Harper Green – Be Brave. Be Angry. Be the Storm. - Carola Lowitz - E-Book

Harper Green – Be Brave. Be Angry. Be the Storm. E-Book

Carola Lowitz

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Beschreibung

Starke Antiheldin mit paranormalen Fähigkeiten in einer Dystopie der 80er - für Fans von Riverdale und Stranger Things. Harper kann fremde Gedanken hören. Der Einzige, dem sie sich anvertraut, ist Lucas - ein Junge, der ebenfalls eine paranormale Fähigkeit hat. Gemeinsam kommen sie dem Geheimnis ihrer Vergangenheit auf die Spur und landen damit auf dem Radar der Regierung. Die Jagd auf sie beginnt. Doch jede Kraft hat auch eine dunkle Seite und so beginnt Lucas einen blutigen Rachefeldzug gegen ihre Verfolger. Harper muss sich entscheiden: Schließt sie sich Lucas an? Oder entfesselt sie die dunkle Seite ihrer Kraft, um nicht nur ihre Verfolger, sondern auch Lucas zu besiegen? Harpers Geschichte ganz exklusiv erzählt vom Autorinnenduo Carola Lowitz & Susanna Mewe - basierend auf der 'Audible Original'-Hörspielserie "Harper Green".

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Seitenzahl: 394

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Für Femke, Henrietteund Elias.

Carola Lowitz und Susanna Mewe lernten sich mit Anfang zwanzig im Theater kennen. Während Carola an der Filmuniversität Babelsberg in Potsdam studierte und Drehbuchautorin wurde, ging Susanna ans Deutsche Literaturinstitut in Leipzig und schreibt seither Romane. Neben zahlreichen eigenen Veröffentlichungen schreiben die Autorinnen seit vielen Jahren auch gemeinsam. Am liebsten Serienstoffe und Geschichten mit hohem Spannungsfaktor. »Harper Green« ist ihr Jugendbuchdebüt. Susanna lebt in Berlin, Carola mit ihrer Familie in einem Haus voller Tiere in Niedersachsen.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2023

© 2023 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literaturagentur im Verlag der Autoren, Frankfurt am Main.

Basierend auf der gleichnamigen Audible Original Serie

Text: Carola Lowitz & Susanna Mewe

Coverillustration: Martin Grohs

Lektorat: Deborah Schirrmann

Charakterkarte: Sina Müller, Kitten.Ink

E-Book ISBN 978-3-401-81044-7

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Dieses Buch kann sensible Themen enthalten.Weitere Informationen findest du am Ende des Buches.(Achtung: Dieser Hinweis enthält einen Spoiler!)

Ich war nicht immer so.

Bis vor zwei Wochen war ich ganz normal. Na ja, nicht normal, aber mein Leben war zumindest in Ordnung.

Es fing während des Finales des Debattierwettbewerbs an. Ausgerechnet. Ich stand auf der Bühne und fummelte mit zitternden Händen an dem Umschlag mit dem Thema herum, das ich gleich vertreten sollte. Auf dem Podium neben mir räusperte sich mein Gegner, Paxton Irgendwas, zum gefühlt hundertsten Mal. Schon seit den Vorrunden ging mir der Typ mit seinen lächerlichen Verunsicherungsversuchen auf den Keks. Aber in diesem Moment machte es mir zum ersten Mal etwas aus. Seit der einstündigen Busfahrt von Eden City nach Corpus Christi hatte ich Kopfschmerzen und konnte mich nur schlecht konzentrieren. Und ehrlicherweise war ich tatsächlich nervös.

Innerlich verfluchte ich Rachel, die Vorsitzende unseres Debattierclubs. Hätte sie in der Pause nichts Besseres zu tun gehabt, als sich einen Krabbencocktail zu gönnen, würde sie jetzt nicht mit dem Kopf über der Kloschüssel hängen und ich müsste nicht für sie einspringen. Von all den superschlauen Nerds bin ausgerechnet ich diejenige, die weder superschlau noch nerdy ist. Ich hasse den Debattierclub, aber nicht so sehr wie alle anderen AGs, die zur Auswahl gestanden hatten.

Endlich befreite ich den Zettel aus dem Umschlag. In der Aula der Central High School in Corpus Christi war es stickig, die texanische Nachmittagssonne knallte auf das gläserne Kuppeldach und die Zuschauerreihen waren bis auf den letzten Platz besetzt. Hunderte Augenpaare blickten mich an. Die meisten Leute im Publikum kannte ich nicht, was bestimmt anders gewesen wäre, hätte das Finale bei uns in Eden City stattgefunden.

Ich faltete den Zettel auseinander, beugte mich zum Mikrofon und las laut vor: »In Ihrer Stadt sollen zusätzliche Überwaschungskameras an Orten des öffentlichen Lebens angebracht werden. Sie stehen dem Vorhaben positiv gegenüber. Argumentieren Sie, warum Sie darin eine notwendige Sicherheitsmaßnahme sehen.«

Ich konnte mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen und Paxton Irgendwas fiel fast die Kinnlade runter. Mit der Kontraseite hatte er eine echte Arschkarte gezogen. Der Arme.

Seit Reed vor Kurzem mit seiner »Für mehr Sicherheit«-Kampagne die dritte Wiederwahl zum Bürgermeister von Eden City gewonnen hatte, wurden solche Themen ständig bei uns in der Schule diskutiert. Denn Reed ist dabei, seine neusten Wahlversprechen Realität werden zu lassen: Das Stadtzentrum von Eden City soll mit moderner Überwachungstechnologie ausgestattet und die Polizeipräsenz in den Straßen verstärkt werden. Schon vor drei Jahren hatte Präsident Wright das Budget der Polizei und des Militärs massiv aufstocken lassen und ein landesweites Demonstrationsverbot ausgesprochen. Trotzdem gab es seitdem immer wieder illegale Proteste, die jedoch schnell niedergeschlagen wurden. Wie meine Eltern und ich tragen die meisten Bürger von Eden City die Maßnahmen mit. Und weshalb auch nicht? Uns geht es gut, die Stadt ist sicher.

Es hätte kein leichteres Thema geben können, um das Finale zu gewinnen. In Gedanken nahm ich schon den Pokal entgegen und verabschiedete mich mit einem fetten Grinsen in die Sommerferien … doch dann passierte es. Ich sortierte die Argumente in meinem Kopf, atmete tief durch und sah zum Publikum, das mich gebannt anstarrte. Mein Blick huschte von einem Augenpaar zum nächsten. Und plötzlich waren sie da: unzählige Stimmen. Sie bohrten sich in meinen Schädel, ein unerträgliches, immer lauter werdendes Durcheinander. Und all das, ohne dass auch nur eine Person im Publikum etwas sagte. Kein einziger Mund bewegte sich, aber in meinem Kopf dröhnten die Stimmen.

Verzweifelt schluckte ich gegen den Schwall beißender Galle an, der mir die Kehle hochschoss. Ich stolperte von der Bühne in Richtung Ausgang, schaffte es aber bloß ein paar Meter weit und übergab mich mitten auf den Gang im Publikum.

Seit diesem Tag vor zwei Wochen ist alles anders. Ich habe jedem erzählt, ich hätte auch von dem Krabbencocktail gegessen, sogar Caleb habe ich angelogen. Und das will was heißen. Aber die Wahrheit ist zu gefährlich. Wenn irgendwer mitbekommt, dass ich verrückt bin, lande ich auf der Insel. Niemand weiß, was dort passiert. Und ich habe definitiv keine Lust, es herauszufinden.

1

Mein Magen fühlt sich an wie ein heißer Stein. Ich hasse Friedhöfe. Seit Dads Beerdigung kriege ich Bauchschmerzen, wenn ich einen betreten muss. Ich würde alles dafür geben, jetzt nicht zwischen Gräbern entlanglaufen zu müssen. Angestrengt versuche ich, mich mit dem Zählen der vertrockneten Bäume um mich herum abzulenken, während ich unter Glockengeläut neben meinem Bruder Noah und meiner Mom dem Trauerzug folge.

Die Sonne scheint. Besser gesagt, sie knallt erbarmungslos vom wolkenlosen Sommerhimmel. Ich blinzele gegen sie an, was aber nur dazu führt, dass ich flimmernde bunte Fäden sehe, wenn ich die Augen schließe. Meine Haare kleben unangenehm feucht im Nacken. Obwohl es gerade mal elf Uhr ist, schwitze ich mich in meiner langärmligen schwarzen Bluse fast zu Tode. Blöderweise sind meine Ablenkungsversuche so lahm, dass mein Blick am Ende doch auf Camillas Sarg landet. Er ist aus weiß gestrichenem Holz, hat goldene Zierleisten und ist mit einer Unmenge riesiger Blumengebinde beladen. Knallpinke Rosen, lila Hyazinthen und orangefarbene Orchideen, deren süßer Duft schwer in der Luft hängt.

Mom streicht Noah ermunternd über den Rücken. Mir wirft sie einen kritischen Blick zu. Sie zieht ihre Augenbrauen hoch und presst die Lippen aufeinander. Wenn Mom mich so anschaut, kann das unendlich viele Gründe haben: Vielleicht ist der Kragen meiner Bluse umgeklappt oder ich gucke nicht traurig genug. Meine Wimperntusche könnte sich auch gerade auf meinem Unterlid verteilen. Keine Ahnung. Irgendwas an mir stört offensichtlich das Bild der perfekten Familie, das Mom so unfassbar wichtig ist. Aber was es auch ist, es geht mir am Arsch vorbei, denn ich habe ein ganz anderes Problem: Meine verdammten Kopfschmerzen kommen zurück.

Der Stein in meinem Magen ist eine Sache. Der verschwindet wieder, wenn das hier alles vorbei ist. Die Kopfschmerzen sind etwas anderes. Wenn die erst mal anfangen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Stimmen wieder da sind. Das darf auf keinen Fall passieren! Nicht jetzt!

Ich spüre, dass meine Hände anfangen zu zittern. Allein bei der Vorstellung, vor der versammelten Trauergemeinde zusammenzuklappen, wird mir ganz anders. Ich wollte nicht mitkommen, aber ich hatte keine Wahl. Mom war ehrlich empört: Ihre Freundin Cherry hat ihre Tochter verloren, noch dazu war Camilla nicht nur eine Schulkameradin von mir, sondern auch eine Soldatenwaise wie Noah und ich. Wir alle teilen das gleiche Schicksal. Und außerdem – und das ist das Wichtigste – halten wir zusammen. Das ist eine eiserne Regel. Komme, was wolle. Wir sind immer füreinander da.

Und Noah und ich sind ein wichtiger Teil dieses Wir.

Seit zehn Jahren bestimmt dieses Wir als ungeschriebenes Gesetz unser Leben: Wir stehen am ersten Weihnachtsmorgen fröstelnd zwischen weißen Holzkreuzen auf dem Veteranenfriedhof, wir tragen einmal im Jahr Blumen und brennende Kerzen zum Kriegerdenkmal. Und jetzt begraben Wir eben eine aus unseren Reihen. Wir, die berühmten Soldatenwitwen und -waisen von Eden Citys Militärbasis Flowergrove. Jeder hier in Eden City kennt die Geschichte meines Dads und der anderen Männer und Frauen, die zu einem humanitären Militäreinsatz ans andere Ende der Welt fliegen sollten. Doch das Flugzeug hatte einen Triebwerksschaden und stürzte mitten ins Meer. Es konnten nur ein paar Trümmerteile geborgen werden, Bruchstücke des Flugzeugsrumpfs, Metallteile, so Zeug. Leichen fand man keine, die hatte die See verschlungen.

Nach dem Unglück zogen die meisten Angehörigen aus Flowergrove fort, auch wir. Das Militär stand uns dabei zur Seite und half uns, Wohnungen und Häuser in den besseren Stadtteilen von Eden City zu finden. Heute leben Wir über die ganze Stadt verteilt. Manche Familien wohnen in der Innenstadt am Square, andere in gut situierten Vierteln wie Batterfield oder Sitchmo. Einige wenige hat es wie mich und meine Familie nach Primrose Hill verschlagen. Zu ihnen gehören auch Camilla und Caleb.

Aber egal, wo wir jetzt wohnen, es ändert nichts an der Tatsache, dass Wir zusammengehören: Unsere Moms engagieren sich seit Jahren in Komitees, um das Andenken an unsere Helden und Heldinnen hochzuhalten. Bürgermeister Reed erwähnt uns regelmäßig in seinen Wahlkampfreden als leuchtendes Beispiel für den Mut und die Opferbereitschaft des Militärs. Und auch die Presse liebt uns, vor allem an Gedenktagen, wenn Berichte über »die tapferen Soldatenkinder« die Auflage steigern. Natürlich sind die meisten von uns keine Kinder mehr, sondern pickelige Teenager, denen dieser ganze patriotische Totenkult eher unangenehm ist. Im Alltag gehen wir einander so gut wie möglich aus dem Weg. Wir nicken einander vielleicht mal flüchtig zu, wenn wir uns zufällig im Shoppingcenter am Square begegnen, aber genauso schnell schauen wir auch wieder weg. Trotzdem sind die meisten von uns heute gekommen. Camillas Dad war ein Held, genau wie meiner. Und deswegen verbringe ich den ersten Tag der Sommerferien auf der Beerdigung eines Mädchens, das mich gehasst hat.

Meine Kopfschmerzen werden stärker. Seit dem ersten Mal in der Schule überfallen sie mich immer wieder aus heiterem Himmel. Meistens werden sie so schlimm, dass ich mich übergeben muss. Die ersten Male bin ich fast durchgedreht. Ich lag kotzend in meinem abgedunkelten Zimmer und habe mit Tränen in den Augen darüber nachgedacht, ob es nicht möglich wäre, mir ein Loch in den Kopf zu bohren, um den Schmerz zu stoppen. Kein Schmerzmittel, das wir zu Hause hatten, hat geholfen. Mom hat mich zu unserem Hausarzt geschleppt, der mir Migräne attestierte. Nur waren leider auch die Tabletten, die er mir verschrieb, nutzlos. Genauso wie jedes andere Schmerzmittel, das ich in unserer Hausapotheke gefunden habe. Sogar das starke Zeug, das Peter mal nach einer Blinddarm-OP verschrieben bekommen hat.

Aber schlimmer als die Schmerzen sind die Stimmen. Das letzte Mal haben sie mich im überfüllten Wartezimmer unseres Hausarztes überfallen. Verrückt zu sein, macht mir eine Heidenangst. Vor allem wegen der Insel. Dort will ich auf keinen Fall hin! Für richtige Verbrecher gibt es ein Gefängnis, aber seit der Ermordung Ronald Reagans vor vier Jahren hat jede Stadt jetzt zusätzlich so eine Institution. »Einrichtungen zur gesellschaftlichen Bildung« heißen sie offiziell, sie sind so was wie eine Mischung aus Umerziehungscamp und Therapiezentrum. Hier landen alle, die nicht in die Gesellschaft passen: Unmoralische, politische Aktivisten und auffällige Teenager. Als Sechzehnjährige, die seltsame Stimmen hört, hätte ich dort ganz bestimmt einen Ehrenplatz sicher.

Aber ich habe Glück. Das Stimmenhören dauert oft nur ein paar Minuten und es verschwindet immer so plötzlich, wie es gekommen ist. Was länger bleibt, sind die Kopfschmerzen, doch damit kann ich umgehen. Vor allem seit ich herausgefunden habe, was gegen beides hilft: Moms Psychopharmaka. Im Badezimmerschrank steht eine Dose voller Tabletten gegen Angstzustände. In meiner Verzweiflung hab ich sie ausprobiert und war überrascht, wie gut sie helfen. Zwei von den Dingern und die Stimmen verstummen. Nur leider habe ich vorhin vergessen, welche einzustecken. Bingo.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Camilla wirklich tot ist.« Caleb hat zu mir aufgeschlossen. »Es ist schrecklich, was passiert ist. So sinnlos.«

Caleb ist mit ziemlicher Sicherheit der netteste Mensch auf der Welt. Und allein dafür, wie er jetzt über Camilla redet, würde ich ihn am liebsten umarmen. Als einziger nicht weißer Junge auf der Primrose High war er Camillas Lieblingszielscheibe. Wann immer sie im Schulflur an uns vorbeistöckelte, konnte man darauf wetten, dass sie sich naserümpfend an ihre Freundinnen wenden und einen rassistischen Spruch loslassen würde. Sie war furchtbar und trotzdem nimmt Caleb ehrlich Anteil an ihrem Schicksal.

»Unfälle sind meistens sinnlos«, erwidere ich. Kurz nach Camillas Tod erzählte Judith allen, was passiert war. Sie waren gemeinsam shoppen in der Mall am Square und machten anschließend bei Moe’s halt, wo sie Milchshakes tranken. Auf dem Rückweg zur Bushaltestelle wurde Camilla von einem Jeep überfahren. Wie durch ein Wunder kam Judith mit dem Leben und einem Schrecken davon. Der Fahrer des Jeeps gab Gas und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Für Camilla kam jede Hilfe zu spät.

»Ob sie gespürt hat, dass sie stirbt?« Calebs Stimme klingt belegt. »Sie muss furchtbare Angst gehabt haben.«

»Sie hat bekommen, was sie verdient hat«, sage ich trocken. Gefühlsduselei ist nichts für mich.

»Komm schon, Harper.« Caleb schenkt mir ein warmes Lächeln. »Ich hab sie auch gehasst. Aber den Tod hab ich ihr trotzdem nicht gewünscht. Genauso wenig wie du.«

Zugegebenermaßen kennt Caleb mich ziemlich gut. Seit der dritten Klasse ist er nicht nur mein bester Freund, sondern ehrlich gesagt auch mein einziger. Und natürlich hat er recht: Es ist furchtbar, was mit Camilla passiert ist, der absolute Horror. Wahrscheinlich wäre es normal, wenigstens ein bisschen traurig zu sein. Sei es auch nur, weil Camilla erst siebzehn war, nur ein Jahr älter als ich, und noch so viel vorhatte im Leben und buhuhu … nein, im Ernst, ich fühle nicht das Geringste. Sorry, Camilla.

Ihr Grab liegt von Roteichen umschattet am Ende einer ansonsten leeren Grabreihe. Camillas Mom sieht hilflos zu, wie die Sargträger ihre blumenbeladene Last auf dem staubigen Boden absetzen. Cherry ist eigentlich eine hübsche Frau mit ansteckendem Reibeisenlachen, die ihre knallbunten Kleider selbst näht und ständig irgendwelche Nachbarschaftsfeste organisiert. Aber heute erkenne ich sie kaum wieder. Ihr Gesicht ist eingefallen, sie hat dunkle Ringe unter den Augen und wirkt viel dünner als sonst. Ihre schwarze Hose schlottert, als wäre die echte Cherry ganz woanders und hätte bloß ihre leere, abgemagerte Hülle zurückgelassen.

Nach und nach versammeln sich die Trauergäste um das ausgehobene Grab. Ich suche mir einen Platz ganz hinten. Aus Lautsprechern, die im Gebüsch verborgen sein müssen, tönt Camillas Lieblingssong Time After Time von Cyndi Lauper. Von Weinkrämpfen geschüttelt klammert sich Cherry am Arm ihres Mannes fest. Sie erinnert mich an Mom, die damals weinend an Dads Grab stand und von einer der anderen Soldatenwitwen getröstet werden musste.

Caleb wirft mir einen liebevollen Seitenblick zu und greift nach meiner Hand. Wir kämen nie auf die Idee, ein Paar sein zu wollen oder so, aber es fühlt sich gut an, seine Hand in meiner zu spüren. Caleb weiß, woran ich mich gerade erinnert habe – weil er mit Sicherheit eben ziemlich ähnliche Bilder vor seinem inneren Auge gesehen hat. Auch er stand damals als Sechsjähriger auf dem Friedhof. Ihn und seinen kleinen Bruder Alex hatte es noch schlimmer getroffen als die meisten von uns. Ihre Eltern waren beide Soldaten gewesen und bei dem Absturz ums Leben gekommen. Jackpot.

Weiter vorne beginnt der Pfarrer damit, uns salbungsvoll zu erzählen, was für ein wunderbarer Mensch Camilla doch gewesen sei. Ich verdrehe die Augen und Caleb muss grinsen. Er stößt mich leicht mit dem Oberarm an der Schulter an und dabei lösen sich unsere Hände voneinander.

»Ich muss rüber zu den anderen«, flüstert er mir zu und nickt dorthin, wo Alex neben den Pettersons steht. Trish und Jim Petterson sind superchristlich drauf, unendlich spießig und ich mag sie nicht besonders. Trotzdem werde ich ihnen auf ewig dankbar sein. Immerhin habe ich durch sie meinen besten Freund kennengelernt. Als sie sich damals dazu entschieden, als weißes Paar in Primrose Hill zwei afroamerikanische Jungen bei sich aufzunehmen, war das eine Riesensache. Wenn jemand Caleb oder seinen Bruder auch nur schräg angeschaut hat, hat er die volle Breitseite von Trish Pettersons Moralkodex zu spüren bekommen. Aber das Beste an den Pettersons ist, dass sie direkt neben uns wohnen und Caleb und ich deshalb Haus an Haus aufgewachsen sind.

Meine Mom steht ein paar Reihen vor mir, direkt neben Noah. Die beiden sehen sich unheimlich ähnlich mit ihren roten Haaren und der sommersprossigen Haut, die keinen einzigen Sonnenstrahl verträgt. Ich komme mehr nach Dad: Von ihm habe ich sein dickes dunkelbraunes Haar geerbt, die blauen Augen und das impulsive Temperament.

»Hast du diesen Idioten gesehen?«, zischt eine vertraute Stimme direkt vor mir.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich hinter Camillas besten Freundinnen Judith und Gwen stehe. Die drei waren unzertrennlich. Sie trugen den gleichen blonden Pagenschnitt mit Ponyfransen, die Haarbänder immer farblich auf ihre kurzen bunten Faltenröcke abgestimmt, dazu weiße Polohemden und goldene Armbändchen. In dieser Uniform machten sie als Dreiergespann die Schulflure unsicher.

Heute haben Judith und Gwen ihre Faltenröcke gegen schwarze Markenkleider eingetauscht. Zu meiner Überraschung wirken die zwei nicht sonderlich traumatisiert von Camillas Tod. Stattdessen lästern sie wie immer, nur leiser. Wie mies können angebliche Freundinnen eigentlich sein? Da stirbst du und die beiden Mädchen, mit denen du alle Geheimnisse geteilt hast, vergießen nicht mal eine Träne über deinen Tod. Ich bemerke, wie Judith immer wieder ein goldenes Armbändchen durch ihre Finger gleiten lässt. Daran hängt ein mit kleinen Diamanten besetztes C. C wie Camilla. Das Erbe ihrer Anführerin.

»Der Kleine sieht wie ein Buchhalter aus, total peinlich«, flüstert Gwen Judith zu und beide kichern leise und ziemlich hämisch. Judith steckt Camillas Armbändchen in ihre Handtasche.

»Ich meine, wie viel Gel hat der sich bitte in die Haare geklatscht?«

Ich schaue in die Richtung, in die sie ihre Köpfe gewandt haben, und mir bleibt die Luft weg. Sie meinen Noah.

»Seine ganze Familie ist so oberpeinlich«, flüstert Gwen.

Judith lacht.

Heiße Wut steigt in mir auf. Am liebsten würde ich die beiden von hinten erwürgen. Das geht natürlich nicht, aber ich kann es ihnen heimzahlen, wenigstens ein bisschen.

Ich blicke mich verstohlen um und zögere. Früher als Kind habe ich ständig geklaut, was mich in Teufels Küche brachte, wenn ich erwischt wurde. Mom war es jedes Mal entsetzlich peinlich. Irgendwann hielt sie mir eine so verzweifelte und tränenreiche Standpauke, dass mir klar wurde, was ich ihr damit antat, und hörte auf. Aber jetzt juckt es mich in den Fingern. Da niemand auf mich achtet, lasse ich meine Hand vorsichtig in Judiths Handtasche gleiten. Sobald ich Camillas Armbändchen spüre, schnappe ich es mir und lasse es in meiner Hosentasche verschwinden. Judith hat nicht das Geringste bemerkt. Während ich mir vorstelle, wie sie und Gwen sich später wegen des fehlenden Armbändchens in die Haare kriegen, läuft mir ein kleiner, triumphierender Schauer über den Rücken. Rache ist ein herrliches Gefühl.

Endlich ist der Pfarrer fertig. Meine Kopfschmerzen haben sich von den Schläfen auf meine Stirn ausgeweitet. Wenn ich nicht bald nach Hause komme und Moms Tabletten nehmen kann, habe ich ein ernsthaftes Problem.

Der Sarg wird ins Grab abgelassen. Cherry nimmt weinend eine der gelben Rosen aus dem Weidenkorb, der neben ihr steht, und lässt sie in die Tiefe fallen. Es herrscht pietätvolle Stille.

Die Trauergäste beginnen damit, sich in die Schlange zum Grab einzureihen. Meine Mom dreht sich zu mir um und nickt mir auffordernd zu. Aber ich reagiere nicht. Sie wirft mir einen missbilligenden Blick zu und schließt sich mit Noah den anderen an. Ich bleibe, wo ich bin. Auf keinen Fall werde ich Camilla eine beschissene Rose hinterherwerfen.

»Herzliches Beileid.« Eine dunkle Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Neben mir steht ein gut aussehender Typ in meinem Alter, der mir ein mitfühlendes Lächeln schenkt. Alles an ihm ist schwarz: die Röhrenjeans, die Lederjacke, selbst sein lockiges Haar, das ihm über die Ohren fällt. Nur seine Augen nicht. Die sind leuchtend grün.

Er kommt mir bekannt vor, aber ich habe keine Ahnung, woher. Ich spüre, wie mir Hitze ins Gesicht steigt, und kann nichts dagegen tun. Ich wette, er sieht mir an, dass meine Wangen glühen.

»Äh, danke«, murmele ich, um wenigstens irgendwas zu sagen. Endlich fällt mir ein, woher ich ihn kenne, auch wenn wir nie was miteinander zu tun hatten: Er ist wie ich ein Mitglied des Soldatenwaisenclubs. Lucas. Lucas Aspen. Keine Ahnung, wann ich ihn das letzte Mal bei einer dieser Witwen-und-Waisen-Veranstaltungen gesehen habe. Aber das muss mindestens ein Jahr her sein und – heilige Scheiße! – seitdem hat er sich ganz schön verändert. Er sieht verdammt gut aus.

Lucas streckt mir die Hand hin und obwohl mir das übertrieben förmlich vorkommt, schüttele ich sie. Die Berührung durchzuckt mich mit einem warmen Prickeln. Als er wieder loslässt, halte ich eine zerdrückte Streichholzschachtel in der Hand. Darauf steht in windschiefer Kugelschreiberschrift: Wir müssen reden. Jetzt.

Ich öffne den Mund, um ihn zu fragen, was das soll, da hat er mir bereits den Rücken zugewandt und bahnt sich einen Weg durch die Trauergemeinde in Richtung Friedhofstor. Was soll ich denn jetzt machen?

Ich blicke mich um. Niemand achtet auf mich. Keiner würde bemerken, wenn ich kurz verschwinde. Mein Herz klopft aufgeregt. Ach, was soll’s! Ohne mich noch einmal umzuschauen, eile ich Lucas hinterher, der hinter der kleinen Kapelle verschwindet. Kaum habe ich ihn eingeholt, bleibt er stehen und dreht sich zu mir um.

»Was soll das?«, frage ich ihn etwas außer Atem. »Wir kennen uns doch gar nicht richtig.«

Lucas nickt. »Stimmt. Und vielleicht ist es auch total bescheuert, was ich hier gerade mache.«

Ich muss grinsen. »Aber?«

Lucas lächelt mich warm an. »Aber ich glaube, dass du in großer Gefahr bist, Harper.« Sein Blick wird ernst. »Wenn sich bei dir was verändert, irgendwas, egal was … also, wenn du vielleicht plötzlich irgendetwas kannst oder so, vielleicht sogar Dinge, die ziemlich verrückt sind, dann darfst du das niemandem sagen. Keinem, verstehst du?!«

Was meint er denn bitte damit? Ich glaube, ich starre ihn an wie ein Auto. Ein Verdacht durchzuckt mich. Redet er vielleicht von den Stimmen, die ich höre? Das kann nicht sein! Und was, wenn doch …? Ich weiche einen Schritt zurück.

»Keine Ahnung, was du meinst«, lüge ich.

»Ich wollte dir keine Angst machen«, erwidert Lucas leise und legt mir beruhigend seine Hand auf den Arm. Sofort beginnt meine Haut unter seiner Berührung zu kribbeln. Ein angenehmes Gefühl. »Wenn sich etwas bei dir verändert, mach dir deswegen keine Sorgen. Es ist was Besonderes, so was wie eine Gabe. Es darf nur nie irgendjemand erfahren.«

»Was …? Wieso nicht?«

Lucas schaut mich ernst an und schüttelt den Kopf. »Sie dürfen dich nicht kriegen!«

»Was soll das heißen? Wer sind sie? Wovon redest du?«

Ganz in der Nähe heult eine Polizeisirene auf und alles an Lucas verändert sich. Mit einem Schlag wirkt jeder Muskel seines Körpers angespannt und die Wärme verschwindet aus seinem Blick. »Pass auf dich auf, Harper! Das meine ich ernst.«

»Aber …?«

Er dreht sich um und hastet zwischen den Grabreihen davon.

2

Auf der Rückfahrt nach Primrose Hill geht mir Lucas’ Stimme nicht aus dem Kopf: Sie dürfen dich nicht kriegen! Was soll das bedeuten? Und was hat er damit gemeint, als er sagte, ich hätte eine Gabe? Verrückt zu sein, ist keine Gabe, es sorgt höchstens dafür, dass ich auf der Insel lande, mehr nicht. Aber auch die Art, wie er es gesagt hat, verwirrt mich. Wie besorgt er aussah. Wie er mich angelächelt und berührt hat. Auch wenn ich weiß, dass das Quatsch ist, könnte ich schwören, dass ich seine Hand noch immer auf meinem Unterarm spüre. Seit unserer Begegnung ist kaum eine Stunde vergangen, aber sie fühlt sich mittlerweile total surreal an. Warum ist er weggelaufen, als die Polizeisirene zu hören war? Hat er was verbrochen? Hat es was mit seiner Warnung an mich zu tun? Ich wünschte, ich hätte meinen Walkman dabei. Beim Musikhören kann ich einfach am besten nachdenken.

»… die guten Ergebnisse von Kameraüberwachungsmaßnahmen und Personenkontrollen sind ja nicht wegzudiskutieren.« Bürgermeister Reeds Stimme tönt plötzlich aus dem Autoradio. »Seit der Ermordung von Präsident Reagan hat sich viel getan.« Er klingt zufrieden. Eine Frauenstimme räuspert sich. »Einige Menschen sehen es kritisch, dass es mittlerweile nur noch eine große Partei gibt. Wie stehen Sie dazu?«, fragt sie, vermutlich ist sie die Moderatorin. Reed lacht. »Nun, wir sind doch eine gute Partei, oder? Sehen Sie, Präsident Wrights Vorgehen gegen die linken Spinner –≪ Das Radio wird wieder ausgeschaltet. Mom scheint genug gehört zu haben.

Ich lehne meinen Kopf zurück und schließe die Augen. Mittlerweile sind die Kopfschmerzen schlimmer geworden und ich massiere mir die Schläfen. Zu bescheuert, dass ich Moms Tabletten zu Hause vergessen habe!

»Aber das ist meine Chance!« Noahs Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Er sitzt wie immer auf dem Beifahrersitz neben Mom. Das ist eins der Privilegien, die mein kleiner Bruder genießt, weil er einen empfindlichen Magen hat und gerne mal alles vollkotzt, wenn man ihn auf die Rückbank verbannt. Ich schätze, er redet gerade von dem Schachclubturnier, an dem er teilnehmen will.

»Nein.« Mom klingt besorgt. »Du brauchst mal eine Pause, Noah. Das Leben besteht nicht nur aus Bestleistungen und Wettbewerben. Wir fahren an dem Wochenende in den Freizeitpark. Ende der Diskussion!«

Etwas zwickt mich in die Hüfte. Ich quetsche die Hand in meine Hosentasche und spüre das diamantenbesetzte C von Camillas Armband zwischen den Fingern. Verdammt. Das blöde Ding hatte ich schon wieder ganz vergessen. Mom darf mich auf keinen Fall damit erwischen! Verstohlen kurbele ich das Fenster ein bisschen herunter und schiebe das Armband durch den offenen Spalt.

»Was machst du da, Harper?«

»Nichts.«

Mit einem letzten Schubs befördere ich Camillas Armband aus dem Fenster. Meine Mom bremst so scharf, dass ich fast gegen Noahs Kopflehne knalle, dann lenkt sie den Wagen rechts ran. Hinter uns wird gehupt, aber das stört Mom nicht.

»Harper Green! Ich hab genau gesehen, was das war!« Sie mustert mich aufgebracht im Rückspiegel.

»Das war bloß ein altes Kaugummipapier.«

Ohne die Hände vom Lenkrad zu nehmen, dreht sie sich zu mir um. »Du lügst. Das war eine Kette oder ein Armband. Und wir wissen beide, dass du so was nicht trägst! Du hast es geklaut, oder?!« Moms Augen blitzen vor Wut. »Du hattest mir versprochen, damit aufzuhören! Warum zum Teufel fängst du jetzt wieder damit an?!«

»Mom, bitte, das war bloß –«

»Spar’s dir, Harper. Damals hatte ich Verständnis. Es war hart für dich nach unserem Umzug. Aber die Ausrede hast du nicht mehr.« Mit einer gefährlichen Ruhe löst sie ihren Gurt und steigt aus dem Wagen. Noah schüttelt missbilligend den Kopf. »Mann, Harper! Was hast du jetzt wieder angestellt?«

»Ach, halt doch die Klappe, du Streber!« Schnell öffne ich die Autotür und schlüpfe nach draußen, um Mom zu folgen. Wenn sie erstmal gefunden hat, was sie sucht, bricht die Hölle los. Das muss ich unbedingt verhindern. Sie steuert zielstrebig auf die Stelle zu, an der ich das Armband aus dem Fenster geworfen habe.

»Mom, warte!«

Der Verkehr auf der vierspurigen Straße ist absolut brutal. Autos rauschen an mir vorbei und in der Luft hängt ein fieser Abgasgestank. Eine Lücke entsteht. Mom wartet das letzte Auto ab, anscheinend hat sie etwas entdeckt. Bevor ich es verhindern kann, läuft sie auf die Straße und bückt sich. Als sie sich wieder aufrichtet, glitzert etwas Goldenes in ihrer Hand. Scheiße. Ich bin so was von am Arsch. Mom kehrt zu mir zurück, ihre Lippen sind so fest aufeinandergepresst, dass sie fast blutleer wirken. Ich versuche, so gut ich kann, ihrem Blick standzuhalten.

»Wem gehört das?« Sie schwenkt Camillas Armband anklagend vor meinem Gesicht hin und her.

»Judith. Sie hat über dich und Noah gelästert.«

Mom wirft einen Blick auf den Anhänger und auf mich. »Das ist ein C.«

»Es war Camillas. Aber Judith hatte es.«

Mom atmet tief durch, als müsste sie diese Info erst mal verdauen. »Sag, dass das nicht wahr ist!«

»Mom, bitte! Ich bring es zurück!«

»Auf gar keinen Fall! Wenn irgendjemand herausfindet, dass du der besten Freundin einer Toten das letzte Andenken an sie geklaut hast …« Sie schaudert. »Die werden dich als Unmoralische auf die Insel schicken.« Mom starrt auf das filigrane Kettchen in ihrer Hand, als sei es etwas Hochexplosives, ein Sprengsatz, der im Begriff ist, alles, was ihr lieb und teuer ist, zu vernichten. »Nein«, sagt sie. Eine unumstößliche Entschlossenheit liegt in ihrer Stimme. »Das wird niemals jemand erfahren!« Sie macht einen Schritt zur Seite und lässt das Armbändchen in den Gully direkt neben ihren Füßen fallen. Pling.

Mom dreht mir wortlos den Rücken zu und marschiert zum Auto zurück. Ich kann ihr nur sprachlos hinterherstarren. Hat sie Camillas Armband gerade wirklich in einem Gully versenkt?

»Komm, steig ein!« Mom klingt ungeduldig. Sie setzt sich hinters Lenkrad und schließt die Fahrertür mit einem Knall. Da ich ihr in ihrer jetzigen Stimmung durchaus zutrauen würde, einfach ohne mich davonzufahren, beeile ich mich, wieder in den Wagen zu kommen.

»Das wird Konsequenzen haben, Harper! Das schwöre ich dir. Ich habe so gehofft, du hättest mit diesem Mist aufgehört!«

Dumpfes Trommeln unterbricht sie. Schrille Pfiffe ertönen und vor uns an der Kreuzung stürmen Leute auf die Straße. Es sieht so aus, als hätten sie sich in den umstehenden Häusern versteckt, um jetzt gleichzeitig auf die Kreuzung zu rennen und mitten in den Gegenverkehr hineinzulaufen. Die Autofahrer hupen genervt, werden aber langsamer und kommen schließlich ganz zum Stehen.

Ich kann nicht aufhören, die vielen bunt gekleideten jungen Menschen anzustarren. Ich kenne Demonstrationen nur aus dem Fernsehen. Mom hatte mich und Noah immer von so was ferngehalten und seit dem landesweiten Verbot vor drei Jahren fanden sie so gut wie gar nicht mehr statt. Natürlich weiß ich, dass Bürgermeister Reed ebenso wie der Präsident auch leidenschaftliche Gegner hat. Sie werfen ihm vor, Eden City wie ein Autokrat zu regieren, Arm gegen Reich aufzuhetzen und Ängste zu schüren.

Mit zusammengekniffenen Augen kann ich ein paar der Aufschriften auf den Transparenten entziffern: Gegen den Überwachungsstaat steht da und Für die Meinungsfreiheit!.

Mom drückt auf die Hupe. »Ist das zu fassen? Das ist illegal, was die da machen!«

Mittlerweile ist der Verkehr vollständig zum Erliegen gekommen. Autofahrer liefern sich ein wütendes Hupkonzert, ein paar sind ausgestiegen und brüllen die Demonstranten an. Durchs Rückfenster sehe ich Polizisten. Es sind unfassbar viele, Hunderte. Sie tragen Schutzschilde und Waffen. Im Gleichschritt marschieren sie unerbittlich auf die Demonstranten zu.

Noah sinkt tiefer in seinen Sitz. »Warum brauchen die so viele Polizisten? Das sind doch nur zwanzig oder dreißig Demonstranten.«

»Weil diese Leute gerade eine Straftat begehen und die Polizei sie festnehmen will«, sagt Mom mit einer Beiläufigkeit, die mir nicht ganz echt vorkommt.

»Die haben Schlagstöcke und Pistolen dabei«, entgegnet Noah leise.

»Keine Sorge.« Mom streicht ihm beruhigend über die Wange. »Das ist doch bloß zur Abschreckung. Die werden diesen Knallköpfen schon nichts tun.«

Keine zehn Meter vor unserem Wagen hält der Protestzug an. Beide Fronten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Polizisten auf der einen Seite, eine undurchdringliche Mauer aus blauen Uniformen. Auf der anderen Seite der kleine bunte Demonstrationszug. Schritt für Schritt rückt die Polizei vor. Das Johlen der Demonstranten wird lauter und wütender, ebenso das Schrillen der Trillerpfeifen. Ich halte die Luft an. Und dann ist es auf einmal still. Wie auf ein mysteriöses Signal hin verstummen die Pfiffe und es johlt auch niemand mehr. Die plötzliche Stille fühlt sich gespenstisch an. Die Demonstranten weiter hinten rennen los und Chaos bricht aus. Während gut die Hälfte der Polizisten die Verfolgung aufnimmt, nehmen die anderen die Demonstranten fest, die nicht schnell genug weggelaufen sind. Mit einem Mal ist der ganze Spuk vorbei und die Straße wird freigeräumt.

Die Autos vor uns setzen sich in Bewegung. Mom fährt los und schaltet wieder das Radio ein, als wäre nichts geschehen. Das Interview mit Reed ist vorbei. Klassische Musik erfüllt jetzt den Wagen und jeder Ton bohrt sich schmerzhaft in mein Gehirn. Verzweifelt massiere ich meine Schläfen. Die Kopfschmerzen, die ich zwischendurch fast vergessen hatte, sind mit Wucht zurückgekehrt. Sie sind so stark, dass ich sie kaum aushalte. Ich will nur nach Hause und endlich Moms Tabletten nehmen.

Wir lassen den Square hinter uns, durchqueren das Büroviertel mit den spiegelnden Hochhausfassaden und fahren auf dem Highway aus der Stadt hinaus.

Primrose Hill ist eine Gated Community von Eden City, die, wie der Name schon andeutet, auf einem Hügel liegt. Die Streben des Metalltors, dem einzigen Zugang zum Wohnviertel, glitzern und funkeln schon aus der Ferne im Sonnenlicht. Als Kind musste ich bei dem Anblick immer an ein verwunschenes Märchenschloss denken. Nur dass hier keine nette Königsfamilie wohnt, sondern versnobte, reiche Leute in schönen Häusern, die meinen Stiefvater Peter, Mom, Noah und mich von Anfang an spüren ließen, dass wir nicht zu ihnen gehörten. Kein Wunder, als wir herzogen, hatten wir die falschen Haarschnitte, trugen die falschen Klamotten und sagten die falschen Dinge. So viel Sympathie man uns Soldatenfamilien in der Presse auch entgegenbrachte, hier in Primrose Hill sah man auf uns herab. Damals war die Anteilnahme uns gegenüber schon stark abgeflaut. Wie die anderen Angehörigen hatte Mom mit Noah und mir auf dem Stützpunkt ausgeharrt, bis das Militär es sich zur Aufgabe machte, uns alle beim Finden neuer Wohnungen und Häuser zu unterstützen.

Zu dieser Zeit lernte Mom Peter kennen. Er hatte grenzenlose Geduld mit ihrer Trauer, schenkte ihr Blumen, brachte sie zum Lachen, hörte ihr zu. Sie waren rasend ineinander verliebt und nach wenigen Monaten war klar, dass sie zusammenziehen und heiraten würden. Mom bläute mir ein, dass ich nett zu Peter sein sollte, was mich natürlich nur entschlossener machte, ihn nicht zu mögen. Aber das ist die Sache mit meinem Stiefvater – es ist unmöglich, ihn nicht zu mögen. Nur wenige Wochen vor unserem Umzug nach Primrose Hill gaben sie sich das Jawort. Die Leute hier hätten Peter ohne Weiteres akzeptiert, er ist schließlich ein hohes Tier in der Stadtverwaltung. Nur hatte er leider die falsche Familie im Schlepptau. Und daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Bevor wir nach Primrose Hill einfahren dürfen, müssen wir durch den Sicherheitscheck am Pförtnerhäuschen. Der Anblick der endlosen Mauer mit den unüberwindbaren Stacheldrahtspulen darauf, die sich rechts und links vom Pförtnerhäuschen um das ganze Viertel zieht, erinnert mich heute noch mehr als sonst an ein Gefängnis. Ich verstehe zwar nicht, warum, aber tatsächlich reißen sich die Leute darum, hier zu wohnen. Die Wartelisten sind ellenlang, manche Familien warten jahrelang auf ein Haus. Und das liegt nicht nur an den hübschen Villen und großzügig geschnittenen Grundstücken, sondern daran, dass man sich in Primrose Hill wirklich sicher fühlen kann: Hier gibt es schon seit Jahren Überwachungskameras, private Security, Nachbarn, die aufeinander achten – ein Fünfzigerjahre-Dorfidyll. Nur dass wir inzwischen 1988 haben.

Stuart, mein Lieblingswachmann, sitzt in dem Panzerglashäuschen und blickt von einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher auf, als meine Mom mit dem Wagen heranfährt. Jede Wette, dass er gerade noch die Wiederholung des Baseballspiels von gestern Abend geschaut hat. Auf Stuarts Gesicht erscheint ein breites Grinsen. Er muss mindestens über sechzig sein, aber für mich ist er irgendwie alterslos, was vermutlich auch an seinem Sinn für Humor liegt. Zu Halloween verteilt er Süßigkeiten an die Kinder im Viertel, an Weihnachten verkleidet er sich als Weihnachtsengel mit goldenem Pappheiligenschein und Glitzerflügeln.

Mom winkt ihm lächelnd zu und er öffnet für uns die Schranke. Im Schritttempo fährt Mom hindurch.

Noch bevor Mom den Motor ausgeschaltet hat, springe ich aus dem Wagen. Ich brauche dringend ihre Tabletten! Gerade als ich den Weg zu unserem Haus entlanglaufe, öffnet Peter die Haustür.

»Was machst du denn hier?«, frage ich verblüfft. »Heute ist Donnerstag. Du arbeitest doch.«

»Wonach sieht’s aus?«, fragt Peter mit einem schiefen Grinsen. Er hat sich Moms geblümte Kochschürze umgebunden, die an ihm eher wie ein lavendelfarbenes Babylätzchen aussieht. Sein weißer Hemdkragen ist mit roten Spritzern übersät. Da er kein Auftragskiller ist, sondern Beamter, tippe ich eher auf Tomatensoße als auf Blut. Peter wischt sich die Schweißperlen von seiner Glatze und lässt mich ins Haus. »Ich dachte, ich verbringe meine Mittagspause ausnahmsweise mal zu Hause. Es gibt mein berühmtes, höllenscharfes Chili.«

»Berühmt-berüchtigt wohl eher«, murmele ich und drängele mich an ihm vorbei. Meine Kopfschmerzen haben das letzte Stadium erreicht. Wenn ich jetzt nicht sofort die Tabletten nehme, geht der Scheiß mit dem Stimmenhören wieder los. Todsicher.

»Wie war die Beerdigung?«, fragt Peter. Schritte draußen auf dem Kies verraten mir, dass Mom und Noah bereits im Anmarsch sind.

»Na ja, wie eine Beerdigung eben«, antworte ich ungeduldig und laufe die Treppe nach oben. »Ich muss noch eben schnell etwas holen!«

»Beeil dich!«, ruft Peter mir hinterher. »Das Essen ist gleich fertig!«

Ich schließe mich im Badezimmer ein und schnappe mir den Zahnputzbecher. Während ich dabei zusehe, wie das Wasser aus dem Hahn schießt, muss ich wieder an Lucas denken. An seine grünen Augen, aber auch an das, was er gesagt hat. Was, wenn hinter den Stimmen, die ich höre, tatsächlich mehr steckt? Wenn ich nicht verrückt bin, sondern eine Gabe habe?

Ich drehe den Wasserhahn zu und starre auf den vollen Zahnputzbecher in meiner Hand. Eine Gabe, was für ein peinliches Wort. Aber … falls Lucas recht hat und es etwas Besonderes mit den Stimmen auf sich hat, will ich das wissen. Entschlossen kippe ich das Wasser wieder ins Waschbecken.

Ich stochere angespannt in Peters Chili herum. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jede Sekunde explodieren. Es ist furchtbar, darauf zu warten, dass etwas passiert, was man eigentlich um jeden Preis vermeiden will. Gleichzeitig sehne ich herbei, dass es endlich passiert. Nur mit halbem Ohr höre ich zu, wie Mom und Noah meinem Stiefvater von der Demonstration erzählen. Zu meiner Erleichterung verzichtet Mom darauf, Camillas Armband zu erwähnen, obwohl es der eigentliche Grund dafür ist, warum wir anhalten mussten und überhaupt in die Demonstration hineingeraten sind.

»Und dann kamen die Polizisten«, sagt Noah.

Peter zieht beeindruckt die Augenbrauen hoch. »Und wie ging es weiter?«

»Keine Ahnung.« Noah zuckt die Achseln. »Die Demonstranten sind abgehauen.«

»Hätte ich an ihrer Stelle auch getan«, erwidert Peter trocken.

So schön es wäre zu glauben, dass Mom meinen Diebstahl für sich behalten wird, mache ich mir keine falschen Hoffnungen. Spätestens heute Abend, wenn Noah im Bett ist, wird sie Peter alles erzählen.

»Schmeckt es dir nicht, Harper?«, reißt Peter mich aus meinen Gedanken.

»Doch«, lüge ich. Tatsächlich habe ich während der gesamten Mahlzeit hauptsächlich ein paar Chilibohnen auf meinem Teller hin- und hergeschoben.

Mom wirft mir einen prüfenden Blick zu. »Seit zwei Wochen isst du nicht mehr richtig. Du machst doch nicht eine dieser idiotischen Diäten?«

»Quatsch!« Um sie zu beschwichtigen, schiebe ich mir schnell eine große Gabel voll Chili in den Mund. Ich kann ja schlecht zugeben, dass mir der Appetit vergangen ist, seit ich Stimmen höre. Oder dass ich befürchte, verrückt zu werden, und gerade austeste, ob ich nicht vielleicht doch eine Gabe habe, wie auch immer die vielleicht aussieht.

»Ich glaube, es liegt an Caleb«, sagt Noah. »Er und Harper sind ineinander verliebt.«

»Das ist Blödsinn!« Zu meinem Ärger werde ich jetzt auch noch rot. Ich liebe Caleb, das tue ich wirklich. Aber ich weiß nicht, ob ich ihn auch auf diese Art liebe, und ich bin aus verschiedenen Gründen nicht scharf darauf, es herauszufinden.

»Kein Blödsinn«, beharrt Noah mit der Altklugheit eines zwölfjährigen Sextherapeuten. »Alex hat mir erzählt, dass …«

»Ich will nicht wissen, was Alex gesagt hat!«, unterbreche ich ihn hastig.

Um ehrlich zu sein, habe ich mir natürlich schon mal vorgestellt, wie es wäre, Caleb zu küssen. Ich bin auch nur ein Mensch und Caleb ist nicht bloß ein toller Typ, er sieht auch verdammt gut aus und ja, vielleicht könnte ich mich sogar in ihn verlieben. Aber die Frage ist doch: Wie ginge es danach weiter? Jetzt sind wir beste Freunde. Mal angenommen, wir würden zusammenkommen. Ganz ehrlich, ich glaube, dass das mit der großen Liebe eine Illusion ist. Ein paar Wochen oder Monate lang findet man sich gegenseitig ganz toll, schwebt auf Wolke sieben und will für immer zusammen sein. Und plötzlich sagt oder tut einer irgendetwas Dummes, man macht Schluss und kann sich nicht mehr in die Augen sehen. Und dann hätte ich meinen besten Freund verloren. Das ist mir das Risiko einfach nicht wert.

»Was ist denn mit dir, Noah?«, springt Peter mir bei. »Jetzt, wo die Sommerferien anfangen, hast du doch sicher ein kompliziertes, neues Wissenschaftsprojekt?« Er zwinkert mir verschwörerisch zu.

»Oh ja, ich lese gerade ein cooles Buch.« Noahs Augen leuchten. »Es geht um die Euler’sche Relation.«

Innerlich atme ich auf, Peters Ablenkungsmanöver hat offenbar funktioniert. Mein kleiner Bruder ist ein Genie. Keiner von uns zweifelt daran, dass er irgendwann den Nobelpreis gewinnen wird. Trotzdem mache ich mir oft Sorgen um ihn. Tatsache ist, dass zukünftige Nobelpreisträger in der Schule nicht allzu hoch im Kurs stehen. Ich hatte es – dank Camilla und ihrer Horrorfreundinnen – in der Primrose High schwer genug. Und ich bin nun wirklich nichts Besonderes … zumindest war ich das vor zwei Wochen noch nicht. Noah hingegen ist einfach … anders. Er ist lieb und sensibel und außergewöhnlich, aber eben auch schräg. Und wie ich heute auf der Beerdigung mitbekommen habe, muss er nicht mal etwas Schräges tun oder sagen, um zur Zielscheibe zu werden.

»Die Euler’sche Relation ist total interessant«, fährt Noah mit fast rührendem Eifer fort. »Ich meine, diese Formel verbindet trigonometrische und Exponentialfunktionen miteinander, und das durch komplexe Zahlen. Ist das nicht abgefahren?!«

»Okay, jetzt ist alles klar«, erwidert Peter mit todernster Miene und Mom lacht. Selbst ich muss grinsen. Auf einmal hellt sich Peters Miene auf, wie immer, wenn er eine Idee hat, die er selbst für grandios hält. »Was haltet ihr davon, wenn wir mal wieder ein ordentliches Barbecue auf die Beine stellen? Ich meine, ich habe letztes Jahr extra diesen Riesengrill gekauft.« Peter schaut uns erwartungsvoll an.

»Ja!« Noah ist begeistert. »Können wir die Pettersons einladen?«

Mom nickt lächelnd. »Ja, klar.« Oh Gott, bitte nicht! Ich hasse Trish.

Ich starre Mom fassungslos an. »Wie meinst du das?«

Sie blickt irritiert von ihrem Teller auf. »Du fragst mich, wie ich Ja, klar meine?«

»Äh, nein, natürlich nicht.« Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich. Scheiße, was ist eben passiert?! Mom sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren, Noah schüttelt belustigt den Kopf, kaut jedoch weiter.

Harper ist manchmal echt schräg. Das ist seine Stimme. Aber er hat doch gar nichts gesagt – er kaut!

Auch Peter schaut mich kurz verwundert an. »Also, ich finde die Idee gut. Jim hat neulich gesagt, er hat da so eine neue, scharfe Marinade für Spare Ribs entdeckt.«

Mom lächelt ihm zu und nickt wieder. Trish wird mich mit ihren Gottesdienstgeschichten zu Tode langweilen. Das wird ein Albtraum.

Ich sehe, wie Mom die Lippen zusammenpresst. Gerade als ich mir sicher bin, dass ich verrückt werde, setzt mein Gehirn die Puzzleteile endlich zusammen: Sie hat das gerade nicht gesagt. Sie hat gar nichts gesagt. Ihre Lippen haben sich nicht bewegt und doch habe ich ganz deutlich ihre Stimme gehört.

Scheiße.

Diesmal ist es nicht wie bei dem Debattierwettbewerb vor zwei Wochen, kein Höllenlärm in meinem Kopf, keine Kakofonie und ich muss mich auch nicht übergeben. Klar, hier sitzen ja auch nur drei Menschen, denen ich beim Denken zuhören muss. Trotzdem fühlt es sich an, als würden die Wände um mich herum ins Wanken geraten. Außerdem habe ich so schreckliche Kopfschmerzen, dass es sich anfühlt, als könnte mein Gehirn jede Sekunde explodieren.

Peter verzieht das Gesicht und reibt sich mit der Hand über den Bauch. Oh Mann, das Chili rumort ganz schön im Magen.

Mein Blick fliegt zu Noah.

Ich frag Alex gleich, ob er sich heute mit mir treffen darf. Noah nimmt einen Schluck von seinem Saft.

Es ist, als stünde man am Straßenrand, während sich ein paar Meter weiter ein furchtbarer Autounfall abspielt. Ich selbst habe so was noch nie erlebt, aber es muss der absolute Horror sein. Der absolute Horror. Man will auf keinen Fall hinsehen, aber man kann einfach nicht anders.

Ich schaue wieder zu Peter.

Vielleicht hilft eine Magentablette.

»Kann ich nach dem Essen zu Alex?«, fragt Noah. »Wir wollen ein paar Chemieexperimente machen.«

»Natürlich.« Mom seufzt. »Aber jagt diesmal bitte nicht wieder alles in die Luft.« Es reicht, wenn die Pettersons Harper für einen schlechten Umgang halten. Verdammt, warum kann sie sich nicht benehmen wie ein ganz normaler Mensch? Stattdessen klaut sie wieder, noch dazu auf einer Beerdigung.

Ich springe hastig vom Stuhl auf und knalle mit voller Wucht gegen die Tischkante, Noahs Glas kippt um und dunkelroter Traubensaft ergießt sich über die Tischdecke. Meine Hüfte brennt.

»Harper?!« Peter sieht mich besorgt an. »Geht’s dir nicht gut?« Vielleicht war was mit dem Chili nicht in Ordnung. Oder die Beerdigung war zu viel für sie.

Ich renne Richtung Tür, stürze die Treppe nach oben und schließe mich im Bad ein.

Mit zitternden Händen reiße ich die Tür des Medikamentenschranks auf und schlucke zwei von Moms Tabletten. Sie bleiben mir in der Kehle stecken und ich muss eine ganze Weile lang husten und würgen und einen Becher Wasser nachtrinken. Endlich bekomme ich die Mistdinger runter. Ich starre mein leichenblasses Gesicht im Spiegel an. Was für eine krasse Scheiße war das denn bitte gerade?!

3

Ich kann Gedanken hören. Ich kann wirklich Gedanken hören. Das ist nicht möglich, niemand kann das!

Reglos liege ich auf meinem Bett, die Kopfhörer meines Walkmans auf den Ohren, und starre auf die hellgrünen Plastiksterne, die Peter und ich vor vielen Jahren gemeinsam an die Zimmerdecke geklebt haben, damit mein siebenjähriges Ich nachts keine Angst mehr haben musste. Jetzt halte ich mich mit meinem Blick an den Sternen fest, um vor Aufregung nicht völlig durchzudrehen. Dazu höre ich das letzte Mixtape, das Caleb mir aufgenommen hat. Ich liebe diese Kassette. Eurythmics, Depeche Mode, Bon Jovi in wildem Mix auf der A-Seite, auf der B-Seite sind nur Frauen: Kate Bush, Diana Ross, Whitney Houston und natürlich Madonna. Gerade läuft Who’s that girl? von ihr und die Frage stelle ich mir auch.

Wie oft habe ich in meinem Leben schon gedacht, dass ich gerne wüsste, was jemand denkt? Und eben ist mir genau das passiert. Klar, ich hatte dabei schreckliche Schmerzen und alles ging durcheinander. Aber abgefahren war es trotzdem. Ich bin nicht verrückt, sondern habe das, was Lucas vorhin auf dem Friedhof eine Gabe genannt hat.

Lucas. Beim Gedanken an ihn macht mein Herz Stolperschläge. Aber diesmal nicht, weil ich an seine grünen Augen denken muss. Sondern aus Angst. Er hatte geahnt, dass ich eine solche Gabe haben könnte, und er hat mich gewarnt. Als die Polizei kam, ist er geflohen. Was auch immer es mit meiner Gabe auf sich hat, es scheint ein dunkles Geheimnis darum zu geben. Und Lucas ist der Einzige, der vielleicht wissen könnte, was mit mir los ist. Warum ausgerechnet ich Gedanken lesen kann. Wie ich damit umgehen soll. Ich muss zu ihm. Nur: Wo findet man jemanden, der sich offenbar vor der Polizei versteckt?

Die Streichholzschachtel! Die meisten werden zu Werbezwecken benutzt, im Normalfall für Bars. Ich setze mich auf und ziehe die Schachtel etwas umständlich aus meiner Hosentasche:

Wir müssen reden. Jetzt.

Unter der hastig hingekritzelten Kugelschreiberschrift lässt sich aber noch der ursprüngliche Aufdruck entziffern:

Palace – Das beste Bier in Kill River

gibt’s in der Oakstreet.

Oh Mann! Ausgerechnet Kill River!