Hattinger und der verschollene Bruder - Thomas Bogenberger - E-Book

Hattinger und der verschollene Bruder E-Book

Thomas Bogenberger

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Beschreibung

Hattinger ermittelt im Todesfall des ­Unternehmers Herbert Graf. Wie ein Raubmord erscheint es nicht, doch Handy und Laptop des Opfers sind ­unauffindbar. Mit der Entdeckung der Leiche ­eines Mitarbeiters wird alles noch komplizierter. Und dann taucht auch noch Hattingers ­verschollener ­Bruder Anton auf, den er seit über 20 Jahren nicht gesehen hat und der nun sein Leben durcheinanderbringt. Als Anton unter die Verdächtigen ­gerät, vermischen sich Hattingers Berufs- und Privat­leben zu einem nerven­aufreibenden Fall.

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Thomas Bogenberger wurde 1952 in Traunstein geboren und lebt heute in Prien am Chiemsee. Er komponiert Film-, Hörspiel- und Theatermusik und schreibt Krimis.

Bereits erschienen:

Chiemsee Blues – Hattinger und die kalte Hand (2011)

Hattinger und der Nebel (2014)

Hattinger und die Schatten (2016)

Thomas Bogenberger

HATTINGER UND DER VERSCHOLLENE BRUDER

PENDRAGON

Inhalt

Heiligabend 2021

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Erster Weihnachtsfeiertag

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Zweiter Weihnachtsfeiertag

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

27. Dezember

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

28. Dezember

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

29. Dezember

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

30. Dezember

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Silvester

Kapitel 63

Kapitel 64

Heiligabend 2021

1

„Du Mainstreamdepp! Was willst du denn?!“ Der spindeldürre Mann fuhr auf dem Absatz herum. „Glaubst du, dass ich mir von dir was sagen lasse?“, geiferte er mit hochrotem Kopf.

Aus unerfindlichem Grund riss er sich die Schirmmütze vom Kopf und warf sie auf den gläsernen Tresen der Bäckerei. Die Leute in der Warteschlange wurden langsam unruhig. Der eine oder andere zupfte seine Maske zurecht, während der Typ weiter auf Hattinger einschrie.

„Von dir lass ich mir gar nichts sagen! Null!“

Seine Körperhaltung deutete darauf hin, dass er sich bereit machte, seinem verbalen Warmlaufen Taten folgen zu lassen.

Hattinger war amüsiert.

„Mainstreamdepp?“ Der Ausdruck war ihm neu. „Danke, des nimm i jetz amoi ois Auszeichnung. Da ham S’ mein Wortschatz echt bereichert. Aber jetz ziagn S’ a Maskn o oder verschwindn S’“, wiederholte er noch einmal die erfolglose Aufforderung der Verkäuferin. Sie hatte das noch etwas freundlicher formuliert.

Der Schreihals ballte die Fäuste und machte einen leichten Ausfallschritt in seine Richtung.

Hattinger hob das Kinn und fixierte den Mann.

„Vorsicht, des kannt unangenehm wern“, warnte er leise.

Die Polizeimarke ließ er stecken.

Es wurde ruhig in der Bäckerei.

Einen Augenblick zögerte der Hitzkopf, schließlich entschloss er sich zum Rückzug.

„Dann behaltet doch euren Scheiß, ihr Arschgeigen“, fluchte er. „Mainstreamdeppen, alles Mainstreamdeppen!“

Er riss die Mütze wieder vom Tresen und zog sie auf seinen kahlen Schädel, der, der Farbgebung nach, kurz vor der Explosion stand.

„Ihr seid doch alle gechipt! Corona gibt es gar nicht, das haben die Amis erfunden! Dann glaubt doch eurer Lügenpresse! Wann wacht ihr mal auf?!“

Unter Absondern weiterer Hirnrissigkeiten, die er den genervt wartenden Kunden entgegenschleuderte, stakte er Richtung Ausgang.

„Werdet ihr schon sehen, wenn sie euch ausgeknipst haben!“

Die Logik dieses Satzes erschloss sich Hattinger nicht, aber mit Logik hatte das sowieso nichts zu tun.

„Dann Ende Gelände! Ja, informier dich mal im Netz, du Schafskopf!!“, brüllte der spillerige Typ noch mal in seine Richtung, sobald er sich in Sicherheit wähnte.

„Herr, lass Hirn regnen“, murmelte Hattinger.

Als der Querkopf endlich aus dem Laden raus war, trat er noch gegen die Fensterfront, dass der Schneematsch aufspritzte.

„Danke“, sagte die erleichterte Verkäuferin zu Hattinger. „Die Typen wern oiwei giftiger. Was derfs denn sei?“

„Ham S’ no Brezn?“

„Freilich.“

„Dann fünf Stück bitte. Und a Baguette.“

„Baguettes san scho aus.“

Na klar, Heiligabend, da konnte er schon froh sein, dass er noch Brezen kriegte um die Zeit.

„Dann a Viertel Holzofenbrot.“

„Aber wartn S’ amoi“, sagte die Verkäuferin, während er das Kleingeld abzählte. Sie packte ihm einen dicken Elisenlebkuchen mit Schokoglasur ein. „Fürs Helfen … Frohe Weihnachten.“

„Des is aber nett. Frohe Weihnachten“, bedankte er sich.

Hattinger nahm seine Tüten und machte sich auf den Weg. Wurde Zeit, endlich heimzukommen.

Unter dem linken Scheibenwischer seines Wagens, den er auf dem Vorplatz der Bäckerei geparkt hatte, steckte in einer triefnassen Plastiktüte ein Strafzettel. Mist.

Er sah die Politesse gerade noch ums Hauseck verschwinden – nein, es war wohl ein Mann, bei genauerer Betrachtung. Wie sagte man da jetzt politisch korrekt – Politeur? Verkehrsverwaltungsaufsichtsbeauftragter?

Kurz überlegte er, dem Mann zu folgen und zu verhandeln, ließ es dann aber doch bleiben. Keine Lust auf Streit. Wäre vermutlich sowieso sinnlos.

„Was, wiavui?“, brummte er, als er den Betrag auf dem Strafzettel sah.

Das war ja ganz schön happig, mit diesem neuen Bußgeldkatalog. Und alles wegen der fünf Minuten, die er zu spät gekommen war. Genau die fünf Minuten, die ihn dieser bescheuerte Typ gekostet hatte, verdammt noch mal.

„Mainstreamdepp“, das musste man sich mal geben! Unfassbar, verkehrte Welt. Wer versucht, sich seriös zu informieren, ist der Depp; der Querdenker, der nicht das eigene Brett vorm Hirn sieht, ,informiert‘ sich ,im Netz‘.

Im Netz, ja klar! Aber bei wem wohl? Er konnte den Schwachsinn dieser Verschwörungsapostel nicht mehr hören, da musste man nur noch wütend werden. Zum aus der Haut fahren!

Vor einem Jahr hatte er noch versucht, solche Typen mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen, aber inzwischen hatte er längst eingesehen, dass es sinnlos war. Was solls, dachte Hattinger, ich werde mir die Laune nicht verderben lassen.

Nicht heute!

Nicht an Weihnachten.

Punkt.

2

„Wo Wotan wankt, wütet Wieland weiter! Waidwund.“

Werner Wagner deklamierte mit zitternder und doch inbrünstiger Stimme, als läge er nicht im Bett, sondern stünde auf der Bühne des Münchner Residenztheaters. Der alte Herr stützte sich mühsam auf die Ellbogen und hielt einen Moment inne.

„Wahnsinn“, schickte er krächzend hinterher.

Schwester Ines kam mit einem feuchten Waschlappen aus dem Bad.

„Was hamma gsagt, Herr Wagner?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie ihrem Patienten mit dem Waschlappen übers Gesicht.

„So, und an Hals wasch’ma ah no a bissl …“

„Waschen, waschen, waschen! Widerlich!“

„Jaja, is scho recht, Herr Wagner.“ Die Altenpflegerin duldete keinen Widerspruch. „Es is halt notwendig, gell?“

„Waschweiber! Wieland würde wütend werden!“

„Aber der Wieland, Ihr Bruder, der is doch scho vor drei Jahr gstorbn.“

Schwester Ines kannte die Familiengeschichte der Wagners schon in- und auswendig.

„Wotan wars“, wandte Werner Wagner ein und suchte nach einem weiteren Wort mit W. Er schien aber gerade kein passendes zu finden.

„Stimmt. Der is ah scho lang dood!“ Schwester Ines’ schneidend fröhliche Stimme dröhnte in dem spärlich möblierten Schlafzimmer.

„Wotan … Wieland … Werner …“ Der alte Herr musste sich regelmäßig in die Familienchronik einsortieren, um nicht den Überblick zu verlieren. „Wotan, Wieland, Werner.“

„Genau. Und wie hat der Vater gheißn?“

„Wolfgang.“ Werner Wagner reckte seinen dürren Zeigefinger Richtung Zimmerdecke. „Wohnt oben.“ Als er bemerkte, dass sich ein O-Wort eingeschlichen hatte, sank er stirnrunzelnd zurück in die Kissen.

„So könnt ma’s auch sehn …“

Schwester Ines wusste, dass Wolfgang Wagner nicht oben im Speicher wohnte, sondern auf dem Friedhof. Seit 30 Jahren. Er musste ein fanatischer Bewunderer Richard Wagners gewesen sein. Wer würde seine Söhne sonst Wotan oder Wieland nennen? Nur beim Jüngsten hatte er offenbar Gnade walten lassen, deshalb war der mit Werner davongekommen.

„Wotan. Wieland. Werner.“

„Jaawoll, sehr schön, Herr Wagner. Wolln S’ no an Schluck Wasser?“

„Wasser? Weichliche Weiber wählen Wasser.“ Herr Wagner umspannte seinen nicht vorhandenen Bauch mit den Händen. „Bier beglückt bajuwarische Bäuche!“

Schwester Ines lachte scheppernd. Den Spruch kannte sie noch nicht.

„Wo S’ recht ham, ham S’ recht! Aber a Bier gibts trotzdem ned.“

Sie registrierte, dass Werner Wagner zum Anfangsbuchstaben B gewechselt hatte und fragte sich, welcher als nächster käme. Prognosen diesbezüglich waren schwierig.

„Ich fahr Ihnen des Kopfteil noch a bissl hoch, bevor ich geh, gell? Ihre Schwester kommt ja nachher. Wolln S’ vielleicht lesn derweil?“

Werner Wagner schüttelte den Kopf.

„Ned? Ned amoi in Ihrem Buch?“

Der passionierte Hobbydichter hatte vor vielen Jahren einen Gedichtband veröffentlicht, im Selbstverlag. Fünf Büchlein hatte er verkauft und etwa 50 verschenkt. Der Rest der 500 Bände ruhte in Erwartung der posthumen Entsorgung unter einer dicken Staubschicht im Speicher des Hauses. Bis auf den einen, der neben ihm auf dem Nachtkästchen lag, in dem er regelmäßig blätterte und hier und da mit krakeliger Bleistiftschrift Verbesserungen notierte, für die nächste Auflage. Aber gerade schien er keine Lust darauf zu haben.

Werner Wagner starrte über das Fußende des Pflegebettes hinweg aus dem Fenster, während sein Oberkörper langsam hochfuhr.

Schnee lag im Garten. Tauender Schnee. Nasser Schnee.

Auch drüben beim Nachbarn.

Aber da lag noch etwas Anderes. Der alte Herr kniff die Augen zusammen. Zitternd hob er den Arm und deutete aus dem Fenster.

„L…“, setzte er an, auf der Suche nach dem passenden Wort. „L…l…“

Schwester Ines achtete nicht darauf. Sie schenkte ihm ein Glas Wasser ein. „So, jetz trinkn S’ an Schluck, a oider Mensch braucht vui Flüssigkeit, gell?“

Werner Wagner nahm keine Notiz von ihr, er starrte weiter aus dem Fenster.

„L…eiche!“, rief er schließlich, als er in seinem Wortschatz fündig wurde. „Leiche. Leblos. Liegt labil …“

„Aah, samma jetz beim L, Herr Wagner?“, versuchte Schwester Ines den alten Mann zu beruhigen. „Dann kommen jetz bald die Lemminge, gell? Lemminge laufen letztlich lieber Lemmingen …“, wie oft hatte sie das schon gehört.

Ihr Patient ließ sich aber nicht ablenken. Er zeigte stur aus dem Fenster.

Schließlich drehte sich Schwester Ines doch um und schaute hinaus.

Auch sie kniff die Augen zusammen, dann stieß sie einen spitzen Schrei aus und ließ das volle Wasserglas in Werner Wagners Bett fallen.

„Jessasmariaundjosef!“

Zögerlich ging sie Richtung Fenster, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich sah, was sie sah.

Als sie den ersten Schreck überwunden hatte, zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.

3

Hattinger streifte die triefnassen Schuhe ab. Mit spitzen Fingern hielt er sie hoch und ließ sie abtropfen, bevor er ins Haus ging. Er ärgerte sich über sich selbst. Natürlich waren Lederhalbschuhe bei dem Matsch vollkommen ungeeignet. Er stellte die Einkaufstaschen ab, warf die Schuhe in den Flur, zog die nassen Socken aus und angelte sich ein Handtuch aus dem Bad, um seine eiskalten Füße zu frottieren.

Sauwetter. Es würde wieder keine weißen Weihnachten geben. Die letzten beiden Tage hatte es zwar ordentlich geschneit, aber heute war nur noch Matsch übrig. Für morgen prognostizierte der Wetterbericht 16 Grad. 16 Grad plus natürlich! Vielleicht sollte er grillen?

Die Maske rutschte ihm aus der Jackentasche und landete in der Schuhpfütze. Mist. Er hob sie auf und knüllte sie zusammen.

„Hey Paps, du bist ja wirklich da.“

Lena kam strumpfsockig die Treppe runter.

„Vorsicht …“

Hattingers Warnung kam zu spät, Lena stand schon in der Pfütze.

„Bäh.“ Vorwurfsvoll hielt sie ihm eine nasse Fußsohle entgegen.

„Ja mei, Matsch …“

„Ach, sag bloß?“ Sie zog ihre Socken aus.

„Und überhaupt, hab i doch gsagt, dass i Weihnachten frei hab.“

„Na ja, nun. Das heißt ja noch gar nix.“

Lena war daran gewöhnt, dass der Herr Hauptkommissar immer gerade dann, wenn er sich an Feiertagen, Geburtstagen oder ähnlichen Festivitäten freigenommen hatte, mal wieder zu irgendeinem Mordfall gerufen wurde. Klar, als Leiter der Mordkommission war er im Prinzip dafür zuständig. Die Frage war nur: Mussten die Leute mit dem Morden immer auf irgendeinen Feiertag warten, um einem die Freude zu verderben? Gut, sie könnte auch in Hamburg wohnen, bei ihrer Mutter, wenn sie wollte. Aber sie hatte sich nun mal für Prien entschieden. Hier hatte sie wenigstens ein paar Freiheiten, gerade weil der Paps nie da war.

„Die Mama hat übrigens schon wieder angerufen“, fiel ihr ein. „Sollst sie jetzt mal zurückrufen. Dringend.“

„Mhm …“ Die Aussicht auf fernmündliche Kommunikation mit seiner geschiedenen Frau löste bei Hattinger wenig Begeisterung aus. Ihm fiel auf, dass er eine Tüte im Wagen gelassen hatte. „I hab no Essen im Auto.“

„Was gibts überhaupt?“ Lena freute sich schon auf den Abend, ihr Dad kochte richtig gut, wenn er denn mal dazu kam. Seine Weihnachtsenten waren legendär.

„I hab ma überlegt, vielleicht amoi koa Entn.“

Lena war enttäuscht. „Vielleicht amoi?“, ahmte sie sein Bairisch nach. „Wann hast du denn die letzte Ente gebraten? Im Prä-Coronikum?“

Hattinger verzog es immer ein bisschen die Ohren, wenn Lena versuchte, Bairisch zu reden. Sie konnte es einfach nicht. War vermutlich seine eigene Schuld, weil er sich immer seiner Frau angepasst und nur Hochdeutsch mit Lena gesprochen hatte, als sie klein war. Zumindest seine Art von Hochdeutsch, den Bayern hörte man bei ihm immer durch.

„Vor zwoa Monat“, beantwortete er die Entenfrage. „Mittwochabend, mir ham Champions League gschaut, Bayern hat irgendwen erledigt. Scho vergessn?“

„Stimmt. Mit Orangen und Schokosoße. War übel gut.“

Hattinger musste lachen. Übel gut war gerade Lenas höchstmögliches Lob.

„I mach a Roastbeef. Dazua mei Remoulad, Bratkartoffeln und an Chicoréesalat mit Mandarinen und Mandeln. Nachspeis machst du …“

„Okay, hört sich solide an. Und was is mit den Weißwürsten?“

„Die vernicht’ma jetz zum Frühstück. I hab frische Brezn mitbracht.“ Hattinger schaute auf die Uhr. „Spätstück, wenn ma’s genau nimmt. Wieso bist’n du überhaupt scho auf? San doch Ferien?“

Lena hatte die letzten Wochen tatsächlich Präsenzunterricht gehabt. Sie wollte ja dieses Jahr Abitur machen, nachdem sie letztes Jahr eine Ehrenrunde drehen musste, was ihm überhaupt nicht gefiel. Wobei er sich durch seine häufige Abwesenheit nicht ganz unschuldig fühlte.

„Will halt Weihnachten mal ganztägig genießen, wenn du schon da bist. Hab sogar den Christbaum schon aufgestellt. Da guckst du, was?“

Hattinger ‚guckte‘ natürlich nicht, aber er schaute reichlich verblüfft drein. Selbstständigkeit war er von Lena gewohnt, aber solche Aktivitäten am frühen Morgen?

„Is irgendwas passiert?“

„Mein Gott, jetzt sei doch nicht gleich so misstrauisch, Herr Kommissar! Was soll denn passiert sein? Ich musste heut sowieso früher aufstehen, weil ich nachher noch ne Fahrstunde hab.“

„An Heiligabend?“

„Na, wenn man endlich mal wieder darf … Hab mir gestern sogar die Mozartkugeln aus deinem ungenutzten Süßigkeitendepot geklaut, um den Fahrlehrer zu bestechen. Ich will jetzt endlich diesen blöden Führerschein.“

„Die Mozartkugeln? Der werd si gfrein, die san mindestens 15 Jahr oid.“

Wenn Hattinger die Wahl zwischen Schokolade und Schinken hatte, entschied er sich für Schinken.

„Wann hast die Fahrstund?“

„Um zwölf.“

„Dann hamma ja no Zeit für die Weißwürscht. I hab an Mordshunger.“

Das Telefon läutete im Wohnzimmer.

„Machst die scho amoi warm?“, bat er Lena.

Im Wohnzimmer fiel ihm auf, dass die kleine Tanne, die er gestern in letzter Minute zu einem astronomischen Preis-/Längenverhältnis erstanden hatte, perfekt gerade in den alten Christbaumständer eingestielt war.

Das Telefon schien immer lauter zu werden, aber wo war es? Er entdeckte es schließlich unter einem Haufen abgeschnittener Tannenzweige.

„Sag mal, Alfons, das dauert ja ewig, bis du mal an die Strippe kommst.“ Elke. Sie war die Einzige, die ihn beim Vornamen nannte, obwohl sie genau wusste, dass er das nicht leiden konnte.

„Wieso rufst du eigentlich nicht zurück?“

„Die Lena hat’s mir grad vor fünf Minuten ausg’richt!“

Er hätte am liebsten gleich wieder aufgelegt, aber wenn Elke was wollte, würde sie sowieso nicht locker lassen. Er beschloss, es mit Deeskalation zu versuchen. „Frohe Weihnachten. Was gibts?“

„Anton hat mich angerufen.“

„Wer?“

„Anton …“

„Was für a Anton?“

„Anton! Dein Bruder! Mein Gott, kriegst du jetzt Alzheimer oder was?“

„Wie, wa… Was?!Mei Bruada …?“

Seinen älteren Bruder Anton hatte er bestimmt seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen und seit 20 Jahren hatten sie überhaupt keinen Kontakt mehr. Der lebte irgendwo in Südamerika. Den hatte er überhaupt nicht mehr auf dem Schirm.

„Wieso ruaft der bei dir o?“

„Er hat halt mich gefunden, über Facebook. Du bist ja nicht bei Facebook.“

„Und des mit Absicht.“ Er hätte aus dem Stand eine ausführliche Begründung liefern können, warum er Facebook ablehnte, aber das schien gerade nicht der richtige Augenblick zu sein.

„Und? Was woit er?“

„Deine Adresse. Er will dich besuchen über Weihnachten.“

„Was?!“

„Mein Gott, Alfons! Jetzt führ dich doch nicht auf wie ein Neandertaler. Dein Bruder will dich über Weihnachten besuchen, wo ist das Problem? Du hast doch genügend Platz.“

„A… aber … wie, besuchen? Und du … hast eahm mei Adress gebn? Einfach so?“

„Jaa-haa! Stell dir vor! Oder darf dein eigener Bruder deine Adresse nicht haben? Mal ganz abgesehen davon, dass er die auch ohne mich rausgefunden hätte.“

Hattinger umrundete den Christbaum.

„I glaub i spinn … Und wann kommt er?“

„Heute. Er müsste schon in Prien sein.“

„Und des sagst du mir jetzt?“

„Hättest du gestern zurückgerufen, dann wüsstest du’s seit gestern. Also, wünsch euch schöne Feiertage. Und grüß mir das Lenchen! Tschühüss!“

Hattinger mochte es nicht glauben.

Sein Bruder …

Er legte das Telefon gedankenverloren wieder zwischen die Tannenzweige, wobei er leicht den Christbaum touchierte.

Die Nordmanntanne fiel so widerstandslos um, als hätte sie nur auf einen Anstoß gewartet. Dabei warf sie einen Großteil des Weihnachtsschmucks, den ihr Lena verpasst hatte, wieder ab. Hauchzarte Christbaumkugeln aus alten Familienbeständen zerschellten leise klirrend auf dem Parkett, fast zeitgleich übertönt von Lenas Aufschrei in der Küche.

„Au Scheiße!“

Ihr Kopf poppte quer im Türrahmen auf, wie im Comic.

„Tut mir leid, Paps! Hab die Weißwürste platzen lassen.“

Sie setzte ihr typisches Sorry-ich-hab’s-verkackt-Lächeln auf.

„Aber ich könnte neue kaufen? Fahrstunde fällt aus. Mein Fahrlehrer ist krank. Kein Corona, schreibt er, er hat nur Brechdurchfall.“

„Mhm. Mozartkugeln …“

4

„Wenn du nicht mal an Weihnachten Zeit hast, wenn ich schon mal frei hab, dann weiß ich nicht, ob das überhaupt noch Sinn hat mit uns?“

Karl Wildmann stand am Küchenfenster. Der Regen löste den Schnee wieder auf, der seit vorgestern gefallen war. Es war ihm egal.

„Ja, aber so ist es eben. Ich kann es nicht ändern“, hörte er Manu sagen. Das Handy war laut gestellt. „Außerdem kommt doch sowieso wieder was dazwischen bei dir.“

„Woher willst du das denn wissen, Manu? Bist du Hellseher?“

„Ist doch immer so. Ich nehm mir frei, ich komm zu dir und dann bist du weg. Ich pack das nicht mehr. In der Situation schon gar nicht, tut mir leid. Mach’s gut, Karl.“

„Manu, hör doch mal zu“, sagte Karl Wildmann noch, aber die Verbindung brach ab.

„Wir haben das doch ausgemacht“, murmelte er und legte das Handy auf den Küchentisch.

Er hatte den Moment kommen sehen, und trotzdem fühlte er sich überfahren. Aber was konnte er tun? Manu hatte ja recht, er musste immer weg. Fast immer. In den letzten zwei Wochen war ausnahmsweise mal nichts los gewesen. Er hatte sich sogar einen alten Fall mit nach Hause genommen. Aber das half jetzt auch nichts, er hatte eben über Weihnachten Urlaub genommen und nicht die letzten zwei Wochen. Extra wegen Manu. Was schwer genug war als Single, offiziell. In den Ferien wurden Verheiratete mit Kindern bevorzugt, klar.

Über sein Privatleben wusste ja niemand was. Er hatte nicht mal dem Hattinger was gesagt, obwohl der schon ein paar Mal vorsichtig gefragt hatte. Schon lang wollte er dem Chef mal von Manu erzählen. Aber das war’s dann wohl mit Manu und dem Privatleben.

Verdammt noch mal, ja, er war mit Leib und Seele Kriminaler, keine Frage, er ging in seinem Beruf auf, konnte Überstunden machen ohne Ende. Aber das hieß ja nicht, dass er nicht trotzdem manchmal gern … Er konnte gut allein sein, aber …

Karl Wildmann stand immer noch am Küchenfenster. Ein trostloses Gematsche da draußen, das sah er sogar ohne Brille.

Was sollte er denn jetzt machen, heute, an Heiligabend? Nicht, dass er mit Weihnachten religiös was am Hut hätte. Aber gefühlsmäßig ging das ja doch nicht ganz an einem vorbei. Früher war er an Weihnachten meistens zu seinen Eltern gefahren, wenn er keinen Dienst hatte, aber ausgerechnet dieses Jahr waren sie nicht da. Die Kanaren waren gerade mal kein Hochinzidenzgebiet, da hatten seine Eltern kurz entschlossen gebucht. „Gran Canaria, endlich mal wieder raus aus dem ganzen Schlamassel“, hatte seine Mutter letzte Woche am Telefon erzählt.

Hatten sie noch nie gemacht. Recht hatten sie. Er hätte trotzdem hinfahren können, aber was sollte er allein in München?

Was tun also? Laufen, wandern? Alles nicht sein Ding. Fahrrad fahren, das Einzige, was er gern machte, fiel bei diesem Wetter aus.

Essen gehen war auch schwierig, deshalb hatte er einen Haufen Zeug eingekauft, Kalbsschnitzel, Thunfischsteaks, Gemüse, Kräuter, Manus komplette Wunschliste. Und was sollte er jetzt damit? Kochen gehörte nicht zu seinen Kernkompetenzen, das war Manus Ding.

Sogar ein paar Flaschen teuren Weißwein hatte er mitgebracht. Da standen sie, in Reih und Glied, neben dem Kühlschrank. Er machte sich nicht viel aus Alkohol. Er mochte dieses beduselte Gefühl nicht, er hatte lieber einen klaren Kopf. Damit war er schon auf der Polizeischule aus der Reihe gefallen. Die Kollegen hatten gern einen draufgemacht nach Feierabend – manche auch schon vorher.

Im Moment half ihm sein klarer Kopf aber auch nicht weiter. Womit sollte er die Zeit totschlagen? Wein trinken, ein Kalbsschnitzel misshandeln und Fernsehen?

Karl Wildmann ging rüber ins Wohnzimmer und schaltete das Radio ein: Keine Staumeldungen heute, dafür Inzidenzen, Prognosen, Impfquoten, neue Virusvarianten, und weil Weihnachten war, das unvermeidliche Last Christmas … Das war zu viel. Er drehte schnell wieder ab.

Sein Blick fiel auf den Karton mit alten Ermittlungsakten. Vielleicht sollte er am Brunner-Fall weiterpuzzlen? Ungeklärter Mordfall vor 13 Jahren in der Nähe von Riedering, also praktisch hier um die Ecke.

Du bist krank, sagte sich Karl Wildmann. Du hast Urlaub und dir fällt nichts Besseres ein als zu arbeiten. Das muss man sich mal geben! Er brütete eine Weile vor sich hin und bedauerte sich selbst. Beides war ihm eigentlich wesensfremd.

Auf einmal kam ihm eine ganz verwegene Idee. Wenn sogar seine Eltern es schafften, einen Last-Minute-Urlaub zu buchen … Vielleicht sollte er auch einfach Richtung Süden abdüsen, ohne Arbeit und ohne Manu?

Da Karl Wildmann zwar kein Draufgänger, aber durchaus ein Mann der Tat war, saß er fünf Minuten später mit einem Glas Weißwein am Laptop und arbeitete sich systematisch durch das momentan sehr überschaubare Angebot von Last-minute-Reisen. Dass er als gewünschtes Abreisedatum den ersten Weihnachtsfeiertag eingab, machte die Sache nicht leichter. Er suchte im Grunde eine Last-Second-Reise. Außerdem musste er am 2. Januar zurück sein zum Dienst. Alles mit eventueller Rückreise-Quarantäne kam also schon mal nicht in Frage.

Nach zwei Stunden Recherche saß er immer noch da. Ein zweites Glas Wein hatte er sich nicht eingeschenkt, sodass die Wirkung des ersten zum Glück schon nachließ, als er einen Flug nach Malta fand. Interessant. La Valletta, südlichste Hauptstadt Europas, nur 6 000 Einwohner, auf einer gut befestigten Halbinsel gelegen; sah schön aus auf den Bildern, irgendwie mittelalterlich und modern zugleich. Hotels gab es auch noch und der Preis, na ja, coronabedingt kein Schnäppchen, aber okay. Und Malta war weitgehend durchgeimpft, das sprach auch dafür, weil er keine Quarantäne einhalten musste nach dem Rückflug. Im Moment zumindest.

In der ihm eigenen Gründlichkeit arbeitete Karl Wildmann noch das Kleingedruckte durch, als in der Küche sein Handy klingelte.

Nur noch 2 Plätze verfügbar, meldete das Buchungsportal.

Er wollte nur sicherheitshalber noch sein Handy checken, bevor er auf Jetzt buchen klickte.

Andrea Erhard rief an, seine Kollegin. Er beschloss, dranzugehen.

„Karl? Servus. Die Andrea … Bist du da? Oiso, i moan, bist du dahoam, oder bist du weggfahrn?“

„Hallo Andrea, nein, ich bin zuhause. Aber ich wollte … Wieso?“

„Du Karl, i woaß, du hast ja eigentlich Urlaub, oder?“

„Ja. Genau.“

„Was moanst du, sollt’ma dem Hattinger vielleicht a Weihnachtsgschenk machen?“

„Ahm … ja, natürlich, gern, aber ist das nicht ein bisschen spät? Ich meine, die Geschäfte sind ja zu.“

„I woaß scho, Karl, aber es geht um ganz was anders.“

„Aha?“

„Der Hattinger hat doch frei über Weihnachten. Und da hab i mir grad denkt, des wär doch a super Weihnachtsgschenk, wenn er dahoam bleim kannt. Und mir zwoa kanntn eahm die Arbeit abnehma. I hab nämlich grad a Meldung über an ungeklärten Todesfall in Breitbrunn. Normalerweis miassat da natürlich der Hattinger hin. Es sei denn, du und i … Aber du muasst natürlich ned. Vielleicht hast du ja an Besuch?“

„Nein, Besuch nicht …“

Karl Wildmann warf einen Blick auf den Bildschirm: Nur noch 1 Platz verfügbar!

„Okay, ich komme.“ Er zuckte die Achseln und klickte die Seite weg. „Wohin?“

Verdammt, dachte er, der Manuel hat doch mal wieder recht gehabt.

5

Hattinger fuhr Richtung Breitbrunn. Er fühlte sich ein bisschen schuldig. Er hatte Lena allein gelassen, zumindest allein mit seinem Bruder, den sie ja gar nicht kannte. Eigentlich kannte er ihn selbst auch nicht mehr.

Fünf Minuten nach seinem Telefonat mit Elke stand er vor der Tür, mit zwei verbeulten Alukoffern aus dem letzten Jahrtausend.

„Du siehst scheiße aus, Hombre“, sagte er zur Begrüßung. „Bist alt geworden.“

Hattinger sah ihn an. Es kam ihm vor wie eine Begegnung der dritten Art.

„Des Kompliment gib i zruck. Servus Anton. Bin übrigens immer no sechs Jahr jünger wia du“, antwortete er und deutete auf seines Bruders Nase. „Vielleicht solltst …“

„Tranquilo. Ich hatte es schon. Hab’s überlebt. Immer noch Bulle?“

„Ja sicher.“

Anton knallte seine Koffer in den Flur, ohne auf eine Einladung zu warten.

Lena erschien in der Küchentür. Sie warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu.

„Mei Bruada“, sagte er, und zu Anton: „Des is die Lena, dei Nichte.“

„Hola Lena, kannst mich Toni nennen“, sagte Anton mit Reibeisenstimme und spanischem Akzent. Jeglichen Rest von Bairisch hatte er offenbar abgelegt.

„Für dich, Bruderherz: Antonio. Bin jetzt Venezolaner. Hast was zu essen?“

„Frohe Weihnachten“, brummte Hattinger hinter seinem Bruder her, der sich mit seinen dreckigen Stiefeln sofort auf den Weg in die Küche machte, der Nase folgend.

„Mit Weihnachten hab ich nichts am Hut, Hombre. Ich hab Hunger.“

Wie selbstverständlich setzte er sich an Hattingers Platz an dem kleinen Küchentisch und angelte mit den Fingern eine Weißwurst aus dem dampfenden Kessel.

„Die sind ja geplatzt“, stellte er fest.

„Sagn’ma erblüht …“, raunte Hattinger.

In den letzten 20 Jahren schien sich nichts an Antons Art geändert zu haben. In vermeintlich weiser Voraussicht hatte er zwar beschlossen, sich nicht über seinen Bruder aufzuregen, aber schon nach drei Minuten war er fast so weit.

In dem Moment kam der rettende Anruf aus dem Präsidium: Unklarer Todesfall, Männerleiche in einem Garten in Breitbrunn. Ob er zufällig …?

Ja, zufällig könne er gerade, hatte er sehr schnell entschieden. Lena hatte er versprochen, dass er bestimmt bald wieder zuhause wäre. Sie hätte ja jetzt Gelegenheit, ihren Onkel ein bisschen kennenzulernen. Und jetzt war er fast in Breitbrunn und fühlte sich schuldig und war doch froh, dass er sich erst mal nicht mit Antonio rumärgern musste.

Hattinger fuhr an der Straße vorbei, in der Mia gewohnt hatte, eine frühere Freundin. Vielleicht wohnte sie ja immer noch da, er hatte sie schon lang nicht mehr gesehen. Zwei Querstraßen weiter bog er rechts ab. Eine ruhige Wohngegend, nicht weit vom Chiemsee. Vor einer flachen Villa standen drei Polizeiautos, Hauseingang und Dreifachgarage waren mit Absperrband gesichert. Ein etwas deplatziert wirkendes, rostiges Hollandrad lehnte am Gartenzaun.

Als er ausstieg, nahm ihn ein junger Polizeibeamter in Empfang, den er auch mit Maske erkannte. Peter Baumann wollte unbedingt zur Kriminalpolizei und fiel vor allem dadurch auf, dass er bei jeder Begegnung rot anlief, wie ein Feuermelder. Das tat er auch jetzt wieder.

„Herr Hauptkommissar“, versuchte er Meldung zu machen, „hier …“

„Hattinger“, sagte Hattinger, „sagn S’ einfach Hattinger, des langt.“

„Jawohl. Hier gibt es eine männliche Leiche, im Garten, Herr Hauptkommissar Hattinger! Ähm … Hattinger.“ Eine weitere rote Welle lief über seine Stirn. „Hinter dem Haus, Herr Hauptkommissar!“

Ja, wo würde man den Garten vermuten, wenn nicht hinter dem Haus, dachte Hattinger. Baumann war ein sympathischer Kerl und geradezu übereifrig, aber mit seinem Handicap tat er ihm manchmal ein bisschen leid.

„Ich zeige es Ihnen, Herr Hauptkommissar.“

Noch bevor er etwas sagen konnte, lief Baumann schon voran durch die Villa.

Hattinger schüttelte den Kopf. Eigentlich nannten ihn alle nur beim Nachnamen. Wenn überhaupt, sagte der eine oder andere ‚Chef‘ zu ihm, Karl Wildmann zum Beispiel.

„Chef?“ Wildmann sah ihn völlig verdattert an, als er die Terrasse betrat. „Was machst du denn hier? Ich dachte, du hast Urlaub?“

„Du doch ah, oder? Servus Karl. Frohe Weihnachten. I hab ma gedacht, i helf euch a bissl. Und, was hamma?“

Wildmann nahm die Brille ab und begann, die beschlagenen Gläser zu putzen.

„Ähm, das ist ja … Wenn ich …“, murmelte er. „Haben die im Präsidium nicht, ich dachte …“

Hattinger schaute ihn verwundert an. Wildmann gehörte normalerweise nicht zu denen, die planlos rumstopselten. Im Gegenteil, sein Assistent war ein Mensch, der geradlinig und analytisch dachte und sich in der Regel auch so ausdrückte. Das schätzte er ja gerade an ihm.

„Is was passiert?“

„Nein. Tut mir leid. Ich hatte nur gedacht …“ Wildmann setzte die Brille wieder auf. Die Gläser beschlugen sofort wieder. „Okay, ich zeig dir den Toten.“ Er stapfte durch den Matsch voraus in den Garten. Die Sonne schien mittlerweile, aber im Schatten der hohen Bäume hatte sich der Schnee ganz gut gehalten. Hattinger fluchte innerlich; er würde schon wieder nasse Füße kriegen, denn seine Gummistiefel hatte er in der Eile zuhause gelassen.

„Was is mit Spuren?“ Er machte sich Sorgen um zerstörte Fußabdrücke, wenn sie hier durchlatschten. Das Grundstück schien riesig zu sein.

„Der Pfad hier war frei, ist sowieso schon alles zertrampelt.“

Wildmann strebte auf eine Laube im hinteren Teil des Gartens zu. „Da hinten ist es. Da ist der Schnee auch schon weg. Bis auf den traurigen Kameraden hier.“ Er deutete auf den zusammengesunkenen Rest eines Schneemanns.

Hattinger registrierte, dass anstelle der üblichen Nasenkarotte ein abgebrochener Stock im Unterleib des Schneemanns steckte, mit phallischem Anstellwinkel.

„Woher wiss’ma überhaupt, dass sichs um an unnatürlichen Tod handelt?“

„Das wirst du gleich sehen“, sagte Wildmann.

Die Laube wirkte von außen ziemlich groß. Sie bestand aus einem berankten Holzgerüst. Was da wuchs, wusste Hattinger nicht, aber es war auf jeden Fall auch im Winter grün und ziemlich dicht, sodass man nicht hineinsehen konnte. Im Hintergrund wurde das Grundstück durch einen hohen Holzzaun geschützt, vor dem verschiedene Büsche standen, dahinter ein bewaldeter Hang.

Kurz vor der Laube kam Andrea Erhard um die Ecke. „Hattinger? Was machan Sie denn da?“

Sie schien genauso verblüfft über seine Anwesenheit wie Wildmann. „Is des so ungewöhnlich, dass ma ois Chef der Mordkommission seiner Arbeit nachgeht? Hallo Frau Erhard. Frohe Weihnachten.“

„Naa, oiso, natürlich ned, aber … danke, gleichfalls.“

Was haben die denn heut alle, dachte Hattinger. Jetzt fehlt nur noch, dass ihn Fred Bamberger fragt, was er hier will.

„Is der Bamberger scho da?“

„Nein, aber unterwegs“, sagte Wildmann.

Sein alter Freund Bamberger würde kaum begeistert sein, dass man ihn an Heiligabend aus dem Haus sprengte. Der Chef der Kriminaltechnik – unter sich sagten sie nach wie vor Spurensicherung – würde nächstes Jahr in Pension gehen. Hattinger konnte sich gar nicht vorstellen, wie das ohne den alten Haudegen gehen sollte. Klar, keiner war unersetzlich, aber Leute mit Bambergers Erfahrung waren rar.

„Oiso, schau’ma uns die Leich o.“

Der Eingang zur Laube war etwa einen Meter breit und lag so, dass man ihn vom Haus aus nicht einsehen konnte. In der Mitte der Laube stand ein Biertisch mit passenden Bänken links und rechts.

Auf dem Biertisch lag eine unschwer als männlich identifizierbare Leiche, der Tote war nämlich splitternackt. Er lag auf dem Rücken und seine Füße zeigten Richtung Ausgang.

„Da schau her. Interessant“, fand Hattinger.

„Der Fotograf war schon da. Wir haben auch den Boden fotografieren lassen“, sagte Wildmann.

Der Boden der Laube war mit feinem Kies aufgeschüttet, die Nässe schien hier gut abzulaufen. Fußspuren würden darauf wohl kaum erkennbar sein, also konnten sie auch reingehen.

Hattinger zog wie die Anderen zur näheren Inspektion Handschuhe, Plastiküberschuhe und einen weißen Overall mit Haube an.

„Woaß ma, wer des is?“

„Mir gehn davon aus, dass des der Hausherr is“, sagte Andrea Erhard.

„Ein Dr. Herbert Graf“, ergänzte Wildmann. „Mehr wissen wir noch nicht.“

„Gibts Angehörige?“

„Es gibt a paar Fotos im Haus mit seiner Frau oder Freundin. Die is aber ned da“, sagte Andrea Erhard.

Hattinger sah sich die Leiche aus der Nähe an. Der Mann war groß, geschätzt an die 1,90 m, sehr schlank, schmaler, kantiger Kopf, kurze graue Haare. Äußerliche Verletzungen waren auf den ersten Blick nicht zu erkennen.

„Rechtsmedizin hab ich schon angefordert“, sagte Wildmann. „Dachte, die brauchen wir auf jeden Fall. Dass der Mann sich im Winter freiwillig nackt hier rauslegt, um zu sterben, halte ich für unwahrscheinlich.“

„Und wer hat ihn gfundn?“ Hattinger sah sich in der Laube um, das Grün war rundum dicht. „Der liegt ja ganz guad versteckt.“

„Allerdings. Aber schaun S’ amoi …“

Andrea Erhard peilte mit ausgestrecktem Zeigefinger über die Füße des Toten hinweg durch den Torbogen der Laube schräg nach oben. Zwischen zwei Bäumen jenseits des Holzzauns war ein einzelnes Fenster im ersten Stock des Nachbarhauses zu sehen.

„Da von dem Fenster aus hat ihn der Nachbar entdeckt. A oider Herr, hab i ghört. Sei Pflegerin hat an Notruf abgsetzt.“

„Auf die Entfernung?“

Hattinger schätzte, dass es mindestens 25 bis 30 Meter bis zu dem Fenster waren.

„Den sollt’ma uns oschaun, den oidn Herrn.“

6

Hattinger ging mit Andrea Erhard hinüber zum Nachbarhaus, um den Mann zu befragen, der den Toten entdeckt hatte. Bis die Rechtsmedizin aus München eintraf und Bamberger mit seinen Leuten von der Spurensicherung, würde bestimmt noch ein bisschen Zeit vergehen.

„Werner Wagner“, sagte Andrea Erhard, „des is er.“

Es standen noch andere Wagners auf dem Schild, aber es gab nur einen Klingelknopf. Hattinger drückte ihn. Im Haus ertönte eine ziemlich ungewöhnliche Gongmelodie.

„Is des Lohengrin?“, wunderte er sich.

Andrea Erhard zuckte mit den Schultern. „Fragn S’ mi was Leichters.“

Sie setzten ihre Masken auf.

Nach einigem Holztreppengeklapper im Haus und unverständlichem Rumgeschimpfe ging die Tür auf und eine grauhaarige Frau mittleren Alters beäugte Hattinger und Andrea Erhard misstrauisch. Sie hatte etwas Besenhaftes.

„Wer san Sie?“ Schwester Ines gab sich keinerlei Mühe, freundlich zu sein. Der Tag hatte ihr schon zu übel mitgespielt.

„Hattinger, Kriminalpolizei.“ Er zeigte seinen Ausweis. „Des is mei Kollegin, Kommissarin Erhard.“

Andrea Erhard wuchs ein Stück vor Stolz, es war das erste Mal, dass Hattinger sie so vorstellte. Sie hatte erst vor Kurzem ihren Wechsel zur Kripo geschafft, was nicht zuletzt Hattinger zu verdanken war, der sie in seinem Team haben wollte.

„Endlich“, brummte Schwester Ines, „i miassat scho seit Stunden weg, i hab ja schließlich no andere Patienten. Aber ma hat mir ja gsagt, dass i wartn muass. Jetz hab i ois umorganisiern miassn.“

„Patienten?“, fragte Hattinger. „San Sie Ärztin?“

„Naa, i bin die Pflegerin vom Herrn Wagner. Schwester Ines.“

„Und der Herr Wagner hat den Toten entdeckt?“, fragte Andrea Erhard.

„Ja genau“, seufzte Schwester Ines. „Und jetz hamma an Dreck im Schachterl. Nix für unguad …“

„Mir würden uns gern kurz mit dem Herrn Wagner unterhoitn“, sagte Hattinger.

„Viel Vergnügen“, wünschte Schwester Ines mit müder Ironie.

„Wia moanan S’ des?“

„Des wern S’ dann scho merkn. Er is scho a weng speziell, der Herr Staatsschauspieler, je nach Tagesform.“

Schwester Ines führte Hattinger und Andrea Erhard zu Werner Wagners Zimmer im ersten Stock.

„Wenn S’ an aktuellen Schnelltest ham, kenna S’ die Masken abnehma, dann erschrickt er ned so. Mir san g’impft.“

Hattinger bestätigte ihre Impfungen, plus aktuelle Tests.

„Wir haben Besuch, Herr Wagner!“, kündigte Schwester Ines die beiden lautstark an, in ihrem jovialen Pflegesingsang.

„Wir?“ Der klapperige alte Mann ließ das Büchlein, in dem er gerade geblättert hatte, auf die Brust sinken und nahm die Brille ab, die an einer Kordel um seinen Hals hing.

„Wer will was von Werner Wagner?“, deklamierte er krächzend und setzte einen finsteren Gesichtsausdruck auf.

„Vielleicht ham S’ Glück“, sagte Schwester Ines leise zu Hattinger. „Er hat a ‚von‘ durchgehn lassn. Normalerweis suacht er so lang, bis alle Anfangsbuchstaben gleich san …“

Hattinger runzelte die Stirn.

„Wia hoaßt die Krankheit?“

„Hab i vergessn“, flüsterte Schwester Ines. „A Zwangsstörung hoid. Und a weng dement is er außerdem. Da vermischt sich die große Bühne mit der Wirklichkeit.“

Der alte Herr war verunsichert. Hilfesuchend rief er: „Wotan? Wieland?“

„Ganz ruhig, Herr Wagner, niemand tut Ihnen was.“ Andrea Erhard trat an das Bett des alten Mannes und legte ihm sachte die Hand auf den Arm. „Mir san von der Polizei, der Herr Hattinger und ich, aber mir san ganz nett.“

Die beruhigende Stimme verfehlte nicht ihre Wirkung auf Werner Wagner. Er sah sie mit großen Augen an.

„Meiner Mutter Milde“, schwärmte er. „Märchenhafte Maid …“

„Genau“, sagte Andrea Erhard.

Hattinger bezweifelte, ob man von dem Mann irgendetwas Aussagekräftiges erwarten konnte. Aber jetzt waren sie schon mal da.

„Herr Wagner, Sie ham heut an Toten entdeckt? Wo war denn des?“

„Dort!“, rief Werner Wagner wie aus der Pistole geschossen und hob den Arm Richtung Fenster.

Hattinger und Andrea Erhard folgten seinem Blick. Über das Fußende des Bettes sah man tatsächlich genau in die Laube des Nachbarhauses.

„Leiche!“, rief Werner Wagner und kniff die Augenlider zusammen. „Lauter Leute.“

Er schien genau zu sehen, was sich in Nachbars Garten abspielte. Bamberger war gerade dort eingetroffen und ging mit seiner Crew an die Arbeit.

„Sie sehn aber gut, Herr Wagner“, sagte Andrea Erhard. „Ganz ohne Brille?“

„Der Herr Wagner braucht die Brille nur auf d’Näh. Auf d’Entfernung, da hat der Adleraugen“, erklärte Schwester Ines.

„Ham Sie noch irgendwas beobachtet heut?“, wollte Hattinger von dem alten Mann wissen. „Oder in den letzten Tagen?“

Werner Wagner schüttelte den Kopf und ließ sich im Bett zurücksinken. Er schien müde zu sein.

„Adleraugen … Auszeit“, murmelte er.

„Gleich, Herr Wagner.“ Andrea Erhard versuchte es noch mal. „Ham Sie erkannt, wer da liegt?“

Werner Wagner schloss die Augen und nickte.

„Graf“, sagte er. Nach einer längeren Pause fügte er noch an: „Gräulich gemein …“ Dann fing er unvermittelt an zu schnarchen.

„So, des wars dann erst amoi, oder?“, meinte Schwester Ines.

Hattinger nickte. „Ham Sie irgendwas beobachtet? Heut, oder überhaupt?“

„I …? I hab koa Zeit, dass i ausm Fenster schau, wirklich ned. Konn i jetz dann geh?“

„Und der Herr Wagner bleibt alloa, oder wie?“, wunderte sich Andrea Erhard.

„Naa, sei Schwester kommt nachher. Die sollt eigentlich scho lang da sei, aber die hat irgend a Problem mit ihrm Auto ghabt. Aber des war jetz ah scho wurscht.“

Schwester Ines begleitete Hattinger und Andrea Erhard zur Haustür. Hattinger gab ihr eine Visitenkarte.

„Wenn dem Herrn Wagner no was einfällt, dann rufen S’ bitte an. Wiederschaun.“

Schwester Ines schaute den beiden kopfschüttelnd hinterher und begann wieder vor sich hin zu schimpfen, bevor sie die Haustür schloss.

„Graf, hat er gsagt“, resümierte Hattinger. „Gräulich gemein … I glaub, dass der mehr woaß, ois ma so denkt.“

„Des glaub i ah“, stimmte Andrea Erhard zu.

7

„Servus Fred. Frohe Weihnachten.“

Fred Bamberger drehte sich um.

„Ja von wegen. Du mi ah“, knurrte er.

„I konn nix dafür“, entschuldigte sich Hattinger.

„Unter uns, i bin ganz froh. Bei uns dahoam hat si’ die Tante Rosa ogsagt über Weihnachten. Mei Schwägerin. Die geht mir dermaßen aufn Senkl! Oiso je länger i weg bin, desto besser.“

Hattinger lachte. Er erzählte Bamberger vom Besuch seines Bruders.

„Was, du hast an Bruada? Seit wann?“

„Scho immer.“

„Sauber … Warum woaß i des ned?“

„Den hab i selber vergessn. Ewig nimmer gseng. Lebt in Südamerika.“

„Ach so.“ Damit war das Thema für Bamberger erledigt. „Sag amoi, du hast ned zufällig Zigarettn dabei?“

„Naa, duad ma leid. I rauch doch nimmer.“

„Ah geh? Seit wann?“

„Seit letzter Woch.“

„Ja dann, gratuliere. Oiso was liegt o?“

„Erst amoi die Laube mit der Leich, bis die Rechtsmedizin kommt. Dann as Haus, Einbruchsspuren, Türen, Fenster und so weida. I geh eher von Fremdverschulden aus, aber i schau mi amoi um, ob ned doch irgendwo a Abschiedsbrief rumliegt.“

„Alles klar.“

Hattinger ging ins Haus, Wildmann kam ihm entgegen.

„Also, so viel konnte ich in Erfahrung bringen: Dr. Herbert Graf war 54 Jahre alt, verheiratet mit Miranda Graf, 48. Keine Kinder. Die Frau ist ja offensichtlich nicht da, ich denke, wir suchen erst mal nach ihrer Handynummer, um sie zu erreichen?“

Hattinger nickte.

„Woaß ma, was er von Beruf war?“

„Er hat wohl eine Firma in Bad Aibling. Näheres wissen wir noch nicht.“

„Und was war er für a Doktor?“

„In seinem Arbeitsraum hängt eine gerahmte Urkunde hinterm Schreibtisch, klingt spanisch. Ein Dr. h. c.“

„Honoris causa, a Ehrendoktor … Na ja, des kommt oam schnell spanisch vor.“

„Nein, ich meine, die Urkunde ist in Spanisch geschrieben“, sagte Wildmann. „Kann ich zufällig nicht, aber irgendwas mit Pharmakologie steht drauf.“

„Zoag ma amoi den Arbeitsraum bitte.“

Wildmann ging voran durch das weitläufige Wohnzimmer. Wohnhalle wäre treffender gewesen. Die lange Fensterfront zum Garten war durch Alujalousien halb abgedunkelt. Hattinger schaute sich um, wohnlich fand er den Raum jedenfalls nicht. Er war spärlich und irgendwie halbedel möbliert, das sah alles nach Katalog aus, strahlte eine understatement-protzige Kühle und Beliebigkeit aus. Ein riesiges weißes Ledersofa dominierte den Raum, davor ein völlig unpassender Couchtisch mit zentimeterdicker Glasplatte, an die zweieinhalb Meter lang.

Hattinger fiel auf, dass hier nichts rumlag, keine Zeitungen, Bücher, leere Gläser, Kaffeetassen, nichts. Der einzige Fremdkörper war ein kleiner Haufen Männerkleidung neben einem der zwei Ledersessel, die diese kalkweiße Monstersitzgruppe komplettierten. Ihn überkam ein Frösteln bei dem Anblick.

„Die Klamotten muaß der Bamberger mitnehma“, sagte er überflüssigerweise zu Wildmann. Ihnen beiden war klar, dass er das sowieso tun würde.

Wildmann nickte. „Dachte auch, dass er die vielleicht anhatte, bevor er im Garten gelandet ist.“ Er bog am Ende der Wohnhalle in einen Seitenflur. „Da hinten ist der Arbeitsraum.“

Das Zimmer war ebenfalls durch eine Jalousie abgedunkelt. Hattinger zog die Handschuhe wieder an und drückte den Lichtdimmer neben der Tür. Eine angenehm warme indirekte Beleuchtung über Fenster und Regalen fuhr langsam hoch.

Gediegene Büroatmosphäre, viel poliertes, dunkles Holz, und keineswegs so aufgeräumt wie das Wohnzimmer. Ein großzügiger Schreibtisch, Mahagoni, nebst den üblichen Schreibutensilien, mit Notizen, Post, Magazinen. Ein schnurloses Festnetztelefon lag neben der Schreibtischlampe, die filigran und ziemlich teuer aussah.

„Ingo Maurer Leuchte“, sagte Wildmann, der Hattingers Blick folgte, „Tausender mindestens …“

„Aha?“ Hattinger wunderte sich, dass Wildmann so was wusste. Aber Wildmann wusste immer mal wieder Dinge, die ihm keiner zugetraut hätte.

Oben in den Regalen, ebenfalls Mahagoni, stand eine größere Anzahl wissenschaftlicher Bücher, die mit Medizin, Physiologie oder Pharmakologie zu tun hatten. Aber auch juristische Titel zu Steuerrecht, Zollbestimmungen, Außenhandel und ähnlichen Themen waren darunter.

Auf dem mittleren Regalbrett lagen ein paar aufgeschlagene Uhrenkataloge. Daneben eine schmale Vitrine mit Platz für fünf Armbanduhren. Einer davon war leer, aber nicht unbenutzt, wie man an den Abdrücken auf dem Samtpolster erkennen konnte. Die vier Uhren in diesem Minischrein waren allesamt von teuren Marken: Omega, Blancpain, Jaeger Le Coultre und eine Breitling.

Die Fliegeruhr von Breitling hätte Hattinger auch gefallen.

„Raubmord wars eher ned“, meinte er, „wenns überhaupt Mord war.“

Neben der Uhrenvitrine stand eine schwere alte Bleistiftspitzmaschine aus Metall, hammerschlaglackiert, mit Kurbel.

„Die is ah scho 100 Jahr oid“, schätzte Hattinger.

In den unteren Etagen des Regals schließlich eine Menge Aktenordner, von denen einige halb herausgezogen waren.

An der Wand seitlich hinter dem Schreibtisch befand sich ein schwerer Tresorschrank mit Schloss und zusätzlichem Tastenfeld mit Display. Hattinger probierte, ob er aufging, er war aber verschlossen.

Es war nicht leicht, auf den ersten Blick zu entscheiden, ob in diesem Büroraum jemand nach etwas gesucht hatte, oder ob er immer in etwa so ausgesehen hatte. Zumindest schien etwas Alltägliches zu fehlen.

Wildmann schien Hattingers Gedanken zu lesen: „Kein Computer, kein Laptop, kein Mobiltelefon. Ich hab vorher schon nachgesehen. Aber ein Drucker.“

Er deutete auf den kleinen Multifunktionsdrucker auf einem Beistelltisch neben der Fensterbank.

„Nichts Besonderes, einer von denen, die man billiger kriegt als nachher die Tintenpatronen.“

„Gibts sonst irgendwo im Haus an Rechner, oder a Handy?“

„Ich war noch nicht überall, aber bisher hab ich nichts entdeckt.“

Hattinger nahm das schnurlose Telefon vom Schreibtisch, das Display zeigte nichts an. Er drückte länger die Einschalttaste, aber das Ding war tot. Hinten war ein Deckel für das Akkufach, das Fach war leer. Auf dem Schreibtisch konnte er keine Akkus entdecken. Er versuchte nacheinander, die drei Schubladen links aufzuziehen, aber sie waren abgesperrt.

„Habts irgendwo an Schlüsselbund gfundn?“

„Ja, an der Haustür. Die Tür war verschlossen. Der Hausschlüssel steckte innen.“

„Ach so?“

„Ja, aber die Terrassentür ließ sich von außen aufschieben. Der Safeschlüssel oder der vom Schreibtisch war nicht dran, das hab ich schon probiert. Wozu die anderen gehören, müssen wir noch rausfinden.“

„Hattinger?“, tönte eine resolute Frauenstimme im Flur.

Einen Moment später stand Dr. Arendt in der Tür.

„Hier sind Sie. Verstecken Sie sich am Ende vor mir?“, scherzte sie.

Die energische Rechtsmedizinerin war immer für eine launige Bemerkung gut. Das mochte Hattinger an ihr.

„Aber vor Ihnen doch ned“, entgegnete er. „I steh hoid ned so auf Leichen, des wissen S’ ja …“

„Beste Voraussetzungen für einen Leiter der Mordkommission.“

Die Frau ist nie um eine Antwort verlegen, dachte Hattinger.

Dr. Anna Amelia Arendt war schon von ihren Kommilitonen nicht zufällig mit dem Spitznamen Triple-A ausgezeichnet worden. Sie war eine Überfliegerin in ihrem Fach und duldete keinen Widerspruch.

„Kommen Sie, wir sehen uns den Toten an.“

Die kleine schlanke Person mit den großen braunen Augen reichte Hattinger gerade mal bis zum Kinn. Dafür hatte sie Power für drei.

„Na los, Sie auch, Herr Wildmann.“

„Lassen Sie mich raten“, Wildmann hatte sie nun auch schon öfters in Aktion erlebt, „Sie brauchen mich zum Umdrehen der Leiche?“

„Treffer. Zu Ihrem Personal kann man Sie beglückwünschen, Hattinger. Jetzt müsste man nur noch dem Chef beibringen, dass seine Anwesenheit bei der Obduktion obligatorisch ist.“

„Was, wem? Mir? Des is jetz aber ned fair. Zu Ihnen komm i doch immer freiwillig“, gab er zurück. „Alloa scho wegen Ihrer zuvorkommenden Art.“

Triple-A lächelte ihr undurchschaubares Lächeln und lief mit ihrem riesigen Alukoffer voran Richtung Garten.

8

Der dunkelgraue Transporter hielt vor dem Firmentor. Halb erschlossenes Gewerbegebiet, letzte Einfahrt links. Dahinter nur noch Wendeschleife und Stoppelwiese, for future use, auf Neudeutsch. Manchmal hoppelten hier Hasen über die Wiese. Heute waren keine zu sehen.

Der Mann hinterm Steuer stieg aus. Stockdunkel schon wieder. Straßenbeleuchtung war auch aus. Ausnahmsweise mal von Vorteil. Er zog die Mütze tiefer ins Gesicht.

Im Licht der Scheinwerfer ging er vorsichtig durch den Matsch zum Mauerpfosten neben dem Tor, steckte einen Schlüssel ins Schloss und betätigte den roten Druckknopf. Das graue Metalltor begann träge nach links hinter die Mauer zu rollen, mit dem vertrauten leisen Quietschen.

Der Mann sah sich um. Niemand zu sehen. Alles andere hätte ihn auch gewundert.

Er schwang sich wieder auf den Fahrersitz und steuerte den Transporter auf das Firmengelände, parkte links neben der Lagerhalle. Dann ging er zurück und schloss das Tor wieder.

So weit, so gut.

Er musste sich beeilen. Die Ware musste raus, bevor irgendjemand auf die Idee käme, danach zu suchen. Und früher oder später würden sie auf die Idee kommen. Im Zweifelsfall früher. Und er hatte noch keinen Plan, wohin damit. Erst mal zu sich. Aber dann?