5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €
Wenn der Killer dich auswählt … Der fesselnde Thriller »ZORN – Im Netz des Grauens« von Bruce Jones jetzt als eBook bei dotbooks. Ihr wurde alles genommen: der Mann, das Kind, die Karriere. Die ehemalige FBI-Agentin Jeni Starbuck war sich sicher, außer ihrem Leben nichts mehr verlieren zu können – bis ein skrupelloser Bombenleger ihre Heimatstadt San Diego ins Visier nimmt. Mit Schrecken verfolgt sie sein grausames Spiel. Und dann tritt das Phantom ausgerechnet mit ihr in Kontakt und zwingt sie, ins Hauptquartier des FBI zurückzukehren. Seine Forderung: Er will mit niemand anderem verhandeln als Jeni. Sie soll seine perfekte Marionette sein, denn er scheint ihr Leben bis ins kleinste Detail zu kennen … Doch mit einem hat er dabei nicht gerechnet: Jenis ungebrochenem Kampfgeist! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der psychologische Thriller »ZORN – Im Netz des Grauens« von Bruce Jones. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2019
Über dieses Buch:
Ihr wurde alles genommen: der Mann, das Kind, die Karriere. Die ehemalige FBI-Agentin Jeni Starbuck war sich sicher, außer ihrem Leben nichts mehr verlieren zu können – bis ein skrupelloser Bombenleger ihre Heimatstadt San Diego ins Visier nimmt. Mit Schrecken verfolgt sie sein grausames Spiel. Und dann tritt das Phantom ausgerechnet mit ihr in Kontakt und zwingt sie, ins Hauptquartier des FBI zurückzukehren. Seine Forderung: Er will mit niemand anderem verhandeln als Jeni. Sie soll seine perfekte Marionette sein, denn er scheint ihr Leben bis ins kleinste Detail zu kennen … Doch mit einem hat er dabei nicht gerechnet: Jenis ungebrochenem Kampfgeist!
Über den Autor:
Bruce Jones wurde 1944 in Kansas City in den USA geboren. Als Schriftsteller und Drehbuchautor bei Film und Fernsehen hat er sich einen Namen gemacht. Heute lebt er in Kalifornien.
Von Bruce Jones erscheinen bei dotbooks ebenfalls:
WUT – Tödlicher Alptraum
ANGST – Tödliches Spiel
HASS – Tödlicher Instinkt
***
eBook-Neuausgabe März 2019
Dieses Buch erschien bereits 1998 unter dem Titel Sprinter bei Bertelsmann Club GmbH.
Copyright © 1998 by Bruce Jones
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Sprinter bei Doubleday.
Copyright © der deutschen Ausgabe 1998 Bertelsmann Club GmbH, Rheda-Wiedenbrück der Bertelsmann Medien (Schweiz) AG, Zug der Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien und der angeschlossenen Buchgemeinschaften
Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Published by Arrangement with Bruce Jones.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Bjoem Wylezich, gmstockstudio und nienora
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)
ISBN 978-3-96148-454-6
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort ZORN – Im Netz des Grauens an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Bruce Jones
ZORN – Im Netz des Grauens
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Werner Horch
dotbooks.
Inhaltsverzeichnis
PROLOG
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
EPILOG
Lesetipps
Für meinen Agenten Harvey Klingerin Anerkennung seiner Beharrlichkeit
»Das interne Computersystem des FBI ist ebenso sicher wie die bestgehüteten Geheimnisse der Regierung. Wir verfügen über eine Vielzahl von Sicherheitsvorkehrungen ... Wir verfügen über Softwareschutz, wir sichern die Ermittlungsergebnisse unseres Personals ... Wir nehmen eine ganze Reihe Kontrollen und Überwachungen vor. Wir legen Zugriffsprotokolle an, die regelmäßig kontrolliert werden. Wie führen eine Vielzahl unangemeldeter Inspektionen durch, arbeiten mit Verschlüsselungen. Und das ist bei weitem noch nicht alles ...«David NemecekStellvertretender FBI-Direktor
»Es gibt keine Sicherheit ...«Allen Schweitzer1991 wegen Eindringens in die geheimen NCIC-Dateien des FBI angeklagt
Irv Bradford hatte den Stachel des Todes bereits in sich. Und der saß tief.
Es war nicht der Tod selbst, den Bradford fürchtete. Eher das plötzliche Erlöschen, das Sterben ohne Vorwarnung, hinterrücks aus dem Leben gerissen zu werden ohne die Möglichkeit, die eigenen Angelegenheiten ordnen, seinen Lieben einen Abschiedskuß geben, ein letztes Mal über die verschlungenen Pfade des Lebens nachsinnen zu können. Es war die Vorstellung, plötzlich in Stücke gerissen zu werden.
Diese Paranoia ging auch an seiner Frau und seinen Freunden nicht spurlos vorbei, an den wenigen Freunden, die Bradford geblieben waren. In seiner Position als Kopf eines milliardenschweren Verlagsimperiums konnte er nur wenigen trauen, und die beiden, die seine Vorsicht verstanden und gutgeheißen hätten, waren bereits tot.
Der Verleger schwitzte täglich in der Gluthitze der Angestelltensauna und suchte die Angst, das Gefühl, unablässig verfolgt zu werden, aus seinen Poren zu schwemmen. Seine eigene Zeitung, die Union, hatte seine fortdauernde Verfolgungsangst dem Solo-Bombenleger zugeschrieben, einer dunklen, unbestimmten Macht, die dem FBI, seit im vergangenen März die ersten Opfer zu beklagen gewesen waren, beständig – und scheinbar mühelos – durch die Finger schlüpfte. Die Agenten versanken praktisch in einem Strudel von Demütigungen und tappten in jeder Hinsicht im Dunkeln, angefangen bei der vom Attentäter verwendeten Bombe bis hin zu der Frage, wie er die Ermordung der Konzernchefs zweier anderer weltweit operierender Unternehmen, die Bradford an Bedeutung noch überragten, bewerkstelligt hatte.
Irv Bradford war freilich nicht mit Zaghaftigkeit bis an die Spitze der angesehensten Boulevardblätter San Diegos gelangt; er war ein Kämpfer, hatte 1986 den Krebs besiegt, den Verlust seines Sohnes in Vietnam bewältigt und würde sich auch gegen diesen schattenhaften Dämon behaupten. Im lärmenden Bienenstock des Bürotrakts der Union ging Bradford wie gewohnt ungerührt und professionell seinen Geschäften nach, beantwortete dringende Anfragen der Nachmittagsschicht, unterzeichnete dieses, verfügte jenes und bestellte schließlich gegen Ende des Arbeitstages Manuel zu sich.
Manuel, der vor dem Guerillakrieg in Argentinien geflüchtet war, kaum Englisch sprach, aber ein Waffen- und Sprengstoffexperte war, trat gewöhnlich mit einem Gerät ein, zu dem ein dünner Aluminiumstab mit einem hufeisenförmigen Ring daran gehörte, und durchkämmte das Durcheinander in Bradfords Büro. Er fuhr unter dem Schreibtisch entlang, unter und in die Aktenschränke, unter die Klimaanlage ... strich über die Zimmerdecke, die Wände und schnüffelte mit seinem seltsamen Instrument sogar – was Bradford stets ein Lächeln entlockte – flüchtig unter der Kaffeemaschine. Dann nickte er zufrieden, und Bradford – nun etwas ruhiger – machte es sich in seinem Drehstuhl bequem, lehnte sich zurück und entließ Manuel. Bradford war jedesmal ein wenig erstaunt, wenn der Stuhl nicht unter ihm explodierte.
Selbstverständlich wurden alle Pakete, alle Briefe – auch die dünnsten Umschläge – von anderen Personen außerhalb des Büros geöffnet. Alles, was mehr als ein Pfund wog, wurde in der Gasse hinter dem Gebäude von einem Experten des Sprengstoffkommandos San Diego sorgfältig auseinandergenommen. War man dort zu beschäftigt – oder unwillig –, trieb Bradford jemand anderen auf. Er hatte seiner Familie und allen Verwandten ausdrücklich eingeschärft, Geburtstags- oder Vatertagsgeschenke unter keinen Umständen ins Büro zu schicken.
Am Ende eines Arbeitstages vollzog sich ein fast immer gleichbleibendes Ritual. Manuel wartete mit dem Metalldetektor neben Bradfords auf Hochglanz poliertem Lexus. Manuel schloß den Wagen auf, stieg hinein, führte seinen knatternden Metallring durch das Wageninnere, den Kofferraum und unter die Motorhaube. Selbstverständlich wurde auch unter dem Fahrzeug nachgesehen, obwohl es den ganzen Tag über in einer eigenen Parkbox stand und von zwei kräftigen, hochbezahlten Aufpassern bewacht wurde. Bradford ging kein Risiko ein. Er hatte für Frau und drei Kinder zu sorgen und den brennenden Wunsch, sich nach dem Rückzug aus dem Geschäft ein schönes Leben zu machen, über dessen Beginn er als Vorstandsvorsitzender der Zeitung nach eigenem Gutdünken entscheiden konnte.
Ein kurzer Halt bei O'Toolie's auf einen Drink zur Entspannung, dann hinunter zum Embarcadero, 23 Soma Slip, und dann wieder zu dem getreuen Manuel, der mit seinem hufeisenförmigen Metalldetektor am Kai neben der fünf Meter langen, kobaltblauen Segeljacht des Verlegers wartete. Für gewöhnlich war die Inspektion schon erledigt, es sei denn, Bradford machte früher Feierabend. Dann wartete er geduldig neben dem von Wellen umspülten Pfahlwerk, bis der dunkelhäutige Bombenexperte Kombüse, Proviantraum, Kajüte, Schotte, Vorderdeck, Kompaßhaus, Bilge und Kiel durchleuchtet hatte. Alles wurde sorgfältig inspiziert und überprüft, obwohl das Boot von morgens bis abends unter ständiger Bewachung sanft auf dem Wasser geschaukelt hatte. Sobald Manuel mit dem Kopf nickte, ging der Verleger Irving Bradford gemessenen Schrittes an Bord.
An diesem Abend war er spät dran. Seine Füße schmerzten, und hinter dem linken Auge machte sich Kopfschmerz bemerkbar. Ihm blieben knapp zwei Stunden Freizeit, um gemächlich im Hafen von San Diego herumzuschippern, den Touristen am Mission Beach zuzuwinken, die Küstengewässer der Halbinsel Coronado zu erkunden oder im Marinehafen herumzulungern, die Wanten und Stage der mächtigen, mit Stahlrumpf ausgestatteten »Star of India« schimmern zu sehen, während die Dämmerung sich zu einem vom Smog behauchten Bernsteingelb, dann einem Indigoblau verdunkelte. Dann würde er, getrieben von Schuldgefühlen und angelockt von Mirandas wartendem Abendessen, die blaue Segeljacht Kurs auf den Liegeplatz und sein Heim nehmen lassen und bereits zwei weitere wohltuende Brandys im Magen haben.
Er entschied sich an diesem Abend für die seewärtige Seite Coronados, schipperte am Nobelhotel »Del Coronado« vorbei und den schmalen Streifen des Silver Strand entlang. Ohne sich die Mühe zu machen, über Funk den Wetterbericht einzuholen, glitt er einige Meilen an der Küste entlang und träumte – wie immer – davon, weiterzufahren, immer weiter ... bis hinüber nach Mexiko, weg von Zwietracht und Verdruß, Terminen und geistesgestörten Bombenlegern. Doch immer kam er im letzten Moment wieder zu sich und eilte zurück in die einschläfernde Sicherheit seines dreistöckigen Hauses in Point Loma und zu Mirandas umwerfenden Küchendüften. Vielleicht hatte seine Frau ja recht. Bisher hatte der Solo-Bombenleger so weit im Süden nicht zugeschlagen. Allerdings wußte Bradford zweifellos von Dingen, die Miranda unbekannt waren. Wußte, daß Geld und Macht nur das geringste waren, was ihn mit den beiden bisherigen Opfern verband. Er sah diese Opfer in unruhigen Träumen, blutverschmiert und zerrissen, im wirbelnden Strudel seines Duschabflusses ... und fügte manchmal sein eigenes Gesicht hinzu. Im Grunde hoffte er natürlich, daß irgend jemand – FBI, Polizei, wer auch immer – den Bombenleger zu fassen bekam, bevor der Bombenleger ihn erwischte. Keine überschwengliche, aber stets wache Hoffnung, eine warme Regung in der linken Brusthälfte. Heute abend jedoch sorgte der Brandy für die Wärme, Irv Bradford räkelte sich behaglich unter dem roten Schein der Kartentischleuchte, seine Hand strich über Messing- und Lederteile, die nach Jahren sanfter Behandlung mit Öl um ihn herum aufglänzten. Er liebte seine Familie, doch er liebte auch die kleine Jacht. Er langte nach der Flasche Old Grandad und fühlte die Anspannung schwinden.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß er sich mehr als erwartet verspäten würde. Egal. Der Tag war lang und anstrengend gewesen, er ließ sich von dem rhythmischen Schlingern des Rumpfes betäuben, während der Alkohol in seinen Eingeweiden Wärme verbreitete und die nagende Furcht verdrängte. Miranda würde.; insgeheim wütend sein, doch da konnte er mit einem Telefonanruf Abhilfe schaffen ... oder besser noch, indem er ihr mit dem frisch installierten Computer Sprinter 9000 einen kurzen Liebesbrief zukommen ließ. Er stellte sich vor, wie sie aus dem piependen Faxgerät in seinem Arbeitszimmer seine plumpe Entschuldigung herauszog, und grinste dabei; etwas Kurzes und übertrieben Sentimentales. Sie würde ihm zwar während des kalten Abendessens die ebensolche Schulter zeigen, doch später in seinen Armen wieder auftauen ...
Klirrend setzte er sein Glas ab und nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit das Eis im Kühlschrank der Kombüse aufzufüllen. Er schaltete den Computer ein, hörte das vertraute Brummen, griff nach den Tasten, und seine Gedanken waren für den Augenblick weit weg von Frühausgaben und durchgeknallten Bombenlegern.
Er fuhr durch die Hafeneinfahrt vorbei an der großen Mole und steuerte den Embarcadero, seinen Liegeplatz und sein Zuhause, an. Der parallel zum Embarcadero verlaufende Pacific Highway war, wie er bemerkte, an diesem Abend übermäßig hell erleuchtet, auch fehlte der übliche Abendverkehr. Eine Menschenmenge säumte die Straße und ließ auf irgendeine Veranstaltung schließen. Zur Begrüßung der Menge ließ er das Signalhorn der Jacht kurz ertönen.
Der Scheinwerfer des Leuchtturms von Point Loma blinkte ihn bei seiner abendlichen Runde schüchtern an. Irv legte seine Hände auf die Tastatur und formte in Gedanken Wörter.
Die Explosion war so gewaltig und von so strahlend hellem Licht begleitet, daß er sich nicht einmal seiner letzten Gedanken in dieser Welt sicher war ... obwohl er spürte, daß sie vermutlich ihr gegolten hatten ...
Elvis steuerte mit ihr die Olive Street an, kletterte die Tonleiter hinauf, während Jeni die erste wirkliche Steigung in Angriff nahm. Das war ein gutes Zeichen.
Presleys hohe und einschmeichelnde Stimme glitt von Strophe zu Strophe eines ihrer Lieblingsstücke: I WAS THE ONE. Die Art, wie er – wie seine magische junge Stimme – nicht nur die Tonart, sondern auch das Timbre und die Stimmlage wechselte und in ein beinahe weibliches Falsett verfiel, hatte sie schon immer bis in die Zehenspitzen elektrisiert.
Sie würde es brauchen. Sie würde es in den Zehen, den Waden und den straffen, kräftigen Sehnen brauchen, wenn sie diesen Wettlauf gewinnen wollte.
Seit fünfzehn Minuten jagte Jeni mit gleichmäßigen Schritten den am Embarcadero gesperrten Abschnitt des Pacific Highway entlang, an dessen Nord- und Südende die Polizei gestreifte Holzböcke aufgestellt hatte. Sie lief leichtfüßig, ohne Hast und begnügte sich vorläufig mit einem rhythmischen, anmutigen Trab. Sie befand sich ungefähr in der Mitte des Feldes aus etwa sechzig weiteren Läufern, ihre leuchtend orangefarbenen Shorts flatterten, das Stück Stoff mit ihrer Startnummer, einer großen »6«, schlug sanft gegen ihren Rücken. Sie hegte keinerlei Zweifel daran, daß sie die anderen schlagen konnte, ohne sich selbst übermäßig zu verausgaben. Alle anderen Läufer, mit vielleicht; einer Ausnahme.
Etwa nach der Hälfte der Strecke war Jeni eine gertenschlanke, schwarze junge Frau mit schier endlos langen Beinen aufgefallen, die sich links von ihr hartnäckig und stetig nach vorn schob. Der Ausdruck in ihrem leicht negroiden Gesicht ließ auf unvorhersehbare Reserven und recht viel Ausdauer schließen. Ebenso wie Jeni hielt sich dieser langbeinige schwarze Engel im Mittelfeld und wartete auf die letzten Meter der Strecke, auf den Sprint.
Vorausgesetzt, ihre Berechnungen waren korrekt, erwartete Jeni den Schlußspurt an der Kreuzung Jewel und Second Street, kurz bevor die Straße nach Sea Port Village abbog. Von dort waren es weniger als zweihundert Meter bis zur Hafenmeisterei und dem flatternden gelben Band, das für ein halbes Hundert schwer atmender Wettbewerber Sieg oder Niederlage bedeutete. Nur einer würde es zerreißen.
Als Jeni am Start ihre nervösen Konkurrenten gemustert hatte, war sie ziemlich sicher gewesen, daß ihre Aussichten gut, geradezu ausgezeichnet waren. Sie war ganz versessen auf die Trophäe, brauchte sie. Auf die Fingerspitzen gestützt, den Kopfhörer aufgesetzt, eine Kassette mit ihren Lieblingssongs von Elvis im Recorder, verspürte sie an der Startlinie völlige Gelassenheit und vorsichtige Zuversicht. Es gab zwei, drei muskelschwache männliche Teilnehmer, die einiges Stehvermögen zu besitzen schienen, jedoch nichts, mit dem sie nicht fertig werden konnte. Nach dem Startschuß ließ sie sie und die Hälfte der übrigen Läufer in ihrem einfältigen Eifer an die Spitze stürmen; nur eine Handvoll war so klug, sich wie sie selbst zurückzuhalten und das eigene Tempo zu bestimmen. Keiner von ihnen besaß ihre natürliche Grazie oder die Kraft ihrer muskulösen, festen, sexy Oberschenkel. Wenn sie die schlagen konnte, würde sie auch den anderen davonlaufen und die Trophäe – und das Preisgeld – nach Hause tragen.
Als dann an der Rosecrans Street die letzte Meile eingeläutet wurde, hatte sie einen dunklen Schatten sich selbstbewußt an den Rand ihres Blickfeldes schieben sehen, ein flachbrüstiges, spindeldürres Wunderwesen mit den Beinen eines Gepards. Alles an der schwarzen Läuferin zeugte von urwüchsiger Gerissenheit. Sie hielt gekonnt mit Jeni Schritt, wie ein Schatten, war äußerlich ihr genaues Gegenteil: schwarze, wippende Locken gegenüber Jenis blondem Pferdeschwanz, flache Brust und schmale Hüften gegenüber Jenis kurvenreichem Körper, billige, ausgetretene Keds gegenüber Jenis kostspieligen Reeboks.
Trotzdem rechnete Jeni sich Chancen aus. Elvis hatte in ihrem Walkman Sprinter 9000 eben die süßen Qualen von I WAS THE ONE glücklich überstanden und hob zum klagenden Stakkato ihres ewigen Lieblingstitels an: I WANT YOU, I NEED YOU, I LOVE YOU. Falls irgendein Lied sie zum Sieg führen konnte, dann dieses. Sie hörte das Aufbrausen von Scotty Moores Gitarrenvorspiel, beugte sich vor, biß die Zähne zusammen und zog das Tempo an. Die Schwarze hielt mit.
Die meisten der übrigen Läufer waren mittlerweile zurückgefallen. Nur zwei verzweifelte, rotgesichtige Männer liefen an der Spitze, der eine ein kahlköpfiger Brillenträger mit einem fast weiblichen Laufstil, der andere unbeugsam wie ein Hydrant, nicht geschaffen für Langstrecken: Die würden bald ihren Staub schlucken. Ihren und den der hageren Schwarzen, die jedem Tempowechsel Jenis gewachsen zu sein schien, ihn geradezu vorausahnte und die Taktik der Blonden mit dem wippenden Pferdeschwanz durchkreuzte, ohne überhaupt in ihre Richtung zu sehen. Unheimlich.
Dennoch war Jeni zuversichtlich. Sie hatte ihre Reserven für den Schlußspurt noch keineswegs aufgebraucht. Und im Sprint war Jeni Starbuck verdammt schwer zu schlagen. Zu ihrer Linken näherte sich die Olive Street. Sie bereitete sich auf das Finish vor. Doch als hätte sie es geahnt, stürmte die Schwarze unverhofft los, so erschreckend plötzlich, daß Jeni einen Adrenalinstoß verspürte und vor ihrem geistigen Auge den Roadrunner am Kojoten vorbeiflitzen sah, als stünde der still.
Überrumpelt, fluchte Jeni leise vor sich hin und war um so wütender, als ihre Taktik – den Endspurt an der Olive Street einzuleiten – zunichte gemacht worden war. Die Spurtstrecke würde jetzt länger sein und die letzten Reserven erfordern. Sie merkte, daß sie die Schwarze haßte.
Das brachte neue Energie, sie zog mit den schwarzen, stampfenden Beinen gleich, senkte das Kinn und war nicht mehr zu halten. Sie hörte nicht einmal mehr Elvis, lauschte nur auf das verzweifelte Pochen ihres Herzens, das vibrierende Trommeln der Laufschuhe auf Asphalt.
Während dieses Endspurts sah die Schwarze schließlich zu ihr hinüber, und in ihrem Blick erkannte Jeni das Schreckgespenst der Niederlage. Ihr Herz schlug dem Sieg entgegen. Ihre rasenden Beine rissen sie vorwärts.
Es würde knapp werden, doch sie konnte einen Endspurt länger durchhalten als jeder andere. Die Schwarze fiel allmählich zurück ...
Fünfzig Meter vor dem flatternden Zieltransparent hörte sie von der Seeseite her ein kurzes Hornsignal, schaute geistesabwesend in die Richtung und erhaschte – im Gefühl des sicheren Sieges – einen flüchtigen Blick auf den Rumpf einer glänzenden, kobaltblauen Segeljacht, die den Kai ansteuerte.
Zwanzig Meter vor dem Ziel und eine Körperlänge vor der schwarzen Läuferin fühlte Jeni den Boden unter sich wanken (ein Erdbeben!), unmittelbar darauf folgte eine Hitzewelle, die sie wie die Nachwehen des Flügelschlags eines riesigen Vogels aus dem Gleichgewicht brachte. Da sie der Küste am nächsten war, bekam sie die Hauptwucht der Explosion zu spüren und schirmte zum Teil sogar die schwarze Läuferin ab, während die der Hitze nachfolgende Druckwelle die übrigen Läufer zu einem Knäuel aus Beinen und Laufschuhen übereinander warf. Ob hager oder nicht, die dunkelhäutige junge Frau war groß und standfest. Es war Jeni, die zu Boden ging.
Der Stoß traf sie am rechten Knie und Oberschenkel – sie spürte nicht den Schmerz aufgerissenen Fleisches, hörte nicht einmal das Echo der Explosion in der Bucht, die entsetzten Schreie der Zuschauer, die sich hin und her reckten, um irgend etwas zu sehen. Nahm nicht wahr, wie die anderen Läufer an ihr vorbeizogen.
Sie saß auf dem warmen Asphalt auf ihren blutverschmierten Handballen, badete im orangefarbenen Schein der nach der Explosion aufsteigenden Rauchwolke und verfolgte mit trüben Augen, wie die Schwarze graziös das Zielband zerriß und dem Ruhm entgegenlief.
Später humpelte sie, mit dem Makel der Niederlage versehen, zu ihrem verrosteten Volvo und bemühte sich, die Blicke der Zuschauer zu meiden. Das war nicht schwer: Sie waren durchweg den schwelenden Überresten der Jacht in der Bucht zugewandt. Jeni bahnte sich ihren Weg an den Fernsehkameras vorbei, die an der Ziellinie standen und nun plötzlich mit einem viel bedeutenderen Ereignis konfrontiert waren. Sie stieg in ihren Wagen und fuhr auf einen bitter benötigten Drink zu »Harvey Wahlbanger's«. Sie hatte seit der Aufnahme des Trainings zwei Monate zuvor nichts mehr getrunken. Wie Dr. Keegie angelegentlich bemerkt hatte, vertrugen sich Psychopharmaka und Alkohol nicht, es sei denn, man trage sich mit Selbstmordabsichten. Da sie außerdem ihre Tabletten nicht mehr regelmäßig einnahm, dachte sie, das Risiko eingehen zu können. Ein Drink würde sie nicht umbringen.
Ganz auf Sieg eingestellt, hatte sie diesen Abstecher nicht eingeplant und auch nicht die passende Kleidung für eine lärmende Arbeiterkneipe dabei. Auch egal. Sie war müde und gereizt und brauchte einen Drink. Ihr Knie begann fürchterlich zu schmerzen. Sie könnte es mit Brandy betupfen, um einer Infektion vorzubeugen.
Sie kam rechtzeitig zu den Achtzehn-Uhr-Nachrichten in einem über der Bar angebrachten Fernseher mit trübem Bildschirm, der dort, soweit Jeni Starbuck wußte, schon mindestens vier Jahre vor sich hin flimmerte.
Sie setzte sich in eine altvertraute Nische und bestellte bei einer ihr unbekannten Person einen Bourbon pur. Keines der Mädchen in den engen roten Wahlbanger-T-Shirts kam ihr bekannt vor, so lange war sie nicht mehr hiergewesen. Einige der Stammgäste jedoch kannte sie. Drüben auf seinem Lieblingsplatz neben dem Fernseher saß Harvey Spencer, der kleinste und flinkste Bulle von San Diego. Und dort in einer dunklen Ecke saß Big Tim Tanner, ein grobschlächtiger Kriegsveteran, der über die Jahre nichts von seiner mächtigen Leibesfülle verloren zu haben schien. Jeni vermied jeglichen Blickkontakt mit beiden.
Als ihre Bestellung kam, nahm sie einen Schluck, sah auf den verschwommenen Bildschirm und fragte sich, ob die Sechs-Uhr-Nachrichten bereits eine Meldung von der Explosion in der Bucht bringen würden. Sie hielt es für möglich, falls jemand auf Draht gewesen war. Auf jeden Fall hatten genügend Kameras das Rennen aufgezeichnet.
Auf Wettervorhersage, Sportberichte, Vermischtes aus der Region und zahllose Werbespots folgte schließlich ein eilig erstellter Kurzbericht über »... die offenbar unbeabsichtigte Explosion einer Jacht im Hafen von San Diego unweit des legendären, am Embarcadero vertäuten Segelschiffs »Star of India« und weniger als hundert Meter vom Schauplatz des gerade stattfindenden alljährlichen Wettlaufs gegen AIDS entfernt ...«
Gesicherte Informationen waren rar, der weißhaarige Moderator, den die Aushändigung einer eilig verfaßten Kurzmeldung sichtlich verwirrt hatte, suchte unsicher nach passenden Adjektiven und füllte die Lücken, indem er die mageren Angaben über Zeit und Ort beständig wiederholte, während der Bildregisseur den einzigen Schnappschuß von der Explosion immer wieder abspulte. Ein geistesgegenwärtiger Kameramann hatte unmittelbar nach dem Knall auf die Explosionsstelle hingeschwenkt. Die Aufzeichnung zeigte zunächst die Läufer aus einer leicht überhöhten Perspektive, als sei die Szene vom Dach eines Übertragungswagens aus aufgenommen worden, eine Totale, aus der heraus Jeni kaum sich selbst und die schwarze Läuferin vor dem Pulk der übrigen Läufer ausmachen konnte. Die Kamera ging über zu einer Großaufnahme von begeisterten Zuschauern, erfaßte ihre entsetzten Blicke und die Auswirkungen der Explosion, wankte und schwenkte ruckartig nach rechts, wo sie sich schließlich auf die rußschwarze Wolke über der Bucht einstellte. Jeni sah, wie das Heck der blauen Jacht, von der sie vorhin nur einen flüchtigen Blick hatte erhaschen können, unter der von herabregnenden Trümmern übersäten Wasseroberfläche verschwand – dann nur noch vereinzelte Rauchschwaden. Bleibt auf dem Boot, dachte sie in ihrer Nische, während ihr Magen sich verkrampfte, bleibt bloß auf dem Boot, schwenkt nicht zurück zu dem verdammten Wettlauf ...
Doch die Kamera schwenkte zurück, zuerst auf die wogende, aufgeschreckte Menge, dann auf die jetzt menschenleere oder fast menschenleere Straße, auf der nur noch Jeni zu sehen war, die auf ihrem Hinterteil hockte und ihr blutendes Knie umklammerte. Dann – o nein, auch das noch – zoomte die Kamera heran, bis Jeni Starbucks hübsches, verwirrtes Antlitz den 27 Zoll großen Farbbildschirm der Bar ausfüllte und ganz San Diego County sie bewundern konnte. »O Gott, steh mir bei!« entfuhr es ihr unbeabsichtigt – zu laut –, und in der Kneipe drehte man die Köpfe, um das zu der Stimme gehörende Gesicht zu suchen, es mit dem auf dem flimmernden Bildschirm über der Bar zu vergleichen.
Jeni sah mit glühenden Wangen auf ihr Glas nieder.
Großartig. Ausgezeichnet. Seht's euch gut an! Was für ein beschissener Tag!
Das Band wurde noch zweimal abgespielt. Schließlich – barmherzigerweise – schaltete man zurück ins Studio und zu dem linkischen weißhaarigen Moderator: weitere Einzelheiten über diesen Vorfall, sobald sich neue Erkenntnisse ergeben; bleiben Sie auf Kanal 7 und so weiter.
»Hallo.«
Sie hob den Kopf und erblickte ein fleckiges T-Shirt, das ihr die Sicht nahm, einen muskulösen, vor ihr aufragenden Rumpf und darüber ein gerötetes Gesicht, das lächelte und gelbe Zähne, erbärmliche zahnärztliche Leistungen, einen Tag alte Bartstoppeln und einen nach Bier riechenden Atem preisgab. »Sind Sie das da in der Glotze?«
Sie sah wieder auf ihr Glas. »Nein.«
»Ach ja? Sieht aber ganz so aus.« Eine fleischige Hand zeigte auf den auffällig leeren Platz ihr gegenüber, gierige dunkle Augen. Jeni dachte tatsächlich einen Moment lang über sein Ansinnen nach; es mochte bequemer sein, ihn einfach Platz nehmen und ihr einen Drink spendieren zu lassen, danach Ausflüchte zu machen und schleunigst zu verschwinden. Doch sie war müde und verschwitzt und heute nicht dazu aufgelegt, sich von irgend jemandem dumm kommen zu lassen.
»Ich erwarte jemand«, erklärte sie.
Das gerötete Gesicht zeigte keine Reaktion. »Ihr Knie ist lädiert. Sind Sie wirklich in Ordnung?«
Sie senkte den Blick. Das Knie blutete tatsächlich wieder und schmerzte auf einmal unerträglich. »Mir geht's gut. Nur ein Kratzer. Danke der Nachfrage.«
Ihm überhaupt zu antworten, war schon ein Fehler, Höflichkeit wurde mit Interesse verwechselt; er war aggressive Frauen gewohnt, schroffe Zurückweisungen. Er stand da und grinste Jeni an, bis sie aufschauen mußte. »War sonst noch was?«
»'ne Läuferin also. Vor wem laufen Sie davon, Herzchen, Ihrem Alten?«
Jeni mußte angesichts dieser unfreiwilligen Ironie beinahe lächeln.
»Heiße Howie Cruthers.«
»Hallo Howie. Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen?«
»Wie wär's, wenn zwei einsame Herzen zusammen was trinken?«
»Danke, Howie, ich bin nicht einsam.«
Big Tim Turner warf aus seiner lauschigen, dunklen Ecke einen Blick hinüber, um die Lage zu peilen. Vielleicht lächelte er, doch bei dem schummrigen Licht war das schwer zu sagen.
Das fleckige T-Shirt nahm unaufgefordert Platz und beugte sich über den verschrammten Tisch. »Auf mich wirken Sie entschieden einsam! Nur ein Gläschen, was meinen Sie?«
»Schwirren Sie ab, Howie!«
Er blieb sitzen und hauchte ihr grinsend seine Bierfahne entgegen. Er dachte nicht daran zu gehen. »Ich hab noch nie 'ne Läuferin getroffen. Wie wär's, wenn wir irgendwo hingehen und ficken würden?«
Es war einfach nicht ihr Tag. »Ich bin Polizistin, Howie, Sie gehen besser woanders hausieren.«
Doch Howie war entschlossen, diesen Abend zum Schuß zu kommen, und zwar schnell, bevor er zu betrunken war. »Haben Sie Papiere? Wenn Sie ein Bulle sind, beweisen Sie's. Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«
Jeni ließ einen weiteren Seufzer ertönen. »Hören Sie, ich bin müde und stinke nach Schweiß, alles klar?«
Eine schinkengroße Faust schloß sich um ihr dünnes, weißes Handgelenk. Sie verriet Erregung und unbändige Kraft. Entgegenkommend beugte sie sich mit einem Anflug von Resignation zu ihm hinüber. »Na schön, ich bin kein Bulle. Aber ich bin müde. Erschöpft. Und Sie haben's eilig. Wären Sie mit einer kurzen Blasmusik zufrieden?«
Auf dem einfältigen Gesicht machte sich angenehme Überraschung breit, dann wieder das schiefe Grinsen. »Bei Ihnen oder bei mir?«
Jeni rückte noch näher und senkte die Stimme. »Die Tür der Damentoilette hat ein Schnappschloß. Was sagen Sie dazu?«
Howie ließ ihr Handgelenk los, und sie standen auf. Big Tim Turner saß in seiner Ecke aufrecht vor einem Bier und zog eine Augenbraue seines breiten Narbengesichts in die Höhe. Doch er machte keinerlei Anstalten einzuschreiten. Sie hatte das auch nicht erwartet. Sie griff nach ihrer Handtasche und geleitete den rotgesichtigen Howie in den rückwärtigen Teil der Kneipe.
Jeni betrat die Damentoilette als erste, vergewisserte sich, daß sie ungestört waren, hielt Howie die Tür auf, drehte sich um und zog sie zu. Sie machte erneut kehrt und brach ihm mit einem kurzen, ruckartigen Tritt ihres rechten Fußes das linke Schienbein. Dabei machte sich die während des Rennens erlittene Verletzung wieder bemerkbar und ließ sie zusammenzucken.
Der völlig entgeisterte Howie schlug mit seinem Hinterteil gegen das schmutzige Waschbecken. Jeni hatte die Leistengegend als Ziel in Erwägung gezogen, es aber als übertrieben verworfen. Egal: Sobald die Beine versagten, tat es auch der Gegner.
Dennoch ergriff sie eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme und versetzte ihm einen Schlag gegen den Brustkorb, in den sie die während eines ganzen Tages angesammelte Wut und Enttäuschung hineinlegte. Weniger robust, als er zunächst erschienen war, riß Howie Cruthers bei seinem armrudernden Rückzug die Toilettenkabinentür aus den Angeln, knallte auf den Plastikdeckel und verursachte dabei ein Geräusch, das wie das Schlagen einer Glocke in einem Schacht klang. Jeni nutzte seine Trägheit aus, schwang sich rittlings auf seinen Brustkorb, zog die blankgeputzte Ruger und drückte ihm die glänzende Mündung fest unter die Nase, was ihn wie ein Ferkelchen aussehen ließ. In Howies Augen stand die Angst. Sie gewährte ihm eine kurze Bedenkzeit, dann richtete sie sich auf, machte kehrt und trat ihm auf dem Weg nach draußen auf die Eier.
Zurück in ihrer Sitzecke, leerte sie ohne größere Atemnot ihr Glas, eine Tatsache, die sie mit einiger Genugtuung zur Kenntnis nahm. Es war wie Fahrrad fahren: Man verlernt es nie wirklich.
Big Tim Turner beobachtete sie schweigend aus seiner dunklen Ecke und trank ein neues Bier an. Diesmal war sie ziemlich sicher, daß er ein klein wenig lächelte.
Zu einer anderen Zeit hätte er möglicherweise eingegriffen. Als sie noch zur ATF gehört hatte. Vor dem Absturz ...
Die Prügelei, so kurz sie gewesen war, hatte die triefende Beinverletzung nur noch verschlimmert.
Sie war schließlich gezwungen, am Las-Flores-Krankenhaus haltzumachen und sie versorgen zu lassen. Als sie dort eintraf, hatte sich die Blutung noch verstärkt. Ein Assistenzarzt, der vermutlich zehn Jahre jünger als sie war, belohnte sie mit sieben tiefen Stichen und noch mehr Schmerzen; sie stöhnte zweimal auf, und er entschuldigte sich pikiert. Die Wunde am rechten Oberschenkel, der Bursa superpatellar, verkündete er, sei weit entfernt von der Oberschenkelarterie und sollte ihr beim Laufen so gut wie keine Probleme bereiten, obwohl sie so schnell nicht verheilen würde.
Hingestreckt auf den kalten, keimfreien Metalltisch, lange, wohlgeformte Beine und knappe rote Shorts zur Schau stellend, gewahrte Jeni ein schwaches Zittern der sonst ruhigen Händen des jungen Arztes und war verblüfft, als er sie mit großen Augen schüchtern um eine Verabredung bat. Sie lehnte ab, nahm ein Rezept für Kodein von ihm entgegen und ging.
Als sie über den Parkplatz humpelte und das Bild seines einfältigen Gesichts ihre beschwerlichen Schritte begleitete, brachte sie für den jungen Arzt ein verstohlenes Lächeln zustande: Der Tag war anscheinend nicht völlig verloren ...
Der große Mann trat an einem wunderschönen Tag aus dem Dulles-Flughafen in den strahlenden Sonnenschein Washingtons.
Er hatte eigens noch fünfzehn Minuten im Terminal gesessen und auf einen roten Mazda von Avis gewartet. Rot war seine Lieblingsfarbe, und dies sollte ein besonderer Tag, ein Festtag werden, der sein Leben – und das Leben so vieler anderer – ganz gewiß verändern würde.
Er fuhr eine Weile in der Stadt herum, bevor er die Pennsylvania Avenue und das Hoover-Building ansteuerte.
Er ließ die Fenster des Mietwagens herunter und den Wind in seinen Haaren spielen, während der süße Duft von Kirschblüten seine geblähten Nüstern füllte. Er hatte sich einen Tag in der Kirschblütenzeit ausgesucht, und die Stadt war erfüllt davon. Er verbrachte allein zehn Minuten am Lincoln-Denkmal. Er weinte ein paar Tränen. Der Anblick der aufragenden, sitzenden Gestalt mit den klugen, verhangenen Augen ließ die seinen sich jedesmal mit Tränen füllen.
Er liebte Washington. Es war so ... weiß. Marmorweiß. So strahlend, daß es schier den Augen weh tat. Wenn er die glänzenden Marmorstatuen – die alabasternen Grabmäler und Mausoleen – lange genug anstarrte, würde er Kopfweh bekommen. Heute wollte er nicht starren, es war kein Tag für Kopfweh. Es war ein Freudentag.
Er aß im »Windsor Hotel« an der Delmonte Street zu Mittag, bestellte eine Portion Muscheln und Pastete nach Art des Hauses. Er unternahm eine weitere Stadtrundfahrt, ein Lächeln im Gesicht. Er hatte keine Eile. Er genoß jeden Augenblick hier, als ob es sein letzter wäre. Die Dinge waren bereits ins Rollen gebracht, die Mission hatte begonnen. Washington stellte nur noch eine letzte Überprüfung dar.
Kurz nach Mitternacht steuerte er den Mietwagen in die E Street, zu Hoovers »Taj Mahal«, dem FBI-Hauptquartier.
Er ging zu Fuß in die Pennsylvania Avenue. Es war ein langer Weg vom Haupteingang an der E Street aus, aber weil es ein so angenehmer Abend war, nahm er ihn in Kauf. Außerdem war der E-Street-Eingang dem Pöbel vorbehalten, Urlaubern aus Oklahoma auf Besichtigungsfahrt. Von den 24 000 Angestellten der Firma benutzten mehr als 7500 den Eingang an der Pennsylvania Avenue.
Er trat an den Anmeldeschalter heran, lächelte dem dort postierten Zivilbeamten zu und zeigte ihm eine Dienstmarke und einen FBI-Ausweis. Beides war echt, doch keines gehörte dem großen Mann mit dem freundlichen Lächeln. Er trug sich in die Besucherliste ein und fragte den Beamten leutselig nach dem Stand der Dinge. »Wie immer«, antwortete der Beamte, und beide lachten kameradschaftlich.
Er verließ den Schalter und ging durch eine Glastür, dann noch eine und gelangte in die Computerzentrale des FBI. Der Raum füllte fast das gesamte Erdgeschoß aus und hatte die Größe eines Fußballfeldes.
Er schlenderte über einen makellos sauberen Fliesenboden, durch gefilterte, klimatisierte Luft, vorbei an einer endlosen Reihe leise summender, cremefarbener Gehäuse. Zu seiner Linken waren nicht enden wollende Reihen von Disketten und Bändern; zu seiner Rechten stand Regal an Regal voll Sicherungsbatterien. Letztere waren für den Fall vorgesehen, daß die Notstromversorgung zusammenbrach, was höchst unwahrscheinlich war, doch die »Firma« war alles andere als unvorsichtig.
Zu dieser Stunde war der Saal – angefüllt vom Summen der Ventilatoren – menschenleer.
Er ging zum zentralen Kontrollterminal am gegenüberliegenden Ende. Zu anderen Zeiten wäre das Terminal rund um die Uhr mit einer kleinen Gruppe von Technikern besetzt gewesen. Heutzutage waren Maschinen besser dafür geeignet als Menschen. Ein Zeichen der Zeit.
Er setzte sich in den Drehstuhl, legte die Hände auf die Tastatur und hielt einen Moment inne, um nachzudenken. Unter seinen Fingern steckte tief im Innern der riesigen Anlage ein Gewirr miteinander verbundener Systeme und Teilsysteme, die unzählige Millionen von Daten enthielten. Mehr Daten, als ein Mensch jemals würde lesen können. Gespeichert wurde alles: vom Tiefsinnigen bis zum Prosaischen – von den verborgensten, dunkelsten Geheimnissen fremder Regierungen (Geheimnisse, die sie per Knopfdruck ruinieren könnten) bis zu dem belanglosen Wortlaut eines Strafzettels aus Topeka, Kansas.
Er ließ seine Finger über die Tasten schweben und fühlte die ihnen innewohnende Kraft. Spürte sich selbst innerlich glühen.
Der gewaltige Zentralcomputer des Hauptquartiers enthielt bei aller Komplexität zwei grundlegende Bausteine: das National Crime Information Center (NCIC), das den lokalen, einzelstaatlichen und Bundesbehörden und außerdem der Royal Canadian Mounted Police, den Strafverfolgungsbehörden von Puerto Rico und dem zu den USA gehörenden Teil der Virgin Islands eine nationale Strafregisterdatei zur Verfügung stellte, und zweitens das in elf Sektionen unterteilte interne Datennetz des FBI. Letzteres wurde über zweieinhalbmillionenmal am Tag in Anspruch genommen. Alle sechsundfünfzig Außenstellen und fünfhundert Nebenstellen des FBI hatten Zugang dazu. Es war die Hauptkampfeinheit des FBI gegen kriminelle Machenschaften. Wer die Zentrale des FBI kontrollierte, besaß unschätzbare Macht. Vor Einführung dieses Computersystems hatte es Papier gegeben. Berge von Papier. Zig Millionen sieben mal zwölf Zentimeter große Karteikarten und zweieinhalb und fünf Zentimeter breite Aktenordner, die in verschiedenen Außenstellen ohne zentrale Zugriffsmöglichkeiten verwahrt wurden. Jetzt gab es den Computer.
Mit zitternden – aber nicht unkontrollierten – Fingern berührte er schließlich die Tasten. Zwei davon. Am Terminal leuchtete ein grünes Lämpchen auf.
Da hörte er vom anderen Ende des Saals her ein Geräusch.
Mit regungslos über der Tastatur schwebenden Händen lauschte der große Mann. Irgendwo in seinem Rücken war ein knackendes, abgehacktes Geräusch zu hören.
Er drückte eine Taste, und die grüne Lampe erlosch.
Er schwenkte herum, stand vom Stuhl auf und spazierte ruhig zum anderen Ende des Raums, vorbei an den summenden Reihen und Regalen. Vor der ersten Glastür wandte er sich nach links und betrat einen kleinen, etwa acht Quadratmeter großen Raum, der ein Waschbecken, eine Kaffeemaschine und einen kleinen Kühlschrank beherbergte. Die Kühlschranktür stand offen, der Blick auf den Inhalt wurde von einer hockenden, stämmigen Gestalt in grauen Hosen und weißem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln versperrt. Die Gestalt machte sich mit einem Eispfriem über den Kühlschrank her, auf der Glatze sammelte sich Schweiß.
»Guten Abend«, sagte der große Mann leise.
Der Mann am Kühlschrank, Agent George Lortz, wandte sich um, das Gesicht vor Anstrengung gerötet, aber keineswegs beunruhigt. »He. Wer sind Sie denn?«
Der große Mann an der Tür lächelte leutselig. »Interner Sicherheitsdienst. Und Sie?«
Der hockende Mann musterte ihn von oben bis unten. »Ich auch. Ich dachte, es gebe nur einen von uns.«
»Das hab ich auch gedacht.«
Agent Lortz schüttelte den Kopf, stieß einen Seufzer aus, nahm seine Hacktätigkeit wieder auf und machte keuchend seinem Ärger Luft. »Hat die Firma mal wieder Scheiße gebaut. Ich sage nur: Schweitzer. Seit der Anklage gegen diesen Mistkerl spielen die hohen Tiere verrückt. Als könnte irgend jemand sich jemals Zutritt zu diesem Monstrum da draußen verschaffen.«
»Dann ist das also Ihre erste Nacht in dem neuen Job?«
Fortgesetzte Hacktätigkeit, leises Fluchen. »Scheißding. Wir sind nur zwei gottverdammte Witzfiguren, Kumpel. Der dämliche Computer kann auf sich selbst aufpassen. Ist alles Schwindel. Himmel noch mal, warum steckt die Firma nicht ein paar Dollar in einen anständigen Kühlschrank!« Fortgesetzte Hacktätigkeit, absplitterndes Eis, dann ein Fehlstoß, ein derberer Fluch.
»Mehr aus dem Handgelenk. Lassen Sie mich mal.«
»Ja, danke!« Lortz grinste erleichtert und streckte die Hand aus. »George Lortz, ausgeliehen von UCO.«
»Bill Smith, NCIC. Worauf sind Sie aus, George, Scotch mit Eis?«
»Naja ...«
»Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben, George.«
Agent Lortz grinste. »Scotch wäre prima. Und schenken Sie sich auch einen ein!« Er trat dankbar an die Tür zurück und übergab den Eispfriem. »Ich setze mich kurz ans Terminal und tue so, als hütete ich die Staatsgeheimnisse!«
»Dauert nur zwei Minuten«, versicherte ihm der große Mann.
Zwei Minuten später drehte sich Lortz auf einem der drei vor dem Terminal stehenden Stühle um und sah sich einem klirrenden, bernsteinfarbenen Glas gegenüber. »Danke, Mann, Sie sind meine Rettung. Mmm, Himmel noch mal, ist das gut.«
Ohne zu kosten, ergriff der große Mann sein Glas und setzte sich neben Lortz.
Agent Lortz plazierte seine Füße weit auseinander auf die Konsole, lehnte sich zurück und nahm genüßlich einen Schluck. »Eins muß man dem alten Schweitzer aber lassen. Er hat als einziger in das NCIC-System des FBI eindringen können. Wurde mit der Hand in der Kasse erwischt. Und der Mistkerl reißt noch das Maul auf. Was sagen Sie dazu?«
Der große Mann gegenüber Lortz starrte auf die Tasten vor ihm. Es kribbelte ihm in den Fingern. Das klirrende Glas in seiner Hand war ein kaltes und fremdes Etwas. »Ich denke, im Falle Mr. Schweitzers widerstrebte es der Firma, ihr eigenes Versagen an die große Glocke zu hängen«, erwiderte er gleichmütig. »Er behauptet, er sei nicht nur in das NCIC-System eingedrungen, sondern auch in die internen und streng geheimen Ermittlungsdateien der Firma.«
»Kein Scheiß?«
Die Augen noch immer auf die Tasten gerichtet, stellte der große Mann das Glas voll klirrender Eisstückchen ab. Die Finger begannen ihm zu brennen. »Aber nein. Schweitzer war überzeugt, daß an alles und jedes heranzukommen sei. Sogar an die sensibleren Dinge, Geheimdienstangelegenheiten, inländische wie ausländische, und vieles mehr – einfach alles. Schweitzer behauptet, es gebe keine wirkliche Sicherheit beim FBI.«
Lortz heuchelte Interesse. »Hm.«
»Allerdings. Seiner Theorie nach gibt es so lange keine Sicherheit im strengsten Sinne, wie in der Firma Vetternwirtschaft herrscht. Die meisten Privatschnüffler in diesem Land sind ehemalige Justizangestellte – auf kommunaler, einzelstaatlicher, County- oder Bundesebene. Das ist soviel wie ein Mitgliedsausweis für einen Elite-Klüngel, George.«
Agent Lortz hob die Augenbrauen, war plötzlich ganz und gar nicht sicher, ob er das wissen wollte, und nickte verlegen.
»Ich denke, solange man nichts gegen diesen Zustand unternimmt und beide Augen zudrückt, werden Informationen auch weiterhin illegalen Hackern zugänglich sein. Da gab es beispielsweise einen ehemaligen Polizeibeamten in Arizona, der seine früheren Kollegen dazu überredete, NCIC-Daten zu beschaffen, die er dann dazu benutzte, seine ehemalige Freundin aufzuspüren und umzubringen.«
»Tatsache?«
Der Mann neben Agent Lortz nickte, während seine Finger wie Feuer brannten und sich wie von selbst auf die Tasten zu bewegten. »Allerdings. Eine NCIC-Programmiererin in Pennsylvania hat Hintergrundinformationen für ihren mit Drogen dealenden Freund beschafft. Der Kerl wollte wissen, welche von seinen potentiellen Kunden verdeckte Polizisten waren. Wissen Sie, George, meiner Meinung nach kommen solche Dinge öfter vor, als wir wahrhaben wollen. Leuchtet da eine rote Lampe an Ihrem Monitor?«
Lortz setzte sich, mäßig beunruhigt, auf und wandte den Kopf. In diesem Moment schob der Mann neben ihm mit einer schnellen, beinahe zufälligen Bewegung zehn Zentimeter dem fünfzehn Zentimeter langen stählernen Eispfriem in Agent Lortz' rechtes Ohr. Die makellose Spitze legte nach Berührung mit dem Gehirn die verbleibenden fünf Zentimeter selbsttätig zurück, bis sie vom Holzgriff aufgehalten wurde.
Lortz fühlte, als sein Trommelfell zerplatzte, einen kurzen, heftigen Schmerz, aber weil das Gehirn keine eigenen Nervenenden besitzt, merkte er nicht, das etwas eindrang.
Er stand verwirrt da, führte eine Hand langsam an den kurzen Holzgriff, der aus seinem Ohr herausragte, und sagte: »Was, zum Teufel, ist das?« Es klang eher neugierig als beunruhigt, Furcht hatte ihn noch nicht ergriffen. Der große Mann beobachtete ihn ungerührt.
Lortz' Hand kam bluttriefend wieder zum Vorschein. Seine Augen sahen aus wie bei einer Eule, und plötzlich packte ihn die Angst. Er präsentierte dem Mann am Terminal seine triefende Handfläche und einen fast komisch wirkenden, bestürzten Gesichtsausdruck. »Was ist hier los?«
Der große Mann stand auf. »Mehr, als die meisten wissen«, erwiderte er und zog den Browning unter seinem Jackett hervor, eine Bewegung, die den Eispfriem, wie er gehofft hatte, hätte überflüssig machen sollen.
Ohne irgend etwas zu begreifen, drehte sich Lortz weg, torkelte über den makellos sauberen Fußboden, als suchte er von unsichtbaren Mächten Antwort zu erlangen, und hinterließ eine Spur winziger roter Flecken. Der große Mann zielte aus kurzer Entfernung und schoß ihm in den Rücken. Der Schuß saß perfekt.
Die Kugel drang – wie er mit beinahe ärztlicher Objektivität registrierte – oberhalb der Lendenwirbel in George Lortz ein, nahm einen leicht gekrümmten Schußkanal zwischen den Rippen hindurch, durchtrennte die Wirbelsäule und zerstörte – bei dieser kurzen Entfernung wenig verwunderlich – die paravertebralen Muskeln. Sie trat am Brustbein, das erhebliche Zerstörungen davontrug, wieder aus dem Körper aus und fand ihre vorerst letzte Ruhe in der Wand knapp oberhalb eines Regals mit Computerdisketten, ohne diese zu beschädigen. Lortz' Herz zerriß. Er starb, ehe er den Boden berührte, in einem so heftigen roten Schwall, daß sein Körper nahezu ausgeblutet war.
Der Mann am Terminal steckte die Waffe ein, wandte sich rasch der Tastatur zu und ließ seine Finger kurze, entschlossene Bewegungen vollführen. Der Computer summte unter ihm, und von den langsam kälter werdenden Händen breitete sich die Wärme bis in seine sich bereits wieder beruhigende Brust aus.
Nach einer Weile ließ der große Mann ein zufriedenes Brummen vernehmen und lehnte sich zurück, er hatte dem Computer übergeben, was er für ihn mitgebracht hatte. Erschöpft und ganz und gar aufgewärmt sank er in den Drehstuhl und seufzte nachhaltig.
Kurz darauf ging er zu der kleinen Besenkammer neben der Kochnische, wo er Mop, Eimer, Putzmittel und andere Reinigungsutensilien fand. Die Kugel pulte er mühelos mit den Fingernägeln aus der Wand heraus, sie hinterließ lediglich ein so winziges Loch, daß es vielleicht monatelang nicht entdeckt werden würde. Bei der Arbeit tat er es den Computern um ihn herum gleich und summte leise vor sich hin.
Sie träumte von Molly. Zusammen kletterten sie auf Zehenspitzen barfuß über die schlüpfrigen Felsen am Strand von La Jolla und suchten das Watt nach Krebsen ab, die Köpfe gebeugt über wirbelnde Strudel grünen Wassers. Es war Sonnenuntergang, das Licht verschwand hinter Mollys dunklem Haarschopf und verlieh ihr so etwas wie einen Heiligenschein, einen gleißenden Ring, und Jeni sah auf und lächelte, blinzelte in das heller werdende Licht und sagte: »Du siehst aus wie ein Engel!«, und Molly lachte, wobei sie sich langsam verflüchtigte, selbst als Jeni nach den zierlichen Händen griff, die ihr durch die Finger glitten ...
Das Klingeln des Telefons riß sie aus dem Schlaf. Sie bugsierte den Hörer an ihr Ohr.
»Jeni, hier ist Helene. Vergessen Sie Ihren Termin um elf nicht.«
»Werd ich nicht, Helene, danke.«
»Ich hoffe, ich hab Sie nicht geweckt.«
»Nein ...«, seufzte Jeni. »Ich habe gar nicht geschlafen.«
Sie hörte das wissende Lächeln aus Helenes Stimme heraus. Man konnte ihr einfach nichts vormachen. »Also schön. Bis dann.«
Dr. Keegies Praxis befand sich im Bundesgebäude gegenüber dem Veteranenkrankenhaus.
Hier herrschte immer Stoßverkehr – das Bundesgebäude bedeckte eineinhalb Kilometer von San Diegos innenstädtischer Touristenattraktion, dem Gaslampenviertel –, und an einem heißen Tag konnte bei Schrittempo Stoßstange an Stoßstange eine leicht gereizte Atmosphäre aufkommen.
Jeni hatte diesen Umstand lange Zeit dafür verantwortlich gemacht, daß sie bei ihren monatlichen Besuchen in Keegies psychiatrischer Praxis unruhig und leicht nervös war. Doch dann war sie mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, daß es weniger am Verkehrschaos und mehr an Keegie selbst lag. Oder nicht so sehr an der Person Keegie, sondern eher an der Tatsache, daß sie ihn überhaupt aufsuchte.
Und das beunruhigte sie, weil es keinen Grund gab, sich darüber zu ärgern, daß man einen Arzt brauchte, ob fürs Gemüt oder für etwas anderes. Man tat, was man tun mußte. Und sie brauchte Keegie, brauchte seine Verschreibungen, und zwar seit Mollys Tod. Doch der Unmut blieb.
Oder waren es Schuldgefühle?
Sie ließ sich ständig Medikamente verschreiben ... nahm sie aber nicht regelmäßig.
Helene Sharp, Keegies Sprechstundenhilfe, hatte an diesem Morgen ihr ernstes Gesicht aufgesetzt. Ein hübsches Gesicht, dunkles, ordentlich frisiertes Haar, Mandelaugen, eine niedliche, vollkommene Nase mit einigen wenigen Sommersprossen darauf. »Ich hab sie mir zweimal verkürzen lassen«, hatte sie Jeni einmal anvertraut, »den Blick meiner jüdischen Mutter in Brooklyn werd ich nie vergessen. Ich war damals mit einem Katholiken befreundet und ging mit ihm gelegentlich zur Messe, nur um das Innere der schönen Kirche von El Cahon zu betrachten. Ma hat nie ein Wort darüber verloren ... nur über die Nase! Du lieber Himmel.«
An diesem Morgen ließ sie aus den Lautsprechern im Wartezimmer Brubecks Stakkatoklavier ertönen, obwohl Keegie sie wiederholt vor allem gewarnt hatte, was Free Jazz nahe kam. Er zog Montevani vor, das beruhigte. Helene verdrehte die Augen. »Wer ständig Montevani hört«, klärte sie ihn auf, »bekommt wirklich Depressionen.«
An diesem Vormittag war das Wartezimmer leer – Jeni war die einzige Patientin. Sie ging an das kleine Milchglasschiebefenster, beugte sich hinunter, um mit Helene zu plaudern, die kaum von ihrem wackligen Papierstapel aufsah, während sie die Finger über die Tasten des Büro-»Sprinters« flitzen ließ. »Alles muß in den neuen Computer. Eine Wahnsinnsarbeit ist das, aber wenn es erledigt ist, kann ich die Hälfte der Aktenordner wegschmeißen. Na ja, wenn er es so will. Er zieht weg, wissen Sie.«
Jeni war überrascht. »Dr. Keegie! Wohin?«
»Washington. Ein Riesenaufstieg. Er ist wahnsinnig stolz darauf. Haben Sie beim Hereinkommen nicht die majestätische Aura gespürt?«
»Was wird aus Ihnen?«
Helene zuckte die Achseln, sah aber nicht auf, die Finger flogen – klappernd – über die Tasten, den langen, lackierten Nägel zum Trotz. »Ich bleibe in der warmen Sonne Kaliforniens. Man geht nicht zurück in den Osten, um dort gefrorenen Dreck wegzuschaufeln, um keinen Preis der Welt. Haben Sie schon mal gefrorenen Schnee gesehen, nachdem Autoreifen und Schmutz ihm die Farbe von Mist verpaßt haben? Ach ja, haben Sie, Sie sind ja aus Texas. Was macht das Knie?«
»Es geht. Helene, ich werde Sie vermissen.«
»Was heißt vermissen? Wir werden endlich zusammen essen gehen, statt nur darüber zu reden. Ich bin reif für ein paar Monate Urlaub, soll Jack eine Weile den Laden schmeißen. Auf jeden Fall kann ich immer zurück zu Dr. Landon.«
»Will er mich an diesen Landon weiterreichen?«
»Ich denke schon. Dr. Landon ist großartig. Jung. Sogar ausgesprochen gutaussehend. Eine nette Abwechslung für uns beide. Möchten Sie eine Tasse Jasmintee?«
Doch Keegie steckte gerade den Kopf durch die Tür und lächelte Jeni hinter seinem tadellos gestutzten Bart hervor an. »Die Krönung des Vormittags!« Er sah tatsächlich majestätisch aus; recht zufrieden mit sich. Verlor Helene gegenüber kein Wort wegen Brubeck.
»Wie ich höre, verlassen Sie mich.«
Keegie überflog bei einer Tasse Kaffee ihre Akte und lächelte andeutungsweise, ohne aufzuschauen. »Dr. Landon besitzt mehr Ausdauer als ich und fast soviel Talent, obwohl er herzlich wenig von Freud versteht. Außerdem bedeutet ›verlassen‹ – Ihre Wortwahl –, daß Sie das ›Übertragungsstadium‹ erreicht haben ... Sie sind ohnehin so gut wie geheilt.« Das Lächeln wurde breiter, und diesmal sah er auf.
»Der bescheidene Dr. Keegie macht Witze. Sie müssen sehr glücklich über Ihren Umzug nach Washington sein, trotz der Kälte und dergleichen.«
»Das bin ich. Es ist eine großartige Chance für mich. Aber sprechen wir doch von Ihnen. Sie sehen furchtbar aus.«
»Vergessen Sie, was ich eben gesagt habe ... Sie haben sich nicht geändert.«
»Was machen die Stimmungsschwankungen?«
Jeni lehnte sich auf der Couch zurück; es war nicht die sattsam bekannte lederne Liege des Psychiaters, sondern eine behagliche Couch mit Baumwollüberzug, bequemen Armlehnen aus Ahornholz und Santa-Fé-Polstern. Die als Teppich fungierende Indianerdecke zu ihren Füßen sowie die Eichenholz- und Erdfarben um sie herum machten Keegies Büro so gemütlich, wie das Vorzimmer schlicht war. Sie sann darüber nach, wie sich das farbenfrohe Westerngepräge in einem Büro in Washington ausnehmen würde. Das Bücherregal im Santa-Fé-Stil war überladen mit Wälzern von Oliver Saks. War Saks auch im Osten en vogue?
»Die Stimmungsschwankungen schwanken«, verriet sie ihm.
»Irgendwelche Selbstmordgedanken?«
Jeni senkte verlegen den Blick. »Nein ...«
»Nehmen Sie Ihre Medikamente?«
»Ja.«
»Welche Dosis Clozapin habe ich Ihnen doch gleich verschrieben ...?« Er blätterte wieder in ihrer Akte.
»Es war eine Lüge. Ich hab sie nicht genommen.«
Er schloß die Akte, legte sie auf den Schoß, seufzte und sah sie mit nachsichtigem Blick an. »Und warum nicht?«
»Ich kann nicht gleichzeitig das Zeug einnehmen und laufen. Es macht mich ... antriebsarm.«
»Ein deutliches Zeichen dafür, daß es wirkt.«
»Ich kann keine Hemmungen gebrauchen, wenn ich laufe. Und sagen Sie mir nicht, ich solle mit dem Laufen aufhören. Ich brauche es.«
»Das hatte ich nicht vor. Haben Sie den Kaffee aufgegeben? Sagen Sie die Wahrheit.«
»Kaffee regt mich an.«
»Und wirft Sie wieder zu Boden. Jeni, ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich nicht selbst helfen. Soll ich Sie jeden Morgen herbestellen, damit ich zusehen kann, wie Sie Ihre Medikamente einnehmen?«
Jeni atmete hörbar aus, betrachtete einen Kunstdruck an der Kalkwand, etwas Abstraktes: warme Orangetöne, die in ein noch wärmeres gelbes Rechteck übergingen ... warm wie die Septembersonne. Sie stellte sich vor, sie sei irgendwo draußen in den Bergen, den Chaparral-Hügeln. Allein unterm endlosen Horizont und kilometerweit um sie herum nichts ...
Daneben hing etwas Kleineres, eigentlich kaum mehr als eine Skizze, eine Kohlezeichnung von Dr. Keegie, leicht zu erkennen, allerdings eher an der Stimmung, als an den Konturen. Seine Strenge, seine leichte Arroganz, seine Großspurigkeit waren eingefangen in Augen und Mund, in kräftigem Schwarz vor weißem Hintergrund.
Jeni neigte den Kopf. »Wer hat das gemacht?«
»Einer meiner Klienten.«
»Ein talentierter Klient.«
Dr. Keegie musterte sie streng. »Reden Sie mit mir, Jeni.«
»Reden? Warum? Ihnen geht es doch gar nicht um Ihre Schützlinge. Sie dringen gar nicht tiefer in die Psyche eines Patienten ein, Sie verschreiben Pillen.«
»Sie sind heute morgen schlecht drauf. Warum?«
Sie rutschte unruhig auf der Couch hin und her. »Ich weiß nicht ...«
»Doch, Sie wissen es.«
»Sagen Sie's mir, Sie sind der Arzt.«
»Jeni.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich brauche dieses Zeug nicht. Ich brauche kein Clozapin.«
»Na schön. Warum nicht?«
»Es hilft nicht.«
»Wenn Sie es einnehmen, schon.«
»Ich habe es genommen. Ich brauche keine Drogen. Ich bin nicht ...«
Keegie beobachtete sie. »Was? Nicht depressiv?«
Er hatte gewonnen. Sie wurde wütend. »Ich sehe nicht ein, was falsch daran sein soll, über den Tod der eigenen Tochter deprimiert zu sein.«
»Das hat niemand behauptet. Der Verlust eines Kindes gehört ebenso wie eine Ehescheidung zu den traumatischsten Ereignissen, die einem Menschen zustoßen können, und Sie haben beides erlebt. Aber es ist schon über ein Jahr her.«
»Darf man hier rauchen?« fragte sie unvermittelt.
Keegie zog belustigt die Stirn kraus. »Wenn es unbedingt sein muß. Aber Sie rauchen doch gar nicht.«
Jeni zuckte die Achseln, sah zur Seite. »Reine Neugier.«
Keegie legte ihre Akte auf einen Beistelltisch neben sich. »Jeni, Sie kommen in meine Sprechstunde, weil Sie nach Ihrem Selbstmordversuch bei mir hängengeblieben sind.« Jeni zuckte zusammen. Seine kühle, sachliche Art war ihr augenblicklich verhaßt. »... und eben weil ich als Psychologe auf Medikamente setze, bin ich in der Lage, Ihnen etwas für Ihre Stimmungen zu verschreiben. Sie brauchen keinen übersinnlichen Seelenklempner, Ihre Probleme liegen klar auf der Hand. Es geht darum, die Symptome zu behandeln. Wir können dazu Drogen verwenden, Clozapin und andere Medikamente, aber nur, wenn Sie sie auch einnehmen.«
»Ich brauche sie nicht!«
»Jeni ...«, außerordentlich nachsichtig, »Sie hatten letztes Jahr einen psychotischen Schub. Ihr Gehirn arbeitet noch nicht wieder normal. Ganz zu schweigen von der Überdosis ...«
»Warum fangen Sie dann immer wieder davon an?« Wut stieg in ihr hoch, als sie zurückdachte an die zwei Wochen, die sie zusammen mit Schizophrenen und Psychotikern in der psychiatrischen Abteilung des Veteranenkrankenhauses hatte zubringen müssen ... an die täglichen Besuche ihres Exgatten Brian, sein Gesicht voller Enttäuschung und Mitleid ...
Als läse er ihre Gedanken, beugte er sich vor und legte eine große Hand auf ihre Hände. »Jeni, bei Ihnen hat sich zur Zeit eine ganze Menge völlig berechtigter Ressentiments angesammelt, sicherlich auch gegenüber Brian. Es ist verständlich, daß sich ein Teil davon auf seine Freunde, auch auf mich überträgt. Deshalb denke ich, daß mein Umzug nach Washington – Ihr Wechsel zu Dr. Landon – vermutlich eine gute Sache ist. Wenn Landon Ihnen nicht zusagt, lassen Sie Helene jemand anderen für Sie aussuchen. Ich weiß, Sie vertrauen ihr.«
»Nein, Landon ist okay.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Druck. »Wissen Sie, wer das gemalt hat?«
Keegie folgte ihrem Blick. »Ja. Es ist ein Rothko. Es heißt Orange und Gelb.«
»Im Gegensatz zu Purpur und Violett.«
Keegie lächelte. »Machen Sie keine Witze. Er galt als bedeutender abstrakter Expressionist.«
Jeni stellte den Kopf schräg. »Ich verstehe so gut wie gar nichts von Kunst.«
Keegie musterte das Bild. »Sie müssen nichts von Kunst verstehen, um sie zu mögen.«
»Was bedeutet das, nur Orange und Gelb und sonst nichts, keine Schattierungen, kein Gegenstand?«
»Malerei muß nicht gegenständlich sein, um als Kunst zu gelten. Rothko experimentierte mit den Beziehungen zwischen Farben und war nicht so sehr daran interessiert, was passiert, wenn individuelle Pinselstriche vertraute Formen oder Objekte entstehen lassen. Er hat als Surrealist angefangen, ist dann aber zu weniger assoziativen Bildern übergegangen, zu großen, fließenden Farbflächen, die über der Leinwand zu schweben scheinen. Seine Farbe ist fast ... wie soll ich sagen ...?«
»Strahlend.«
»Gut. Eine sehr scharfsinnige Beobachtung. Sehen Sie, Sie verstehen mehr von Kunst, als Sie gedacht haben. Welches Gefühl erwecken diese leuchtenden, warmen Farben bei Ihnen?«
Jeni betrachtete den Druck. »Ruhe.«
Keegie nickte. »Ja. Hier ist eindeutig eine angehende Künstlerin im Raum.«
»Haben Sie das Bild hier hängen, weil es beruhigend auf Ihre Patienten wirkt?«
»Und sie sich somit wohl fühlen, genau.«
Jeni wandte sich von dem Druck ab. »Aber die Skizze von Ihnen beunruhigt mich. Wie erklären Sie sich das?«
»Sagen Sie's mir.«
»Es beunruhigt mich, hier zu sein, das ist alles. Ich habe meine Schuldgefühle wegen Molly wohl noch nicht überwunden.«
Keegie zuckte die Achseln. »Vielleicht haben Sie auch noch nicht ganz begriffen, daß Sie sich wegen Molly keine Vorwürfe zu machen brauchen. Weder Sie noch Brian. Daß keiner von Ihnen versagt hat. Daß es einfach passiert ist.«
»Das heißt, ich muß mich selbst freisprechen. So einfach ist das.«
»So klar. Nicht einfach. Ich fürchte, Ihre Zeit ist um ...« Er legte ihre Akte auf den Schreibtisch.
Während sie sich erhob, schrieb Keegie ein neues Rezept aus, riß es von seinem Block. »Hier. Und nehmen Sie es diesmal. Ich möchte Sie in zwei Wochen wiedersehen.«
»Wann findet der große Umzug nach Washington statt?«
»Ende des Monats. Sie werden mit Landon prima auskommen. Er ist ein netter Kerl, fragen Sie Helene.«
Daheim, das war ein verwittertes, mit Schindeln bedecktes, einstöckiges, gemietetes Haus in einem im Süden von San Diego gelegenen Viertel namens Ocean Beach, was freundlicher klang, als es war.
Seinen in den Sechzigern erworbenen Ruf einer Hippy-Hochburg hatte es nie ganz ablegen können, obwohl im Lauf der Zeit schleichende Veränderungen eingetreten waren: Über den Geschäften in der Alvarado Street prangten handgemalte Schilder, auf denen anstelle bunt bemalter Bongos und Haschpfeifen jetzt Surf-Utensilien angepriesen wurden. Dennoch fanden sich Überreste vergangener Zeiten in Form der unverändert grellen Farben der Geschäftsfassaden, des mit nur einer Leinwand ausgestatteten Kinos, das sich weigerte, zu schließen oder Kinopalästen mit mehreren Vorführsälen Platz zu machen, und in der Art, wie die Hauptstraße geradewegs in den grauen Sand und den morgendlichen Dunst des Pazifiks eintauchte. Die Einheimischen nannten es den Glanz der Armut. Man konnte saloppe Strandkleidung tragen, ein schäbiges Strandleben führen und sich doch einen gewissen herben Charme bewahren. In der Regel bekam man ein Häuschen mit Meeresblick für ein Drittel dessen, was man in Point Loma, Coronado oder Mission Beach bezahlte. Nach der Scheidung hatte Jeni Starbuck sich nichts anderes leisten können.
Sie betrat ihre kleine, glanzlose Sommerhütte und brachte eine scharfe Meeresbrise und Katzenfutter aus Ralph's Market mit. Mit dem Hintern stieß sie die Tür mit der abblätternden Farbe zu, dann langte sie hinter sich und legte den Sicherheitsriegel um. Armut mit Glanz, aber nicht einbruchssicher.