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Mit Toten kennt Paul Harms sich aus. Als Friedhofsgärtner pflegt er ihre Gräber, als ehemaliger Kriminalhauptkommissar folgt er den Spuren ihrer Mörder. Bei der Bestattung eines angeblichen Unfallopfers trifft er überraschend Ex-Kollegen, stößt auf Ungereimtheiten und lernt eine rätselhafte junge Frau kennen - "die Schwester des Toten". Erster Fall des Ermittlers mit einer Gabe, die Fluch und Segen zugleich ist: Harms erlebt Verbrechen, als wäre er selbst dabei gewesen.
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2024
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KAPITEL 1
Montag, 11. April:
Paul Harms pflanzt Stiefmütterchen, und auch ein Toter kommt in die Erde
Dienstag, 12. April:
Wichtiges liegt im Altpapier, und Harms hat eine Vision
Donnerstag, 14. April:
Buchsbaumzünsler treiben ihr Unwesen, und eine Frau weint
Donnerstag, 14. April:
Paul Harms kauft einen Strauß, und ein Blumenhändler macht ihn zum Rentner
Samstag, 16. April:
Heidelbeer-Mascarpone-Torte erweist sich als segensreich, und ein Riesenbaby klärt auf
Sonntag, 17. April:
Kruckhorn ist eine Reise wert, und Karla schimpft über Gülle
Mittwoch, 20. April:
Paul Harms kämpft gegen Giersch, und eine junge Frau kämpft mit sich selbst
Donnerstag, 21. April:
Jasmintee beruhigt, und eine Hexe sorgt für Wirbel
Samstag, 23. April:
Ein Auto steht im Wald, und Jensen versteht den Witz nicht
Dienstag, 26. April:
A
m Bahnhof riecht es nach Döner, und Harms sieht den Winter
Freitag, 29. April:
Der Fall wird heiß, und ein Toter soll in die Hölle
Sonntag, 1. Mai:
Im Hinterhof steht ein Kugelgrill, und das BKA heizt die Sache an
KAPITEL 2
Donnerstag, 12. Mai:
Kriechender Günsel muss in die Erde, und Paul Harms sieht sich selbst
Montag, 16. Mai:
Ein Gärtner steht im Dunkeln, und Sarah glänzt
Dienstag, 17. Mai:
Bullen geben alles, und ein Vogel fliegt aus
Mittwoch, 18. Mai:
Harms macht eine Zeitreise, und Sarah hat viel Zeit
Mittwoch, 18. Mai:
Sarah häutet sich, und Harms fühlt sich nicht wohl in seiner Haut
Samstag, 21. Mai:
Wellen kommen und gehen, und Fischbrötchen gehen immer
Dienstag, 24. Mai:
Die Trauerbuche lockt, und Harms hält eine junge Frau in seinen Armen
Dienstag, 24. Mai:
Am Ort der Ruhe herrscht Hektik, und ein Riesenbaby muntert auf
Samstag, 28. Mai:
Ein Seemann aus Plastik raucht Pfeife, und Harms will ins Kinderheim
Mittwoch, 1. Juni:
Würstchen werden kalt, und der Verstand schlägt den Bauch
Donnerstag, 2. Juni:
Loki will Leckerli, und Karla weiß alles besser
Sonntag, 5. Juni:
Eine Standuhr tickt, und Paul Harms läuft die Zeit davon
Dienstag, 7. Juni:
Auf der Dorfstraße wird es dunkel, und der Polizei geht ein Licht auf
KAPITEL 3
Donnerstag, 9. Juni:
Eine Riesin überrascht, und Harms sieht Gespenster
Freitag, 10. Juni:
Die Bohnen verspäten sich, und eine Verehrerin verpasst einen Denkzettel
Samstag, 11. Juni:
Harms isst Eis, und eine Spur führt ins Feuer
Dienstag, 14. Juni:
Erkins Foto spricht, und ein Grabstein gibt Tipps
Mittwoch, 15. Juni:
Ein Hund heißt Paul, und Miss Marple ruft an
Donnerstag, 16. Juni:
Harms setzt den Kurs, und eine Leiche lernt schwimmen
Donnerstag, 16. Juni:
Im Nasenflügel glitzert ein Piercing, und Uwe Jensen wird zum Videofan
Freitag, 17. Juni:
Harms denkt an Urnen, und ein Auto könnte auch ein Elefant sein
Freitag, 17. Juni:
Auf der Nordli-Kommode stehen Tidvatten-Vasen, und Sarah liebt Simenon
Samstag, 18. Juni:
Ein Fotograf wird geblitzt, und Godzilla tritt auf
Samstag, 18. Juni:
Karla liest ein Buch, und auch sonst passiert nichts
KAPITEL 4
Sonntag, 19. Juni:
Nackte Tote säumen den Weg, und Inga kann mehr als Eis
Sonntag, 19. Juni:
Ein Puzzleteil fällt an seinen Platz, und Karla fällt ins Güllekoma
Sonntag, 19. Juni:
Eine Holzgans schnattert, und Halit trickst die Schweine aus
Sonntag, 19. Juni:
Einer Windmühle fehlen die Flügel, und Harms fühlt sich beflügelt
Sonntag, 19. Juni:
Zwischen Obstkisten wird es dunkel, und Äpfel erleuchten Harms
Montag, 20. Juni:
Draußen klappen die Autotüren, und drinnen klappt gar nichts
Montag, 20. Juni:
Die Nacht wird heiß, und auch einen Friedhofsgärtner lässt das nicht kalt
Montag, 20. Juni:
Der Morgen graut, und Harms graut es vor dem Morgen
EPILOG
Mittwoch, 23. Juni:
Das Riesenbaby bringt Lilien, und Harms bringt eine junge Frau zum Schmelzen
HARMS
und der Tote zwischen Apfelbäumen
HARMS
und die Reise nach Mallorca
Montag, 11. April:Paul Harms pflanzt Stiefmütterchen, und auch ein Toter kommt in die Erde
Paul Harms pflanzt Stiefmütterchen. Mit seiner kleinen Schaufel gräbt er Löcher in exakt gleichem Abstand, gießt Wasser hinein, um alles fachmännisch einzuschlämmen, setzt die gelben Stiefmütterchen und tritt die feuchte Erde fest. Bis Ostern muss die Frühjahrsbepflanzung abgeschlossen sein. Es riecht nach Moder, denn der Mutterboden ist frisch. Wie das Grab, das er gerade mit einem Blumenhalbkreis um den Stein bepflanzt. »Für immer unvergessen«, steht in goldenen Lettern auf dem Stein, doch Harms weiß aus Erfahrung, dass dieses »Für immer« oft nur wenige Monate hält. Auf der Grabstätte nebenan wuchern bereits Brennnesseln und Disteln. Dort steckt kein Schild mit der Aufschrift »Pflege«, aber er wird sich trotzdem darum kümmern. Ende der Woche. An seinem freien Tag. Harms ist Friedhofsgärtner aus Leidenschaft.
Gießen muss er die Stiefmütterchen in den nächsten Tagen nicht, denn die Erde ist nass genug von den Regenfällen der letzten Zeit. Typisches norddeutsches Schmuddelwetter. Erstaunlich, dass die Aprilsonne heute so viel Kraft hat. Harms nimmt seine grüne Kappe ab und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Auf dem Hauptweg des Friedhofs zieht gerade eine Beerdigungsgesellschaft vorbei, von der kleinen Kapelle, an der Trauerbuche vorbei, zum gestern ausgehobenen Grab zwei Reihen weiter. Männer in schlechtsitzenden schwarzen Anzügen, mit polierten Schuhen, die von den Pfützen auf dem Weg bald schlammbespritzt sein werden. Der älteste ist kahlköpfig und trägt verkrampft einen Hut in der Hand, den er vermutlich zwei Jahrzehnte zuvor das letzte Mal aufgesetzt hat. Zwei Frauen gehen zwischen ihnen, den Kopf gesenkt, die schwarzen Röcke für den Anlass zu kurz, die Absätze der Stiefel zu hoch. Harms wundert sich immer wieder, warum die Menschen bei einer Beerdigung oft verkleidet aussehen. Wie bei einem offiziellen Rathausempfang, für den sich die erstmals geladenen Gäste Kleidung kaufen, die ihnen nicht steht und die sie nie wieder anziehen werden. Abendgarderobe, die sie für angemessen halten, obwohl sie keinerlei Erfahrung haben, was angemessen bei solchen Anlässen bedeutet.
Dem Trauerzug folgen zwei Fotografen. Harms kennt sie von früher. Die beiden arbeiten für Lokalblätter und tauchen überall auf, wo sich Sensationelles anbahnt. Mit Halit Erkin, der mal wieder seinen unvermeidlichen grauen Kapuzenpulli trägt, verbindet ihn sogar so etwas wie Freundschaft. Wer wird hier beerdigt? Er hätte es wissen müssen, zumal wohl demnächst Stiefmütterchen gepflanzt werden sollen. Oder nach den Eisheiligen im Mai die Begonien. Oder Tagetes, über die sich am meisten die Wildkaninchen freuen. Harms setzt die Kappe wieder auf und greift zur Harke, um abgefallene Blätter und Blüten der Stiefmütterchen zu beseitigen und seine Fußspuren auf dem Grab zu tilgen. Soll doch ordentlich aussehen, wenn die Angehörigen zur Kontrolle kommen.
»Arbeiten Sie hier?«, hört er eine raue Stimme in seinem Rücken. Harms seufzt. Ihm liegt eine passende Antwort auf der Zunge, doch er beherrscht sich. Also brummt er lediglich, was so viel wie »Ja, was sonst?« bedeuten kann.
Dann dreht er sich um und blickt dem Frager neugierig ins Gesicht. Der Mann ist zu groß, zu dick, seine Nase ist zu breit und sein Haar zu rot. Jemand, der sich nie in einer Menge verstecken könnte.
»Glaubt ihr immer noch, dass der Mörder heimlich zur Beerdigung seines Opfers kommt?«, fragt Harms.
Der Rothaarige öffnet den Mund, sagt aber nichts. Seine graugrünen Augen weiten sich. Er schluckt.
»Paul?«
»Nett, dass du mich erkennst. Ist immerhin zwei Jahre her.«
»Was machst du hier?«
»Das siehst du doch. Ich pflanze Stiefmütterchen.«
»Warum?«
Harms holt tief Luft.
»Weil ich hier arbeite. Ich bin Friedhofsgärtner.«
»Du bist was …?«
Er spart sich eine Antwort. Hätte eine Lebensbeichte werden können. Warum sollte er ausgerechnet hier und jetzt Kriminalhauptkommissar Uwe Jensen erklären, warum er Gräber pflegt, statt wie früher Morde aufzuklären? Ganz so absurd ist das sowieso nicht. Schließlich hat er nach dem Abitur eine Gärtnerlehre gemacht. Vor der Polizeikarriere.
Während die Sonne hinter der riesigen Trauerbuche auf dem Hauptweg verschwindet, nimmt er seine Harke, die Pflanzschaufel und die leere Plastikkiste, in der die Blumen waren, und tritt über die Lebensbaumhecke hinweg auf den matschigen Weg. Er schüttet den Rest Erde aus der Kiste aufs Grab, harkt an der Hecke entlang, schließlich ein paar Mal quer, damit ein Muster entsteht. Jensen steht schweigend daneben.
»Ist dir irgendwas aufgefallen?«, fragt der Kriminalhauptkommissar schließlich.
Harms zuckt mit den Schultern.
»Was sollte mir auffallen? Ich habe Stiefmütterchen gepflanzt.«
»Gar nicht neugierig, wer da beerdigt wird?«
»Das geht mich nichts an.«
»Auch wenn der Mann ermordet wurde?«
»Das geht mich noch viel weniger an.«
Er wirft trotzdem einen Blick auf die Menschen, die zwei Reihen weiter still am offenen Grab stehen. Der Kahlköpfige stützt jetzt die ältere Frau, während die jüngere ihr Gesicht hinter einem weißen Taschentuch verbirgt. Sie weint. Auf der Bank unter der Trauerbuche entdeckt Harms eine weitere Frau, die scheinbar völlig versunken in einem Buch liest. Kriminalkommissarin Mariella Pelanda. Um ihre schwarzen Locken, die sonst kaum zu bändigen sind, trägt sie ein rotes Stirnband, eine Sonnenbrille rundet den Auftritt ab. Sein ehemaliges Team war nie gut im dezenten Observieren. Harms seufzt wieder, nimmt die Plastikkiste unter den Arm und stapft durch die Pfützen in Richtung Friedhofsgärtnerei. Uwe Jensen blickt ihm nach. Dann fährt er sich mit der linken Hand durch die struppigen roten Haare und geht zurück auf den Hauptweg, um weiter die kleine Trauergesellschaft zu beobachten.
Paul Harms hingegen pfeift still vor sich hin, während er Harke und Pflanzschaufel an ihren Platz im Geräteschuppen stellt. Warum sollte ihn der offenbar mysteriöse Tod eines Mannes interessieren, der gerade hundert Meter entfernt unter die Erde gebracht wird? Inzwischen gibt es für ihn Wichtigeres im Leben. Wie die Tatsache, dass er die grüne Gießkanne auf dem Grab vergessen hat.
Dienstag, 12. April:Wichtiges liegt im Altpapier, und Harms hat eine Vision
»Du solltest das nicht lesen«, sagt Karla Harms. Er liest trotzdem weiter. Ein stümperhaft geschriebener Artikel einer freien Mitarbeiterin, die offenbar nicht mal vor Ort war und ihre Informationen aus zweiter Hand vom Fotografen Halit Erkin hat. Immerhin weiß er jetzt, wer da beerdigt wurde. Hendrik Rasmussen, 27 Jahre alt, Politologiestudent. Opfer eines Verkehrsunfalls mit Fahrerflucht. Jetzt erinnert sich Harms auch wieder an den Fall. Muss vor zwei Wochen gewesen sein. Auf dem Foto sieht man den Kahlköpfigen mit dem Hut in der Hand. Der Vater des Opfers. Die Frauen mit den zu kurzen Röcken sind seine Mutter und seine Schwester. Im Hintergrund steht Uwe Jensen und bemüht sich vergeblich, unauffällig zu wirken.
»Interessiert dich die Sache wirklich?«, fragt Karla und gießt ungefragt Kaffee nach.
»Natürlich nicht.«
»Aha.«
Er faltet die Zeitung zusammen und legt sie neben seinen geblümten Frühstücksteller. Vom Brötchen hat er erst zwei Mal abgebissen, die Schüssel mit Müsli und Joghurt ist unberührt.
»Nicht ›Aha‹. Ich war in der Nähe, als er beerdigt wurde. Da wird man ja wohl nachlesen dürfen, wer er war.«
»Aha.«
Paul Harms seufzt. Sinnlos, seiner Frau etwas vormachen zu wollen. Nach 22 Jahren Ehe kennt sie ihn besser als er sich selbst.
»Haben wir die Zeitungen von den letzten zwei Wochen?«, fragt er also.
»Im Altpapier. Ich schau mal.«
»Mach ich schon selbst.«
Sie zuckt mit den Schultern, beißt in ihr Vollkornbrötchen mit Zartbitterschokocreme und lehnt sich am Küchentisch zurück. Dann nimmt sie das Brötchen ihres Mannes. Er wird es doch nicht essen. Sie weiß das aus leidvoller Erfahrung.
»Du bist jetzt Friedhofsgärtner und kein Ermittler«, ruft sie ihm nach. Er hört es nicht mehr, weil er im Rattankorb mit dem Altpapier wühlt.
Wenig später verschwinden Müslischüssel, Kaffeebecher und Frühstücksteller unter aufgeschlagenen Zeitungen. Er hat einige Artikel akkurat ausgeschnitten, mit Datum versehen und wichtige Passagen rot unterstrichen. Genau wie früher. Auf seinem Schoß liegt der Laptop, um in weiteren Artikeln und den offiziellen Polizeimeldungen recherchieren zu können. »Lass das!«, sagt Harms zu Harms. »Das bringt dir nur Ärger ein.« Aber er hört nicht auf sich.
Karla Harms hat sich inzwischen umgezogen. Sie trägt ein schwarzes Sportshirt mit Leggings, die langen blonden Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Gesicht wirkt dadurch schmaler.
»Ich nehme an, du kommst heute nicht mit auf unsere Kleingartenrunde?«
Er brummt.
»Uwe und Mariella waren am Grab«, sagt er. »Da muss mehr dahinterstecken.«
»Das geht dich nichts mehr an, oder?«
»Richtig, das geht mich nichts mehr an.« Überzeugt klingt es nicht.
Sie schnürt ihre Sportschuhe zu, holt tief Luft und schließt leise die Küchentür.
Paul Harms liest weiter. Nein, ein Unfall mit Fahrerflucht war das nicht. Die Fakten sprechen dagegen. Die Kriminalpolizei würde in so einem klaren Fall nicht ermitteln. Sein Kopf setzt die verschiedenen Informationen aus den Zeitungen und Meldungen zusammen. Ein Puzzlespiel. Dann läuft plötzlich wieder einer jener Filme ab, die ihm früher die Ermittlungen leichter gemacht haben und das Leben schwerer. Gabe und Fluch zugleich. Paul Harms sieht alles vor sich.
Sonntag, 4.45 Uhr. Es regnet. Im nassen Asphalt spiegeln sich die roten und grünen Lichter der Ampeln. Eine Leuchtreklame des Supermarkts an der Ecke flackert hektisch. Hendrik Rasmussen muss nur noch 300 Meter bis zu seiner Wohnung im Theodor-Heuß-Weg zurücklegen. Seine Kleidung ist vom Dauerregen durchnässt. Er friert, denn er hat keine Jacke an, und in der Nacht ist die Temperatur empfindlich gefallen. Zwei Jugendliche in gefütterten Kapuzenhoodies stehen vor dem Geldautomaten der Sparkasse auf der anderen Straßenseite, sonst ist die Kreuzung menschenleer. Rasmussen geht schneller. Vorbei am ehemaligen Orient-Grill, dessen Schaufenster mit Plakaten zugekleistert ist. Der Mond versteckt sich hinter schweren Wolken. Ein leichtes Vibrieren der Steinplatten lässt erahnen, dass unter der Straße gerade eine U-Bahn über die Schienen rumpelt. Sie hält. Bald werden Fahrgäste aus der Station kommen, ihre Schirme aufspannen und weiter durch den Regen hetzen. Nachtschwärmer, Schichtarbeiter, Einsame.
Rasmussen überquert den Kreisel, der ihn von seiner Wohnung trennt. Vor dem vietnamesischen Restaurant daneben tropft das Wasser von den zusammengestellten Tischen, Bänken und Stühlen. Der Fußweg ist hier breit. Während die ersten Menschen aus der U-Bahn in den Regen treten, nähert sich ein silbergrauer Wagen aus Richtung Eichenkamp. Kein Aufheulen des Motors, kein lautes Quietschen der Reifen. Der Elektro-BMW beschleunigt fast lautlos. Rast genau auf Rasmussen zu. Quer über den Kreisel. Er reißt Stühle des Restaurants um, schrammt an einem Blumenkübel vorbei und erfasst den Studenten voll. Rasmussen wird durch die Luft geschleudert, landet auf dem nassen Asphalt, aber der Wagen setzt zurück und überrollt ihn erneut. Keine Chance. Die Menschen unter ihren Regenschirmen schreien. Die schweren Wolken geben den Mond wieder frei.
Paul Harms zittert. Er kennt solche Filme, die in seinem Kopf ablaufen. Als wäre er tatsächlich dabei gewesen. Er schwitzt. Raus, er muss jetzt einfach raus, um das zu vergessen. Es darf ihn nicht wieder so erwischen wie damals bei seinen Ermittlungen. Sonst wäre die Entscheidung, den Dienst zu quittieren, sinnlos gewesen.
Wie lange ist Karla schon unterwegs? Harms blickt auf seine Uhr. Seit seine Frau leise die Küchentür schloss, sind 15 Minuten vergangen. Umziehen. Er muss sich umziehen und ebenfalls durch die Kleingärten laufen. Den Kopf wieder freibekommen. Er zieht seine Sportsachen an, bindet die Laufschuhe zu, bleibt im Flur vor dem Spiegel sehen. Ein blasses Gesicht blickt ihn an. Rotfleckig, Schweißtropfen auf der Stirn. Die dünner werdenden blonden Haare kleben am Kopf. Andere sehen mit 45 fitter aus. Seine Augen sind aufgerissen und wirken größer, weil seit einem Jahr die Wimpern und Augenbrauen ausfallen. Du musst mehr essen, fällt ihm ein. Jedenfalls sagt Karla das immer. Nicht mehr an die Szene auf dem Kreisel des Theodor-Heuß-Wegs denken. Nicht an den leblosen Körper, den der gestohlene BMW iX3 ein zweites Mal überrollt. Es war tatsächlich keine Fahrerflucht. Es war Mord.
Donnerstag, 14. April:Buchsbaumzünsler treiben ihr Unwesen, und eine Frau weint
Paul Harms pflanzt keine Stiefmütterchen. Er muss sich um eine Hecke kümmern, die von Buchsbaumzünslern abgenagt wurde. Gewissermaßen bis auf die Gräten. Nur ein kahles graubraunes Geäst ragt aus dem Boden, mit feinem Gespinst überzogen. Die grünen Raupen des Falters sind unersättlich und breiten sich immer weiter aus. Eingeschleppt, wohl aus China. In Kürze wird es wohl auch auf diesem Friedhof keine Buchsbaumsträucher mehr geben.
Harms reißt die trostlosen Reste aus der Erde. Wenigstens eine sinnvolle Tätigkeit, denn anschließend wird er eine neue Hecke aus Lebensbaum pflanzen. Den Boden am Grab lockern, mit Kompost auffüllen. Das lenkt ab. Immer noch schwirren die Bilder aus dem Theodor-Heuß-Weg durch seinen Kopf. Der lautlos heranrasende Wagen, der leblose Körper auf dem Asphalt. Nein, übersinnliche Fähigkeiten hat Harms nicht. Die Filme, die vor seinen Augen ablaufen, fügen lediglich alle Details zusammen. Einzelbilder, die sich zu einem neuen Ganzen verbinden, so lebendig und plastisch wie die Wirklichkeit. Keine Vision, sondern das Ergebnis von Tatsachen. Hendrik Rasmussen wurde in Tötungsabsicht überrollt, das steht so bereits in den Polizeimeldungen.
Bei den Kollegen von der Mordkommission hieß Harms trotzdem »Spökenkieker«. Es hat ihn nicht gestört, denn im Norden klingt diese Bezeichnung fast schon liebevoll. Spökenkieker. Geisterseher. Hellseher. Der Spott der anderen Ermittler tat nicht weh, doch die Filme selbst schmerzten immer mehr. Wenn er nach dem Lesen der Obduktionsberichte und Tatortprotokolle plötzlich die Qualen des Opfers erlebte. Wenn er zum Greifen nahe sah, wie sich das Messer in einen Hals bohrte, wie Mädchen vergewaltigt und gefoltert wurden. Das hält man nicht aus.
Wütend reißt Harms einen weiteren Teil der Buchsbaumhecke aus der schwarzen Erde. Nicht daran denken. Nur nicht wieder daran denken. Ein Marienkäfer schwirrt vorbei und setzt sich auf seinen linken Arm. Der Friedhofsgärtner hält inne, betrachtet ruhig atmend, wie der Käfer langsam über seine Hand krabbelt, um dann wieder die schwarz gepunkteten Flügel zu entfalten und weiterzufliegen. Harms folgt ihm mit den Augen. Dabei entdeckt er die Frau in der nächsten Grabreihe. Sie trägt ein schwarzes eng anliegendes Kleid, ihre langen dunklen Haare verdecken das Gesicht. Sie steht am Grab von Hendrik Rasmussen und hat einen Blumenstrauß in der Hand.
Bei der Beerdigung gehörte sie nicht zum Trauerzug, da ist sich Harms sicher. Die Frauen mit den zu kurzen Röcken waren kleiner. Eine Freundin, die erst jetzt vom Tod erfahren hat?
»Ist dir irgendwas aufgefallen?«, hört er wieder die raue Stimme von Uwe Jensen. Misch dich nicht ein, sagt seine eigene innere Stimme. Reicht doch, dass du gestern diesen Rückfall hattest. Die Geschichte geht dich nichts an.
Harms richtet sich trotzdem auf, klopft nasse Erde von den Händen und geht auf die Frau zu. Sie scheint ihn nicht zu bemerken. Sie weint.
»Entschuldigung«, sagt er leise. »Sind Sie eine Angehörige?«
Sie starrt ihn verständnislos an. Ihre dunklen Augen glänzen feucht. Der schmale Mund ist zusammengekniffen, ihre Wangenknochen stehen vor.
»Ich … Ja, das heißt … nein. Ich bin …« Sie sucht nach Worten.
»Entschuldigen Sie nochmals, es war der falsche Moment. Es ist nur, weil in der Verwaltung nichts über Grabpflege und Bepflanzung vorliegt.«
Harms könnte sich ohrfeigen. Dümmer hätte er die Sache nicht angehen können. Was ist aus seinem Feingefühl bei Befragungen und Verhören geworden?
Die Frau versucht zu lächeln. Es misslingt.
»Die Familie wird sich bestimmt darum kümmern. Ich bin … eine gute Freundin. Danke.«
Sie wirft mit einer energischen Kopfbewegung die langen dunklen Haare in den Nacken. Dann geht sie, in der linken Hand das zerknüllte Papier, in dem der Blumenstrauß eingewickelt war.
Verpatzt. Verdacht dürfte sie dennoch nicht schöpfen. Schließlich ist er der Friedhofsgärtner, verschwitzt und mit schmutzigen Fingernägeln, den grünen Arbeitsoverall voller Erde. Er blickt ihr nach und sieht, wie sie das Blumenpapier in den nächsten Abfallkorb wirft.
Erst als die Frau hinter der alten Trauerbuche verschwunden ist, bückt sich Harms und betrachtet den Strauß genauer. Lilien, rote Rosen, Ranunkeln, Schleierkraut, Efeu. Nicht geschmackvoll, aber üppig. Zwischen den Blüten steckt eine kleine Karte. Nein, misch dich nicht ein, sagt wieder seine innere Stimme. Er tut es trotzdem. Auf der Karte steht in Druckbuchstaben »Bitte verzeih mir. Das habe ich nicht gewollt«.
Im Kopf von Paul Harms läuft kein Film ab. Aber er spürt ein Kribbeln, das sich unter der Schädeldecke breitmacht und über den Nacken die Schultern erfasst. Der Spökenkieker hat Witterung aufgenommen.
Donnerstag, 14. April:Paul Harms kauft einen Strauß, und ein Blumenhändler macht ihn zum Rentner
Blumen Lüders Süderbüttler Straße, Stadtteil Kollbek. Schönes für Haus, Garten und Friedhof. Die Sträuße im Schaufenster wirken allerdings kaum geschmackvoller als das Exemplar vom Grab Hendrik Rasmussens. Harms kann das mittlerweile beurteilen. Er wird hier trotzdem Blumen für Karla kaufen. Unfreiwillig. Das zerknüllte Papier im Abfallkorb hat ihn hierhergeführt. Der altertümliche Schriftzug »Blumen Lüders«, verschnörkelt und mit einer Tulpe anstelle des »u«. Noch fällt ihm nichts ein, wie er das Gespräch unauffällig auf die Unbekannte lenken könnte. Er vertraut da ganz auf seine Intuition, obwohl die ihn am Grab im Stich gelassen hat.
Eine Glocke ertönt, als er den Laden betritt. Der ist überraschend dunkel, trotz der großen Schaufenster, an denen Wasser kondensiert. Die Luft riecht feucht und fast so moderig wie der frische Mutterboden auf dem Friedhof. Harms zieht die Nase kraus.
»Was kann ich für Sie tun?« Er hat den Mann nicht kommen hören, der plötzlich leicht gebückt neben ihm steht. Offenbar war der irgendwo zwischen den hohen Grünpflanzen auf der rechten Seite beschäftigt.
»Einen Strauß für meine Frau. Zum Geburtstag.«
»Rosen?«
»Eher gemischt.«
»Wie viel soll er kosten?«
»Sagen wir, so um die 20 Euro.«
Der Mann zieht die Augenbrauen hoch und legt seine ohnehin zerknitterte Stirn in weitere Falten. Vielleicht rechnet er gerade aus, wie es um die Ehe bei einem Strauß für 20 Euro bestellt ist.
»Sie sind nicht von hier, oder?«
»Anderer Stadtteil. Aber eine Freundin hat Sie empfohlen.«
»Ach.« Die Neugier des Mannes hält sich in Grenzen.
»Sie hat hier heute einen besonders schönen Grabstrauß mit Lilien und Rosen gekauft.« Besonders schön? Harms lügt, ohne dabei rot zu werden.
»Ein Grabstrauß? Das muss Jannika gewesen sein.«
»Genau. Jannika. Lange dunkle Haare, auf dem Friedhof hatte sie heute ein enges schwarzes Kleid an. Wusste gar nicht, dass sie Hendrik Rasmussen kannte.«
»Wer ist das?«
»Offenbar ein gemeinsamer Freund, der tödlich verunglückt ist. Sehr tragisch. Wohnt sie eigentlich noch hier um die Ecke?«
»Wohnte sie nie. Jedenfalls nicht zu meiner Zeit.« Dabei steckt er rote Rosen und gelbe Gerbera fachkundig, aber ohne Geschmack zu einem Strauß zusammen.
»Soll ich es mit Grünzeug binden?«
Harms schluckt.
»Ja, bitte.«
»Warten Sie, jetzt fällt es mir wieder ein. Jannika Sternberg wohnte mal bei ihren Eltern in der Friedrichsallee, zwei Straßen weiter. Wo sie jetzt wohnt, weiß ich nicht.«
»Ach, richtig. Friedrichsallee. Na, ich muss sie mal wieder anrufen, nachdem wir uns zufällig auf dem Friedhof getroffen haben.«
»Machen Sie das.« Der Mann zwinkert Harms zu. »Ist ein verdammt attraktives Mädel, oder?« Dann fällt ihm wieder ein, dass der Blumenstrauß für den Geburtstag der Frau gedacht ist. Auch wenn er nur 20 Euro kostet. »Aber natürlich nichts mehr für unsere Altersklasse.«
Harms legt 20 Euro auf den Tresen, nimmt wortlos den Strauß, der wieder in das altmodische »Blumen-Lüders«-Papier eingewickelt ist und verlässt den Laden. Unsere Altersklasse? Der Mann sieht so verwelkt aus wie die meisten seiner Grünpflanzen hinter den beschlagenen Schaufensterscheiben. Mindestens wie 70.
Harms ist trotzdem zufrieden. Jannika Sternberg. Er würde Uwe Jensen anrufen und ihm diese Neuigkeit mitteilen. Niemand schreibt »Bitte verzeih mir« auf eine Grabkarte, wenn es da kein dunkles Geheimnis gibt.
Samstag, 16. April:Heidelbeer-Mascarpone-Torte erweist sich als segensreich, und ein Riesenbaby klärt auf
Der Latte Macchiato im »Segensreich« schmeckt lecker. Deshalb haben sie das kleine Café im Gemeindehaus als Treffpunkt gewählt. Uwe Jensen und Mariella Pelanda lassen sich immer gerne von den Vorzügen einer Kaffeepause überzeugen, und für Harms ist es sowieso die bequemste Lösung, weil das »Segensreich« genau zwischen Nikolaikirche und Friedhof liegt. Durch die große, voll verglaste Front können Gäste die Spitzen der Zypressen und das Dach der kleinen Kapelle hinter der Begrenzungsmauer sehen.
Um diese Zeit ist das Café leer, Hochbetrieb herrscht nur bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Ein Ort fürs ganze Leben und darüber hinaus. Die Schiefertafel neben dem Eingang preist Heidelbeer-Mascarpone-Torte, Butterkuchen und Würstchen mit Kartoffelsalat an.
»Die Sache mit Jannika Sternberg bringt uns momentan nicht weiter«, sagt Uwe Jensen. Er hat sich in einen der Stühle gezwängt und fühlt sich darin sichtlich unwohler als seine zierliche Kollegin. Obwohl das Gemeindehaus erst vor zwei Jahren neu gebaut wurde, wirkt die Einrichtung wie ein Überbleibsel aus den 1960er-Zeiten. Winzige Stühle und Tische, eine Spielecke mit Pixibüchern für die Kleinen, ein abgeteilter Tresen, der eher an einen Kiosk oder eine Kantine erinnert.
»Die Karte mit dem ›Bitte verzeih mir‹ war übrigens nicht mehr da. Die Frau muss wohl erkannt haben, dass das ein Fehler war und ist zurückgekommen.«
»Die Karte war aber da.«
»Klar, Paul. Glaube ich dir ja.«
»Habt ihr sie befragt?«
»Hätten wir gerne. Sie ist weg.«
»Wie weg?«
Jensen zuckt mit den Schultern. Eine akrobatische Leistung, so beengt, wie er da am Tisch sitzt. Riesenbaby haben ihn die Kollegen hinter seinem Rücken immer genannt, Mariella mit ihrem wuscheligen Lockenkopf musste mit dem Spitznamen Pumuckl leben. Zusammen waren sie trotzdem ein gutes Team. Vielleicht haben sie Harms deshalb um dieses Treffen gebeten, obwohl das gegen alle Dienstvorschriften verstößt.
»Die Fakten.« Jetzt referiert Kriminalkommissarin Pelanda. »Jannika Sternberg ist 25 Jahre alt und studiert Politik. Genau wie Hendrik Rasmussen. Vermutlich haben sie sich an der Universität kennengelernt. Das muss vor zwei Jahren gewesen sein. Sagt Holger Rasmussen. Der Vater des Toten.«
»Hat er sie bei euren ersten Befragungen gar nicht erwähnt?«
Jensen schüttelt den Kopf.»Du erinnerst dich doch daran, wie er bei der Beerdigung wirkte.«
»Der steife Kahlköpfige mit dem Hut in der Hand.«
»Genau. Die Eltern sind merkwürdig verschlossen und verhärmt. Für sie hat diese Jannika nie existiert. Passte nicht zu ihrem Hendrik. Warum auch immer. Sie waren froh, als es aus war. Vor einem halben Jahr hat Jannika Sternberg die Freundschaftsverbindung aufgekündigt.«
Paul Harms unterdrückt ein Grinsen. So eine Formulierung kann nur Uwe Jensen wählen.