Hauptgewinn: die Erde - Philip K. Dick - E-Book

Hauptgewinn: die Erde E-Book

Philip K. Dick

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Beschreibung

Das Schicksal der Welt als globales Lotteriespiel In 2203 kann jeder Herrscher des Neun-Planeten-Sonnensystems werden – ohne überhaupt zur Wahl antreten, geschweige denn sie gewinnen zu müssen. Es hängt alles vom richtigen Dreh einer riesigen Flasche ab. Als Leon Cartwright der neue »Quizmeister« wird, glaubt er, die Geschicke des Systems in seinem Sinne lenken zu können. Doch diese zufällig erworbene Macht hat ihren Preis: Der abgesetzte Quizmeister Reese Verrick sendet Attentäter aus, die nur ein Ziel haben: Cartwright zu eliminieren. Und die Konzerne haben ebenfalls ihre eigene Agenda. Entstanden in den ersten Jahren des Kalten Kriegs setzt sich Philip K. Dick in seinem ersten dystopischen Roman »Hauptgewinn: die Erde« spannend und zugleich ironisch mit Machtstrukturen auseinander und verknüpft in diesem Spiel der Zufälle Elemente der Neumann'schen Spieltheorie »Philip K. Dicks beste Bücher beschreiben immer eine Zukunft, die man sofort wiedererkennt und die gleichzeitig doch völlig unvorstellbar ist.« The New York Times Book Review

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Seitenzahl: 285

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Philip K. Dick

Hauptgewinn: die Erde

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Leo P. Kreysfeld

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Es hatte Vorzeichen gegeben. Anfang Mai 2203 erregten sich die Nachrichtenmaschinen wegen eines Schwarms weißer Krähen über Schweden. Eine Serie unerklärlicher Brände zerstörte halb den Oiseau-Lyre-Hügel, eines der wesentlichen industriellen Zentren des Systems. Kleine runde Steine gingen in der Nähe von Arbeitslagern auf dem Mars nieder. In Batavia, dem Direktorat der Neun-Planeten-Föderation, wurde ein zweiköpfiges Jersey-Kalb geboren – ein eindeutiges Zeichen, dass sich etwas von unglaublicher Tragweite zusammenbraute.

Jeder interpretierte diese Zeichen auf eigene Weise – Spekulationen darüber, was die Zufallskräfte der Natur beabsichtigten, waren ein allgemein beliebtes Thema. Jeder stellte Vermutungen an, beratschlagte und diskutierte über die Flasche – das sozialisierte Instrument des Zufalls. Die Wahrsager des Direktorats waren über Wochen ausgebucht.

Aber was für den einen ein Vorzeichen ist, ist für den anderen ein bedeutsames Ereignis. Die erste Reaktion des Oiseau-Lyre-Hügels auf diese begrenzte Katastrophe war, für die Hälfte seiner klassifizierten Beschäftigten die totale Katastrophe zu schaffen. Lehenseide wurden aufgehoben und eine Anzahl qualifizierter Forschungstechniker rausgeworfen. Auf die Straße gesetzt, wurden sie zu einem weiteren Symptom für den sich nähernden ›Punkt-von-Bedeutung‹. Die meisten der entlassenen Techniker verkamen, gingen unter, verloren sich in der unqualifizierten Masse. Aber nicht alle.

Ted Benteley rupfte seine Entlassungsnotiz direkt von dem Brett, als er sie entdeckte. Als er durch den Flur zu seinem Büro ging, zerriss er sie in kleine Stücke und warf sie in einen Abfallschlitz. Seine Reaktion auf die Entlassung kam intensiv, überwältigend und direkt. Sie unterschied sich von der Reaktion der ihn Umgebenden in einem bedeutsamen Punkt: Er war glücklich, dass sein Eid gelöst wurde. Seit dreizehn Jahren hatte er jede legale Strategie probiert, um seinen Lehenseid mit Oiseau-Lyre aufzuheben.

Zurück in seinem Büro, verschloss er die Tür, schaltete den Inter-Plan-Schirm von Visual Industries ab und stellte einige rasche Überlegungen an. Es brauchte nicht mehr als eine Stunde, um seinen Handlungsplan zu entwickeln, und dieser Plan war einfach.

Gegen Mittag erhielt er von der Außendienst-Abteilung von Oiseau-Lyre seine Geltungskarte zurück, was obligatorisch war, wenn ein Eid von oben aufgehoben wurde. Es war sonderbar, die Karte nach so vielen Jahren wiederzusehen. Er hielt sie einen Moment lang unbeholfen in der Hand, bevor er sie sorgfältig in seine Brieftasche steckte. Sie stand für eine Chance unter sechs Milliarden in der großen Lotterie. Dies war die vage Möglichkeit, durch die zufällige Bewegung der Flasche in die Klasse-Eins-Position zu kommen. Politisch gesprochen, war er um dreiunddreißig Jahre zurückversetzt – die G-Karte wurde im Augenblick der Geburt codiert.

Um 2.30 Uhr löste er seine verbliebenen Lehensverbindungen zu Oiseau-Lyre; sie waren unbedeutend und betrafen hauptsächlich ihn als Lehnsherrn und andere als Gefolgsleute. Gegen 4.00 Uhr hatte er seine Besitzanteile eingezogen, diese auf Notfall-Basis zu Geld gemacht (wobei er einen hochprozentigen Verlust durch den schnellen Umtausch in Kauf nahm) und ein Erste-Klasse-Bilett für den öffentlichen Transport erworben. Vor Einbruch der Nacht war er auf seinem Weg von Europa direkt zum indonesischen Empire und dessen Hauptstadt.

In Batavia mietete er ein billiges Zimmer in einer Pension und packte seinen Koffer aus. Der Rest seiner Habe war immer noch in Frankreich; falls er Erfolg hatte, konnte er sie später holen, falls nicht, waren sie nicht mehr wichtig. Sonderbarerweise blickte sein Zimmer auf das Hauptgebäude des Direktoriums. Schwärme von Menschen krochen wie emsige tropische Fliegen durch seine vielen Zugänge ein und aus. Alle Straßen und alle Weltraumschneisen führten nach Batavia.

Seine Geldbestände waren nicht allzu hoch – er konnte nur eine begrenzte Zeit inaktiv bleiben, dann wurde Handeln unumgänglich. Aus dem öffentlichen Informationszentrum nahm er sich mehrere Armvoll Bänder und einen Betrachter mit. Im Lauf der Tage baute er ein Informationsarsenal über alle Stadien der Biochemie auf, das Gebiet, in dem er seine Originalklassifikation erworben hatte. Während er las und paukte, ging ihm ein grimmiger Gedanke nicht aus dem Kopf: Bewerbungen um Positions-Lehenseide an den Quizmeister wurden nur einmal behandelt, wenn er beim ersten Versuch scheiterte, war er erledigt.

Dieser erste Versuch würde etwas Besonderes sein. Er war frei vom Hügel-System, und er würde nicht zurückkehren.

Während der nächsten fünf Tage rauchte er pausenlos Zigaretten, schritt unzählige Male in seinem Zimmer auf und ab und suchte schließlich im gelben Abschnitt des Interplan-Verzeichnisses die örtlichen Bett-Mädchen-Agenturen. Seine Lieblingsagentur hatte ein Büro in der Nähe – er rief an, und innerhalb einer Stunde gehörten die meisten seiner psychologischen Probleme der Vergangenheit an. Zwischen der schlanken Blondine, die die Agentur geschickt hatte und der eleganten Cocktail-Bar unten konnte er es noch weitere vierundzwanzig Stunden aushalten. Aber weiter konnte er es nicht hinausschieben. Die Zeit zum Handeln war gekommen – es hieß: jetzt oder nie.

Ein kalter Hauch lag auf ihm, als er an diesem Morgen aufstand. Quizmeister Verricks Einstellungssystem war in das Grundprinzip von Minimax integriert: Positionseide wurden offensichtlich auf zufälliger Grundlage vergeben. In sechs Tagen war Benteley nicht imstande gewesen, ein Muster zu erkennen. Es war unmöglich, zu erkennen, welcher Faktor – falls es überhaupt einen gab – zu erfolgreichen Bewerbungen führte. Er schwitzte, nahm eine kurze kalte Dusche und schwitzte wieder. Trotz seines tagelangen Paukens hatte er nichts gelernt. Er würde blind antreten. Er rasierte sich, zog sich ah, zahlte Lori ihr Honorar und schickte sie dann zurück zur Agentur.

Einsamkeit und Angst machten ihm schwer zu schaffen. Er gab sein Zimmer auf, brachte seinen Koffer unter und kaufte sich der größeren Sicherheit wegen ein zweites Glücksamulett. In einem öffentlichen Waschraum verbarg er das Amulett unter seinem Hemd und zog sich für zehn Cent Luminal aus dem Automaten. Das Beruhigungsmittel entspannte ihn ein wenig; er ging hinaus und winkte einem Robottaxi.

»Hauptdirektoratsgebäude«, sagte er zu dem Fahrer. »Und lass dir Zeit.«

»In Ordnung, Sir oder Madam«, antwortete der MacMillan-Roboter und fügte hinzu: »Was immer Sie wünschen.« MacMillans waren zu feinen Unterscheidungen nicht fähig.

Warme Frühlingsluft strömte in den Wagen, als er über die Dächer dahinhuschte. Benteley achtete nicht darauf. Sein Blick war auf den größer werdenden Gebäudekomplex vor dem Taxi fixiert. Gestern Nacht waren seine schriftlichen Arbeiten übermittelt worden. Er hatte die richtige Zeit abgewartet – sie mussten jetzt auf dem Tisch des ersten Prüfers der unendlichen Reihe von Direktoratsangestellten auftauchen.

»Wir sind da, Sir oder Madam.« Das Robottaxi sank herab und hielt. Benteley bezahlte es und trat aus der geöffneten Tür.

Überall hasteten Menschen. Die Luft summte in unaufhörlichem aufgeregtem Gemurmel. Die Spannung der letzten Wochen hatte den Siedepunkt erreicht. Tippgeber boten ›Methoden‹ an, gar nicht teure, todsichere Theorien, die garantiert die Bewegungen der Flasche vorhersagen und das ganze Minimax-Spiel schlagen konnten. Sie wurden von den hastenden Menschen ignoriert – jeder, der über ein echtes Vorhersagesystem verfügte, würde es benutzen und nicht verkaufen.

Benteley hielt auf einem der Hauptfußgängerwege inne, um sich eine Zigarette anzuzünden. Seine Hände zitterten nicht, nicht wirklich. Er klemmte seine Aktenmappe unter den Arm, und steckte die Hände in die Taschen, während er weiter auf die Bearbeitungshalle zuging. Er schritt unter dem schweren Prüfbogen durch und war drinnen. Vielleicht würde er nächsten Monat um diese Zeit unter Lehenstreue zum Direktorat stehen … er blickte hoffnungsvoll auf den Bogen und berührte eines der Amulette unter seinem Hemd.

»Ted«, erklang eine leise eindringliche Stimme. »Warte.«

Er blieb stehen. Mit wippenden Brüsten drängte sich Lori durch die dichte Menge und kam rasch näher. »Ich habe was für dich«, sagte sie atemlos. »Ich wusste, dass ich dich hier finde.«

»Was?«, fragte Benteley angespannt. Er war sich bewusst, dass das Te-Pe-Korps des Direktorats in der Nähe war, und er war nicht besonders daran interessiert, dass achtzig gelangweilte Telepathen seine intimen Gedanken kannten.

»Hier.« Lori griff ihm um den Hals und ließ einen Verschluss zusammenklicken. Die Vorübergehenden grinsten in verständnisvollem Amüsement – es war ein weiteres Glücksamulett.

Benteley sah es sich genauer an. Das Amulett sah teuer aus. »Du glaubst, dass es mir helfen wird?«, fragte er. Lori wiederzusehen gehörte nicht zu seinem Plan.

»Ich hoffe.« Sie berührte kurz seinen Arm. »Danke, dass du so nett warst. Du hast mich wegexpediert, bevor ich es dir sagen konnte.« Sie zögerte wehmütig. »Glaubst du, dass du eine große Chance hast? He, wenn du genommen wirst, bleibst du vielleicht hier in Batavia.«

Gereizt antwortete Benteley: »Du wirst te-ped, also telepathisch erfasst, während du hier stehst. Verrick hat seine Telepathen hier überall verteilt.«

»Das macht mir nichts«, sagte Lori versonnen. »Ein Bett-Mädchen hat nichts zu verbergen.«

Benteley fand das nicht komisch. »Mir gefällt es nicht. Ich bin noch nie in meinem Leben te-ped worden.« Er zuckte die Achseln. »Aber ich glaube, wenn ich hierbleibe, werden ich mich daran gewöhnen müssen.«

Er ging zum Zentraltisch und hielt Geltungs- und Kennkarte bereit. Die Schlange bewegte sich rasch. Einige Augenblicke später nahm der MacMillan-Funktionär die Ausweise entgegen, überflog sie und sagte übellaunig: »In Ordnung, Ted Benteley. Sie können jetzt hineingehen.«

»Nun«, meinte Lori matt, »wir werden uns ja wohl sehen, denke ich. Falls du hierbleibst …«

Benteley drückte seine Zigarette aus und wandte sich dem Eingang der inneren Büros zu. »Ich lasse von mir hören«, murmelte er, das Mädchen kaum wahrnehmend. Die Aktentasche eng an sich gepresst, schob er sich durch die Reihen der wartenden Menschen und trat schnell durch die Tür, die sich augenblicklich hinter ihm schloss.

Er war drinnen: Es ging los.

 

Ein kleiner Mann mit Stahlbrille und einem winzigen gewichsten Schnurrbart stand in der Nähe der Tür und betrachtete ihn eindringlich. »Sie sind Benteley, wie?«

»Das ist richtig«, erwiderte Benteley. »Ich bin hier, um mit Quizmeister Verrick zu sprechen.«

»Warum?«

»Ich suche eine Position der Klasse 8–8.«

Eine junge Frau platzte abrupt ins Büro, ignorierte Benteley und meinte eilig: »Also, es ist vorbei.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Siehst du? Bist du jetzt zufrieden?«

»Gib nicht mir die Schuld«, sagte der kleine Mann. »So ist das Gesetz.«

»Das Gesetz!« Das Mädchen trat mit einer gleitenden Bewegung an den Schreibtisch und warf mit einer Kopfbewegung das Gewirr ihres roten Haares aus der Stirn. Sie griff sich die auf der Platte liegende Schachtel mit Zigaretten und zündete sich eine davon mit bebenden, nervösen Fingern an. »Lass uns verdammt nochmal von hier verschwinden, Peter. Es gibt hier nichts Wichtiges mehr.«

»Du weißt, dass ich bleibe«, sagte der kleine Mann.

»Du bist ein Narr.« Das Mädchen hatte sich halb umgewandt, als sie zum ersten Mal Benteley bemerkte. In ihren grünen Augen flackerte Überraschung und Interesse auf. »Wer sind Sie?«

»Vielleicht kommen Sie besser ein andermal wieder«, sagte der kleine Mann zu Benteley. »Dies ist nicht ganz der richtige …«

»Ich bin nicht so weit gereist, um mich abwimmeln zu lassen«, erklärte Benteley mit heiserer Stimme. »Wo ist Verrick?«

Das Mädchen musterte ihn neugierig. »Sie wollen Reese sehen? Was haben Sie anzubieten?«

»Ich bin Biochemiker«, erwiderte Benteley wütend. »Ich suche eine Position der Klasse 8–8.«

Die roten Lippen des Mädchens verzogen sich in einem Hauch leichter Belustigung. »Ach. Tatsächlich? Interessant …« Sie hob die nackten Schultern. »Vereidige ihn, Peter.«

Der kleine Mann zögerte. Unwillig streckte er seine Hand aus. »Ich bin Peter Wakeman«, sagte er zu Benteley. »Die junge Dame hier ist Eleanor Stevens. Sie ist Verricks Privatsekretärin.«

Das war nicht genau das, was Benteley erwartet hatte. Es trat ein kurzes Schweigen ein, während die drei sich musterten.

»Der MacMillan hat ihn reingeschickt«, sagte Wakeman dann. »Wir haben eine Anforderung nach 8–8-Personal offen. Aber ich glaube, Verrick hat keinen Bedarf für weitere Biochemiker – er hat bereits genug.«

»Was weißt du davon?«, fragte Eleanor Stevens. »Das geht dich überhaupt nichts an; du hast mit Personalfragen nichts zu tun.«

»Ich benutze den gesunden Menschenverstand.« Wakeman stellte sich mit voller Absicht bedächtig zwischen das Mädchen und Benteley. »Es tut mir leid«, sagte er zu ihm. »Sie verschwenden hier Ihre Zeit. Gehen Sie zu den Einstellungsbüros der Hügel – die kaufen und verkaufen permanent Biochemiker.«

»Ich weiß«, sagte Benteley. »Ich habe für das Hügel-System gearbeitet, seit ich sechzehn war.«

»Was wollen Sie dann hier?«, fragte Eleanor.

»Oiseau-Lyre hat mich gefeuert.«

»Wechseln Sie zu Soong.«

»Ich werde für keinen der Hügel mehr arbeiten!« Benteleys Stimme wurde schroff. »Mit den Hügeln bin ich ein für alle Mal fertig.«

»Warum?«, wollte Wakeman wissen.

Benteley grunzte böse. »Die Hügel sind korrupt. Das ganze System verfault. Es verkauft sich an den höchsten Bieter … und es wird immer wieder neu geboten.«

Wakeman dachte nach. »Ich sehe nicht, dass das etwas mit Ihnen zu tun hat. Sie haben Ihre Arbeit – und damit sollten Sie sich befassen.«

»Ich erhalte Geld für meine Fähigkeiten, meine Zeit und meine Loyalität«, stimmte Benteley zu. »Ich habe ein sauberes weißes Labor und darf eine Ausrüstung benutzen, die mehr kostet, als ich in meinem Leben verdienen kann. Ich erhalte eine Status-Versicherung und totalen Schutz. Aber ich frage mich, was das Endresultat meiner Arbeit ist. Ich frage mich, wozu sie schließlich verwendet wird.«

»Wozu wird sie verwendet?«, fragte Eleanor.

»Zu nichts – sie landet auf dem Müll! Sie hilft niemandem.«

»Wem sollte sie helfen?«

Benteley rang nach einer Antwort. »Ich weiß es nicht. Irgendjemand, irgendwo. Möchten Sie nicht, dass Ihre Arbeit etwas Positives leistet? Ich habe den Gestank, der über Oiseau-Lyre hängt, so lange wie möglich ertragen. Die Hügel sollen separate und unabhängige ökonomische Einheiten sein – tatsächlich bestehen sie aus Schiebungen, Spesenreiterei und Steuerbetrug. Und es geht noch tiefer. Sie kennen den Hügel-Slogan: DIENST IST GUT UND BESSERER DIENST IST DER BESTE. Das ist ein Witz! Glauben Sie, die kümmern sich darum, ob sie irgendjemand dienen? Anstatt für das Wohlergehen der Allgemeinheit zu existieren, sind sie Parasiten der Allgemeinheit.«

»Ich habe nie die Vorstellung gehabt, die Hügel seien philanthropische Organisationen«, bemerkte Wakeman trocken.

Benteley entfernte sich rastlos ein paar Schritte von den beiden. Sie betrachteten ihn, als sei er so etwas wie ein Alleinunterhalter. Warum hatte er sich so über die Hügel aufgeregt? Für einen Hügel den klassifizierten Gefolgsmann zu spielen zahlte sich aus – bisher hatte sich niemand beklagt. Aber er beklagte sich. Vielleicht war das ein Mangel an Realismus bei ihm, ein anachronistisches Überbleibsel, das die Klinik für Kinderführung nicht aus ihm hatte herausschütteln können. Was immer es war, er hatte so viel hingenommen, wie er ertragen konnte.

»Woher wollen Sie wissen, dass das Direktorat besser ist?«, fragte Wakeman. »Sie haben eine Menge Illusionen, glaube ich.«

»Lass ihn den Eid ablegen«, sagte Eleanor gleichgültig. »Wenn es das ist, was er will, gib es ihm.«

Wakeman schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn nicht vereidigen.«

»Dann werde ich es tun«, erklärte das Mädchen.

»Sie entschuldigen«, sagte Wakeman. Er holte eine Flasche Scotch aus der Schreibtischschublade und goss sich etwas davon in ein Glas. »Sonst noch jemand?«

»Nein, danke«, erwiderte Eleanor.

Benteley wandte sich irritiert um. »Was, zum Teufel, soll das alles bedeuten? Wird so das Direktorat geführt?«

Wakeman lächelte. »Sehen Sie? Ihre Illusionen werden zerstört. Bleiben Sie, wo Sie sind, Benteley. Sie merken nicht, wenn es Ihnen gutgeht.«

Eleanor glitt von dem Tisch und eilte aus dem Raum. Einen Moment später kehrte sie mit der üblichen Symbolverkörperung des Quizmeisters zurück. »Kommen Sie hier herüber, Benteley, ich werde Ihren Eid entgegennehmen.« Sie stellte eine kleine fleischfarbene Kunststoffbüste von Reese Verrick in die Mitte des Tisches und wandte sich munter zu Benteley um. »Kommen Sie.« Als Benteley langsam auf den Tisch zuging, griff sie hoch und berührte den Stoffbeutel, der mit einer Kette an seinem Hals hing, den Talisman, den Lori ihm gegeben hatte. »Was für ein Glücksbringer ist das?«, fragte sie, während sie ihn zu sich herüberzog. »Erzählen Sie mir davon.«

Benteley zeigte ihr das bisschen magnetisierten Stahl und den weißen Puder. »Jungfrauenmilch«, erklärte er schroff.

»Das ist alles, was Sie tragen?« Eleanor deutete auf die Sammlung von Glücksbringern zwischen ihren nackten Brüsten. »Ich kann nicht begreifen, wie Leute mit nur einem Talisman zurechtkommen.« Ihre grünen Augen tanzten. »Vielleicht kommen Sie nicht zurecht. Vielleicht haben Sie deshalb Pech.«

»Ich habe eine hochpositive Einstufung«, begann Benteley gereizt. »Und ich habe zwei weitere Amulette. Dies hier hat mir jemand gegeben.«

»Oh?« Sie beugte sich herüber und untersuchte es aufmerksam. »Es sieht aus wie die Art von Talisman, den eine Frau kaufen würde. Teuer, aber ein wenig zu dick aufgetragen.«

»Ist es wahr«, fragte Benteley sie, »dass Verrick überhaupt keine Glücksbringer trägt?«

»Das stimmt«, warf Wakeman ein. »Er braucht sie nicht. Als die Flasche ihn zur Eins machte, war er schon Klasse 6–3. Wenn einer Glück hat, dann dieser Mann. Er ist bis zur Spitze emporgestiegen, genau wie man es auf den Bildungsbändern für die Kinder sehen kann. Das Glück quillt ihm aus allen Poren.«

»Ich habe Leute gesehen, die ihn berührten, um etwas davon abzubekommen«, sagte Eleanor mit scheuem Stolz. »Ich kann ihnen keinen Vorwurf daraus machen, ich habe ihn mehrmals selbst berührt.«

»Was hat es dir genützt?«, fragte Wakeman ruhig, er deutete auf die verfärbten Schläfen des Mädchens.

»Ich wurde nicht am selben Ort und zur selben Zeit geboren wie Reese«, erwiderte das Mädchen kurz.

»Ich halte es nicht mit der Astro-Kosmologie«, sagte Wakeman gelassen. »Ich glaube, dass Glück gewonnen und verloren werden kann. Es kommt in Strähnen.« Langsam und eindringlich fuhr er an Benteley gewandt fort: »Verrick mag es jetzt haben, aber das bedeutet nicht, dass er es immer haben wird. Sie …« Er deutete vage nach oben. »Sie scheinen eine Art von Gleichgewicht und Ausgleich zu bevorzugen.« Dann fügte er hastig hinzu: »Ich bin kein Christ oder so etwas, verstehen Sie. Ich weiß, dass alles auf Zufällen und Wahrscheinlichkeiten beruht.« Er blies Benteley eine komplette Geruchsmischung nach Pfefferminz und Zwiebeln ins Gesicht. »Aber jeder bekommt eines Tages seine Chance. Und die Großen und Mächtigen fallen immer.«

Eleanor schoss Wakeman einen warnenden Blick zu. »Sei vorsichtig.«

Ohne seinen Blick von Benteley zu nehmen, sagte Wakeman langsam: »Denken Sie an das, was ich Ihnen sage. Sie sind jetzt ohne Lehensverpflichtung – ziehen Sie Vorteil daraus. Leisten Sie keinen Eid auf Verrick. Sie werden als einer seiner ständigen Gefolgsmänner an ihn gebunden sein. Und das wird Ihnen nicht gefallen.«

Benteley war erschreckt. »Sie meinen, ich soll meinen Lehenseid direkt auf Verrick leisten? Keinen Positionseid auf den Quizmeister?«

»Das ist richtig«, erklärte Eleanor.

»Warum?«

»Die Lage ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwas ungewiss. Eine weitergehende Information kann ich Ihnen nicht geben. Sie werden bald eine Ihren Klassenansprüchen genügende Aufgabe erhalten, das ist garantiert.«

Benteley nahm seine Aktentasche und trat ziellos zurück. Seine Strategie, sein Plan waren zusammengebrochen. Von dem, was ihm hier begegnet war, entsprach nichts seinen Erwartungen. »Dann bin ich also dabei?«, fragte er halb verärgert. »Ich bin akzeptabel?«

»Sicher«, erwiderte Wakeman teilnahmslos. »Verrick will alle 8–8er, die er bekommen kann. Für Sie kann nichts schiefgehen.«

Benteley entfernte sich hilflos von den beiden. Irgendetwas stimmte nicht. »Warten Sie«, sagte er verwirrt und unsicher. »Ich muss das durchdenken. Geben Sie mir Zeit, mich zu entscheiden.«

»Dann fangen Sie damit an«, sagte Eleanor gleichgültig.

»Danke.« Benteley zog sich zurück, um die Situation neu zu bewerten.

Eleanor schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen durch den Raum. »Noch irgendwelche weiteren Neuigkeiten über jenen Burschen?«, fragte sie Wakeman. »Ich warte.«

»Nur die kabelgebundene Vorwarnung an mich«, erklärte Wakeman. »Sein Name ist Leon Cartwright. Er ist Mitglied irgendeiner Art von Kult, eine verrückte Minisekte. Ich bin neugierig, wie er wohl ist.«

»Ich nicht.« Eleanor machte am Fenster halt und blickte trübsinnig auf die Straßen und Rampen hinunter. »Sie werden bald kreischen. Es dauert jetzt nicht mehr lange.« Ungelenk hob sie den Arm und strich mit ihren schlanken Fingern über die Schläfen. »Gott, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Aber es ist vorbei – ich kann nichts mehr ändern.«

»Es war ein Fehler«, stimmte Wakeman zu. »Wenn du ein wenig älter bist, wirst du erkennen, wie groß er war.«

Angst huschte blitzartig über das Gesicht des Mädchens. »Ich werde Verrick nie verlassen. Ich muss bei ihm bleiben!«

»Warum?«

»Ich werde sicher sein. Er wird sich um mich kümmern – das hat er immer getan.«

»Das Korps wird dich schützen.«

»Ich will nichts mit dem Korps zu tun haben.« Ihre roten Lippen zogen sich von den geraden weißen Zähnen zurück. »Meine Familie. Mein willfähriger Onkel Peter – käuflich wie seine Hügel.« Sie deutete auf Benteley. »Und er glaubt, dass es hier nicht so ist.«

»Das ist keine Frage der Käuflichkeit«, sagte Wakeman. »Es ist ein Prinzip. Das Korps steht über dem Menschen.«

»Das Korps gehört zum Inventar wie dieser Schreibtisch.« Eleanor ließ ihre langen Nägel über die Oberfläche des Tisches kratzen. »Man kauft das gesamte Mobiliar, den Tisch, die Lampen, das Korps.« Abscheu glomm in ihren Augen. »Ein Prestonit, stimmt’s?«

»Richtig.«

»Kein Wunder, dass du ihn so gern kennenlernen möchtest. Auf eine morbide Weise bin ich vermutlich auch neugierig. Wie ich es auf irgendein bizarres Tier von einem der Kolonieplaneten wäre.«

Am Schreibtisch erwachte Benteley aus seinen Gedanken. »In Ordnung«, sagte er laut. »Ich bin bereit.«

»Gut.« Eleanor glitt hinter den Tisch, eine Hand erhoben, die andere auf der Büste. »Sie kennen den Eid? Brauchen Sie Hilfe?«

Benteley kannte den Lehenseid auswendig, aber nagender Zweifel ließ ihn beinahe innehalten. Wakeman stand da und musterte seine Fingernägel. Er wirkte missbilligend und gelangweilt, ein kleines Feld negativer Ausstrahlung. Eleanor Stevens sah begierig zu. Ihr Gesicht war durch eine komplexe Serie von Gefühlen, die beständig wechselten, angespannt. Mit der wachsenden Überzeugung, dass irgendetwas nicht stimmte, begann Benteley seinen Lehenseid vor der kleinen Plastikbüste aufzusagen.

Als er etwa zur Hälfte fertig war, glitten die Türen des Büros auf, und eine Gruppe von Männern trat geräuschvoll ein. Einer überragte die anderen, ein gewaltiger Mann, ungeschlacht und breitschultrig, mit einem grauen, wettergegerbten Gesicht und dichtem, stahlgrau meliertem Haar. Reese Verrick, umgeben von denen aus seinem Stab, die ihm in persönlicher Lehenstreue verpflichtet waren, hielt inne, als er die Prozedur sah, die am Tisch stattfand.

Wakeman sah hoch und fing Verricks Blick auf. Er lächelte schwach und sagte nichts, aber seine Haltung sprach für sich. Eleanor Stevens schien wie versteinert. Die Wangen gerötet, den Körper angespannt vor Gefühlen, nahm sie Benteleys unsichere Worte entgegen. Sobald er fertig war, wurde sie abrupt wieder lebendig. Vorsichtig eilte sie mit der Plastikbüste aus dem Büro und kehrte dann mit ausgestreckter Hand zurück.

»Ihre G-Karte bitte, Mr. Benteley. Wir brauchen sie.« Benteley übergab ihr benommen seine Geltungskarte. Wieder einmal war er sie los.

»Wer ist dieser Bursche?«, dröhnte Verrick mit einem Armschlenker in Benteleys Richtung. »Er hat gerade seinen Eid geleistet. Ein 8–8.« Eleanor raffte nervös ihre Sachen vom Tisch, zwischen ihren Brüsten tanzten und wippten aufgeregt ihre Glücksamulette. »Ich hole meinen Mantel.«

»8–8? Biochemiker?« Verrick beäugte Benteley interessiert. »Taugt er was?«

»Er ist in Ordnung«, sagte Wakeman. »Was ich te-ped habe, ist erstklassig.«

Eleanor knallte eilig die Tür des Wandschranks zu, warf sich den Mantel über die nackten Schultern und stopfte sich die Taschen voll. »Er ist gerade von Oiseau-Lyre eingetroffen.« Atemlos eilte sie zu der Gruppe, die Verrick umgab und schloss sich ihr an. »Er weiß es noch nicht.«

Verricks schweres Gesicht zeigte tiefe Spuren von Müdigkeit und Sorge, aber ein schwacher Funke der Belustigung leuchtete in den tiefliegenden Augen, harte, graue Kugeln weit hinter den mächtigen Brauenknochen.

»Die letzten Krumen für eine Weile. Der Rest geht an Cartwright, den Prestoniten.« Er sah Benteley an. »Wie heißen Sie?«

Sie schüttelten sich die Hände, während Benteley seinen Namen nannte. Verricks massige Hand zermalmte seine Knochen in einem Todesgriff, während Benteley kraftlos fragte: »Wohin gehen wir? Ich dachte …«

»Farben-Hügel.« Verrick und seine Gruppe bewegten sich auf die Ausgangsrampe zu, alle bis auf Wakeman, der zurückblieb, um auf den neuen Quizmeister zu warten. An Eleanor Stevens gewandt, erklärte Verrick kurz: »Wir werden von dort aus operieren. Die Bindung, die ich Farben letztes Jahr auferlegt habe, war auf mich persönlich bezogen. Ich kann dort immer noch Loyalität verlangen, trotz dem hier.«

»Trotz – was?«, fragte Benteley, plötzlich entsetzt. Die Außentüren standen offen, helles Sonnenlicht flutete auf sie hinab, vermischt mit dem Dröhnen des Straßenlärms. Zum ersten Mal drangen die Schreie der Nachrichtenmaschinen laut in seine Ohren. Als die Gruppe sich die Rampe hinunter auf das Landefeld und die wartenden Intercon-Transporter zubewegte, fragte Benteley heiser: »Was ist passiert?«

»Kommen Sie schon«, grunzte Verrick. »Sie werden früh genug alles erfahren. Wir haben zu viel Arbeit, um hier herumzustehen und zu reden.«

Langsam folgte Benteley der Gruppe. Ein kupferner Geschmack von Furcht füllte seinen Mund. Er wusste es, jetzt. Es schrillte auf ihn ein, wurde von den mechanischen Stimmen der öffentlichen Nachrichtenmaschinen herausgebrüllt.

»Verrick abgeschmettert!«, schrien die Maschinen, als sie sich durch Menschengruppen drängten. »Prestonit von Flasche zur Eins gemacht! Ein Ruck der Flasche heute morgen neun Uhr dreißig Batavia-Zeit! Verrrrrick totaaal abgeeeschmetterrrt!«

Der zufällige Geltungsruck, die Machtverschiebung, hatte stattgefunden, das Ereignis, das die Vorzeichen angekündigt hatten. Verrick war aus der Nummer-Eins-Position geruckt worden – er war nicht mehr der Quizmeister. Er war ganz nach unten gefallen, völlig aus dem Direktorat heraus.

Und Benteley hatte seinen Eid auf ihn geleistet.

Es war zu spät, um umzukehren. Er war auf dem Weg zum Farben-Hügel. Sie alle waren in dem Strudel der Ereignisse gefangen, der wie ein atemloser Wintersturm durch das Neun-Planeten-System brauste.

2

Früh am Morgen fuhr Leon Cartwright vorsichtig in seinem altertümlichen 82er Chevrolet durch die engen, gewundenen Straßen. Seine erfahrenen Hände waren fest um das Lenkrad geschlossen, die Augen auf den vor ihm liegenden Verkehr gerichtet. Wie gewöhnlich trug er einen altmodischen, aber gepflegten zweireihigen Anzug. Ein formloser Hut war auf seinen Kopf gedrückt, und in seiner Westentasche tickte eine Uhr. Alles an ihm atmete Alter und Überlebtheit; er war vielleicht sechzig Jahre alt, ein magerer, sehniger Mann, sehr groß und aufrecht, aber von zartem Knochenbau, mit milden blauen Augen und Leberflecken auf den Handrücken. Seine Arme waren dünn, aber stark und drahtig. Auf seinem hageren Gesicht lag ein ruhiger, fast sanfter Ausdruck. Er fuhr, als würde er weder sich selbst noch dem überalterten Wagen recht trauen.

Auf dem Rücksitz lagen Haufen von Postbändern, die fertig zum Versand waren. Der Boden war von schweren Bündeln aus Metallfolie bedeckt, die adressiert und frankiert werden mussten. In der Ecke lag ein alter zusammengeknüllter Regenmantel zusammen mit einer abgenutzten Brotbüchse und einem Paar abgelegter Überschuhe. Unter dem Sitz steckte ein geladener Hopper Popper, der dort vor Jahren deponiert worden war.

Die Gebäude, die zu beiden Seiten an Cartwright vorbeistrichen, waren alt und verblichen, schwächliche, abblätternde Dinger mit staubigen Fenstern und trüben Leuchtreklamen. Es waren Relikte des letzten Jahrhunderts wie er selbst und sein Wagen. Graue, düstere Männer in verblichenen Hosen und Arbeitsjoppen, die Hände in den Taschen, mit leerem, unfreundlichem Blick, lungerten in Eingängen und gegen Wände gelehnt herum. Plumpe Frauen in mittlerem Alter mit formlosen schwarzen Mänteln zogen klapprige Einkaufswagen in düstere Läden, um verdrießlich die trostlosen Angebote durchzusehen – verdorbene Lebensmittel, die sie in ihre stickigen, muffigen Wohnungen mitnehmen würden, zu ihren ruhelosen, unbeständigen Familien.

Das Los der Menschheit, stellte Cartwright fest, hatte sich in der letzten Zeit nicht sehr geändert. Das Klassifikationssystem, die komplexen und umständlichen Quizze, hatten den meisten Menschen nicht das Geringste genützt. Die Unks, die Unklassifizierten, existierten weiter.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war das Problem der Produktion gelöst worden; danach war es das Problem des Verbrauchs, das die Gesellschaft geplagt hatte. In den fünfziger und sechziger Jahren türmten sich in der gesamten westlichen Welt landwirtschaftliche Produkte und Konsumgüter zu gewaltigen Bergen. So viel wie möglich wurde verschenkt – aber das drohte den freien Markt zu untergraben. In den achtziger Jahren war die vorläufige Lösung, die Produkte aufzuhäufen und zu verbrennen – Werte in Milliardenhöhe, Woche für Woche.

Jeden Samstag hatten sich die Bürger zu zornigen, unzufriedenen Gruppen versammelt, um zu beobachten, wie Soldaten Benzin über die Autos und Toaster, die Kleidungsstücke und Orangen, den Kaffee und die Zigaretten gossen. Weil niemand die Waren kaufen konnte, wurden sie zu einem flammenden Scheiterhaufen. In jeder Stadt gab es einen abgezäunten Verbrennungsplatz, eine Art Müll- und Aschehaufen, wo die schönen Dinge, die man nicht erwerben konnte, systematisch vernichtet wurden.

Die Quizveranstaltungen hatten ein wenig geholfen. Wenn die Menschen es sich nicht leisten konnten, die teuer hergestellten Güter zu kaufen, konnten sie immer noch hoffen, sie zu gewinnen. Die Ökonomie wurde für Jahrzehnte durch raffinierte Verschenkaktionen gestützt, wobei Tonnen von glitzernden Waren verteilt wurden. Aber auf jeden, der einen Wagen, einen Kühlschrank oder Fernseher gewann, kamen Millionen, die leer ausgingen. Über die Jahre wandelten sich die Preise in den Quizzen nach und nach von materiellen Gütern zu wirklichkeitsnäheren Dingen: Macht, Geltung, Positionen. Und an der Spitze das höchste Amt: Verteiler der Macht – Quizmeister. Und das bedeutete, das Quiz selbst zu beherrschen.

Die Zersetzung des sozialen und ökonomischen Systems war langsam und gründlich verlaufen. Sie ging so tief, dass die Menschen selbst das Vertrauen in die Naturgesetze verloren. Nichts schien mehr stabil und verlässlich zu sein – das Universum war beständig fließender Wandel. Niemand wusste, was als Nächstes kam. Man konnte auf nichts bauen, auf nichts vertrauen. Statistische Vorhersagen gewannen an Popularität … das Prinzip von Ursache und Wirkung selbst starb aus. Die Menschen verloren das Vertrauen in die Überzeugung, dass sie ihre Umwelt kontrollieren konnten. Alles, was blieb, waren wahrscheinliche Abfolgen: gute Chancen in einem Universum der zufälligen Möglichkeiten.

Die Minimax-Theorie – das M-Spiel – war eine Art stoischer Verweigerung, ein Nichtteilnehmen an dem ziellosen Wirbel, in dem die Menschheit kämpfte. Der M-Spieler legte sich niemals wirklich fest; er riskierte nichts und gewann nichts … und wurde nicht überwältigt. Er bemühte sich, seinen Einsatz zu horten, und strengte sich an, länger durchzustehen, als die anderen Spieler. Der M-Spiel-Teilnehmer saß da und wartete darauf, dass das Spiel endete – das war das Beste, worauf man hoffen konnte.

Minimax, die Methode, das große Spiel des Lebens durchzustehen, war von zwei Mathematikern des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt worden: von v. Neumann und Morgenstern. Sie war im Zweiten Weltkrieg, im Koreakrieg und im letzten Krieg verwendet worden. Militärstrategen und nach ihnen Finanziers hatten mit der Theorie gespielt. In der Mitte des Jahrhunderts wurde von Neumann in die U.S.-Atomenergiebehörde berufen, eine Anerkennung der zunehmenden Bedeutung seiner Theorie. Und in zweieinhalb Jahrhunderten wurde sie zur Grundlage des Regierens.

Das war der Grund, warum Leon Cartwright, Elektronikreparateur und menschliches Wesen mit einem Gewissen, zum Prestoniten geworden war.

Cartwright blinkte und lenkte seinen altertümlichen Wagen an die Bordsteinkante. Vor ihm schimmerte das Gesellschaftsgebäude schmutzigweiß in der Maisonne, ein schmales, dreistöckiges Holzbauwerk, dessen einziges Zeichen über der Wäscherei nebenan in die Luft ragte: PRESTON GESELLSCHAFT Hauptbüros rückseitig.

Hier war der Hintereingang, die Laderampe. Cartwright öffnete die Hintertür des Wagens und begann Kartons mit Postversandliteratur auf den Bürgersteig zu stellen. Die vorbeischwärmenden Leute ignorierten ihn; einige Meter weiter entlud ein Fischhändler seinen Lastwagen in gleicher Weise. Auf der anderen Straßenseite beschirmte ein massiges Hotel eine bunte Mischung von Läden und verfallenen Geschäften: Leihhäuser, Tabakshops, Bordelle und Bars.

Cartwright schob einen der Kartons den schmalen Durchgang hinunter in den düsteren Lagerraum des Gebäudes. Eine einzelne atronische Birne glomm schwach in der klammen Finsternis: zu allen Seiten waren Vorräte aufgestapelt, aufragende Türme aus Kartons und drahtverschnürten Schachteln. Er fand einen unbenutzten Fleck, setzte seine schwere Last ab und ging dann durch den Gang in das enge, kleine Büro.

Das Büro und sein kahler Empfangsraum waren – wie gewöhnlich – leer. Die Vordertür des Gebäudes stand weit offen. Cartwright griff sich einen Stapel Post, ließ sich auf der durchgesessenen Couch nieder, breitete die Post auf dem Tisch aus und begann sie durchzusehen. Es war nichts Bedeutendes dabei: Druck-, Fracht- und Mietrechnungen, Mahnungen wegen überfälliger Gebühren für Müllabfuhr und Elektrizität, Wasser und seltene Rohstoffe.

Er öffnete einen Brief und entnahm ihm einen Fünf-Dollar-Schein und eine lange Notiz in der zittrigen Handschrift einer alten Frau. Es gab ein paar weitere winzige Unterstützungen. Er addierte sie und stellte fest, dass die Gesellschaft dreißig Dollar eingenommen hatte.

»Sie werden unruhig«, sagte Rita O’Neill, die im Durchgang hinter ihm aufgetaucht war. »Wir sollten vielleicht anfangen.«

Cartwright seufzte. Es war so weit. Er stand auf, leerte noch einen Aschenbecher, rückte einen Stapel eselsohriger Ausgaben von Prestons Flammenscheibe zurecht und folgte dem Mädchen widerwillig in den niedrigen Gang. Unter der von Fliegenschmutz bedeckten Fotografie von John Preston, genau links neben der Reihe von Wandhaken, trat er durch die Nebentür in den undeutlich erkennbaren inneren Durchgang, der parallel zu dem gewöhnlichen Korridor verlief.

Bei seinem Anblick stellten die Leute abrupt das Reden ein. Alle Augen wandten sich ihm zu; begierige Hoffnung, vermischt mit Furcht, wogte durch den Raum. Erleichtert drängten einige der Leute auf ihn zu; das Gemurmel wuchs wieder an und wurde zu Geplapper. Jetzt versuchten sie alle seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein Kreis erregter, gestikulierender Männer und Frauen hatte sich um ihn gebildet, als er sich auf das Zentrum zubewegte.

»Endlich geht es los«, sagte Bill Konklin erleichtert.

»Wir haben so lange gewartet, länger können wir nicht warten!«, sagte Mary Uzich neben ihm eifrig.

Cartwright tastete in seinen Taschen herum, bis er seine Checkliste gefunden hatte. Eine verwirrende Vielfalt von Menschen hatte sich begierig um ihn versammelt; mexikanische Arbeiter, stumm und verschreckt, die sich an ihren Habseligkeiten festklammerten; ein hartgesichtiges Städterpaar; ein Turbinenreiniger; optische Facharbeiter japanischer Herkunft; ein Bett-Mädchen mit roten Lippen; ein Mann in mittleren Jahren, Besitzer eines Textilgeschäftes, das pleitegegangen war; ein Agronomie-Student; ein Patentmedizin-Hausierer; ein Koch; eine Krankenschwester; ein Zimmermann. Sie alle schwitzten, drängelten, lauschten, beobachteten angespannt.

Dies waren Menschen, deren Geschicklichkeit in ihren Händen lag – nicht in ihren Köpfen. Ihre Fähigkeiten entsprangen Jahren von praktischer Arbeit und Erfahrung, aus dem direkten Umgang mit Gegenständen. Sie konnten Pflanzen aufziehen, Fundamente legen, lecke Rohre reparieren, Maschinen in Gang halten, Kleidung weben und nähen, Nahrung zubereiten. Nach dem Klassifikationssystem beurteilt, waren sie Versager.

»Ich glaube, es sind alle da«, sagte Jereti angespannt.

Cartwright atmete tief durch, als würde er beten, und hob seine Stimme, damit alle ihn hören konnten. »Ich möchte etwas sagen, bevor ihr geht. Das Schiff ist bereit zum Start – es wurde von unseren Freunden auf dem Feld überprüft.«

»Das trifft zu«, bestätigte Kapitän Groves, ein beeindruckender, finster aussehender Schwarzer in Lederjacke, -handschuhen und -stiefeln.

Cartwright raschelte mit dem Bündel zerknautschter Metallfolien. »Nun, das wäre es. Hat noch irgendjemand irgendwelche Zweifel? Möchte noch jemand aussteigen?«

Es gab Erregung und spürbare Spannung, aber keiner von ihnen rührte sich. Mary Uzich lächelte Cartwright und dann den jungen Mann neben sich an; Konklin legte seinen Arm um sie und zog sie an sich.