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Hinter der harmlosen Fassade lauert ein Abgrund … Der fesselnde Thriller »HASS – Tödlicher Instinkt« von Bruce Jones jetzt als eBook bei dotbooks. Der Schock sitzt tief: Surfer entdecken am Strand von Santa Barbara die Leiche einer nackten Frau. Mit grausamer Liebe zum Detail hat ihr Mörder sie auf ein blutgetränktes Badetuch drapiert. Das Ergebnis der Obduktion bringt selbst den erfahrenen Detective Eustes Tully aus der Fassung: Der Mörder hat seine perverse Handschrift auf dem Opfer hinterlassen! Tully nimmt die Jagd auf den Psychopathen auf. Doch die Ermittlungen führen ihn in die eigenen Reihen – und beinahe zu spät erkennt Tully, welche abgründige Mission der Mörder in Wahrheit verfolgt … »Bruce Jones schreibt hervorragende Thriller.« Barbara Wood Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der psychologische Thriller »HASS – Tödlicher Instinkt« von Bruce Jones. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2019
Über dieses Buch:
Der Schock sitzt tief: Surfer entdecken am Strand von Santa Barbara die Leiche einer nackten Frau. Mit grausamer Liebe zum Detail hat ihr Mörder sie auf ein blutgetränktes Badetuch drapiert. Das Ergebnis der Obduktion bringt selbst den erfahrenen Detective Eustes Tully aus der Fassung: Der Mörder hat seine perverse Handschrift auf dem Opfer hinterlassen! Tully nimmt die Jagd auf den Psychopathen auf. Doch die Ermittlungen führen ihn in die eigenen Reihen – und beinahe zu spät erkennt Tully, welche abgründige Mission der Mörder in Wahrheit verfolgt …
Über den Autor:
Bruce Jones wurde 1944 in Kansas City in den USA geboren. Als Schriftsteller und Drehbuchautor bei Film und Fernsehen hat er sich einen Namen gemacht. Heute lebt er in Kalifornien.
Von Bruce Jones erscheinen bei dotbooks ebenfalls:
WUT – Tödlicher Alptraum
ANGST – Tödliches Spiel
ZORN – Im Netz des Grauens
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eBook-Neuausgabe Juni 2019
Dieses Buch erschien bereits 1996 unter dem Titel Tödliche Brandung bei Wilhelm Goldmann Verlag, München
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1991 by Bruce Jones
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel In Deep bei Crown Publishers Inc., New York bei Doubleday.
Copyright © der deutschen Ausgabe 1996 bei Wilhelm Goldmann Verlag, München
Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Published by Arrangement with Bruce Jones.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Susan Fietze und nienora
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)
ISBN 978-3-96148-455-3
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Bruce Jones
HASS – Tödlicher Instinkt
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Hays Steilberg
dotbooks.
Die zwei Jungen fuhren hinunter ans Meer und verjagten die nebelige Sonntagsruhe mit ihrem Krach und Abgasgestank.
Kalt war es, selbst für Südkalifornien, selbst für Juni. Die Jungen, die noch nicht einmal zwanzig waren, spürten die kalte Luft und die weitaus kältere Feuchtigkeit auf der Haut ihrer schlanken, braungebrannten, muskulösen Körper. Falls sie das überhaupt störte, dann hätte es ihnen wohl noch mehr ausgemacht, auch nur einen Tag nicht zu surfen. Das war nämlich ihr Leben.
Sie kamen in einem verrosteten Volvo an, der Todd gehörte, der in der sonntäglichen Frühe an einer leeren Straße parkte, die Heckklappe aufmachte und sein glänzendes, frischgewachstes Surfbrett herausnahm, das auf dem von Gerome lag. Beide zogen sie lediglich die Oberteile ihrer Surfanzüge an. Die Hosen trugen nur Weichlinge. Sie machten die Reißverschlüsse zu, schulterten die Bretter und wandten sich dem in Nebel verhüllten Strand zu. Ihr sonnengebleichtes Haar glitzerte unter den in der Luft schwebenden Gischtwolken. Sie versuchten nicht einmal, gegen die knallende Brandung anzureden. Das alles kannten sie schon.
Todd schloß das Auto ab, verbuddelte die Schlüssel im Sand hinter einem grauen Stein und stürmte mit Gerome in die zischende Freiheit der Wellen, die der Wettervorhersage zufolge heute besonders hoch sein würden.
Gerome lief ihm davon, rannte geradeaus in den grauen Horizont und brausenden Schaum hinein. Todd blieb stehen, um einen Metallsplitter zu entfernen, auf den er getreten war. Es gab immer mehr Müll am Strand, ein echtes Arbeitsrisiko. Zu seiner großen Erleichterung stellte Todd fest, daß er nicht blutete. Seine Angst vor Haien war ohnehin ziemlich übertrieben angesichts der Statistik. Die Prozedur dauerte gerade lange genug, um ihm Gelegenheit zu geben, auf die Frau aufmerksam zu werden.
Sie lag rücklings auf einem rot-weiß gestreiften Badetuch ungefähr sechzig Meter den Strand hinunter. Sie lag knapp unter den weiß-grünen Palisadenzäunen und schien splitternackt zu sein. Todd zögerte lang genug, um seine pubertäre Neugier am Anblick ihrer Brüste zu weiden, die, von seiner Warte aus gesehen jedenfalls, beachtlich waren. Dann lief er unbeirrt in die Brandung, seinem Freund nach. An diesem Stück der Küste von Santa Barbara war FKK-Baden nichts Besonderes. Die Jungen hatten's schon oft erlebt und sich etwas gleichmütig daran gewöhnt. Sie wollten schließlich surfen.
Eine halbe Stunde lang taten sie auch genau das. Sie hielten sich an die höchsten Wellen, die sie zufällig immer mehr in die Nähe der Sonnenanbeterin trieben – wenn die Sonne nur anbetungswürdig geschienen hätte.
Todd machte sich seine Gedanken zum Ganzen und blieb im flachen Wasser stehen, um die Frau wieder anzustarren. Sie lag regungslos auf ihrem rot-weißen Badetuch, das Gesicht dem noch leicht verhangenen Himmel zugewandt, die Arme zu ihren Seiten liegend, die Beine etwas gespreizt. Das dunkle Büschel der Schamhaare konnte er gerade ausmachen, auch den rosabespitzten, großzügigen Busen etwas weiter dahinter. Sie trug eine Sonnenbrille.
»Du kriegst einen Steifen, du Arschloch.« Irgendwo hinter ihm grinste Gerome.
Zum Teil stimmte das auch. Seit einiger Zeit hatte er Druck auf der Blase. Dieser Druck zusammen mit der Gegenwart dieser Frau erregte ihn etwas.
Gerome pinkelte immer ins Wasser, aber das war nichts für Todd. Seine Lieblingsstelle war dort, wo neugierige Augen nicht hinsahen – hinter einem kleinen Felsvorsprung unweit der Frau. Dort, das Meer im Rücken, im Schutze der Felswand, konnte er die Blase erleichtern. Doch um dort hinzukommen, müßte er an ihr vorbei.
Leicht zitternd legte er sein Brett auf den Sand.
»Frag sie, ob sie einen flotten Dreier mag!« Gerome kicherte, warf sich aufs Brett und erwischte eine Welle, während sein Kumpel auf die Felswand zusteuerte.
Gerome paddelte inzwischen zur nächsten sanften Welle hinaus und fühlte die Kälte auf seinem gummigeschützten Rücken. Ihm ging auf, daß er alleine war, und er dachte an die Geschichten von vermißten Schwimmern. Was mochte wohl alles da unten sein? Seine Gedanken wanderten am Rande des Bewußtseins: kleine Abschürfungen von den vielen Steinen, die Kälte, alles Privilegien des Sportlers.
Er ruderte weiter mit den Armen, drehte sich um und setzte sich rittlings auf das Brett, um sich für die nächste Welle zu rüsten. Todd stand neben der Frau und winkte. Eine gute Welle braute sich zusammen, und er ritt auf ihrer Krone bis zum Strand. Er sagte sich, daß sein Herzklopfen nur von der Anstrengung komme.
Doch sein Gefühl sagte ihm etwas anderes, während er sein Brett neben das von Todd hinlegte und auf den Zaun zuging. Todd starrte ihn an, nicht die Frau. Er stand steif, nur durch spasmenartiges Zucken bewegt. Sein Gesicht war grau.
Er mußte nur noch wenige Meter durch den tiefen Sand stapfen, um erkennen zu können, warum das rot-weiße Badetuch größtenteils rot war ...
Bis Detective Eustes Tully diesen Abschnitt von Laredo Beach erreicht hatte, war der Tatort schon von der Polizei mit dem üblichen gelben Band eingezäunt.
Das Band sollte wohl eher den beruhigenden Eindruck von Professionalität erwecken, denn außer den zwei Jungen waren nicht viele Leute am Strand. Dafür war es noch zu kalt. Durch das Band schien der Widerspruch von Todesort und Urlaubsziel eingekreist und zurückgedrängt. So was passierte nicht in Santa Barbara.
Innerhalb des Bannkreises stand Detective Brumeister, ein süffisantes Lächeln umspielte seinen Mund. Tully hatte Brumeister nie leiden können. Brumeister war der einzige Polizist vom Präsidium, der ihn Eustes nannte.
»Morgen, Eustes. Wolltest dir mal unsere Schwimmerin angucken?«
Tully hatte heute morgen noch keinen Kaffee gehabt. »Nicht so ganz, William. Ich wollte heute eigentlich meinen freien Tag nutzen, um hier ein paar Wellen zu reiten. Wer hat gesagt, sie wär 'ne Schwimmerin? Billings meinte, sie wär' trocken.«
»Trocken – das kannste wohl sagen, Eustes. Sie hätte ein paar Liter Gleitmittel gebrauchen können.«
Sieht dir ähnlich, so etwas zu sagen, du Arschloch, dachte Tully.
»Haste den Kampf gestern abend gesehen?«
»Nein, William.«
»Der Nigger hat gewonnen. Haste was gewettet?«
»Nein, William.«
»Wärste bloß zu mir gekommen.« Als Tully sich ärgerlich an Brumeister vorbeischob, meinte dieser noch: »Immer eine Freude, dich zu sehen, Eustes.«
Arschloch.
Tully stieg über das Band und nickte den Leuten von der Gerichtsmedizin zu. »Einen schönen guten Morgen, Ted. Was haben wir denn hier?«
Ted Sears versiegelte gerade die Plastiktüte, in die er die Sonnenbrille gesteckt hatte. Er sah blaß und etwas aufgedunsen in der Morgendämmerung aus, wie alle anderen auch. »Zwei Schlieren auf dem linken Brillenglas, wahrscheinlich von ihr. Keine Haut unter den Fingernägeln. Nichts unter den Fußnägeln. Hier ist sie jedenfalls nicht gestorben. Das Badetuch ist die Standardausführung in Weiß, eins unter Zigmillionen. Ach ja, es lag auch noch ein schwarzer, einteiliger Badeanzug neben ihr, der allerdings trocken war. Das wär's dann schon. Fred will noch mit dir sprechen. Was macht deine Arthritis?«
»Quält mich hin und wieder.«
»Hast du ›Eisheiß‹ drauf geschmiert?«
»Nö, mache ich aber noch, danke.«
Der Gerichtsmediziner Fred Wanamaker trat zurück, damit Tully die Leiche sehen konnte. Sie glitzerte, selbst gegen den Sand. Nicht zu übersehen jedoch war das Gemetzel zwischen ihren Beinen.
»Ist sie geschwommen, Fred?«
Wanamaker drehte sich um und grinste verstohlen. Er nahm die Brille ab und schwenkte sie im Kreis. In diesem Licht sah er alt aus, dachte Tully. Jedenfalls war er abgebrüht. »Hallo, Tully! Nein, hat Billings es dir nicht gesagt?«
»Brumeister hat's durcheinandergebracht.«
»Arschloch. Nein, nein, sie gehört schon uns. Schon seit zehn bis zwölf Stunden. Der Küstenwache können wir es jedenfalls nicht zuschieben.«
»Scheiße.«
»Immer sonntags, was? Ich werde sie mir wohl im Labor ansehen müssen, aber der vaginale Eingriff allein hätte gereicht.«
»Echt?«
»Kleine und große Schamlippen zerschlissen, Vaginalwände zerstört. Die Gebärmutter ist bestimmt durchbohrt, das garantier' ich dir. Keine anderen Wunden.«
»Sperma?«
»Jedenfalls nicht extern. Wir brauchen die Autopsie. Finde du erst mal schnell den Ehemann.«
»Warum glaubst du, daß sie einen hat?«
Wanamakers Hang zu intuitiven Prognosen hatte ihm schon einen Ruf eingebracht. Er blickte auf die Leiche und sagte: »Nur so ein Gefühl.«
Einen Moment lang sahen sie sie an.
»Hübsche Frau, was, Tully?« Dann, in einem Anflug unprofessioneller Sentimentalität: »Heute wird sie jedenfalls nicht mehr braun.«
Eine Zeitlang schwiegen beide Männer.
»Was meinst du, wie alt sie war, Fred?«
»Zwei-, vielleicht dreiunddreißig. Tänzerin oder Sportlerin – schau dir die Beine an.«
Tully untersuchte den umliegenden Sand. Er war weder blutig noch aufgewühlt, bis auf zwei Reihen von Fußabdrücken.
»Die stammen von den Jungen«, meinte Wanamaker.
Tully blickte zum Polizeiwagen am anderen Ende des Strandes hinüber. Darin kauerten zwei Blondschöpfe. Brumeister war offenbar dabei, sie in die Mangel zu nehmen. Sie waren aber nicht die Täter, und die Fußabdrücke des Mörders waren weggefegt, entweder durch die Flut, den Wind oder einen Handbesen. Schade, daß der herumliegende Müll nicht auch weggefegt wurde.
Ted Sears kam auf sie zu. »Ich hatte heute einen tollen Tag im Zoo für die Kinder geplant. Sie lieben diese Bahn, die sie da haben.«
»Ted, jeden Morgen kommen die Jungs von den Stadtwerken hierher, räumen auf und glätten den Sand mit einer Walze. Sieh zu, daß alle Fotos gemacht werden, bevor sie auftauchen.«
»Alles klar.«
Einer plötzlichen Eingebung folgend, bückte sich Tully und pokelte mit dem Zeigefinger in einer schleimigen Spirale von Algen herum. Er nahm eine kleine Glaskugel heraus, so groß wie ein Kronkorken. »Wonach sieht das für euch aus, Jungs?«
»Kamerablitz«, sagte Wanamaker.
Tully pustete den Sand weg. »Ich dachte, die Kameras hätten heutzutage alle eingebaute Blitze.« Er schielte über die Schulter nach Sears.
Sears zuckte mit den Achseln.
Tully drehte sich um und streckte die Hand aus. »Gib mir 'ne Tüte, Ted.«
Sears kramte eine hervor, und Tully tat das Ding, das er mit seinem Taschentuch hielt, in die Tüte hinein und versiegelte sie. Er hielt die kleine Birne gegen die Sonne.
»Ist benutzt worden«, meinte Sears.
»So einen Apparat hatte mal meine Alte«, erinnerte sich Wanamaker.
Tully gab Sears die Tüte. »Nach Fingerabdrücken absuchen. Ich will es aber zurück, selbst wenn's sauber ist.«
»Geht klar.«
Er drehte sich um und schaute zum Horizont hinaus. Das dunkle Blau wich einem helleren Ton, da der Nebel sich jetzt lichtete.
»Sieht so aus, als würd's doch noch ein schöner Tag werden«, sagte Sears.
Im Rücken spürte Tully die töte Frau, die ihn unsichtbar berührte. Nicht für alle, dachte er.
»Nun gut«, befahl er den Umstehenden. »Machen wir Schluß, und nehmen wir sie aus der Sonne.«
Er lief den Strand hinunter, um Brumeister zu sagen, daß er die Jungen laufenlassen sollte.
Tully saß bei McDonald's und betrachtete mit traurigen Augen das Telefon an der Wand gegenüber.
Wieder einmal war es Zeit für einen dieser Anrufe.
Einen Bissen BigMac hatte er noch. In der fettigen Papiertüte lagen noch zwei oder drei Pommes, und ein Rest Cola war auch noch im Becher übrig. Schließlich muß man ja von etwas leben. Er schaute auf seine Uhr und stöhnte. Dann musterte er die Beine eines jungen Mädchens, das ihm mit ihrem Freund gegenübersaß. Der Freund hatte hennagefärbtes Haar. Was wollte so ein hübsches Ding mit dem Trottel da? Kinder.
Der BigMac und die Pommes waren endlich alle, und er hatte nur noch einen Schluck Cola.
So eine elende Scheiße. Ich bring's besser hinter mich. Entschlossen stopfte er seinen Müll in den Abfalleimer und hob den Hörer ab, während er Kleingeld in das Telefon schmiß.
Er wählte eine vertraute Nummer.
»Hallo?«
»Hallo, ich bin's.«
»Was ist denn los, Eustes?«
Er unterdrückte einen Seufzer und riß sich zusammen. »Warum gehst du automatisch davon aus, daß etwas los ist?«
»Warum würdest du sonst anrufen?«
»Vielleicht; weil ich gern mit dir rede?«
»Du willst absagen.«
Scheiße. Sie wußte es immer. »Es ist etwas dazwischengekommen, Mae.«
Schweigen.
»Bist du noch dran?«
»Es kommt immer etwas dazwischen.«
Er merkte, wie sich sein Magen unwillkürlich verkrampfte. »Es ist ernst, sonst würde ich unsere Verabredung nicht absagen.«
»Davon bin ich überzeugt.« Wie herablassend.
Eine Frau wurde umgebracht, dachte er, aber das sagst du nicht. Statt dessen sagst du: »Es ist mein Job, ich bin Polizist. Das weißt du doch.«
»Was ist mit dem Abendessen?«
»Würde ich gern schaffen. Ich rufe dich an.«
»Das heißt, wenn es dir nicht zu große Umstände macht.«
»Das tut es nicht.«
»Wenn du zu beschäftigt bist ...«
»Es macht mir keine verdammten Umstände!«
»Es ist nicht nötig, daß du schimpfst.«
»Sieh mal ...«
»Du weißt, daß ich das nicht mag.«
»Es tut mir leid. Ich rufe dich wieder an, o. k.?«
»Kann ich mich darauf verlassen?«
»Ja.«
»Eustes?«
Er biß die Zähne zusammen, denn er wußte, was jetzt kam.
»Eustes, versprichst du es mir?«
»Ja doch, ja. Ich verspreche es.«
»Das ist, glaube ich, nicht zuviel verlangt. Ist das zuviel verlangt?«
»Nein.«
»Falls es das ist, dann ...«
»Es ist nicht zuviel verlangt.«
»Ich liebe dich, Schatz.«
»Ich liebe dich auch, Mae. Ich muß jetzt gehen.«
»Bis heute abend also.«
Er legte auf, ohne ›Tschüs‹ zu sagen. Das war seine einzige Möglichkeit, das letzte Wort zu haben.
Mutter stieg auf das Vordeck, um dem Geruch der Chemikalien zu entkommen. Sie mochte keine chemischen Gerüche, schon gar nicht den von Fixiernatron.
Sie stand in der kühlen Brise des Pazifik, in ihr geblümtes hawaiisches Muumuu-Kleid gehüllt. Sie starrte über das dunkle Wasser hinweg, hinüber zu den Umrissen der Kanalinseln und den blinkenden Lichtern der Bohrinseln. Hinter ihr glitzerten die diamantenen Lichter der »Riviera« von Santa Barbara, die Geschäftsmänner und Filmstars mit Millionen von Hoffnungen und Träumen in ihren Bann zog. Ihre eigenen dunklen Träume lagen noch brach, aber die Erfüllung kam näher, kam näher – und es war noch Zeit.
Sie schaute in das nachtschwarze Wasser unterhalb des Speigatts der Jacht und dachte ans Geld, an Sonny, an Frauen und an den Tod. Backbords schoß ein fliegender Fisch aus der Oberfläche in bunter Panik, von einer anderen Art Tod gejagt. Er glitzerte auf in der mondlosen Nacht und tauchte dann wieder in seine eigene Welt ab. Mutter dachte über all die Fische im Meer, über all die noch vor ihr liegende Arbeit nach und gönnte sich einen langen, wohlverdienten Seufzer. Es war dennoch eine schöne Nacht, besonders da die Mannschaft Landurlaub hatte. Eine Nacht, um mit Sonny alleine zu sein.
Sie ging zu ihm hinunter.
Er hatte die Leinwand schon aufgespannt und den Projektor aufgebaut. Die neuen Dias warteten ordentlich aufgereiht in ihrem Kasten. Die Vorführung konnte jederzeit beginnen.
Mutter ließ sich auf das hellbraune Ledersofa vor der Leinwand nieder und blickte mit einem stolzen Lächeln auf, als Sonny durch die Kajütentür kam, ein mit Kostbarkeiten aus der Kombüse vollgestelltes Silbertablett in den Händen. Es gab Sardinen in Senfsoße mit Kräckern und aromatisierten Kaffee mit Schokoladengeschmack. Ihr allabendlicher Lieblingsschmaus.
»Danke schön, Sonny.« Sie griff nach der Kaffeetasse und nahm einen Schluck des leckeren Schokogetränks – ohne Koffein, ohne Zucker, mit Nutrasweet. Produkte, die Saccharin enthielten, mied Mutter. Saccharin verursachte Krebs bei Laborratten. Das stand sogar auf dem Etikett. Es war ihr schier unbegreiflich, daß die Regierung der Vereinigten Staaten, eine Regierung, die sie immer respektiert hatte, den Verkauf solcher Produkte zulassen konnte. Warum erlaubte man außerdem immer noch den Verkauf von so furchtbaren Dingen wie Zigaretten? Sorgte sich die Regierung gar nicht um die Gesundheit ihrer Bürger? Es war wirklich beschämend.
Vieles in der Welt stimmte ihrer Meinung nach nicht. Das war das Werk böser Männer, die böse Dinge taten. Es gab eigentlich mehr von ihnen, als man zählen konnte. Realistisch gesehen konnte man nichts dagegen unternehmen, obwohl man das weiß Gott versuchen mußte. Böse Männer. Angefangen hatten sie alle als böse kleine Jungen. Und das war das traurige Fazit einer einzigen, großen, bitteren Wahrheit, der wahren Wurzel allen Übels: schlechter Mütter.
Wie viele Rabenmütter gab es überhaupt? Wie viele hatte es im Laufe der Menschheitsgeschichte auf der ganzen Welt gegeben? Der Kopf brummte einem angesichts der Statistiken. Wahrscheinlich war es besser, über solche Fragen nicht nachzudenken. Wenn man darüber nachdachte, wurde man konfus, und es war lebenswichtig, daß man stets einen klaren Kopf behielt. Man . mußte vor allem anderen wissen, wer man ist.
Und doch, den Gedanken an sie konnte man kaum unterdrücken, oder?
Das beste war vielleicht, man versuchte einfach selbst eine gute Mutter zu sein, um mit gutem Beispiel voranzugehen und einen Präzedenzfall zu statuieren. Man mußte eben tun, was einem selbst zu tun gegeben war. Man mußte seine Nachkommen vor allen Übeln dieser Welt schützen, sofern man konnte.
Das hatte sie immer für Sonny zu tun versucht.
Obwohl sie ja darin versagt hatte.
Obwohl es ja für ihn mit aller Wahrscheinlichkeit zu spät war. Und doch durfte sie nicht aufgeben.
Sie seufzte noch einmal schwer und schloß einen Moment lang erschöpft die Augen, während Sonny den Projektor einschaltete. Es war sehr mühsam, eine gute Mutter zu sein.
Auf dem ersten Dia war ein heller, sonniger Strand zu sehen.
So fing es Sonny immer an, immer mit einem einfachen, idyllischen Foto, das nichts Besonderes zeigte: vielleicht einen Regenschirm oder eine fliegende Möwe, die weißgekrönten Wellen auf dem hellen Blau der Weiten des Pazifik.
Jetzt das Kind. Es spielte normalerweise im Sand oder am Rande des Wassers. Oder es saß einfach still da mit Plastikeimer und Schippchen. Dieses hatte einen neonfarbenen Wasserball; den es auf dem Mittelfinger balancierte wie ein Basketballspieler. Es lächelte. Auch Mutter lächelte. Sie waren alle so süß. So unschuldig. Genauso wie selbst Sonny es mal war ...
Das nächste Dia zeigte die Mutter des Jungen.
Jung. Hübsch. Athletisch.
Sie trug einen dunklen Badeanzug, dunkle Brille, dunkles, glänzendes Haar.
Auf diesem Bild lag sie im Sand auf ihrem Badetuch. Sie war allem entrückt, dem Jungen, dem Ozean, allem außer den warmen, bräunenden Sonnenstrahlen, ihren eigenen intimsten Gedanken ...
Auf dem nächsten Dia saß sie aufrecht und machte gerade ein Foto des Jungen mit einer dieser neuen Einwegkameras. Diese Kameras mochte Mutter nicht. Das ganze Konzept dieser Einwegdinger mißfiel ihr. Man hatte heute eine Gesellschaft der Wegwerfgüter. Es war nicht mehr so wie zu ihrer Zeit, als sie ein Kind war. Eines Tages, dachte sie, werden wir die Menschen selbst wegwerfen. Was nicht hieße, daß man nicht auf viele von ihnen sowieso verzichten könnte ...
Jetzt kam ein Dia, das die junge Mutter im Gespräch mit einem Mann am Strand zeigte. Ein großer, attraktiver Mann. Wer war der Mann? fragte sich Mutter. Worüber unterhielten sie sich? Sprachen sie über den kleinen Jungen? Das Dia antwortete nicht. Und schließlich kam das letzte Dia.
Sonny hatte ganze Arbeit geleistet. Das tat er immer.
Es war mittlerweile dunkel geworden, und deswegen mußte er natürlich den Blitz benutzen. Aber die alte Kamera funktionierte immer noch ziemlich gut.
Der kleine Junge war jetzt weg, endlich in Sicherheit gebracht ... irgendwo hin geflohen wie die untergehende Sonne, wie das flüchtige Versprechen der Jugend. Der Strand sah verlassen und still, nahezu trostlos aus. Man konnte nicht viel erkennen, nur die dunklen Umrisse der Frau, das Umfeld des Blitzlichtes. Der Rest war ein sie umrahmendes Schwarz. So schwarz wie das Haar der Frau. So schwarz wie der Badeanzug, der zerdrückt neben ihrem blassen, nackten Körper lag. So schwarz wie die dunkle Kruste des trocknenden Blutes zwischen ihren Schenkeln.
Hier war es heißer, als er erwartet hatte.
Stillman ruderte ihr Boot in Richtung einer seichten Stelle, wo tote Fichtenstämme wie stille Wächter aus dem Wasser ragten. Dort sollten sich die dicken Flußbarsche versteckt halten. Er lieh Mitch einen seiner besten Köder, einen, mit dem er selbst schon Glück gehabt hatte. Sie angelten ungefähr eine Stunde, aber es bissen nur kleine Fische an. Bis es Mittag wurde, stand ihnen schon der Schweiß auf der Stirn.
Mitch überlegte, ob er nicht vorschlagen sollte, daß sie sich irgendwo im Schatten ausruhten, wollte es aber nicht erzwingen. Zu seiner Überraschung bot ihm der andere Mann in dem Moment einen verchromten Flachmann im Lederetui an. Bier hatten sie ohnehin schon genug im Boot. Irgendeine Vorahnung brachte Mitch dazu, einen Schluck zu nehmen.
Stillman genehmigte sich zwei, füllte die Verschlußkappe noch einmal auf, überdachte die Sache und kippte schnell noch einen weg. Er schraubte den Flachmann wieder zu und steckte ihn dann weg.
»Was ist denn los, John?« fragte Mitch endlich.
Stillman stierte in den See und mied den Blick des anderen.
Mitch rutschte unruhig auf dem Sitz herum.
Stillman seufzte bedächtig und begann; seine Angelschnur einzuholen. »Es hat keinen Sinn.«
Einen kurzen Moment lang gab sich Mitch dem Gedanken hin, Stillman hätte die gegenwärtige Lage im See gemeint, obwohl er genau wußte, daß er auf etwas anderes hinauswollte. Daß es etwas viel Schlimmeres war.
Stillman lehnte sich zurück und ließ den Whisky wirken.
»Ich hab' schlechte Neuigkeiten, Mitch.«
Mitch schoß alles mögliche durch den Kopf, ohne daß er das wirkliche Problem erfassen konnte. War jemand in Johns Familie krank? Nein, sonst hätte er Mitch nicht zum Angeln eingeladen. Mitch fröstelte, denn plötzlich ahnte er, was John sagen würde.
»Wir haben Classic Oil verloren.«
Fünf kurze Worte. Mitch blieb die Spucke weg. Es war, als ob sich das Boot in Luft aufgelöst hätte und er ins kalte Wasser geplumpst wäre.
»Wann?«
»Carlson hat es Donnerstag erfahren, als er in New York war. Sie waren mit unserer Untersuchung der Explosion in der Fabrik in Arkansas nicht zufrieden. Sie haben schon eine neue Versicherung.« Er ließ die Nachricht bei Mitch sacken. »Das war ein Geschäft im Wert von fünfzig Millionen Dollar.«
»Das ist doch totale Scheiße. In dem Fall mußten wir einfach zahlen. Sie waren schuld und wußten es auch!«
»Klar waren die schuld. Darum geht's aber nicht. Sie hatten das Gefühl, daß jemand mit mehr Erfahrung als wir in Versicherungsklagen das Ruder noch herumgerissen hätte.«
»Jemand mit mehr Erfahrung als ich, meinst du –«
»Als wir, Mitch. Wenn die Gesellschaft einen Kunden versichert, dann ist die ganze Gesellschaft für ihn verantwortlich. Wir tragen schließlich alle gemeinsam die Niederlagen und die Erfolge.«
Er benutzte seine Tröster-Masche. Mitch wäre es lieber gewesen, wenn Stillman wirklich wütend geworden wäre. »Hat Carlson mit ihnen gesprochen?«
Stillman nickte geduldig. »Er hat sich den Mund fusselig geredet. Sie wollen raus. Sie wollen jetzt, daß Brewster und McCallen sich um ihre Angelegenheiten kümmern.«
Der letzte Satz wirkte irgendwie ziemlich förmlich. Mitch ließ die Sache eine kurze Weile auf sich beruhen. Er wollte immer noch nicht wahrhaben, was jetzt kommen würde. Ihm klopfte das Herz bis zum Hals, als er fragte: »Wie geht's jetzt weiter?«
Stillman griff schnell nach dem Flachmann.
Er zwang sich, Mitch in die Augen zu sehen. »Tut mir leid, Mitch. Ich wollte eigentlich bis Sonntag damit warten. Ich dachte, wir könnten uns wenigstens ein schönes Wochenende machen, ein paar Fische fangen –«
»Carlson wird mich entlassen.«
Stillman schluckte. »Das Ganze hat weder mit dir persönlich noch mit deinen Fähigkeiten zu tun. Es bedeutet auch nicht, daß Carlson kein Vertrauen in dich hat. Er hat mir sogar persönlich gesagt, er hält dich für einen der besten. Aber so ein Riesengeschäft ... irgendein Kopf muß rollen. Na ja, in diesem Fall ist das eben deiner.«
Scheißkerl! Gerade hast du gesagt, daß alle die Verantwortung tragen!
Plötzlich erkannte er, daß Stillman sich sogar darüber freute. Und nicht nur, weil es diesmal nicht ihn traf, sondern weil er jemand war, der sich über so etwas freute. Er hatte Mitch nie gemocht. Mitch hatte es schon immer geahnt. Er wollte immer eine Freundschaft erzwingen, die einfach nicht drin saß.
Nervös war Stillman nicht deshalb, weil er Mitch bedauerte, sondern weil er Angst vor ihm hatte.
»Es hat Carlson das Herz zerrissen, das hat er mir selbst gesagt.«
»Hat sich aber trotzdem irgendwie dazu durchgerungen.« Mitch hatte nichts mehr zu verlieren.
»Er macht es wegen der Firma. Er ist sicher, daß das Geschäft mit Brewster irgendwann platzt und Classic auf Knien zu uns zurückkommt. Aber die Firma kann ihr Gesicht nicht verlieren. Einen Prügelknaben müssen sie schon haben. Du weißt doch, wie's läuft. Ich wünschte nur, du hättest den Ausdruck auf Carlsons Gesicht gesehen.«
»Ja, das wünschte ich allerdings auch. Warum hat er's mir verdammt noch mal nicht selbst gesagt?«
»Mitch, ich weiß, daß du jetzt verletzt bist. Carlson dachte einfach, du würdest es hier draußen besser aufnehmen. Weißt du, ohne daß die anderen es mitkriegen.«
»Da hat er sich aber gewaltig geirrt.«
»Mitch, bitte – es fällt mir so schon schwer genug –«
»Ja, wirklich. Ich sehe, daß du den Tränen nahe bist. Weißt du, was das bedeutet, John?«
»Du wirst schon eine neue Stelle finden –«
»Das glaubst du doch selbst nicht. Wenn das rauskommt, wird mich keine respektable Gesellschaft auch nur zu einem Vorstellungsgespräch einladen!«
Stillman fuchtelte mit der Hand in der Luft, als wollte er sagen, das sei alles Unsinn. »Carlson hat mich ausdrücklich angewiesen, die Details deiner Entlassung strikt geheimzu...«
»Quatsch! In Westwoll pfeifen es die Spatzen doch schon von den Dächern. Gütiger Himmel, John. Was soll ich zum Teufel noch mal jetzt tun? Ich stecke bis zum Hals in Schulden. Ich habe gerade ein Haus gekauft!«
»Du kriegst natürlich eine Abfindung –«
»Klasse! Hoffentlich eine saftige! Ich brauche echt Schotter. Ich habe ganze vierhundert Dollar auf der Bank!«
»Keine Ersparnisse?«
»Wertpapiere. Ich komme erst in zehn Jahren an das Geld ran.«
Stillman starrte ihn an.
Der ältere Mann konnte nichts für ihn tun, und das wußte Mitch. Aber irgend jemandem mußte er weh tun, und zwar jetzt. Wenigstens half es ein bißchen, daß die Schadenfreude aus Stillmans Augen gewichen war. Selbst rachelüsterne Menschen erkennen, wenn jemand am Boden ist, und dort war Mitch jetzt. Lieber Gott, er könnte im wörtlichen Sinn auf der Straße landen. Eine schreckliche Sekunde lang glaubte er, ohnmächtig zu werden.
Stillman erfaßte die Situation und schob Mitch den Flachmann zu, doch Mitch stieß ihn wütend weg. Stillman bedauerte sein Angebot und nahm selbst noch einen Drink.
Sie saßen einfach da und hörten die Wellen gegen das Ufer schwappen.
»Jesus ... Jesus ...«
Es erschreckte ihn selbst zu hören, wie er winselte.
»Was kann ich für dich tun, Mitch?« Das klang sogar echt.
Mitch blickte mit tränenvollen Augen in den Himmel. Es war Jahre her, daß er auch nur den Tränen nah gewesen wäre. Seine Augen brannten. »Nichts.«
Niemand konnte etwas tun.
Er war wieder dort angelangt, wo er anfing, beim Versagen.
Niemand konnte ihm helfen.
Er fühlte sich ausgehöhlt, und das Gefühl der Leere ging nicht weg. Als wäre es ein permanenter Teil von ihm geworden.
Sie waren wieder in der Blockhütte angekommen. Ans Fischen dachten sie gar nicht mehr. Mitch hatte das Gefühl,, als wäre er in Watte verpackt. Es war, als bewegte er sich auf einer ganz anderen Ebene, die ihm zugleich vertraut und fremd war. Seine Augen suchten panisch nach einer Sicherheit, an die er sich erinnern, die er aber nicht mehr auffinden konnte. Es gab auf einmal neue Spielregeln, und er kannte keine einzige davon. Er nahm noch vage wahr, daß Stillman etwas sagte, registrierte aber nur Satzfetzen. Er nickte zustimmend, ohne zu wissen, worum es ging. Allmählich merkte er, daß Stillman sich davonmachen wollte. Das schien verständlich genug zu sein.
Dann fiel ihm wieder ein, was sie untereinander abgemacht hatten. Irgendwie hatte er es vergessen, aber Stillman wollte schon heute zurückfahren, während Mitch noch ein paar Tage allein hier draußen am See bleiben sollte. Im Moment war es ihm unbegreiflich, warum er zugesagt hatte.
Stillman brachte gerade sein Gepäck zum Auto. Ein Mercedes. Mitch hatte auch überlegt, sich einen zuzulegen. Das war in einem anderen Leben gewesen.
»Bist du sicher, daß ich nichts für dich tun kann? Brauchst du irgend etwas?«
»Und was zum Beispiel?« Das war kein Sarkasmus. Mitch klammerte sich nicht mehr verzweifelt an die Vorstellung, daß ihn irgendeine höhere Macht tatsächlich retten könnte. Stillman glaubte nicht ernsthaft antworten zu müssen, suchte aber trotzdem nach passenden Worten, bis ihm Mitch auf die Schulter klopfte und ihm sagte, daß er sich keine Sorgen machen sollte, ja ihm sogar dankte und ihn zu dem Mercedes begleitete. Er hörte den wunderbaren Klang der Tür des deutschen Wagens, als sie zuschlug. Vorher konnte er noch einen Hauch des luxuriösen Geruchs der Ledersitze erhaschen. Und auf einmal haßte er den Wald und die Hütte, als ob sie an seinem Elend schuld wären. Hier hatte ja alles angefangen. Wie viele Jahre war es her? Vielleicht sollte sein Leben eigentlich auch nie etwas anderes als ein Versagen sein. Ein total unnützer Taugenichts –
»Bist du wirklich in Ordnung?«
»Ich rufe dich in ein paar Tagen an.« Mitch lächelte. Es war aufgesetzt, aber er hielt es irgendwie für das beste. Er hoffte, Stillman würde ihn dann nicht mehr so besorgt ansehen. Nicht, daß er irgend etwas auf Stillman gegeben hätte, aber er konnte seinen kummervollen Gesichtsausdruck nicht ausstehen. Seltsam, aber auf einmal bedauerte er Stillman sogar. Er mußte jetzt dorthin zurück. Ich dagegen bin frei. Tot, aber frei.
»Schau mal, Mitch –«
»Es braucht noch keiner nach meiner Leiche im See zu tauchen. Meine Familie hat genug Geld.« Das war eine Lüge, die zu funktionieren schien. Er streckte Stillman seine Hand entgegen. »Vielen Dank, John. Tut mir leid, daß ich die Fassung verloren hab' da unten. Ich werd' mich schon berappeln. Vielleicht fange ich jetzt sogar ein paar Fische, wo du nicht mehr im Boot herumstolperst.«
»Ich hoffe, wir können uns bald wieder hier treffen.«
»Ja, ich weiß. Vielleicht. Vielen Dank noch mal. Fahr vorsichtig.«
»Tschüs.«
Er ging zurück in die Hütte, bevor der Mercedes ganz weg war. Er hoffte, jetzt weinen zu können, wo er allein war. Neununddreißig Jahre alt und schon wieder arbeitslos. Es war unglaublich. Diesmal sah auch er keinen Ausweg. Er sah nur sich selbst – im Schlamm auf dem Boden des Sees. Was ihn am meisten ängstigte war, daß er bei dieser Vorstellung keine Angst empfand.
Er saß in dem Boot mitten auf dem See und starrte teilnahmslos den Schwimmer an. Er konnte sich nicht erinnern, ob er Köder an den Angelhaken gehängt hatte. Im Sonnenuntergang glitzerten die Lichter der vorbeifahrenden, größeren Boote auf der Wasseroberfläche. Am Ende eines jeden Tages tauchten sie urplötzlich auf. Es waren Boote, auf denen glückliche, betrunkene Leute fuhren, reiche Leute. Er überlegte, daß sein Boot kein einziges Licht hatte, und daß er Gefahr lief, früher oder später gerammt zu werden. Doch um so etwas völlig Banales konnte er sich jetzt nicht kümmern.
Er dachte über den Fall Classic Oil nach.
Die Versicherungsgesellschaft hatte unter Druck gestanden. Eine der Raffinerien von Classic Oil war wegen der schlampigen Konstruktionsweise in die Luft gegangen. Die Angehörigen der bei der Explosion umgekommenen Mitarbeiter verklagten Classic. Sie wollten nachweisen, daß die Baufirma, die sie angeheuert hatten, die Schuld trug. Unglücklicherweise hatte Mitch erfahren, daß die Konstruktion von einem unfähigen, aber hohen Tier aus der Geschäftsleitung von Classic begutachtet und abgenommen worden war. Er hatte nicht verhindern können, daß die Presseleute dahinterkamen. Classic hatte den Prozeß verloren, und All-American Versicherungen hatte nur einen Teil der Verluste getragen, mit dem Argument, daß Classic nachlässig gehandelt habe. Die restlichen Schmerzensgelder mußte Classic von der Jahresdividende abzwacken, was die Teilnehmer der Gesellschaft nicht gerade glücklich gestimmt hatte.
Classic schob Mitch dafür die Schuld zu, daß er die Wahrheit herausgefunden hatte. Dafür, daß er das Richtige getan hatte! Dafür, daß er nicht alles zu vertuschen versucht hatte wie irgendein billiger Verbrecher.
Deswegen war es so schwierig, die Entlassung zu akzeptieren.
Aber da hatte er es. Jetzt stand er da. Er saß in einem Boot mitten auf einem See. Abgebrannt. Arbeitslos nach dem Jahr seines größten Erfolges. Ruiniert.
Das hörte sich vielleicht dramatisch an, aber darauf lief es letzten Endes hinaus. Niemand mit gesundem Menschenverstand würde ihn jetzt noch anstellen.
Joanne. Nellie. Das viele Geld, das er verschleudert hatte. Guter Gott.
Niemand zwang dich, das Geld einfach auszugeben.
Das Haus hatte er jetzt verloren, das war von vornherein klar. Das Auto auch. Im Grunde hatte er Joanne und sich selbst, in dieser Reihenfolge, völlig ruiniert. Besonders Jo. Sie wollte zurück zur Uni in Los Angeles diesen Herbst, um zu promovieren. Wenigstens war Nellie noch nicht im schulpflichtigen Alter. Wohin würden sie jetzt gehen? Wohin? Sie hatten Schulden, Berge von Schulden. Nach den ganzen Jahren, in denen er die Stelle immer wieder gewechselt hatte, dachte er, daß ihm endlich ein bißchen Luxus zustand.
Tja, da hatte er sich wohl geirrt.
Jetzt würde Jo endlich die Wahrheit über ihn erfahren, nämlich daß er ein Versager war.
Hör auf, hör auf damit, dich nur selbst zu bemitleiden! Denk nach, denk nach!
Er könnte wieder damit anfangen, auf eigene Faust zu arbeiten, aber die meisten privaten Gesellschaften in der Stadt hatten die Nase voll von ihm. Er hatte im übrigen keine besondere Begabung für selbständige Arbeit. Man lebte von Woche zu Woche und wußte nie, wo der nächste Dollar herkommen würde. All-American, das war seine Chance gewesen. Wenn er noch zwei Jahre bei der Gesellschaft hätte bleiben können, dann hätten sie ihn um nichts in der Welt gehen lassen. Noch zwei Jahre, und er wäre so weit befördert worden, daß nur Carlson über ihm gestanden hätte. Doch seine Träumereien änderten nichts an der gegenwärtigen Situation.
Stumpfsinnig schüttelte er den Kopf, während sich das Boot leise wiegte. Seit zwanzig Jahren hatte er keine Armut mehr gekannt. Er wußte jetzt wirklich nicht mehr, ob er es noch einmal durchstehen konnte. Er war kein Kind mehr und kam über sein Versagen nicht mehr so leicht hinweg. All-American hatte ihn verwöhnt und verweichlicht – die üppig ausgestatteten Büros und die großzügige Krankenversicherung. Jetzt begriff er, was für ein riesiges und auch unverdientes Glück er gehabt hatte. Eigentlich konnte er gar nichts. Absolut nichts.
Gott sei Dank war Papa tot. Er mußte das nicht mehr erleben. Er wußte trotzdem nicht, ob er Jo jetzt unter die Augen treten konnte.
Das würde vielleicht über seine Kräfte gehen.
Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr schienen ihm die schlammigen Tiefen da unten die richtige Wahl, die einzige Wahl. Das mußten sie wohl sein, denn er betrachtete die ganze Sache so emotionslos, so ruhig. Wenigstens hatte er die Lebensversicherung. Dafür hatte All-American ja gesorgt. Schließlich passierten Bootunfälle jeden Tag.
Doch war das sein Ernst? Fast wäre ein Lächeln über seine Lippen gehuscht. Gestern war seine Welt noch durch und durch in Ordnung gewesen. Vielleicht nicht vollkommen, aber berechenbar. Aber jetzt, innerhalb von wenigen Stunden –
O Gott, warum hast du mir das angetan?
Hatte er das laut gesagt? Er konnte sich nicht erinnern.
Detective Tully saß an dem Nachmittag im Taco Bell, als sein Piepser sich meldete.
Er aß da recht oft. Er mochte es da. Er mochte jegliche Form von Fast food.
Einmal, vor Jahren, als er noch in der Drogenfahndung arbeitete, versprach ein riesengroßer, bohnenstangendünner schwarzer Zuhälter namens Slydell Washington, ihn zu einem teuren Essen bei Chez Rourke einzuladen, wenn er dichthalte wegen des Kokains in seinem Handschuhfach. »Aber sicher doch, Herr Wachtmeister – ich würde Sie nur allzu gern zum Präsidium begleiten, bedauere aber, heute noch nicht zu Abend gespeist zu haben. Kann ich Sie nicht doch überreden, mich statt dessen als mein Gast zu begleiten?«
Tully hatte zufällig an dem Abend auch noch nichts zu beißen gehabt und ging mit. Er ließ sich auf Slydells Rechnung Hummer, gedünstetes Gemüse, den Wein des Hauses und zum Schluß Mousse au chocolat auftragen. Er rülpste seine Dankbarkeit heraus, brachte Slydell trotzdem in U-Haft und hielt anschließend an, um sich einen BigMac zu holen. Das schmeckte ihm unvergleichlich besser als die Haute Cuisine von vorher. Ein waschechter Feinschmecker des Genres wie Tully wußte Fast food durchaus als Kunstform zu schätzen.
Außerdem war der Burrito Supremo beim Taco Bell auf der Ecke von State und Fifth Street absolut unschlagbar. Das galt auch für die Blondine hinter der Kasse. Die Mädchen in den Fastfood-Restaurants trugen alle die hautengen roten oder blauen T-Shirts und diese albernen Hütchen. Machte schon Spaß, ein bißchen mit denen zu flirten. Sie wußten, daß sie lächerlich aussahen, und genossen deswegen um so mehr seine Komplimente. Tully hatte keine Ahnung, wie man es in feinen Restaurants anstellte, mit der Bedienung anzubändeln. Vielleicht ging man dazu einfach nicht in solche Gaststätten. Wie auch immer, es machte beileibe nicht soviel Spaß, dort zu essen. Und Spaß sollte Essen doch schon machen.
Den Piepser ließ er laut heulen, während er den letzten Bissen Zimt-Crispas mit einem Schluck Cola herunterspülte. Es war sowieso immer eine schlechte Nachricht, und die konnte warten, bis er zu Ende gegessen hatte. Das Telefon fand er hinten.
»Tully hier.«
»Laß mich mal raten ... die Enchilada mit Gehacktem.«
»He, Brumeister, ich hab' gerade an dich gedacht.«
»Echt? Haben wir denn soeben eine Riesenbockwurst verdrückt?«
»Bei Taco Bell? Nö, heute ist Dienstag. Es gibt das Sonderangebot– Kacke am Stiel.«
Brumeister grunzte wie ein Schwein. »Du hast schon immer ausgesehen, als hättest du den Mund voll Scheiße, Eustes. Wir haben einen Namen für die Schwimmerin. Wanamaker hat die Fingerabdrücke identifiziert. Sie hat bei der Kriegsversehrtenhilfe gearbeitet.«
»Ich höre.« Es mußte irgend etwas ziemlich Schlimmes sein, ansonsten hätte Brumeister sich nicht bereit erklärt, ihn anzurufen. »Mrs. Charlotte Cunningham, 1748 Anacapa Street. Sag mal, ist das nicht sogar in der Nähe des Taco Bell?« Sein Sarkasmus troff nur so vor Gift.
Jesus Christus, es war ein Jahr her, daß er das letzte Mal eine Todesnachricht überbringen mußte. Brumeisters selbstzufriedenes Lächeln konnte er sich lebhaft vorstellen. »Gibt es Kinder?«
»Einen kleinen Jungen. Sieben Jahre alt.«
»Es könnte nicht etwa sein, daß Christy oder du das lieber übernehmen würdet?«
»Ich denke, wohl eher nicht. Guten Appetit noch bei den Mexen.«
An südkalifornischen Maßstäben gemessen, hatten die Cunninghams ein nettes Häuschen. Es lag in den grünen Hügeln versteckt, in Stadtnähe. Das Haus konnte sich der obligatorischen Terrakotta-Dachpfannen sowie weißverputzten Mauerwerks im Stile der dreißiger Jahre rühmen. Es hatte sich eine gewisse Eigenwilligkeit der Bauweise bewahrt, die im Bauboom der Nachkriegsjahre normiert worden war. Es erinnerte an die goldenen Jahre Hollywoods. Einige der mit schöner Unregelmäßigkeit, wie wilde Palmen aus dem Boden geschossenen Villen der Gegend wurden immer noch von den Stars längst vergangener Tage bewohnt. Die Preise hier waren gepfeffert. Empörend für jemanden aus dem mittleren Westen. Die Strände und Universitäten in der Umgebung sorgten dafür, daß es auf den Straßen von Santa Barbara immer belebt war. Am Tourismus konnte man schon ganz gut verdienen. Wenn man sich früh genug hier eingekauft hatte, war es ein ganz netter Wohnort. Aber selbst das Paradies hatte seine Schattenseiten. Obdachlose bevölkerten die Parkanlagen und brachten Ratten und Sozialneid mit sich. Irgend jemand hatte in letzter Zeit mit Arsenzusatz verschnittenen Wein im Bahnhofsviertel flaschenweise verteilt, um die Ausbreitung des Ungeziefers einzudämmen, das menschliche eingeschlossen. Von L. A. bekam man jede Menge Smog ab, und die Bundesstraße 101, die direkt durch die Innenstadt führte, wurde immer voller.
Die Goldküste hielt aber immer noch trotzig am letzten Rest ihrer Anmut fest und sang ihren bezaubernden Schwanengesang an den gelbbraunen Stränden bei blutroten Sonnenuntergängen. John Cunningham war es nicht nach Mitsingen zumute.
Er beobachtete Tully mit einem völlig entgeisterten, teilnahmslosen Gesicht.
»Tot ...?«
»Vielleicht sollten Sie sich lieber hinsetzen, Mr. Cunningham.«
»Nein ... nein, danke ...«
Die Szene war unwirklich. Sie war immer unwirklich. Es ist nicht möglich, einem Mann zu sagen, daß seine Frau tot ist, ohne ihre Unwirklichkeit zu spüren. Sie durchdringt den ganzen Raum, wie ein weißes Vakuum, das einen vor dem Wahnsinn schützt. Hier stand Mr. Cunningham im eigenen Wohnzimmer und sagte zu Tully, einem wildfremden Menschen: »Nein, nein, danke.« Es war vollkommen verrückt.
Es würde auch noch schlimmer werden: Cunningham würde sich mit Mord auseinandersetzen müssen, eine Thematik, an die er wahrscheinlich noch nie in seinem Leben gedacht hatte. Es sei denn, er hatte ihn selbst begangen.
Während er in der Tür stand, achtete Tully auf Zeichen, die darauf hindeuten könnten.
Cunningham fragte weder wann noch wo. Er starrte einfach auf Tullys Brusttasche.
Das könnte etwas bedeuten, oder auch wieder nicht. Manche hatten das zweite Gesicht, waren über die plötzliche Tragödie gar nicht überrascht. Manche hatten in der Nacht vorher davon geträumt. Andere wiederum erlitten sofort einen Schock.
Cunningham wirkte, als wäre er innerlich auf irgend etwas vorbereitet gewesen. War das die Lähmung durch den Schock, oder wich er Tully aus? Er würde sehr vorsichtig vorgehen müssen, um das herauszukriegen.
Er erklärte Mr. Cunningham, wo seine Frau gefunden worden war und in welchem Zustand. Er tat es auf sanfte Art, hielt aber mit den Details nicht hinterm Berg.
»Es tut mir schrecklich leid, Mr. Cunningham. Kann ich Ihnen einen Drink holen?«
»Einen Drink? Nein.«
»Möchten Sie sich jetzt hinsetzen?«
Mr. Cunningham verneinte.
Schließlich setzte sich Tully auf ein schönes, weinrotes Sofa neben der Tür, legte die Hände in den Schoß und beobachtete den anderen Mann.
Eine Minute verstrich.
Es war an der Zeit zu prüfen, ob es Schock war.
»Sie liegt im städtischen Leichenschauhaus, Sir. Ich befürchte, wir müssen Sie bitten, sie zu identifizieren.«
Cunningham nickte. »Natürlich. Das leuchtet mir ein.«
Er sah aus wie ein in die Enge Getriebener.
Tully wartete, und im nächsten Augenblick erhielt er die Belohnung für seine Geduld.
Cunningham drehte sich um und schien den Detective zum ersten Mal wahrzunehmen. »Möchten Sie etwas trinken, Mr. Tully?«
»Nein, danke.«
Cunningham nickte und ging wie ein Schlafwandler zum Fenster. Draußen sah man einen gepflegten Rasen, eine Sprinkleranlage, dicke Palmen. und vollendet schöne Nachbarhäuser auf der anderen Straßenseite.
Das Haus roch ganz leicht nach Holzpolitur und irgend etwas Unbestimmbaren. Jedes Haus hatte seinen eigenen Geruch.
»Sind Sie verheiratet, Mr. Tully?«
Detective Tully, aber was soll's. »Nein.«
Cunningham drehte sich wieder um, um ihn anzustarren. »Warum nicht?«
Das war eine ehrliche Frage. »Ich habe die Richtige noch nicht gefunden.«
Cunningham blickte zum Fenster.
»Ich aber.«
»Es tut mir so leid, Sir.«
Cunningham schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Nicht meine Frau. Jemand anderes. Ich habe eine Affäre, Mr. Tully. Charlotte wußte es. Sie und ich haben letzte Woche die Scheidungspapiere eingereicht ...«
Das war's also.
Tully stöhnte aus tiefster Seele. Der Ehemann hatte es nicht getan. Solche Informationen gibt man nicht preis, selbst wenn man sehr, sehr clever ist, und das war Cunningham nicht. Scheiße. Jetzt ging die Knochenarbeit los. Jetzt gab es auch einen wirklichen Grund, diesen elenden Typ zu bedauern. Cunningham fühlte sich nicht in die Enge getrieben, er fühlte sich schuldig.
»Hatten Sie oder Mrs. Cunningham irgendwelche Feinde, Sir? Gibt es irgend jemanden, von dem Sie Grund haben anzunehmen, daß er vielleicht noch eine Rechnung mit Ihnen zu begleichen hat, selbst eine sehr alte?«
»Nein. Selbstverständlich nicht.«
»Niemand hat Ihnen kürzlich gedroht, mit niemandem hatten Sie vielleicht einen hitzigen Streit?«
»Nein.«
»Wo waren Sie in der Nacht von Sonntag auf Montag, Mr. Cunningham?«
»Ich habe sie nicht getötet, Mr. Tully.«
»Das weiß ich.«
»Ich war mit Sue zusammen.«
»Hat Sue vielleicht noch einen Freund oder etwa einen Ehemann?«
»Nein.«
»Und Ihre Frau war hier zu Hause?«
Cunningham verzog den Mund. »Nein. Sie fuhr mit Jason morgens zum Strand. Dann brachte sie ihn wieder hierher und sagte mir, sie wollte zu ihrer Mutter nach Carmel fahren.«
»Jason?«
»Unser Sohn ...« Jetzt loderte der Schmerz in Cunninghams Augen auf. »Meine Schwester wollte auf ihn aufpassen, solange Charlotte weg war. Sie wohnt ein paar Häuser weiter in dieser Straße.«
»Wollte Ihre Frau mit dem Auto fahren oder fliegen?«
»Fliegen. Ich habe sie selbst zum Flughafen gebracht.«
»Haben Sie die Telefonnummer Ihrer Schwiegermutter?«
Cunningham war schon auf dem Weg zum Telefon.
Er wählte eine Vorwahl in Nordkalifornien. Charlottes Mutter hatte ihre Tochter das ganze Wochenende über nicht gesehen. Sie hatte angenommen, die ganze Familie hätte beschlossen, nach Carmel zu fahren, um sie zu überraschen. Tully konnte ihr Weinen aus dem Telefon mithören, als Cunningham ihr die Schreckensnachricht überbrachte.
Nachdem der Ehemann aufgelegt hatte, bat ihn Tully um ein neues Foto von Charlotte und eine Liste ihrer engsten Freunde und Verwandten. Die Liste war nicht lang. Das tat aber nicht viel zur Sache. Dieser Mord war nicht im Affekt begangen worden. Nicht in irgendeinem nachvollziehbaren Affekt jedenfalls. Es war die Tat eines Psychopathen. Davon gab es heutzutage reichlich.
Tully gab Cunningham seine Karte und sagte ihm, er solle im Präsidium anrufen, sobald er bereit war, die Leiche zu identifizieren. Er nahm Cunningham das Versprechen ab, seine Schwester anzurufen und sie zu bitten, den Rest des Tages mit ihm zusammen zu verbringen. Cunningham dankte dem Detective und schloß die Tür. Tully ging zu seinem Auto und kam an einem Jungen auf einem Skateboard vorbei. Der Junge sah ihn verblüfft an. Dieser Blick war ihm vertraut. Dann fiel ihm ein, wo er diesen Blick gerade gesehen hatte.
In Cunninghams Augen.
Tully streckte die Hand aus und strich dem Jungen über den Kopf. »Du solltest vielleicht ins Haus gehen, Jason.«
Der Junge starrte ihn an, hob sein Skateboard auf und ging auf das Haus zu.
Cunningham würde es verwinden. Er hatte Sue. Und Jason hatte seinen Vater, nicht wahr?
Charlotte dagegen hatte niemanden.
Auf dem Weg zurück ins Büro entschloß er sich, Mae von seinem Autotelefon aus anzurufen.
»Hallo, Mae, ich bin's.«
»Sieh mal einer an, der Fremde.«
»Fang bitte nicht damit an. Warte wenigstens, bis wir uns ein wenig warm geredet haben.«
»Rufst du an, um auch fürs Abendessen abzusagen?«
»Ich rufe an, um zu fragen, was du heute abend essen möchtest.«
»Du hast freie Wahl.«
Auf einmal fühlte er sich sehr müde. »Ich dachte«, begann er, ohne zu überlegen, »wir könnten heute abend vielleicht zu Hause bleiben. Nur wir zwei, weißt du?«
»Du willst, daß ich koche?«
Jetzt zog sich alles in ihm zusammen. »Nein, ich könnte etwas bestellen, Pizza oder so.«
»Du weißt doch, daß ich dieses Zeug nicht vertrage.«
»Dann Brathähnchen, oder was du willst.«
»Was du sagen willst, ist, daß du nicht möchtest, daß ich koche, oder?«
Er hielt die Luft an und versuchte, eine ruhige Stimme zu bewahren. Bleib cool, bleib ganz cool. »Ganz wie du willst, Mae! Möchtest du kochen oder nicht?«
»Was dir am ehesten gefällt, Eustes.« Sie klang fern, verletzt. Das sollte ihm zeigen, daß er sich im Ton vergriffen hatte, obwohl er bemüht gewesen war, genau das zu verhindern.
Er griff das Steuer fester und versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren.
»Paß auf ... warum gehen wir nicht einfach zu dem Italiener, den du so magst, dem auf der State Street.«
»Fein. Wenn es das ist, was du willst.«
»Mae, was willst du denn?«
»Ich sagte fein. Warum bestehst du darauf, mich anzuschreien? Ich bin ja schließlich noch nicht taub.«
Tully kniff die Augen zusammen und kämpfte gegen den Kopfschmerz, der sich in seinem Schädel auszubreiten drohte. »Gut. Sieben Uhr?«
»Sieben Uhr, einverstanden.«
»Wenn du vorhast abzusagen, dann gib mir wenigstens eine Stunde Vorwarnung.«
»Ich werde nicht« – er senkte seine Stimme. »Ich werde nicht absagen. Kannst du mir nicht ein einziges Mal vertrauen?«
Schweigen.
»Mae? Bist du noch dran?«
»Bis sieben also.«
»Bis dann.«
»Fahr vorsichtig, Eustes. Es sieht nach Regen aus.«
»Mach' ich.«
»Du weißt ja, deine Reifen sind so gut wie abgefahren.«
»Mach' ich!«
»Ich will nur dein Bestes, Kind.«
»Ich weiß«, flüsterte er angesichts seines Kopfschmerzes. »Wir sehen uns heute abend, Mutter.«
Claire Greely strampelte sich tapfer ab. Das Wasser reichte ihr wieder bis zum Hals.
Diesmal war sie im Big-Piney-See. Sie versuchte verzweifelt, gleichzeitig das Kinn hoch- und die flachen, schwer lenkbaren Wasserskier geradezuhalten. Die unbequeme Schwimmweste kniff sie unter den Achseln. Es war schon ein großer Akt, einfach Luft zu holen. Dabei bemühte sie sich auch noch die ganze Zeit, ein nettes Lächeln zu ihrem sympathischen Gastgeber, Santiago Dias, hinüberzuschicken. Er hatte ein bezauberndes Lächeln und winkte ihr vom Steuer seines Motorboots aus zu, das ungefähr zwanzig Meter von ihr entfernt war.
Warum um Gottes willen hatte sie sich von ihm dazu überreden lassen?
Frühmorgens Wasserski zu laufen war eine Sache. Aber jetzt stand die Sonne schon tief am Himmel, und es würde bald dunkel sein. Die heimwärts fahrenden Boote schlugen hohe Wellen auf dem See. Die großen Restaurantboote dagegen kreuzten bereits. Nach Claires Meinung war es jetzt nicht gerade die ideale Tageszeit für Wassersport. »Ach, du wirst es großartig finden!« hatte Dias mit ansteckender Begeisterung gesagt. »Es gibt nichts, was dem Thrill gleichkommt, auf der dunklen Oberfläche eines großen Sees Ski zu laufen, während die Lichter vom Ufer sich im Wasser spiegeln! Fantastico!«
Richtig. Er hatte bloß kein Wort darüber verloren, ob es legal sei oder nicht.
Claire verschluckte versehentlich etwas Seewasser, würgte, spuckte es aus und versuchte gleichzeitig, die Schleppleine festzuhalten, die die komische Angewohnheit hatte, immer wieder aus ihren ängstlichen Fingern zu flutschen. Dias' schnelles Boot dümpelte jetzt behäbig im Wasser und driftete leicht, Claire sanft durch die warmen Wellen ziehend. Sie fragte sich, ob er das merkte. Er schien ganz und gar in seinem jungenhaften Enthusiasmus aufzugehen, nichts um sich herum wahrzunehmen – das war auch das Reizvolle an ihm. Manchmal hatte sie aber auch das Gefühl, daß er mehr auf die Reaktion anderer Leute achtete, als er zugeben wollte, wenn er sie zum Beispiel heimlich neckte und prüfte, um zu sehen, ob sie irgendeiner Norm genügte, dessen Bedeutung er für sich behielt. Zu ihrem Leidwesen – und Ärgernis – fühlte sie sich verpflichtet, ihm darin entgegenzukommen, diesen Maßstab tatsächlich zu erfüllen, obwohl sie es ihm eigentlich übelnahm. Sie wollte sich zu nichts zwingen lassen, selbst auf die reizendste Art nicht. Aber sein Lächeln besaß etwas unleugbar Entwaffnendes. Außerdem übte er nie Druck auf sie aus, zumindest keinen äußerlich merkbaren. Wieso hatte sie zudem den Eindruck, daß Dias eigentlich viel klüger war, als er vorgab zu sein? Oder meinte sie vielmehr listig? Oder etwa gefährlich?
Und was war es an diesen Möglichkeiten, was sie so anzog?
Kam es daher, daß sie ihn bereits seit zwei Wochen kannte und er noch kein einziges Mal versucht hatte, sie zu ficken?
Sie war schockiert über ihre eigene unnötige Gossensprache. Aber darauf würde es bei Dias doch hinauslaufen. Er würde nicht mit einer Frau Liebe machen, er würde sie ficken. Hart. Lang.
Vielleicht wäre das sogar fantastisch.
Laß das jetzt sein, Claire, und paß auf die Skier auf, damit du nicht wie eine abgesoffene Ratte im Wasser liegst. Er beobachtet dich.
Unbeholfen versuchte sie ihren Fuß weiter in die Gummihalterung zu schieben und wurde wütend, weil es einfach nicht klappte. Verdammt! Ach, zum Teufel damit! Was macht das schon, wenn ich mich wie ein Vollidiot benehme? Es wird schon dunkel, und ich bin doch schließlich keine Leistungssportlerin. Aber sie gab nicht auf, mit den Skiern zu kämpfen – und das nicht ohne einen gewissen Stolz. Sie hatte sich heute morgen eigentlich ganz wacker geschlagen, obwohl sie seit Jahren nicht mehr Ski gelaufen war. Dias hatte es jedenfalls gefallen. Und das wiederum hatte ihr geschmeichelt.
Sie brachte die Skier in die richtige Lage, lehnte sich etwas zurück und winkte zum Boot hinüber, um zu signalisieren, daß sie startbereit war. Das Boot zog langsam, aber kräftig an. Der Bug schlug schon leichte Wellen, als Dias beschleunigte, und Claire spürte den Widerstand des Wassers, die Anspannung in Rücken und Schultern, das etwas flaue, wacklige Gefühl in den Beinen. Sie biß die Zähne zusammen.
Das war das Schwierigste: auf der Kippe zu schweben, kurz bevor der Körper aus dem Wasser hervorbrach. Wenn man einen Fehler machte, konnte man entweder nach hinten wegstürzen oder auf die dämlichste Art über die Skier hinweg und auf die eigene schöne Schnauze fallen.
Geschieht dir recht. Du bist eine verheiratete Frau. Blöde Kuh. Ach Quatsch. Der hat mich noch nicht einmal angefaßt.
Stimmt – noch nicht.
Mit Gefühl gab Dias noch etwas Gas und beobachtete jede ihrer zittrigen Bewegungen über seiner Schulter. Er führte sie aufmunternd und mit triumphalem Lächeln, als sie den Arsch aus dem Wasser hob und sich zurücklehnte. Ihre Beinmuskeln bewegten sich genau im richtigen Rhythmus, die Skier sprangen im perfekten Tandem über die schaumigen Wellen. Die Nachtluft war wie ein kalter Schlag auf ihrem ganzen Körper, der jetzt nicht mehr im warmen Wasser lag, aber sie grinste breit vor Aufregung: Sie hatte es geschafft!
Claire warf den Kopf in den Nacken und schloß einen Moment lang die Augen. Er hatte recht, nachts Ski zu laufen war schon ziemlich geil.
Sie steuerten auf die Mitte des Sees zu, und Dias fuhr einen großen Bogen mit dem Boot, während ihm Claire elegant, aber auch hilflos folgte. Sie lehnte sich in die Kurve, Knie geknickt, Haare in der Luft flatternd, und beobachtete die Wassertropfen, die von der Nylonleine flogen, die sich wie eine Nabelschnur zwischen ihr und Dias spannte. Dias drückte jetzt ordentlich auf die Tube und schickte sie auf die wildeste Achterbahnfahrt, die sie je erlebt hatte. Sie hüpfte über die schwarze Oberfläche wie ein Geschoß, das phosphorglühendes Fahrwasser hinter sich her zog. Sie schüttelte sich vor der Kälte und der Angst, bei dieser Geschwindigkeit stürzen zu können, aber sie konnte das fantastische Gefühl nicht leugnen, das sie dabei hatte, wenn das Adrenalin durch ihren ganzen Körper schoß. Das war Leben. Mit Dias zusammenzusein, bedeutete zu leben. Sie wußte es, sie wußte es. Und in dem atemlosen, stürmischen Augenblick ging ihr noch etwas auf: Er hatte es die ganze Zeit so geplant. Er wollte ihr Leben aufregend machen, so daß ihr das Herz höher schlug ... bis sie freiwillig zu ihm kam. Und dann, unter seinen Bedingungen, würde er sie ficken. Bis sie vor Lust schrie.
Das Boot schnellte nach vorn mit immer rasanterem Tempo. Sie schnappte nach Luft, denn der Wind verschlug ihr den Atem. Ihre Beine zitterten schwächlich unter ihr, ihre Haut brannte, als ob sie über flackernden Flammen schwebte. Und es funktionierte. Plötzlich merkte sie, wie sehr sie ihn wollte.
Genauso plötzlich wußte sie, daß sie es ihm übelnahm.
Sie zog kräftiger an der Leine, hockte sich tiefer und sprang trotzig über sein Fahrwasser, richtete sich wieder auf und hing einen Moment lang in einer schwindelerregenden, grauenvollen Schwebe, kam dann aber perfekt wieder auf. Jetzt hatte sie wieder alles im Griff. Sie war so frei wie der rauschende Wind.
Das andere Boot, das ihren Weg kreuzte, sah sie überhaupt nicht.
Dias sah es.
Er schaltete sofort runter und winkte ihr verzweifelt von seinem Platz hinterm Steuer zu. Sie ruderte panisch mit den Armen, denn sie hatte keine Zugkraft mehr, und versuchte das Gleichgewicht zu halten, die plötzlich schlaffe Leine in der Hand. Die Fallkraft zog sie noch nach vorn, und sie schaute ihn fragend an, während sie holprig über die schlangenartige Leine glitt, die jetzt im Wasser lag. Sie konnte gerade noch den ersten Satz mitkriegen, den Dias schrie, als der Motor des anderen Bootes alles mit seinem jaulenden Dröhnen übertönte. Dem auf sie zurasenden Bug wandte sie ihr leichenblasses Gesicht zu. Ein Donnerkeil, der sie in Stücke reißen würde. Instinktiv warf sie sich nach links, die Skier flogen hoch und schlugen auf diese vorbeirauschende Lokomotive aus Glasfasern und Stahl auf. Sie nahm noch die ahnungslosen Teenagergesichter wahr, die Bierdosen in ihren Händen, und die schreckliche Nähe des Motors. Sie sah eine Phantomvision von sich selbst, die abgetrennten Beine, das blutige Wasser. Dann umfing sie eine luftlose Hitze, grün und noch grüner werdend, und sie wußte, daß sie ohnmächtig wurde in der rollenden Wärme. Sie hörte noch das Geräusch eines fernen Motors und eine Stimme, die ihren Namen von irgendwo da unten im Dunklen zu rufen schien ...
Mitch Spencer beobachtete alles von seinem Ruderboot aus. Das andere Boot, den Zusammenstoß, die stürzende Silhouette der Frau, die Versuche Dias', seinen abgewürgten Motor wieder anzulassen.
Jetzt mußte er nur noch rechtzeitig an der Unfallstelle sein.
Er dachte, er würde es tatsächlich schaffen – gesetzt den Fall, daß die Lungen der Frau sich nicht sofort mit Wasser gefüllt hatten und sie zum Boden des Sees gezogen wurde. Er stützte seine Füße gegen das Dollbord und riß mit der ganzen Kraft seines Körpers an den Rudern.
Zuerst folgte er einfach der Schleppleine, bis sie abrupt in der Tiefe verschwand. Als er dann die Stelle sah, wo Luftbläschen an die Oberfläche stiegen, zog er die Schuhe aus, holte tief Luft und sprang delphingleich ins Wasser.
Mitch tauchte durch das warme Nichts, ohne daß seine Augen zunächst irgend etwas ausmachen konnten. Er vertraute einfach seinem Glück und stieß bald auf ein gespenstisches Kabel, das ihn weiter nach unten führte. Die Leine hatte sich um ihr Fußgelenk gewickelt. Sechs Meter tiefer fand er sie, eine weiße Puppe, die aus dem Abgrund nach Hilfe rief. Das Adrenalin in seinem Körper trug ihn zu ihr und verlieh ihm die nötige Kraft für den Aufstieg. Die Augen traten ihm schon aus dem Gesicht, er streckte sich hastig, einarmig nach der Oberfläche, den anderen Arm um ihre Taille. Kurz bevor sie oben waren, wurde das Ganze wie ein müheloser Traum ... als wäre er Superman, der durch den Äther flog. Morgen würde er den Preis bezahlen: schmerzende Glieder, geschwächte Muskeln. Jetzt in diesem Moment aber war er unbesiegbar. Das Gefühl erinnerte ihn an das Abtauchen in eine Narkose.
Und dann war er mit einem Mal oben, wo die kalte Nachtluft in seinen Lungen brannte. Er war der Held, für den er in allen Träumen seiner Kindheit gehalten werden wollte. Die gerettete Dame hatte er an seiner Seite, und in seinem Innern das hehre Gefühl, etwas ganz und gar Richtiges getan zu haben. Er bog ihren Kopf zurück, um das Haar aus ihrem Mund zu entfernen, und versuchte, sie mit Mund-zu-Mund-Beatmung wieder ins Leben zurückzuholen, als Dias auftauchte. »Gib sie mir!«
Mitch überantwortete sie dankbar, denn seine Kräfte waren aufgebraucht, er konnte kaum noch Wasser treten. Er schaffte es gerade, sie ein wenig aus dem Wasser zu heben, und Dias hievte sie mit Leichtigkeit ins Boot. Kurz darauf kam ein muskulöser, bronzebrauner Arm nach unten und zog Mitch ebenfalls ins Boot.