strömen. Während der Regen gegen die Fensterscheiben klatscht, wärmen Karla und Paul Harms ihre Hände an den Schalen mit koreanischem Joongjaktee. Es duftet nach frischen Croissants und Himbeeraufstrich, aus dem kleinen Küchenlautsprecher klingt Karen Souzas melancholisches »Break My Heart«. Wenn schon kein Jogging für die Fitness, dann wenigstens Frühstück für die Seele.

Harms blickt aus dem Küchenfenster auf die Balkonhortensien, die sich bedrohlich im Wind zur Seite neigen. Norddeutsches Achterbahnwetter. Erst Sonne und 30 Grad, plötzlich Gewitter, Regen und Sturm, morgen wieder Hitze. So war es auch rund um den 27. Juni. Siebenschläfertag. Wenn die Bauernregel stimmt, wird dieses abwechslungsreiche Wetter sieben Wochen lang andauern.

»Woran denkst du?«, fragt Karla und tupft mit dem rechten Zeigefinger einen Croissantkrümel auf.

»An nichts.«

»Aha. Und dieses Nichts ist klein, blond und heißt Annette.«

»Hmm«, macht Harms. Sinnlos, seiner Frau etwas vormachen zu wollen. Nicht er ist Hellseher, sondern Karla. Zumindest kennt sie ihn besser als er sich selbst.

»Erinnerst du dich, was ich damals beim Rasmussen-Fall gesagt habe? Lass das. Du bist jetzt Friedhofsgärtner und kein Ermittler. Wenn du auf mich gehört hättest, wäre uns viel erspart geblieben.«

»Und Sarah wäre jetzt tot, und die Sekte würde weiter morden.«

Karla verdreht die Augen zur roten Küchenlampe, die seit fünf Jahren kaputt von der Decke hängt.

»Uwe hätte das auch allein geschafft.«

»Bist du sicher?«

»Nein.«

»Na also.«

Karla steht auf, um vom Joongjaktee einen zweiten Aufguss zu machen. Sie trägt ihr schwarzes Sportshirt mit Leggings, weil sie sich voller Optimismus für die Joggingrunde angezogen hat. Die langen blonden Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

»Glaubst du wirklich, der Kleinen droht Gefahr?«

»Ich weiß es nicht.« Harms tunkt sein Croissant in den Himbeeraufstrich und beißt hinein. »Die Sache mit dem Paket gefällt mir nicht. Und Annette benimmt sich so, als wüsste sie genau, was dahintersteckt.«

»Klingt, als wärst du in sie verknallt.«

»War ich nie.«

»Aha.«

»Meinst du, ich würde durch eine Affäre riskieren, nie mehr deine köstlichen Pfannkuchen essen zu dürfen?«

Karla beugt sich über den Tisch, gibt ihm einen Kuss auf die dünner werdenden Haare, auch wenn dabei der Saum ihres schwarzen Sportshirts im Himbeeraufstrich landet.

»Außerdem hat sie dafür gesorgt, dass ich an meiner Menschenkenntnis zweifele. Ich habe ihr vertraut, verstehst du? Ich habe damals gedacht, sie ist eine Freundin, der ich helfen kann. In Wirklichkeit hatte sie nur ihre Karriere im Kopf. Ich habe das zu spät gemerkt. Diese Kälte, dieser rücksichtslose Ehrgeiz. Sie hat jeden nur denkbaren Kursus mitgemacht, jedes Fortbildungsseminar. Um ihr Ziel zu erreichen, hat sie bei mir das hilfsbedürftige Mädchen gespielt. Genau, wie du sagtest. Klein, blond und heißt Annette. Kaum war ich raus aus dem Job, kaum hatte ich den Dienst quittiert, war es vorbei mit der Freundschaft. Ich konnte ihr nichts mehr nutzen. Sie hat mich das spüren lassen. Aus Vertrauen wurde Verachtung. Du hättest sie erleben sollen, letzte Woche im ›Anker‹.«

Der Tee zieht schon viel zu lange, weil Karla zuhört. Selten genug redet Harms so viel. So viel und so offen über sich und seine Gefühle.

»Sie hat dich enttäuscht, und trotzdem geht sie dir nicht aus dem Kopf?«

»Ich kann das nicht einfach ignorieren. Das Paket ist eine Drohung. Wenn Annette mit anderen so gespielt hat wie mit mir, ist die Sache ernst.«

»Das ist ihr Problem, nicht deines. Sie ist diejenige, die mit den Menschen spielt.«

»Ich kann sie nicht ins offene Messer laufen lassen. Vielleicht sogar im wahrsten Sinne des Wortes.«

Karla gießt den koreanischen Tee in die zierlichen Porzellanschalen und nimmt sich ein weiteres Croissant. Karen Souza ist inzwischen verstummt. Paul Harms fühlt sich viel zu müde an diesem Morgen, um die CD zu wechseln. Umso rücksichtsloser stört der Klingelton seines Handys die Stille.

Ein Ton, der wie das Plärren eines Babys klingt. Uwe Jensen.

»Es wird ernst, Paul«, sagt er ohne Begrüßung. »Auf der Parkbank lag wieder ein Paket mit einer Plastikhand und dem schon bekannten Foto. Dieses Mal hat jemand in Blockbuchstaben eine Botschaft auf die Rückseite geschrieben: ›Lass mich nicht im Stich. Denk an Venus und Amor‹. Sagt dir das was? Ich schicke dir das Bild per Mail rüber.«

Harms schiebt den Teller mit dem angebissenen Buttercroissant zur Seite und schließt die Augen. Er weiß genau, woher er Venus und Amor kennt.

Sonntag, 9. Juli:Ein Friedhofsgärtner blickt auf Vergängliches, und Amor zielt auf Venus

Paul Harms ist gerne in der Hafengalerie. Vielleicht, weil er Gestriges mag oder sich sogar danach sehnt. Er tritt über die Schwelle des alten Kaufmannshauses und fühlt sich Jahrhunderte in die Vergangenheit versetzt. Eisenpfeiler mit Rankenmotiven stützen die Decke der hohen Diele, eine gewundene Treppe führt auf die Empore mit ihrem gedrechselten Geländer. Früher gab es Hunderte solcher Kaufmannshäuser in der Stadt. Die meisten fielen dem großen Brand von 1856 und dem späteren Abrisswahn zum Opfer. Gut, dass wenigstens dieses Gebäude erhalten blieb und als Museum und Galerie genutzt wird. Wichtig für Harms sind aber weniger die Ausstellungen, sondern Wände und Decken. Wichtig ist das Holz, das atmet. Jeder Stein, der die Finger kribbeln lässt, wenn man ihn berührt.

Heute steigt er zielstrebig hoch auf die Empore. Es wird kein angenehmer Anblick sein. Dabei hat er den Raum so geliebt. Diesen Kontrast von zweckmäßig kahlen Wänden und kunstvoll gestalteter Decke. Vielen mag die Pracht zu schwülstig sein. Die Rosetten, Blättergirlanden, Engel, prall gefüllten Obstkörbe und Blumenmuster, die einst der Fantasie eines italienischen Malers entsprangen. Ihn hat das immer fasziniert, weil es so gar nicht zur Stadt der kühlen Kaufleute passt.

Er entfaltet die Kopie des Fotos, die ihm Uwe Jensen per Mail geschickt hat. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigt ein hässlich zweckmäßiges Haus, weiß gestrichen, drei Stockwerke mit Erker und Balkon. Hohe, schmale Fenster, links ein flacher Anbau, davor eine kleine Rasenfläche. Was das mit der Hafengalerie zu tun haben soll, ist ihm zwar rätselhaft, doch der Hinweis auf Venus und Amor lässt keinen Zweifel zu. Harms blickt nach oben zur kunstvollen Decke. Neben einem Baum steht der nackte Amor und zielt mit Pfeil und Bogen auf Liebesgöttin Venus, die sich gerade abzuwenden scheint. Symbol für die Liebe.

Auf der anderen Seite der Decke hat der Künstler ein Symbol für Freundschaft entworfen. Dort sind Venus und Amor inniglich verbunden, der Köcher mit den Pfeilen liegt unbeachtet am Boden. Zwei spielende Kinder verstärken das Bild.