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Eine junge Frau zieht mit ihrem älteren Geliebten vorübergehend in das einsam gelegene Ostsee-Ferienhaus seiner Familie. Sie hat von Anfang an ein ungutes Gefühl, zumal im Dorf merkwürdige Dinge geschehen. Welche Rolle spielt der eigenartige Mann mit dem schwarzen Hund? Und was ist mit den Leuten aus der alten Schule, die manche für harmlose Wikinger-Fans, andere für gefährliche Neonazis halten? In einer Sturmnacht gerät ihr Leben vollends außer Kontrolle und nichts ist mehr so, wie es scheint. Eine seltsame und zugleich verstörende Entdeckung lässt längst Vergangenes in neuem Licht erscheinen. Es geht um Schuld, Rache und abgrundtiefen Hass.
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2020
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Wie die Gendarmerie bekannt gibt, kam es gestern am Küstenwanderweg bei Giens zu einem dramatischen Ereignis, bei dem ein Mann ums Leben kam und eine Frau verletzt wurde.
Bei dem Verunglückten handelt es sich um einen deutschen Pensionär, der seit vielen Jahren in Giens lebte und in der Nähe des romantischen Wanderweges ein Haus besaß.
Nach den Aussagen seiner Ehefrau war Martin V. (67) wie an jedem Morgen zu einem längeren Spaziergang entlang der Klippen aufgebrochen, aber nicht zur gewohnten Zeit heimgekehrt. Versuche, ihn auf dem Mobiltelefon zu erreichen, schlugen fehl, so dass Madame V. beschloss, nach ihrem Mann zu suchen.
Nach ca. einem Kilometer entdeckte sie ihn tief unten zwischen den Felsen liegend. Anstatt umgehend Hilfe anzufordern, begann sie, in Panik nach unten zu klettern und brachte sich dabei selbst in Gefahr. Ein zufällig vorbeikommender Wanderer informierte schließlich den Rettungsdienst, der neben dem Toten auch dessen zwar nur leicht verletzte, aber völlig verstörte Ehefrau bergen musste, die per Hubschrauber in die Klinik von Hyères geflogen wurde.
Die Gendarmerie weist noch einmal darauf hin, sich bei Unfällen nicht selbst in Gefahr zu bringen, sondern gleich die zuständigen Rettungskräfte zu informieren.“
Der Tag begann wieder einmal, bevor er richtig anfing. Obwohl die Sonne erst um kurz nach fünf Uhr aufgehen würde, hatte er sein Bett schon um halb vier verlassen und war mit dem Hund in Richtung Strand gelaufen.
Es lag nicht am beginnenden Vollmond, der ihn in dieser Nacht noch schlechter als gewohnt hatte schlafen lassen. Es war das Datum, das ihn schon so viele Jahre nicht zur Ruhe kommen ließ.
Es war ja keineswegs so, dass es ihm an den anderen Tagen richtig gut gehen würde, aber um den 20. Juli herum fühlte sich sein Innerstes an wie eine offene Wunde, in der jemand mit einem rostigen Messer herumbohrte und zwischendurch Salz hineinstreute.
Früher hatte er versucht, dem Tag durch ein grandioses Besäufnis zu entkommen, was die Sache letztendlich noch schlimmer gemacht hatte. Seit einigen Jahren mühte er sich nun, dem Tag mit Ignoranz zu begegnen, was aber nicht ansatzweise gelang.
Die rationale Stimme im Kopf, die immer wieder sagte, dass es nur ein Datum sei und nichts dadurch ungeschehen gemacht werden würde, indem er vor die Hunde ginge, war einfach zu leise. Der große schwarze Vogel, der ihm auf der Schulter saß, schrie sie immer wieder nieder und gewann jedes Mal. Am Strand war es um diese Zeit menschenleer. Selbst die Angler, die oft bis spät in die Nacht und im Morgengrauen in ihren Wathosen bis zum Bauch im Wasser standen, mussten irgendwann einmal schlafen, zumal sie eher an den Wochenenden anzutreffen waren. Auch auf dem Campingplatz, den er auf seinem üblichen Weg passieren musste, herrschte noch Ruhe. An normalen Tagen, wenn er später aufbrach, waren in dieser Jahreszeit immer schon ein paar Hundebesitzer auf ihrer Morgentour unterwegs.
Diese meist als Dauercamper residierenden Frühaufsteher grüßten freundlich und bildeten oft kleine Plaudergrüppchen, während die Vierbeiner ihr Geschäft verrichteten. Deren feststoffliche Hinterlassenschaften wurden nach Beendigung des Vorgangs vermittels schwarzer Plastiksäckchen aufgelesen und zum nächsten Abfallbehälter mitgenommen. Manchmal fand er sie auch im Gestrüpp der übernächsten Heckenrose hängend, was den Verrottungsprozess deutlich verzögern würde.
Einige der Hundebesitzer, zumeist weiblichen Geschlechts, hatten anfangs versucht, ein Gespräch mit ihm in Gang zu bringen. Wie alt der Hund denn sei, wie die Rasse wohl heiße, ob er ihn schon lange habe und dergleichen. Der Höflichkeit halber wurde alles knapp beantwortet und da keine Gegenfragen hinsichtlich des dem Gegenüber zugehörigen Vierbeiners folgten, scheiterten diese Annäherungsversuche bereits im Ansatz.
Als er an die Stelle kam, die für ihn wie kein anderer Ort auf ewig mit diesem furchtbaren Datum verbunden war, setzte er sich in den Sand, der sich um diese Tageszeit noch feucht und kühl anfühlte und schloss die Augen. Der Hund versuchte wie gewöhnlich, nach den Wellen zu schnappen und drehte sich nur ab und zu etwas ratlos blickend zu seinem Besitzer um, der heute die gewohnten Rituale völlig aus dem üblichen Ablauf brachte.
Während er dort mit geschlossenen Augen im taufeuchten Sand saß und nichts hörte, als das leise Plätschern der Wellen, schoben sich wie so oft die Bilder, die er so gern losgeworden wäre, in den Vordergrund. Damals, an jenem herrlichen Sommertag, als plötzlich nichts mehr so war, wie vorher. Als sein Leben zerstört wurde.
—
Dieser 20. Juli 2016, an dem Karen Berger die endgültige Diagnose erfahren sollte, war nach einer langen und kühlen Regenperiode ein richtiger Hochsommertag geworden. Das Thermometer stieg auf 27 Grad im Schatten und beim Verlassen des Uni-Klinikums dachte sie zu allererst, wie unfair es doch sei, eine derartige Botschaft an solch einem Tag zu erhalten. Erst dann hallten die furchtbaren Sätze, die sie vor wenigen Augenblicken gehört hatte, in ihrem Kopf nach: „Vielleicht vier Monate, maximal ein halbes Jahr. Inoperabler Hirntumor.“
Sie war nicht gleich nach Hause gefahren, sondern hatte sich an der Kiellinie genannten Promenade auf eine Bank gesetzt, um ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren. Keinerlei Hoffnung auf Heilung … Koordinations- und Sprachstörungen … eventuell Verlust des Sehvermögens … furchtbare Schmerzen … Persönlichkeitsveränderung … und dergleichen schlimme Möglichkeiten mehr.
Während ihr diese furchtbaren Worte im Kopf herumgingen, blickte sie an sich herunter auf ihre Hände, die ineinander verschränkt auf dem geblümten Stoff ihres Sommerkleides lagen.
Sie sah auf ihre Beine und ihre Füße mit den blauen Sandalen, die sie erst vor kurzem gekauft hatte und dachte unwillkürlich daran, dass sie sich nun nie wieder Schuhe zu kaufen brauchte.
Im blendenden Sonnenlicht glitt eine der großen Oslo-Fähren vorüber und Karen dachte daran, dass sie immer davon geträumt hatte, einmal mit einem Schiff der Hurtig Ruten die norwegische Küste hinaufzufahren.
Warum hatte sie es nie getan? Es gab so vieles, das sie nie getan hatte. — Diese bittere Erkenntnis ging ihr durch den Kopf, während sie der Fähre nachsah.
Direkt neben ihrer Bank versuchte eine Möwe, ein Stück Brot aus dem Papierkorb zu zerren. Die Dinge liefen weiter, als wäre nichts geschehen.
Die Möwe flog mit ihrer Beute davon und zwei Mädchen im Teenageralter setzten sich auf die Nachbarbank und amüsierten sich laut kichernd über irgendetwas auf ihren Smartphones. Karen Berger hätte sie am liebsten angebrüllt, dass sie gefälligst still sein sollten, denn sie, die hier saß, würde in absehbarer Zeit mit dreiundsechzig Jahren sterben.
Karen Berger hatte nie jemanden angebrüllt und tat es auch jetzt nicht. Sie stand auf und ging wie in Trance ziellos die Kiellinie an der Förde entlang, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. In ihrem Kopf drehten sich die Gedankenspiralen und ihr Herz klopfte so stark, dass sie es zu hören glaubte. Auf Höhe des Landtagsgebäudes kehrte sie um und schlug den Weg zum Parkdeck der Klinik ein.
„Haben Sie jemanden, der Sie abholt“, hatte der freundliche junge Arzt gefragt, als das Gespräch in der Neurologie geendet hatte.
Nein, da war niemand. Der einzige, den sie hatte, René, war mit Hateful Child, einer ziemlich erfolglosen Black Metal-Band, auf einem Open Air Festival irgendwo in Schweden. Er nannte sich zwar deren Produzent und Manager, aber wenn er davon hätte leben müssen, wäre er wohl längst verhungert.
Ihr einziger Sohn, der so viele Talente hatte und es doch nie schaffte, einmal etwas wirklich zu Ende zu bringen, um auf eigenen Beinen zu stehen.
Wovon er leben würde, wenn sie nicht mehr da war, darüber brauchte sie sich jedenfalls keinerlei Sorgen zu machen.
Ihr früh verstorbener Ehemann und Renés Stiefvater hatte ihnen mit den Mietshäusern und dem schuldenfreien Resthof, auf dem sie seit Jahren lebten, glücklicherweise ein gesichertes finanzielles Polster hinterlassen.
René würde also auch weiterhin so tun können, als sei er Musikproduzent und Manager und in der zum Tonstudio umgebauten Scheune düster klingende Songs aufnehmen, die vermutlich nur wenige Leute hören wollten.
In der ersten Zeit nach seinem Abitur war sie noch voller Hoffnung gewesen, dass irgendetwas Großartiges, etwas Kreatives aus ihm werden würde. Nach verschiedenen Studienabbrüchen und anderen gescheiterten Projekten hatte sie resigniert einsehen müssen, dass er für kontinuierliche, produktive Tätigkeiten nicht geschaffen war.
Ebenso wenig war es ihm gelungen, eine dauerhafte Beziehung mit irgendeinem anderen Menschen einzugehen. Und das würde nun mit Ende dreißig wohl auch nicht mehr zu erwarten sein. Zuerst hatte sie geglaubt, dass er schwul sei, was sie absolut nicht gestört hätte. Das war indes keineswegs der Fall. René ließ weder Männer noch Frauen näher an sich heran.
Offenbar lag etwas im Charakter ihres eigenartigen Sohnes, das ihn davon abhielt, anderen Menschen auch nur ansatzweise Sympathie entgegenzubringen. Auch seine Beziehung zu den Leuten von Hateful Child schien nicht von Zuneigung geprägt. Im Gegenteil: Wenn er von ihnen sprach, hießen sie meist „die Spacken“ oder „die Hirntoten“.
Karen Berger machte sich keine Illusionen mehr über ihren Sohn und doch liebte sie ihn über alles, war er doch das einzige, das ihr im Leben etwas bedeutete.
Als Karen Berger an diesem Morgen die Treppe ins Erdgeschoss hinabstieg, hatte sie eine Entscheidung getroffen. Nein, sie würde nicht abwarten, bis Sprachzentrum und Augenlicht zerstört wären oder sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Sie wollte auch nicht Wochen oder Monate unter Medikamenten verdämmern und in einem Hospiz den Tod abwarten. m Laufe der Jahre waren so viele Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerztabletten zusammengetragen worden, um sich mehrfach von dieser Welt verabschieden zu können. Das war in Gedanken schon oft durchgespielt worden.
Sie erinnerte sich an etliche Momente, in denen sie das dringende Bedürfnis verspürt hatte, für immer zu verschwinden.
Letztendlich war es aber doch der Gedanke an ihren Sohn gewesen, der sie im letzten Augenblick davon abgehalten hatte. Auch jetzt stand für sie fest, dass sie es so arrangieren würde, dass René sie unter keinen Umständen tot auffinden durfte.
Das Ganze musste an einem anderen Ort geschehen und René würde einen Brief von ihr bekommen, in dem sie ihm ihre Gründe und alles andere erklären würde.
In der Küche bereitete sie sich einen Becher Tee zu und nahm diesen mit nach draußen. Die Blütenpracht des Gartens hatte jetzt im Hochsommer ihren Zenit überschritten. Viele ihrer Lieblingsblumen waren bereits verwelkt und die hohen Temperaturen beschleunigten diesen Prozess zusätzlich. Malven, Phlox und Bartnelken sahen noch ganz gut aus und auch die honiggelbe Graham Thomas und andere öfter blühenden Rosensorten hielten der plötzlichen Hitze stand.
Um den Garten ist es wirklich schade, dachte sie. Auch dafür fehlte ihrem Sohn jegliches Interesse. Karen setzte sich auf eine Bank im Schatten der alten Linde, die wohl schon vor weit über hundert Jahren hier auf dem Hof gepflanzt worden war und dachte über ihr bald zu Ende gehendes Leben nach.
Wie lange wohnte sie jetzt hier? Über dreißig Jahre war es her, dass sie in Hamburg hinter einem Bartresen gestanden und zum zweiten Mal geglaubt hatte, nun ihren absoluten Traummann getroffen zu haben.
Damals war sie eine naiv-hoffnungsfrohe Schönheit gewesen, die noch immer davon träumte, die ganz große Liebe zu finden.
Einen Schneewittchen-Typ hatte jemand sie einmal genannt, mit langen schwarzen Haaren, einem halbherzig begonnenen Germanistikstudium und einem kleinen Jungen als Ergebnis ihrer ersten geplatzten Glücksblase.
Traummann Nummer eins war Internist mit eigener Praxis gewesen. Zwanzig Jahre älter als sie und verheiratet. Gut drei Jahre lang hatte er sie mit immer neuen Versprechungen hingehalten.
Wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus wären, wenn die Praxis besser liefe, wenn die Ehefrau ihre Depression überwunden haben würde und so weiter und so fort…
Es war nie geschehen. Er war wohl heute noch verheiratet, falls er noch lebte. René war das Ergebnis ihres naiven Versuches, ihn ganz an sich zu binden. Das Gegenteil war eingetreten.
Er hatte die Vaterschaft zunächst abgestritten und sich dann mit einer größeren Geldsumme ihr „ewiges Stillschweigen“ erkauft. Offiziell war der Kleine das Ergebnis einer Zufallsbekanntschaft, deren Aufenthalt sie nicht kannte.
Nur der Name René verwies indirekt auf den Erzeuger, wenn dies auch für Außenstehende nicht erkennbar sein durfte. Vielleicht könnte sie es in ihrem Abschiedsbrief verraten. Obwohl es René vermutlich völlig kalt lassen würde.
Im ersten Semester hatte sie irgendwo gelesen, dass ihr damaliger Lieblingsdichter Rilke seinen eigentlichen Vornamen René in Rainer abgeändert hatte.
Und da der einstige Traummann Rainer hieß, war dem Kind der wahre Name des Dichters zuteil geworden.
Ihr romantisches Geheimnis, über das sie sich manchmal im Stillen gefreut hatte. Immerhin konnte sie mit dem Schweigegeld eine gute und zeitlich flexible Tagesmutter für den Kleinen organisieren, so dass sie ohne größere Schwierigkeiten Kind, Job und Studium unter einen Hut bekam.
Und dann war eines Abends Traummann Nummer zwei in ihrer Bar erschienen. Gerhard Berger, nicht mehr ganz jung, umwerfend gut aussehend, charmant — und ledig.
Und wieder hatte sie all die schönen Worte geglaubt und sich ihren Wunschträumen hingegeben. Was sollte denn das unnütze Studium? Eine schöne Frau wie sie wollte doch wohl nicht in Bibliotheken oder Klassenzimmern verdorren. Und um den Jungen könne sie sich auch selbst viel besser kümmern, wenn sie mit ihm ginge. Ja, was sprach dagegen? Waren Liebe und Familie nicht ohnehin das allerwichtigste im Leben?
Es waren die 80-er Jahre und der Handel mit alten abgebeizten Möbeln, „Antikmöbel“ genannt, hatte gerade seinen Höhepunkt erreicht. Damit verdiente Gerhard Berger sein Geld. In einem Industriegebiet hatte er eine große Halle gemietet, in der er all die Truhen, Kommoden und Schränke lagerte, die er bei seinen Fahrten über die Dörfer für wenig Geld zusammengekauft hatte.
Die ursprünglichen Besitzer waren zumeist froh, wenn sie die alten Sachen nicht eigenhändig zum Sperrmüll an die Straße tragen mussten und freuten sich über die paar Mark, die sie dafür bekamen.
In der Halle wurden die Sachen von Adam und Janosch, zwei äußerst geschickten Polen, abgebeizt und wenn notwendig repariert, um anschließend in der Diele und Scheune seines Resthofes zum Verkauf angeboten zu werden. Wer zu der Zeit „in“ sein wollte, holte sich nostalgisch anheimelnde Stücke aus Omas guter Stube ins Haus und so lief das Geschäft hervorragend.
In dem großen alten Gehöft im Ostholsteinischen könnte auch sie sich wunderbar selbst verwirklichen, fand der Traummann. Malen, Batiken und Töpfern, Yoga-Kurse oder sonst was anbieten. Einfach kreativ sein eben. Das hatte sich zunächst alles phantastisch angehört und erschien ihr als Alternative zum Germanistikseminar und dem Job hinterm Bartresen geradezu traumhaft.
Nur zu gerne war sie ihm auf den Hof mit der alten Linde gefolgt, in deren Schatten sie nun saß und grübelte. Hier war auch die Hochzeit gefeiert worden. Ganz romantisch im Landhausstil.
Das große Glück hatte sich indes nicht einstellen wollen. Während ihr Mann in Geschäften unterwegs war, saß sie allein mit dem Jungen auf dem abseits des Dorfes gelegenen Gehöft.
Zu den Einheimischen gestalteten sich ihre Kontaktversuche schwieriger als gedacht, zumal sie die meiste Zeit mit dem Kind allein war. Die Frauen im Dorf sahen in ihr wohl eher eine attraktive Konkurrentin und ebenso hielt sich das Interesse an Batik- und Yogakursen in Grenzen.
Auch der Junge fand wenig Gefallen an der neuen Umgebung. Den Freuden des Landlebens konnte René absolut nichts abgewinnen.
Selbst die in Aussicht gestellte Anschaffung von Hund, Katze oder Kaninchen stieß bei ihm auf wenig Sympathie. Überhaupt erwies sich der Junge mit zunehmendem Alter als schwieriges Kind. Er interessierte sich weder für die Jugendfeuerwehr noch für Fußball oder andere Sportarten und Freizeitaktivitäten seiner Klassenkameraden. Anstatt durch Wald und Feld zu stromern, war er lieber allein in seinem Zimmer.
Am traurigsten stimmte sie jedoch das Verhältnis zwischen Sohn und Stiefvater. René hatte den Mann von vornherein abgelehnt und ging ihm wenn möglich aus dem Weg. Die Abneigung bestand allerdings auch von Seiten ihres Mannes.
Er hatte sich nie Mühe gegeben, den eigenartigen Jungen für sich einzunehmen und hielt es deshalb auch für unnötig, dem ungeliebten Stiefsohn seinen Nachnamen zu geben, weshalb er ihren Mädchennamen Leonhard trug.
Wortkarg, misstrauisch und verschlossen fand René auch in der Schule kaum Anschluss. Regelmäßig wurde sie zu Elterngesprächen zitiert, weil es ständig irgendwelche Konflikte mit Mitschülern und Lehrern gab. Auch wenn sie sich bemühte, ihren Sohn zu verteidigen, konnte sie etliche seiner Verhaltensweisen absolut nicht verstehen. War sein Stiefvater zu Hause, musste sie sich anhören, was für ein Versager René wäre und dass sie dies auch noch unterstützte. Auch an ihr selbst fand er immer mehr auszusetzen.
Ihr Traummann von ehedem ließ schon bald andere Seiten seines Wesens erkennen und erwies sich zunehmend als rechthaberisch, unzufrieden und kleinlich. Sie hatte gewiss ihr Möglichstes getan, um ihm zu gefallen und seine Wünsche zu erfüllen, doch zufrieden war er nie. Wenn er etwas getrunken hatte — und das kam mit der Zeit immer häufiger vor — konnte er ausgesprochen cholerisch reagieren.
Sie wusste, dass René und sein Stiefvater sich gegenseitig abgrundtief verabscheuten und ihre hilflosen Versuche, die Wogen irgendwie zu glätten, machten alles nur noch schlimmer.
Ihre Träume vom aktiven und kreativen Landleben waren alle nach kurzer Zeit zerplatzt. Letzten Endes musste sie feststellen, dass ihr Talent, Antrieb und Mut fehlten, um etwas von den Dingen in die Tat umzusetzen, die ihr ursprünglich vorschwebten.
Das einzige, was ihr wirklich gelang, war die Anlage eines recht ansehnlichen Gartens und der Ausbau des ehemaligen Schweinestalles zu zwei Ferienwohnungen, die sie an Urlauber vermietete.
Zu Beginn der 90-er Jahre hatte ihr Mann den Antikhandel aufgegeben und spekulierte stattdessen mit Häusern und Grundstücken.
Dabei waren ihre Ferienwohnungen aus steuerlichen Gründen sozusagen als Nebenprodukt abgefallen. Die Vermietung und der Kontakt mit den Feriengästen hatten ihr durchaus Freude gemacht.
Als René in die Pubertät kam, gab es zwischen ihm und seinem Stiefvater immer häufiger heftige Auseinandersetzungen, so dass die Familie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen musste. Um die Situation zu entschärfen, kam man letztendlich überein, dass es für alle das Beste wäre, wenn René in ein Internat käme.
So geschah es und der Junge war nun nur noch an den Wochenenden und in den Ferien zu Hause. Sie fürchtete sich vor diesen Zeiten, denn gerade weil sie René abgöttisch liebte, kam es immer wieder zu unerträglichen Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen allen Beteiligten.
Und dann geschah eines Tages das Unfassbare. Es war in den Osterferien und René lag mit Halsschmerzen im Bett. Er neigte zu derartigen Beschwerden, hinter denen sich aber nichts Ernsthaftes verbarg, wie der Hausarzt betonte.
Dr. Hansen hatte sogar einmal angedeutet, dass der Junge sich damit vielleicht nur die Aufmerksamkeit der Mutter sichern wollte. Am späten Nachmittag musste sie noch einmal in den nächst größeren Ort fahren, um Salbeitabletten und etwas zum Gurgeln aus der Apotheke zu holen.
Als sie zurückkam, fand sie ihren Mann, der tot am unteren Treppenabsatz lag. Er war kopfüber die steilen Stufen hinunter gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Die Obduktion ergab reichlich Alkohol in seinem Blut. René hatte von allem nichts bemerkt. Er lag mit Kopfhörern im Bett. In seinem Zimmer, das sich in einem weiter entfernten Teil des Hauses befand. René war im Internat geblieben, da er sich dort immerhin wohler zu fühlen schien, als im Gymnasium der nächsten Kleinstadt, das von den anderen Jugendlichen aus der Gegend besucht wurde. Er schien sich zeitweise sogar mit einem Mädchen angefreundet zu haben und schaffte letztendlich ein halbwegs anständiges Abitur.
Sie selbst hätte sich nach dem Tode ihres Mannes eigentlich ein neues, eigenes Leben aufbauen können. Sie wäre noch jung genug gewesen, um sich beispielsweise mit irgendetwas selbstständig zu machen.
Startkapital wäre vorhanden gewesen, wenn sie das Anwesen verkauft hätte und irgendwo in der Stadt neu angefangen wäre.
Hätte und wäre — diese Worte waren ihre stetigen Begleiter geworden. Hätte sie doch, wäre sie doch — aber sie hatte nicht und sie war nicht. Karen Berger blieb auf ihrem Hof und auch René kam nach kurzen Ausflügen immer wieder dorthin zurück. Er begann zu studieren, wechselte Fächer und Universitäten, lebte für kurze Zeit in einer sektenartigen Lebensgemeinschaft in der Eifel, begann eine Ausbildung zum Tontechniker, brach diese ab und kehrte mit Anfang dreißig endgültig auf den Hof zurück.
Finanziell kamen sie gut zurecht, da ihr Mann glücklicherweise eine Lebensversicherung zu ihren Gunsten abgeschlossen hatte und sie außerdem über etliche Mieteinnahmen verfügen konnte. Vor zwei Jahren ließ René dann einen Teil der Scheune schallisolieren und zum Tonstudio ausbauen. Mit einem seiner wenigen Bekannten, einem finster aussehenden Black Metal Drummer und dessen Band Hateful Child produzierte er hier deren CDs. Er pflegte auch die Homepage und begleitete die düstere Truppe zu ihren Auftritten.
René war noch genauso wortkarg und mürrisch wie in seiner Jugend und verhielt sich ihr gegenüber wenn auch nicht direkt ablehnend, so doch relativ gleichgültig. Trotzdem liebte sie diesen schmalen blassen Sohn, der ihre schwarzen Haare und die sonderbar hellen Augen seines Erzeugers geerbt hatte. Er war der einzige Mensch auf Erden, der ihr etwas bedeutete. Als ihr Mann damals verunglückte, galt sie durchaus noch als begehrenswert — und war es auch jetzt noch.
Dem Schwarz der Haare musste nun zwar nachgeholfen werden und um Mund und Augen hatten die Jahre Linien gezogen, doch konnte man sie noch immer als aparte, gut aussehende Frau bezeichnen.
Es waren auch durchaus Männer da gewesen, die sich für sie interessierten, doch sie wollte jeder weiteren Enttäuschung aus dem Wege gehen.
Die Jahre waren vergangen und als sie nun auf ihr Leben zurückblickte, kam ihr der Gedanke, dass sie vermutlich von niemandem vermisst werden würde, beinahe tröstlich vor. René würden wohl vor allem ihre Dienstleistungen fehlen, aber wen gab es sonst?
Ihre eigene Mutter war gestorben, als sie noch ein ganz junges Mädchen war und zur neuen Familie ihres Vaters war nie eine engere Bindung entstanden.
Nach des Vaters Tod war dann auch jeglicher Kontakt in diese Richtung unterblieben.
Ja, es gab durchaus ein paar Bekannte, aber wenn sie ehrlich sein sollte, steckte nicht viel dahinter. Ein Pflichtanruf zum Geburtstag oder zu Weihnachten, ein paar Höflichkeitsfloskeln hier und da, das war eigentlich alles.
Ihren Garten, den liebte sie. Der würde nach ihrem Weggang sicherlich verwahrlosen. René hatte sich noch nie für Pflanzen und Gärten interessiert.
Aber das war dann eben so. Vielleicht würde er das Anwesen ja auch verkaufen. Wer weiß, ihr konnte es letztendlich egal sein.
Karen Berger wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie einen Wagen die Auffahrt zum Haus hochfahren hörte. Die Post kam heute ungewohnt früh, dachte sie, während sie sich erhob und dem Postboten entgegenging, damit er die Sachen nicht erst in den Kasten werfen musste.
„Schön heiß heute“, sagte der junge Mann anstelle einer Begrüßung und übergab Karen einige Umschläge. „Ja, es wird nun wohl doch noch Sommer“, antwortete sie freundlich, während sie sich langsam umdrehte, um in Richtung Haus zu gehen.
Als sie ihre Küche durch den Seiteneingang betrat, fiel ihr Blick auf die Wanduhr, die dort über der Tür zum Flur hing und sie stellte fest, dass es schon viel später war, als sie vermutet hatte.
Dann war die Post ja doch nicht so früh, dachte sie, während sie die Umschläge auf den Tisch legte. Ich habe einfach die Zeit vergessen, während ich über mein nutzloses Leben nachgedacht habe. Dabei wurde ihr bewusst, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte und während sie Wasser für einen weiteren Tee zum Kochen brachte, füllte sie Milch und Müsli in ein bräunliches Keramikschälchen, das aus ihrer Töpferphase übrig geblieben war.
In der Scheune, die jetzt als Tonstudio diente, war damals eine kleine Werkstatt mit Drehscheibe und Brennofen eingerichtet worden und sie war zunächst voller Enthusiasmus ans Werk gegangen.
Aber ebenso schnell wie sie dieses neue Hobby entdeckt hatte, war das Interesse daran wieder erlahmt und das einzige, was daran erinnerte, waren etliche Gefäße, Schalen und Vasen, die anschließend in den Hausgebrauch überführt worden waren.
Nachdem sie gegessen hatte, griff sie nach dem Poststapel. Obenauf lag das Schreiben einer ortsansässigen Zimmerei. Ob sie sich mit dem Kostenvoranschlag für den geplanten Bau eines Carports für die Ferienwohnungen überhaupt noch beschäftigen sollte? Die Werbung eines Möbelhauses legte sie ungeöffnet zur Seite.
Eine Zahnarztrechnung für den Eigenanteil an einer Krone musste ja wohl oder übel bezahlt werden, auch wenn es angesichts der jetzigen Situation hinausgeworfenes Geld war.
Da René dieses Haus auch während seiner zwischenzeitlichen Ausflüge in ein eigenständiges Leben nie als Hauptwohnsitz aufgegeben hatte, war all seine Post stets hier gelandet.
An ihn gerichtet waren ein Schreiben des Finanzamtes, das vermutlich eine Aufforderung zur Abgabe seiner Steuererklärung enthielt und eine Postkarte.
Es war wieder eine von diesen kryptisch anmutenden Botschaften, die René schon seit mindestens zwanzig Jahren in ziemlich großen Zeitabständen erhielt und deren Inhalt und Absender sich ihr nie erschlossen hatten.
Ihren Sohn diesbezüglich zu fragen, wäre ihr nie eingefallen, denn sie kannte die Antwort. „Geht dich nichts an“, hätte René gesagt, denn dies war stets seine Antwort auf alle ihn betreffenden Fragen gewesen.
Immer Kunstpostkarten mit Motiven voll düsterer Todessymbolik. Auf dieser war es das Memento-Mori-Gemälde Stillleben mit Schädel eines französischen Barockmalers. Zu sehen war ein Totenschädel, eingerahmt zwischen einer Sanduhr und einer Tulpenblüte in einer kleinen gläsernen Vase.
Vom Motiv her passte es zu den anderen, denn sämtliche Postkarten, die ihr in Erinnerung geblieben waren, hatten alle ähnlich verstörende Darstellungen gehabt.
Füsslis Nachtmahr und andere Bilder der schwarzen Romantiker, aber auch der Schrei von Edvard Munch und Dürers Apokalyptische Reiter waren darunter gewesen.
Irgendwie passte das Ganze aber auch zu ihrem finster dreinblickenden verschlossenen Sohn, dem es offenkundig an jeglicher Art von positiver Energie und Lebensfreude mangelte.
Was bei manchen Jugendlichen als vorübergehende Phase abgetan werden konnte, zeigte sich bei René als dauerhafte Charaktereigenschaft.
Die Texte auf den Rückseiten der sonderbaren Postkarten waren ihr völlig unklar geblieben und bestanden hauptsächlich aus einer Reihe von Zahlen und einem unverständlich erscheinenden Satz auf Englisch.
Vermutlich aus irgendeinem dieser wirren Songtexte, die er bevorzugte.
Etwas an der Karte von heute schien jedoch anders zu sein. Unterhalb der Zahlenreihe befand sich eine zusätzliche Textzeile auf Englisch, die aus ihrer Sicht erst recht keinen Sinn ergab. „René wird es wohl wissen“, murmelte sie, während sie in Richtung Hausflur ging.
Eine große grüne Keramikschale aus eigener Produktion, die auf der Kommode neben dem Treppenaufgang stand und in der sich bereits einige an ihren Sohn adressierte Briefe befanden, fing auch das Stillleben mit Schädel auf.
Wenn René von seiner Tour zurückkam, würde er den Stapel wie üblich mit nach oben nehmen. Irgendwann in absehbarer Zeit, wenn er wieder einmal für ein paar Tage fort war, würde auch ein Brief von ihr in ebendieser Schale liegen.
Er konnte kaum atmen und glaubte, jeden Moment zu ersticken. Das formlose dunkle Wesen, das erdrückend und schwer auf ihm lastete und seinen Körper lähmte, hatte wie üblich weder Gesicht noch Form.
Es bewegte sich nicht, es gab keinen Laut von sich, bereitete ihm aber gerade wegen dieser diffusen Gestaltlosigkeit eine abgrundtiefe Angst. Der Versuch zu schreien, geriet wie üblich zu einem gepressten „Nein, nicht, weg“, woraufhin etwas Feuchtes über seine Hand fuhr und er langsam zu sich kam. Wie immer nach diesem Traum, der ihn zumeist kurz vor dem Aufwachen einholte, lag er für einen Moment wie betäubt auf dem Rücken und versuchte, in der Realität des Raumes anzukommen.
Es war noch ganz früh am Tag, die Morgensonne schien durch die hellen Vorhänge und neben ihm auf dem Fußboden saß der Hund und leckte mit der Zunge über seine Hand.
Auch wenn die Abstände zwischen den Träumen mit der Zeit größer geworden waren, verwiesen sie ihn immer wieder auf die Abgründe, die er nur allzu gut kannte. Es gab noch so vieles, das ihn aus dem Gleichgewicht bringen und ihm wieder den Boden unter den Füßen wegziehen konnte.
Gelegentlich passierte es nach dem Albtraum, dass er für Stunden unfähig war, etwas Sinnvolles zu tun, geschweige denn etwas Brauchbares auf das Papier zu bringen. Für ihn war das unförmliche, dunkle und erdrückende Wesen der furchteinflößende Alb seiner Kindheit.
Seine ältere Schwester, die leider viel zu jung gestorben war, hatte ein ererbtes Bilderbuch besessen, in dem die Hauptfigur nachts von einem derartigen Wesen heimgesucht wurde.
Der Alb saß auf der Bettdecke und quälte sein Opfer, indem er dessen Missetaten aufzählte. „Nachts da kommt der Alb im Schlaf, Liese, warst du denn auch brav… “ Heutige Eltern würden ein solches Machwerk wohl auf den Index der verbotenen Bücher setzen, aber damals durfte man Kinder noch mit solchen Bildern erschrecken. „Komm Bonzo, weg mit dem Mist. Raus an die Luft“, murmelte er, indem er aus dem Bett stieg und versuchte, seine Schultern zu straffen.
„Jetzt auf keinen Fall nachgeben. Nichts wird besser, weil es mir schlecht geht“, befahl eine innere Stimme, worauf er sich aufrichtete und in Richtung Haustür ging. Der Hund, ein mittelgroßes schwarzes Tier unbestimmter Rasse, drängte sich an ihm vorbei und wartete an der Verandatür, um gleich darauf ins Freie zu stürmen.
Wie jeden Morgen ließ er, bevor er sich einen Kaffee aufbrühte, zuerst den Hund ins Freie. Seit er hier wohnte, hatte er sich einen klar durchstrukturierten Tagesablauf verordnet und festgestellt, dass diese Regelmäßigkeit ihm Halt und Sicherheit gab.
Die Zeiten, die er in dumpfer Verzweiflung verdämmert oder in hektischer Betriebsamkeit von Ort zu Ort gezogen war, gehörten zum Glück der Vergangenheit an. Aber er wusste, dass der Abgrund, der ihn jederzeit wieder herabziehen konnte, immer nah sein würde.
Er folgte dem Hund und blieb auf der Veranda stehen, um tief Luft zu holen. Hier, wo sich die sprichwörtlichen Füchse und Hasen „Gute Nacht“ sagten, konnte er morgens bedenkenlos kaum bekleidet ums Haus gehen, ohne Gefahr zu laufen, irgendwelche Nachbarn oder Spaziergänger zu irritieren. Sein Haus bildete den Abschluss des befestigten Weges, der in die eine Richtung weiter in den Wald führte und entgegengesetzt nach etwa zwei Kilometern auf den Strand zulief, auf etwa halber Strecke dorthin bog man zum Dorf ab.
Von seiner Veranda aus war lediglich ein weiteres Haus zu sehen, das aber die meiste Zeit leer stand.
Die Familie, die es als Sommerhaus nutzte, ließ sich glücklicherweise nur selten blicken. In den letzten Sommerferien war wieder einmal die Frau da gewesen, die früher immer mit ihren Kindern gekommen war. Die waren nun wohl schon erwachsen, denn diesmal war sie in Begleitung eines mittelalten Paares angereist.
In früheren Jahren hatte sie noch versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber schnell gemerkt, dass er seine Ruhe haben wollte.
Somit waren es lediglich die Kinder gewesen, die manchmal einen Ball in die Nähe seines Hauses schossen, diesen schnell einsammelten und kreischend davonrannten.
Nachdem er einen Becher Kaffee getrunken hatte — stehend in die Beobachtung eines mit Tautropfen verzierten Kreuzspinnennetzes vertieft — befüllte er Bonzos Futternapf und stellte diesen auf die Holzdielen der Veranda. Ein kurzer Pfiff genügte und der Hund kam um die Hausecke gerannt.
Auch das Tier kannte die geregelten Abläufe seines Besitzers und wusste, dass dieser nach einem Aufenthalt im Badezimmer fertig angezogen vor die Tür treten und mit ihm in Richtung Strand marschieren würde.
Ganz gleich, wie das Wetter auch sein mochte, liefen die beiden täglich um die gleiche Zeit den Weg zum Wasser, um von dort am Strand entlang in Richtung Campingplatz zu gehen.
Obwohl der diesjährige September noch einen verspäteten Sommer mitbrachte, hatten die Dauercamper ihre Wagen bereits sturmfest gemacht oder ins Winterquartier geschafft. Tagesgäste verirrten sich ohnehin nicht an diesen Teil des Strandes, da der nächste Parkplatz zu weit entfernt lag. Im Sommer begegneten ihm außer den Campern höchstens vereinzelte Angler, Natur- und Vogelfreunde.
Anfangs hatte er sich zwingen müssen, in die Nähe der Stelle zu gehen, die ihn zugleich anzog und abstieß, aber inzwischen war der Besuch dieses Ortes zum festen Ankerplatz in seiner Tagesordnung geworden.
Das bewusste Stück Strand lag hinter dem Abschnitt, den die Bewohner des Campingplatzes für gewöhnlich nutzten. Nichts deutete auf die Qualen hin, die ihm dieser, anderen Menschen völlig bedeutungslos erscheinende Platz bereitete.
Inzwischen hatte er ein Ritual entwickelt, um die Zeit, die er hier täglich verweilte, zu füllen. Zunächst ging er eine Weile umher, um zwei besonders schöne, glatte Steine zu finden, die er anschließend still betrachtete und in seinen Händen erwärmte, um sie dann mit ausholender Bewegung möglichst weit in die Ostsee hinaus zu schleudern.
In den ersten Monaten waren es eher wütende Gebärden gewesen, die dieses Tun begleiteten, aber mittlerweile wirkten seine Handlungsabläufe fast wie ein meditatives spirituelles Ritual.
Bonzo, der immer wieder versuchte, den Steinen nachzujagen, kam auch heute wieder unverrichteter Dinge aus dem Wasser zurück, wurde aber mit einem Stück Holz entschädigt, das extra zum Apportieren hinein geschleudert wurde.
Nachdem der Hund sich ausgetobt hatte, ging es zum Haus zurück, wo ein zweiter Becher Kaffee und zwei Scheiben Brot das tägliche Frühstück abgaben.
Auch hier waren Überraschungen ausgeschlossen. Er belegte die erste Schnitte mit einer Scheibe Käse, um die zweite mit etwas Marmelade zu bestreichen. Selbst hergestellt aus den Brombeeren, die er an den Knickwällen gesammelt hatte.
Pünktlich um neun Uhr begann die Arbeit. Sein Zeichentisch stand im Obergeschoss unter dem Giebelfenster Richtung Südwest, von wo er nur auf die Bäume des nahen Waldes blicken konnte.
Es war ihm wichtig, die Zeiten von Arbeit und Nichtarbeit auch räumlich zu trennen, da er aus seinen schlimmen Phasen wusste, dass er sich verzetteln und ablenken würde, wenn er beide Sphären vermischte. Ordnung und Struktur waren seine Rettung gewesen, dessen war er sich sicher. Als er wie jeden Tag um 13.00 Uhr wieder in der Wohnküche erschien, um sich eine Kleinigkeit zum Essen zu machen, sprang Bonzo von außen mit den Vorderpfoten gegen die Verandatür.
Auch dies ein sich täglich wiederholender Vorgang. Der Hund verlangte nach ein wenig Gesellschaft und Unterhaltung, nachdem er die Zwischenzeit dösend auf der Terrasse verbracht und ein wenig auf dem Grundstück herumgeschnüffelt hatte.
Das Mittagessen bestand aus einem Stück Obst, welches klein geschnitten mit Haferflocken, gehackten Nüssen, Sonnenblumen- und Kürbiskernen mit Kefir verrührt wurde.
Auch hier gab es keine Experimente und er hatte festgestellt, dass er dieser Mahlzeit nie überdrüssig wurde, zumal das Obst je nach Saison wechselte. Nach Beendigung der Mahlzeit folgte wieder eine Tour mit dem Hund. Nun führte sein Weg in den Wald, wo es keine Rituale zu absolvieren gab. Stattdessen überlegte er, was heute noch zu erledigen war. Auch was die notwendigen Haushaltstätigkeiten betraf, hatte er sich eine gewisse Regelmäßigkeit auferlegt. Montags fuhr er mit seinem alten Volvo zum Einkaufen, mittwochs war die Wäsche dran, freitags reinigte er die Fußböden und das Bad.
Als er heute am frühen Nachmittag aus dem Wald zurückkam, sah er, dass neben dem Nachbarhaus ein Wagen stand. Es war der hellgraue Golf des Mannes aus dem Dorf, der dort regelmäßig nach dem Rechten sah, Rasen mähte und Büsche stutzte. Auch die dazugehörige Frau war vor ein paar Tagen hier gewesen und hatte Fenster geputzt. Er war ihr begegnet, als er vom Strand zurückkam und sie gerade die Mülltonne an den Weg gestellt hatte.
„Na, nun kriegen Sie hier mal Nachbarn für länger“, hatte sie ihm zugerufen. Wenn du wüsstest, wie gut ich darauf verzichten kann, war es ihm durch den Kopf gegangen, aber er hatte sich bemüht, der Frau zumindest freundlich zuzunicken.
Er wusste, dass die Dorfbewohner ihn für einen verschrobenen Schrat hielten, der sich weder im Dorfkrug noch bei irgendwelchen Veranstaltungen sehen ließ.
Als er das Haus vor Jahren gemietet hatte, war er froh gewesen, keine direkten Nachbarn zu haben. Die seltenen Gäste nebenan waren nur kurzfristige und deshalb erträgliche Störungen und er hatte absolut kein Bedürfnis nach Kontakt und Unterhaltung. Die letzte Bewohnerin seines Hauses hatte die Einsamkeit aus Altersgründen aufgeben müssen und ihre Erben hatten selbst keinen Bedarf dafür gehabt. Er wertete es als schicksalhaften Zufall, dass er ausgerechnet hier einen Ort gefunden hatte, an dem er endlich zur Ruhe kommen konnte.
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„Nimmt das denn überhaupt kein Ende“, seufzte die jüngere der beiden Frauen, die im Septembersonnenschein im Hof eines kleinen Siedlungshauses saßen und Zwetschgen entsteinten. Auf einem Hocker vor ihnen stand ein noch halb mit den blauen Pflaumen gefüllter Eimer, in den beide zügig hineinlangten, um dann Kern und Fruchtfleisch getrennt in zwei daneben stehende Behältnisse zu werfen.
„Nun stell dich mal nicht so an, schließlich wollt ihr nachher auch einige Gläser von meinem Pflaumenmus abhaben. Und das kocht sich nicht von selbst“, erwiderte die Ältere.
„Und überhaupt, ist doch mal ganz nett, wenn Mutter und Tochter ein bisschen was zusammen machen. Und dann noch bei diesem Wetter. Hätte auch keiner gedacht, dass es nach diesem schlechten Sommer noch so schön werden würde. Die Urlauber, die im Juli und August hier waren, konnten einem ja direkt leidtun.“ „Stimmt, wer jetzt in der Nachsaison hier ist, hat noch mal so richtiges Sommerwetter. Und außerdem den Strand fast für sich alleine. Ach übrigens Mama, wo wir gerade von den Urlaubern sprechen, wann kommt denn euer Herr Dr. Melfs oder wie der heißt? Wollte der nicht heute anreisen?“
„Delfs, Martina, nicht Melfs. Hanno Delfs. Ja, er wollte eigentlich so gegen vier, halb fünf hier sein und den Schlüssel abholen. Papa ist ja noch mal runter zum Haus und bringt ´ne Fuhre Kaminholz hin, damit sie über den Winter genug zum Heizen haben. Aber du weißt ja, wie das ist auf der A 7 mit den ewigen Staus und Baustellen. Da kann man sich ganz schön verschätzen mit der Fahrzeit.“
„Und er kommt jetzt direkt aus den USA? Ich kann mich gar nicht erinnern, den hier früher gesehen zu haben. Oh, jetzt ist mir ein Kern in den verkehrten Eimer gefallen.“
Die mit Martina angesprochene Frau bückte sich, um den Fehler zu beheben, während ihre Mutter sich die Hände in einem Geschirrhandtuch abwischte, um erst einmal eine Zigarette zu rauchen.
„So, kurze Pause. — Na, dass du Hanno nicht kennst, liegt daran, dass du zu jung bist. Lass mich mal nachdenken“, überlegte sie, nachdem sie einen Zug genommen und den Rauch langsam in Richtung Himmel geblasen hatte.
„In den ersten Jahren, in denen die Delfs alle Ferien und Wochenenden unten im Haus verbrachten, gab es dich noch gar nicht. Und dann später, da waren die Delfs-Kinder Teenager und du ein kleines Mädchen. Die waren sowieso meistens mit den Enkeln von den alten Lührsens zusammen, die in dem Haus dahinter wohnten, das jetzt dieser Waldschrat gemietet hat. Die waren ungefähr im selben Alter und auch in allen Ferien hier. Zu den Jugendlichen hier im Dorf war nicht viel Kontakt, glaube ich jedenfalls. Höchstens mit Kathrin Jansen und Stefanie Petersen. Und vielleicht noch Matthias, der Sohn vom Kaufmann, der jetzt mit Anke Gerdsen verheiratet ist.“
„Mama“, kam es von der Tochter, die das Wort betont lang zog, „du wolltest von Hanno Delfs erzählen und nicht die Lebensgeschichte von Matthias.“ „Ja, ich weiß, ich weiß“, schmunzelte Helga Ewers.
„Also, irgendwann Anfang der 90er machte Hanno Abitur und ging weg zum Studieren. Von da an kamen dann nur noch die Schwestern mal her. Und als der Vater tot war — der hat ja seine Pension nicht mehr erlebt — stand das Haus die meiste Zeit leer. Papa und ich haben uns ja immer darum gekümmert, das weißt du ja. Frau Delfs ging es nicht gut, sie kam jedenfalls nach dem Tod ihres Mannes nie alleine her. Ist auch nicht alt geworden, die arme Frau. Toni aus Berlin ist mit Freunden ab und zu noch mal gekommen. Und Elisabeth mit ihren Kindern war in den Ferien oft hier. Sie wohnt ja in Köln und ist mit einem Rechtsanwalt verheiratet — oder ist er Staatsanwalt?“
„Halt, fang nicht schon wieder an abzuschweifen“, lachte die Tochter. „Ich wollte nur etwas über den berühmten Hanno wissen. Also, wie war das? Der war sogar im Fernsehen?“
Helga Ewers hatte ihren Zigarettenstummel inzwischen in einem umgedrehten Blumentopf versenkt und widmete sich wieder den Pflaumen.
„Jawohl, war er. Und zwar vor gar nicht so langer Zeit. Irgendwas über die alten Wikinger und ihre Götter. Und er war da in der Sendung als so eine Art Experte für sowas. Hat das ja wohl studiert.“
Sie warf die letzte Pflaume in den Topf und erhob sich von der Bank. „So Martina, fertig. Du bringst die Steine weg und ich geh schon mal und setz Kaffee auf. Was meinst du, das sind bestimmt über fünfzehn Kilo geworden, oder?“ „Könnte hinkommen, aber ich bin nicht so gut im Schätzen. Und da will er dann monatelang alleine hier in der Einsamkeit hocken und schreiben? Der Hanno, meine ich.“
„Er erzählte in der Sendung, dass er in den USA schon sehr viel Material gesammelt hat und nun hier her gekommen ist, um im alten Ferienhaus seiner Familie in Ruhe arbeiten zu können. Ich glaube allerdings, das ist nicht der einzige Grund. Aber lass uns drinnen weiterreden, ich will mir jetzt erstmal die Hände waschen.“ In der Küche befüllte die Mutter gerade die Kaffeemaschine, als die Tochter hereinkam und das kurz vorher unterbrochene Thema wieder aufnahm.
„Du sagtest etwas von einem anderen Grund. Mach es nicht so spannend, sonst steht er in der Tür, bevor du es erzählt hast.“
„Also, im Sommer war doch die Elisabeth wieder hier und die hat mir erzählt, dass Hanno sich drüben in Amerika von Judith, das ist seine Frau, getrennt hat, weil er eine Jüngere hat. Eine wesentlich Jüngere wohl. Auch eine Deutsche, die drüben an derselben Uni war. Und weil das auf Dauer nicht gut gehen würde, haben er und die Neue beschlossen, erstmal nach Deutschland zurück zu gehen.
Aber Elisabeth meinte auch, dass ihr Bruder wohl darunter gelitten hatte, dass seine Frau schon eine ganze Weile Professorin war und er immer noch wissenschaftlicher Mitarbeiter oder wie das heißt. Ich kenne mich an Unis ja nicht aus, aber er war wohl schon länger ziemlich unzufrieden. Sagte jedenfalls seine Schwester.“
„Na, dann kam die neue Liebe ja gerade recht. Und wovon wollen die hier leben? Auch wenn sie umsonst wohnen, nur von Luft und Liebe geht es auf die Dauer wohl auch nicht. — Oh, ich glaube da kommt Papa.“ „Dann mach ich es jetzt mal kurz. Du weißt ja, Papa mag es nicht, wenn wir uns über anderer Leute Angelegenheiten das Maul zerreißen, wie er es nennt. Hanno hat wohl damals sein Erbteil irgendwo angelegt und kommt damit eine ganze Weile längs, bis er sich neu sortiert hat, meint seine Schwester.
Und seine Neue macht irgendwelche Übersetzungen, mit denen sie Geld verdient. Das ist ja heutzutage alles von zu Hause aus möglich, egal wo man lebt.“
Im selben Moment öffnete sich die Tür zur ehemaligen Waschküche, von Martina konsequent Hauswirtschaftsraum genannt, und Jens Ewers ließ sich mit einem lauten Ächzen auf seinen Stammplatz in der Fensterecke fallen.
„Na mien Deern, lütt beten wat vun Modders Plummen afgriepen“, kam es anstelle einer Begrüßung, worauf die so Angeredete konterte: „Von wegen abgreifen. Ich habe mir meinen Anteil redlich verdient, Papa.“
„Na, denn gib deinem alten Vater man erstmal´n Kaffee. — Ich dachte, die Amis wären längst hier. Jedenfalls sollen sie nicht frieren, Holz haben sie nun genug. Und im Kühlschrank ist auch eine Notfallration für Abendbrot und Frühstück. Gibt ja hier in der Gegend abends nichts mehr. — Willst du schon los, Martina?“ „Ja, wird langsam Zeit für mich. Thomas war bei seinen Eltern und Nele ist mit ihrer Clique unterwegs. Die müssen bald zurück sein. Wir wollen heute Abend noch Pizza essen gehen. Tschüss erstmal. Und bei Gelegenheit werde ich die Amis, wie du sie nennst, ja wohl auch mal zu sehen kriegen.“
„Ganz bestimmt“, antwortete Jens Ewers, „die bleiben ja wohl für länger. — Sag mal Martina, kann das sein, dass ich Nele vorhin mit dem Jüngsten von Thiessen aus Lehmholz zusammen gesehen habe? Wie ´ne Clique sah das eigentlich nicht aus“, schmunzelte er.
„Naja, mit fünfzehn ist man schließlich kein Kleinkind mehr. Wir waren ja alle mal jung“, fügte er hinzu, um sich dann seinem Kaffeebecher zu widmen.
„Ach, also doch“, erwiderte die Tochter. „Hauptsache, sie gurken nicht wieder mit Danny, Patricks älterem Bruder, im Auto durch die Gegend. Der fährt nämlich wie ´ne gesengte Sau.
Wir haben ihr das strengstens verboten. Paddy, also Patrick, ist ganz vernünftig. Und, wie gesagt, sie ist schließlich kein Kind mehr. — So, nun wird es Zeit. Tschüss jetzt aber endgültig“.
Und während Jens und Helga Ewers ihrer Tochter wohlwollend nachblickten und fast gleichzeitig wie aus einem Munde „tschüss Martina und grüß schön“ riefen, verschwand die junge Frau aus der elterlichen Küche.
Als Wera erwachte, war es noch ziemlich früh und es dauerte einen Moment, bis sie sich zurechtgefunden hatte. Links neben sich hörte sie Hannos ruhige Atemzüge und konnte sehen, dass er noch fest schlief. Während ihre Augen in dem fremden Zimmer umherwanderten, ging ihr zum wiederholten Male der Gedanke durch den Kopf, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, Hanno in diese Einöde zu folgen.
Und das insbesondere, als jetzt der Sommer definitiv zu Ende war und die dunkle Jahreszeit bevorstand, die hier an der Küste recht häufig von Regen und Sturm begleitet wurde.
Aber was wäre die Alternative gewesen? Hätte sie sich in Hamburg ein Zimmer nehmen sollen? Auch dieser Gedanke gefiel ihr ganz und gar nicht, zumal sie viel zu verliebt in den Mann war, der neben ihr im Bett lag. Ein zärtlicher Blick streifte seine im Schlaf entspannten Gesichtszüge, die im wachen Zustand oft so angestrengt wirkten.
Trotz der nicht mehr zu übersehenden grauen Spuren im dunkelblonden Haar, verlieh der Schlaf ihm einen jungenhaften Ausdruck, der jedoch tagsüber oft hinter einer grüblerischen Fassade verschwand. Er hatte sich diesen Schritt in ihrer beider neues Leben nicht leicht gemacht, das wusste sie. Aber sie war sich auch klar darüber gewesen, dass es so nicht weitergehen konnte. Judith war zutiefst in ihrer Ehre gekränkt worden. Als Ehefrau und — was mindestens ebenso schwer wog — als Professorin und Weras Promotionsbetreuerin.
Die Mehrheit der Freunde und Kollegen war auf Judiths Seite gewechselt, die zu allem Überfluss Beth Colebright, die Dekanin der Universität, zur besten Freundin hatte. Hanno, der ewige Lecturer und sie, die kleine Doktorandin von Frau Professor Dr. Judith Döring-Delfs — das ganze Institut, inklusive der Studenten, hatte darüber getratscht.
Näher gekommen waren sich die beiden bei einer Exkursion nach L'Anse aux Meadows, einer antiken isländisch-grönländischen Siedlung auf Neufundland. Die im Jahr 1961 von norwegischen Forschern entdeckte Siedlung war vermutlich um das Jahr 1000 von Leif Eriksson, dem Sohn des legendären Erik des Roten, angelegt worden und galt als Beleg dafür, dass die ersten Europäer auf dem Kontinent die Wikinger waren.
Hanno hatte ein Seminar zu den Vinland-Sagas abgehalten, in denen die Abenteuer rund um die Entdeckung Grönlands und Nordamerikas beschrieben werden. Den Abschluss und Höhepunkt des Seminars sollte die einwöchige Exkursion in den Nordosten Kanadas sein. Sie, Wera, hatte ganz plötzlich für eine andere Doktorandin einspringen müssen, die der Thematik eigentlich näher stand, sich aber kurz vor Reisebeginn beim Joggen einen Bänderriss zugezogen hatte. Jenny Olsen schrieb eine Dissertation über die Rolle der Frau in den Vinland-Sagas und Wera hatte sich kurzfristig mit der Thematik vertraut machen müssen, um für eventuelle Fragen der Studenten gewappnet zu sein.
Dass es neben den männlichen Helden in den Vinland-Sagas auch prominente Frauen gibt, die keineswegs in Nebenrollen auftreten, war ihr auch neu.
Tatsächlich nimmt die Figur der Guðriðr Þorbjarnardóttir in den Sagas eine ziemlich wichtige Stellung ein, die sich nicht nur dadurch kennzeichnet, dass sie in Vinland einen Sohn zur Welt bringt, den ersten in Nordamerika geborenen Europäer.
Weras eigenes Thema war in der Abteilung für neuere Skandinavische Literatur angesiedelt, die von Frau Professor Dr. Judith Döring-Delfs geleitet wurde und in ihrer Doktorarbeit ging es um mögliche Einflüsse der altnordischen Mythologie auf den modernen skandinavischen Kriminalroman.
Trotz des relativ unbekannten wissenschaftlichen Terrains rund um die Vinland-Sagas hatte Wera Lust gehabt, die Exkursion zu begleiten, da es in erster Linie darum ging, eine weibliche Betreuung für die Studentinnen dabei zu haben. Am zweiten Abend hatten sie in ihrem B&B-Quartier zusammen gesessen, einen Dokumentarfilm über die Ausgrabungsfunde angesehen und Themen für die Essays verteilt, die im Anschluss an die Exkursion zu schreiben waren. Danach saß man noch zusammen, trank etwas und redete über Gott und die Welt.
Wera merkte an diesem Abend zum ersten Mal, dass Hanno sie ziemlich oft anblickte und als sie vor dem Schlafengehen noch vor die Tür gegangen war, um Luft zu schnappen, hatte er plötzlich neben ihr gestanden.
„Ich weiß, das hört sich jetzt an, wie ein Anmachtipp aus einem schlechten Flirtratgeber“, hatte er gesagt, „aber es stimmt wirklich. — Du erinnerst mich unglaublich an meine allererste große Liebe.“
„Und“, hatte sie halb amüsiert erwidert, „was ist daraus geworden?“ „Absolut nichts“, hatte er lachend geantwortet. „Ich war siebzehn und sie war zweiundzwanzig, verheiratet und sogar schon Mutter. Ich glaube, sie hat mich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.“
Es war eine kalte sternenklare Nacht gewesen und als sie wenige Minuten später ihre Parkas geholt hatten, um noch ein Stück zu gehen, war es im Grunde genommen schon zu spät, um der Sache noch eine andere Wendung zu geben.
Zurück auf dem Campus hatte es keine zwei Monate gedauert, bis ihre Beziehung aufgeflogen war.
Hanno und Judith wohnten in einem Haus in der Nähe des Universitätsgeländes, sie selbst teilte sich ein Appartement auf dem Campus mit Jeany aus Oklahoma und der Britin Tamsin.
Um sich treffen zu können, musste Hanno sich komplizierte Lügengeschichten einfallen lassen, immer Gefahr laufend, von Universitätsangehörigen gesehen zu werden.
Von Vorteil war, dass Judith, die vielbeschäftigte Professorin, häufig Termine wahrnehmen musste und auch Vorträge an anderen Universitäten hielt, die auswärtiges Übernachten erforderlich machten.
Ein solcher Termin wurde ihnen dann auch zum Verhängnis, weil ein ausgefallener Flug Judiths Terminplan umwarf und sie nachts um zwei in ihr Haus zurückgekehrt war, als Wera dort mit Hanno im Bett lag.
Der Rauswurf beider aus dem Haus erfolgte umgehend. Zunächst hatte Hanno geglaubt, die Angelegenheit in Ruhe regeln zu können, doch da hatte er sich hinsichtlich Judiths Empörungspotentials grundlegend getäuscht.
„Ich nehme mir ein kleines Appartement auf dem Campus und lasse mich scheiden und dann sehen wir weiter“, hatte er zunächst noch gehofft, dabei aber die tatsächlichen Konsequenzen seines Handelns deutlich unterschätzt. „An dieser Universität bekommst weder du noch deine kleine Schlampe jemals wieder auch nur den Hauch einer Chance“, hatte Judith versichert und damit Recht behalten. Anfangs glaubte Wera noch, sie könnte ihre Promotion woanders fortsetzen, aber nun war sie sich gar nicht mehr sicher, ob sie es überhaupt noch wollte.
Ihre Mutter hatte ihr zwar ein Dasein als Serviererin vorhergesagt, sollte sie „diesem wenig erfolgreichen Mann ihre akademische Karriere opfern“, war aber dann schnell zu ihren eigenen Lebensfragen zurückgekehrt, die sich im Moment hauptsächlich um die bevorstehende Trennung vom aktuellen Lebensgefährten drehten.
Nein, dachte Wera, im Moment gibt es gar keine andere Lösung. Später würden sie sich beide tolle Jobs suchen und in irgendeiner spannenden Stadt leben, versuchte sie sich selbst einzureden.
Nun musste man aus diesem Leben hier das Beste machen. „Hauptsache, wir lieben uns und können zusammen sein“, mit diesem an ein Mantra erinnernden Schlusssatz beendete sie nicht zum ersten Mal ihren inneren Dialog.
Leise, um Hanno nicht zu wecken, verließ Wera das Bett und schlich aus dem Zimmer. Der zweite Raum im Obergeschoss sollte ihr Arbeitszimmer werden. Hier warf sie einen Blick aus dem Fenster und fand, dass zumindest die Aussicht, die sich ihr hier bot, einer in einen grauen Großstadthinterhof durchaus vorzuziehen war. Die Sonne versuchte gerade, den Morgennebel zu durchdringen und der nahe Wald und das davor liegende Holzhaus wirkten direkt romantisch. In dem Augenblick öffnete sich drüben die Tür und ein schwarzer Hund sprang in langen Sätzen zwischen die Sträucher, die das Haus zum Weg hin begrenzten.
Wera wusste nicht genau, wie lange sie so gestanden und den friedlichen Anblick genossen hatte, als in dem hölzernen Vorbau drüben ein Mann erschien. Er war nur mit einer Pyjamahose bekleidet und schien dem Hund etwas zuzurufen.
Für einen kurzen Augenblick kam es ihr so vor, als würde der Mann sie direkt ansehen oder vielmehr erschrocken anstarren. Das war denn wohl der Einsiedler, den Frau Ewers gestern erwähnt hatte. Vielleicht war er ja wirklich ein wenig verschroben, dachte sie. Ein total normaler Nachbar wäre ihr allerdings lieber gewesen wäre.
Sie stieg leise ins Erdgeschoss hinab und beschloss, nach einem Gang ins Bad schon einmal Kaffee zu kochen, um dann mit zwei dampfenden Bechern in Händen wieder das gemeinsame Bett aufzusuchen.
Frau Ewers hatte nicht nur alles im Haus wohnlich hergerichtet, sondern auch für eine Grundausstattung an Lebensmitteln gesorgt, sodass dem anschließenden gemütlichen Frühstück nichts entgegenstand. Gestern Abend waren sie recht spät hier angekommen, hatten sich ein paar Spiegeleier auf Schinkenbrot gemacht und noch eine Weile mit einer Flasche Wein beisammen gesessen. Den Wein hatten sie vorsorglich selbst mitgebracht, da zu der Ewers’schen Grundausstattung nur eine Kiste Wasser und ein Sechserpack Bier gehören würden, wie Hanno ganz richtig vermutet hatte.
Während sie gestern den Schlüssel abholten, hatte sie Helga und Jens Ewers kurz kennengelernt. Wie sie von Hanno wusste, hatten sich die beiden schon zu Lebzeiten der Eltern um das Haus gekümmert und schienen bestens vertraut mit den Familienverhältnissen.
—
Als er gestern Abend noch einmal mit dem Hund draußen war, hatte er gesehen, dass im Nachbarhaus Licht brannte und ein Wagen mit Hamburger Kennzeichen in der Auffahrt stand.
Zum Glück nicht wieder die Berliner, dachte er, während er dem Hund folgte, der mit der Nase am Boden ein Feld ansteuerte, um sich dort mit einem Maulwurfshaufen zu beschäftigen.
Wie üblich, war er nach dem Abendspaziergang noch für eine Weile an seinen Arbeitstisch ins Obergeschoss gegangen. Er tüftelte zurzeit am Längsschnitt eines Auswanderersegelschiffes, wo er die unterschiedlichen Decks noch mit den entsprechenden Personen bevölkern musste. Die Darstellung sollte so authentisch wie möglich ausfallen und bevor er sich einem neuen Thema zuwandte, musste er oft erst einmal recherchieren, wie das jeweilige Objekt tatsächlich beschaffen war. Seine Auftraggeber konnten sich hundertprozentig auf Präzision und Sachkenntnis verlassen.
Bevor er gegen halb elf noch einmal den Hund vor die Tür ließ, hatte er das Mannschaftsdeck soweit fertig, dass er für heute zufrieden war. Im Haus gegenüber war alles dunkel gewesen. Nachdem er heute Morgen ohne vorherigen Albtraum erwacht war und dies als gutes Omen für den Rest des Tages gewertet hatte, war jedoch etwas geschehen, das den großen schwarzen Vogel wieder geweckt hatte.
Der große schwarze Vogel – so hatte er einst das Furchtbare getauft, das in seinem Innersten nagte und schmerzte. Der große schwarze Vogel, den er so mühsam in seine Grenzen gewiesen hatte und der doch jederzeit wieder an die Oberfläche kommen konnte.
Wie gewohnt hatte er als erstes den Hund vor die Tür gelassen und war in das Haus zurückgekehrt, um sich seinen Kaffee zu machen. Da das Wetter in diesem September noch ungewöhnlich sommerlich anmutete, behielt er seine Angewohnheit bei, mit nacktem Oberkörper vor die Tür zu treten, um dort den ersten Schluck aus seinem Kaffeebecher zu trinken. Nachdem er den Becher auf die Veranda gestellt, den Futternapf gefüllt, nach dem Hund gerufen und dabei den Kaffee wieder an sich genommen hatte, blieb sein Blick unwillkürlich am Fenster im Obergeschoss des gegenüberliegenden Hauses hängen, wo es normalerweise nichts zu sehen gab.
Von einer Minute zur anderen schien sich der Boden unter ihm aufzutun, seine Knie zitterten und der Kaffee schwappte aus dem Becher, worauf der Hund jaulend zur Seite sprang. Das, was er dort drüben hinter der Fensterscheibe sah, wirkte so unwirklich und zugleich so erschreckend, dass er sich für einen Augenblick fragte, ob er sich nicht in einem seiner Albträume befand.
Nein, es war wirklich da. Die gleichen dunklen Locken, die das herzförmige Gesicht mit den großen Augen umrahmten. Nur für einen kurzen Moment hatte es ihn angesehen, dann verschwand die Erscheinung so schnell, wie sie gekommen war.
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Nach dem Frühstück begann Wera, sich in ihrem künftigen Heim genauer umzusehen. Hanno hatte schon beim Eintreffen bemerkt, dass von der ursprünglichen Einrichtung, wie er sie von früher kannte, kaum noch etwas vorhanden war. Seine Schwestern, die das Haus nach dem Tode der Mutter renoviert und neu möbliert hatten, schienen einen skandinavisch anmutenden Landhausstil zu bevorzugen, in dem die Farben blau, weiß und lichtgrau dominierten.