Hausers Ausflug - Steffen Mensching - E-Book

Hausers Ausflug E-Book

Steffen Mensching

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Beschreibung

David Hauser, Geschäftsführer der Firma AIRDROP, findet sich plötzlich in einer wüstenähnlichen, kargen Gegend wieder. Wer will ihn loswerden? Geschäftsführer David Hauser erinnert sich nicht, wie er in die Box geraten ist. Was er weiß: Jemand will ihn loswerden. Seine Firma AIRDROP stellt sogenannte Rückführungsboxen her, in denen Asylbewerber, deren Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt worden ist, mittels eigens hierfür entwickelter Flugzeuge in ihre Herkunftsregionen zurückbefördert werden. Kurz vor dem Abwurf kommt Hauser zu Bewusstsein und findet sich wenig später in einer kargen, wüstenähnlichen und doch bergigen Landschaft wieder, in fremder Kleidung und mit gefälschten Papieren. Wo ist er? Syrien? Afghanistan? Wie konnte er, ohne es bemerkt zu haben, in die Box gesteckt worden sein? Er weiß ja, dass nicht alle hinter seinen Unternehmungen stehen – ganz vorn dabei sein sich linken Idealen verschriebener Vater –, aber wer würde so weit gehen, ihn auf diese Weise auslöschen zu wollen? Schnell wird Hauser bewusst: Der in seiner Box mitgeführte Proviant wird nicht lange vorhalten. Doch bevor er Hitze und Hunger zum Trotz einen Überlebensplan schmieden kann, wird er angegriffen und überwältigt… Ein spannungsgeladener, politischer und sprachmächtiger Roman voller meisterhafter Monologe – und unterhaltsamer Dialoge.

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Steffen Mensching

Hausers Ausflug

Roman

Inhalt

Umschlag

Titel

Hausers Ausflug

Impressum

Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.

Franz Kafka: Zürauer Zettel, Nr. 5

Hauser hatte seine Lage im Augenblick des Erwachens durchschaut. Er steckte in einer Box. Die Arme waren in Höhe der Handgelenke an die Lehne gefesselt, Klettbänder oder Riemen fixierten die Schienbeine an die Streben des Sitzes. In undeutlicher Entfernung surrte ein Oberton. Die Triebwerke. Das Kinn konnte er einige Zentimeter neigen, den Kopf, wegen der Ohrstützen, minimal drehen. Eine ausgeklügelte Konstruktion. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte David Hauser diese Erkenntnis gefreut. Während seine Augen in die schwarze Leere starrten, hob und senkte er die Finger. Thrombosegefahr bestand nicht. Dafür sorgte die Infusion. Hauser glaubte zu schwitzen, eine physiologische Reaktion, die unmöglich war. Wenn er sich dort befand, wo er zu sein meinte, wurde sein Blutdruck automatisch geregelt.

Das Letzte, was er erinnerte, war der Stau auf der Stadtautobahn, ein Sturzregen, der ihn überrascht hatte, er sah die Scheibenwischer, auf höchster Stufe, zack, zack, vor den Bremslichtern der auf drei Spuren vor ihm rollenden Autos, dann die Ankunft in der Residenz des Staatssekretärs, Isabel wartete mit einem Regenschirm, nahm ihm in der Lobby den Mantel ab, scannte den Code, der ihnen Eintritt in den internen Bereich gewährte, mit der Kamera ihres Mobiltelefons, der Termin verzögere sich, eine Tasse grüner Tee sei in Arbeit, sie sollten im Wintergarten Platz nehmen. Die Villa, klassizistisch angehaucht, von zeitloser Eleganz, lag auf einer Anhöhe. Der See glänzte durch die Lücken zwischen den Baumstämmen. An den Buchen hingen wenige Blätter. Isabel, seine, wie er sie nannte, rechte Hand, war seit fünf Jahren bei ihm. Im ersten Jahr ihrer Beschäftigung hatten sie ein paar Mal miteinander geschlafen, sich dann aber ohne Zerwürfnis getrennt.

Er glaubte einen Ruck zu spüren. Allerdings wusste er, dass die Maschine unter keinen Umständen riskante Manöver fliegen würde. Der Körper verlagerte seinen Schwerpunkt auf die linke Seite. Das Pfeifgeräusch wurde lauter. Man hatte bei der Schallisolierung Abstriche gemacht, um die Kosten zu drücken. Der Temperaturabfall war ein Indiz dafür, dass sich das Karussell drehte. Kaltluft strömte durch die Heckklappe in den Laderaum. Je kühler es wurde, desto näher kam man der Luke. Die Anregung für die technische Lösung war dem Chefingenieur Brixel beim Besuch einer Sushi-Bar am Potsdamer Platz gekommen. Stoppte die Box vor der Öffnung, wurde es ernst. Die Maschine bot Platz für vierzig Kandidaten. Auf einem Routineflug. Hauser wusste nicht, ob diese Bezeichnung für seine Reise passte. Genau genommen wusste er gar nichts. Oder zu wenig. Ihm war klar, dass die Bewegung der Transportkapseln, so der technische Terminus, höchstens eine Minute dauern würde. Das Karussell drehte sich im Uhrzeigersinn. Hatte sich der zum Ausstieg vorgesehene Passagier links von ihm befunden, würde er eine ganze Runde durchlaufen müssen, bis er wieder zur Luke gelangte.

Jetzt bereute er, vor knapp zwei Jahren das Angebot der Herstellerfirma abgelehnt zu haben, Dr. Neumann, der Geschäftsführer der badischen Flugzeugwerft IMPETUS, die bei der Ausschreibung den Zuschlag erhielt, legte ihm einen Selbstversuch nahe. David Hauser, dessen Namen die Öffentlichkeit mit dem Projekt verband, würde allen Kritikern, die auf Restrisiken verwiesen, den Wind aus den Segeln nehmen. Er hatte es als Scherz abgetan und den Österreicher Brixel als Ersatzmann vorgeschlagen, der verantworte als Konstrukteur die Umsetzung seiner Idee, solle er also mit seinem Körper als Testperson in die Bresche springen. Tatsächlich widersetzte sich der Ingenieur dem Angebot nicht und bestieg die Maschine, Hauser wiederum war es später unangenehm, den Angestellten nach seinen Erfahrungen zu befragen.

Sollte ihn Brixel in diese völlig absurde Situation gebracht haben? Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann aus Linz einer solchen Ungeheuerlichkeit fähig wäre. Leider fiel ihm überhaupt niemand in seinem Bekanntenkreis ein, dem er ein solches Verbrechen, um nichts anderes handelte es sich, zutraute. Es gab Neider, es gab, wer wollte es leugnen, nicht wenige Menschen, die ihn verachteten. Aber Feinde? Der Zugang zum Flugfeld war nur durch ein Tor möglich, das streng kontrolliert wurde, er selbst hatte vom Innenminister gefordert, die Überwachung des Geländes und das Boarding durch Beamte der Bundespolizei durchführen zu lassen.

Wiederum bemerkte Hauser einen Abfall der Temperatur. Er schloss die Augen, das machte keinen Unterschied, er sah das gleiche Schwarz wie vorher, seine Finger umklammerten die Sitzlehne, er spannte alle Sinne an, als könnte er durch angestrengte Konzentration spüren, ob die Kapsel stillstand oder sich bewegte. Ihm war, als hörte er Metall gegen Metall schlagen, ein Klicken. Ohne Fachmann zu sein, wusste Hauser genug über die technischen Abläufe. Der Schlitten polterte, wenn er über die Bordwand in den freien Fall kippte, die Stahlseile, die den Beförderungseinheiten Halt gaben, klingelten, wenn sie auf die Spindeln gewickelt wurden. Auch das Verriegeln der Klappe ging nicht ohne Geräusch ab. Einige Lösungen hatte er selbst ins Team eingebracht, zum Beispiel das Balancesystem, das den Sinkflug der Kapseln harmonisierte, oder die zur Ruhigstellung der Fluggäste angewandte Kapillarinfusion.

Lange hatte man darüber diskutiert, wie verhindert werden könnte, dass die Passagiere in der lichtlosen Kabine Schocks erlitten. Wie sie in den Laderaum kämen. Ob die Platzierung auf dem Karussell erfolgen sollte oder vorher, am Terminal oder sogar noch in der Verwahrung. War es ratsam, die Kandidaten über die Transportmethode aufzuklären, oder klüger, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen? Verhaltensforscher rieten zu Tests, um die Reaktionen abzuschätzen. Die Ergebnisse waren entmutigend. Die Befragten gerieten nach weitschweifigen, diverse Ablehnungsaspekte berührenden Erklärungen in Panik, schlugen um sich, hyperventilierten, traten mit den Füßen nach den Psychologen, versuchten zu fliehen. Unter den dreißig in einer Reihenuntersuchung geprüften Kandidaten gab es im Nachgang der Testreihe fünf Selbstmordversuche, von denen zwei erfolgreich verliefen.

Hauser fand die Hysterie der Probanden übertrieben. Allerdings war ihm klar, dass das Projekt zu scheitern drohte, wenn man für den Absetzvorgang keine überzeugende Lösung fand. Als kritisch erwies sich vor allem die Phase, in der die Box die Heckklappe passierte und ins Trudeln geriet. Ein erfahrener Fallschirmspringer war in der Lage, den Körper durch das Ausbreiten von Armen und Beinen in eine günstige Flugbahn zu lenken, in der Atmosphäre zu schweben, bevor sich der Schirm öffnete. Solche Adaptionsfähigkeit fehlte dem fünfundneunzig Kilogramm schweren Aluminiumkasten, der auf einen Block aus Presspappe, Honigwaben genannt, geschnallt war, trotz der installierten Mikrokameras und computergesteuerten Gewichte. Die Turbulenzen, die auf die Kapseln beim Absetzvorgang einwirkten, waren so stark, dass der Passagier genauso straff an den Sitz fixiert sein musste wie ein Astronaut beim Raketenstart. Die Schleuderbewegung währte vier bis fünf Sekunden, dann öffnete sich der Schirm, und die Landephase begann, die noch immer durch Windböen beeinflusst werden konnte, aber als berechenbar galt. Im Falle von Unwettern wurde der Absetzvorgang ohnehin abgebrochen oder an einen Ort mit besseren Bedingungen verlagert.

Der heikelste Teil der Mission bestand in der Erdberührung. Anfangs hatte Hauser nicht glauben wollen, dass eine Operation, die ein Mensch mit gewisser körperlicher Tüchtigkeit ohne Schwierigkeiten absolvierte, für einen robusten Gegenstand so viel riskanter sein sollte. Berater aus dem Verteidigungsministerium hatten ihn aufgeklärt über die Rolle des Frachtgewichts, die Absetzgeschwindigkeit, die Form und Spannweite des Schirms, über die Landungsrichtung sowie die herrschenden Strömungsverhältnisse. Es machte einen Unterschied, ob man mit zwei gelenkigen Beinen Bodenkontakt suchte oder als Insasse einer Kiste platt auf den Grund schlug. Hauser hörte von Versuchen, die Fallgeschwindigkeit zu bremsen, indem unter der Palette, auf der die Fracht befestigt war, Düsen gezündet wurden, die dem Objekt Auftrieb gaben und die Heftigkeit des Aufschlags milderten. Russische Luftlandetruppen hatten mit der Technik experimentiert, allerdings transportierten sie unbemannte Panzer, stählerne Kolosse, deren Unterböden die Hitze der Zündungen wenig anhaben konnte. Für Leichtmetallboxen kam die Bremsmethode nicht in Frage. Auch hätte eine Abfederung durch Raketentriebwerke die Kosten pro Person erheblich gesteigert. Die Kalkulation lag bereits bei zehntausend Euro. Keinen geringen Anteil daran hatten die Kameras, die den Sinkflug der Behälter kontrollierten und navigierten. Auf diese Weise wurde verhindert, dass die Fracht auf Felsen, Autobahnen oder in Hochspannungsleitungen niederging.

Um eine möglichst sanfte Landung zu garantieren, griff man auf traditionelle Materialien zurück. Sperrholz bildete die Bodenplatte, dann kam eine neunzig Zentimeter starke Schicht Bienenwaben, das luftig verklebte Pappmaterial drückte sich beim Aufschlag zusammen und schluckte kinetische Energie. Die Gleitrichtung des Fallschirms wurde so berechnet, dass die Ladung möglichst schräg auf den Boden aufsetzte. Im Idealfall würde der Schlitten abgeschliffen, die Kapsel also in Schräglage zum Stillstand kommen.

Über ein Jahr lang hatte man Hunderte Abwürfe mit Attrappen durchgeführt und, nachdem die Tierschützer mit ihrer Klage vor dem Verfassungsgericht gescheitert waren, ein weiteres Dutzend mit Schimpansen. Die Affen, Leihgaben eines finanzschwachen Zoos in Niedersachsen, überstanden alle Tests ohne Schaden und kehrten quietschvergnügt in ihre Käfige zurück. Die Experimente hatten den am Projekt Beteiligten, Technikern wie Politikern, klargemacht, dass man die Betroffenen über die Art und Weise ihres Transports im Ungewissen halten musste. Freiwillig würde sich niemand in eine solche Kapsel setzen. Es war eine Mutprobe der besonderen Art. Hauser konnte das Gefühl jetzt nachempfinden.

Wahrscheinlich, dachte er, lag genau darin das Motiv seiner Mission. Man wollte ihm, dem Kopf von AIRDROP, eine Lektion erteilen, ihm zeigen, wie es sich anfühlte, in einem hermetisch abgeriegelten Behälter zu sitzen, angeschnallt, bewegungsunfähig, blind und ohne Kenntnis, wohin man sich bewegte, was mit einem geschah. Einen Unterschied gab es, ihm gönnte man das zweifelhafte Vergnügen, die Reise bei vollem Bewusstsein zu erleben. Üblicherweise waren die Passagiere von dieser Strafverschärfung befreit. Sie erhielten drei Stunden vor dem Start, mit der letzten Mahlzeit, ein Narkotikum, im schlafenden Zustand wurden sie in die Transportkapsel gesetzt und in die startbereite Maschine überführt. Das Klettband, das die Unterarme an den Sitz fesselte, registrierte während des Fluges den Blutdruck und hielt die Körper im Zustand der Bewusstlosigkeit. Ein Sedativum sickerte über haarfeine Injektionsnadeln stetig ins Gewebe und war so dosiert, dass der Reisende erst wieder zu sich kam, wenn die Box aufgesetzt und für zehn Minuten zur Ruhe gekommen war.

Dass er sich in einer anderen Lage befand, konnte mehreres bedeuten. Technisches Versagen? Hauser, von der Leistungsfähigkeit seiner Firma überzeugt, schloss diese Möglichkeit aus. Folter? Wollte man ihn die Strapaze in ihrer Totalität erleben lassen, hoffend, er würde die abrupte, für einen untrainierten Springer brutale Flugphase nicht überleben? Würden diejenigen, die ihn zu diesem unfreiwilligen Abenteuer verurteilt hatten, die Sache bis zum bitteren Ende durchziehen? Wo ließen sie ihn landen, auf dem Alexanderplatz, einem Golf-Ressort in der Uckermark oder einem Fußballplatz in der Provinz, während eines Spiels der Kreisliga? Um ihn öffentlich zum Gespött zu machen?

Absurd, dachte Hauser, seine Feinde, in Ermangelung eines gerichteten Verdachts flüchtete er in die unscharfe Bezeichnung, könnten es nicht riskieren, ihre Tat bekanntzumachen, vermutlich würde er die Maschine auf die gleiche Weise verlassen, wie er sie betreten hatte, bewusstlos, vom Beruhigungsmittel betäubt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um später, fern des Flugfelds, irgendwo aufzuwachen, auf einer Parkbank an der Spree oder in einem S-Bahn-Zug im morgendlichen Berufsverkehr, ein unrasierter später Heimkehrer in einem zerknitterten Designer-Anzug, der einen über den Durst getrunken hatte, sich die Augen rieb und um Orientierung rang. Er würde sich an die Eskapade erinnern, könnte allerdings keinerlei Beweise erbringen. Die Täter rechneten damit, dass er nichts gegen sie in der Hand hielt. Es sei denn, sie hatten vergessen, ihm sein Mobiltelefon abzunehmen. Falls es angeschaltet war – und Hauser stellte es niemals aus –, würde man die GPS-Daten nachverfolgen können. Meist steckte er das Telefon in die Reverstasche seines Jacketts. Hauser bewegte seine Schulterblätter, in der vergeblichen Hoffnung, herauszufinden, was für ein Kleidungsstück er auf dem Leib trug. Er spürte, dass er nicht nackt war, aber das war auch schon alles. Zwar glaubte er nicht, dass man ihm das Handy gelassen hatte, so blöd konnten seine Feinde nicht sein, da sie immerhin klug genug gewesen waren, ihn einzuschläfern, zu entführen und in eine Apparatur zu setzen, für die höchste Sicherheitskriterien galten.

Seit seinem Erwachen mussten circa zwanzig Minuten vergangen sein. In dieser Zeit sollte die Maschine, deren Reisegeschwindigkeit, wie er wusste, bei achthundert Stundenkilometern lag, eine Strecke von zweihundertfünfzig Kilometern zurückgelegt haben. Befand er sich auf einem Rundflug? Waren die Klappenöffnungen, die er anhand der Temperaturschwankungen gespürt zu haben meinte, inszeniert, um ihn einzuschüchtern, oder hatte man tatsächlich Ladungen abgesetzt? Wenn ja, dann war er Bestandteil einer regulären Mission.

In Parchim starteten jeden Tag zwei Maschinen. Natürlich war es für die Täter leichter, ihn in einen Linienflug einzuschleusen, statt eine Maschine zu kapern. Ein unangemeldeter Flug würde der Luftüberwachung auffallen. Hauser atmete tief durch. Ihm stand ein längerer Ausflug bevor. Keine Ahnung, wie lange er unterwegs gewesen war, als er zu sich kam. Die Routen reichten bis Indonesien. Manche Maschinen blieben bis zu vierundzwanzig Stunden in der Luft. Da die Nutzlast gering war, Boxen und Schlitten wogen keine acht Tonnen, konnte die Tankkapazität deutlich erhöht werden.

Je länger Hauser grübelte, umso mehr war er davon überzeugt, dass man ihn mit einer Rundreise bestrafte, er also einige Male die offene Ladeluke passieren würde. Die Infusion wirkte erst wieder beim Landeanflug. Er musste sofort die Polizei einschalten, Anzeige gegen Unbekannt, vorher Peter Ehrlich, seinen langjährigen Rechtsberater und Anwalt, anrufen. Bislang hatte sich PROASYL immer von individuellen Gewaltakten distanziert. Auch fiel es Hauser schwer, zu glauben, die liberalen Wirrköpfe könnten es geschafft haben, ihn in eine Falle zu locken und in sein eigenes Flugzeug, eine IMPETUS 2000, zu setzen. Dann würden sie über Helfershelfer in seinem engsten Zirkel verfügen.

Die Vorstellung stieß ihm bitter auf. Isabel hatte ihm mehrfach Schreiben der Versicherungen vorgelegt, die den Einsatz von Personenschützern dringend empfahlen. Hauser fand die Sorgen übertrieben, machte sich lustig über die weibliche Hysterie, lehnte sogar die Festanstellung eines Chauffeurs ab, mit dem Hinweis, er habe sich keinen Oldtimer geleistet, damit ihn ein Fremder durch den Stadtverkehr steuere. Im Grunde fürchtete er keinen Anschlag auf seine Gesundheit, eher hielt er Erpressung oder sogar eine Entführung für möglich. Darauf war er vorbereitet. Er besaß keine Waffe, doch verfügte der A6 über ein Verriegelungssystem, das es Angreifern nahezu unmöglich machte, die Türen von außen zu öffnen, auch widerstanden die Fenster aus Spezialglas Hammerschlägen und Steinwürfen. Das gute Stück war siebzehn Jahre alt. Hauser, der Technikbegeisterte, hielt nichts von Elektroautos.

Stand der Audi noch in Halensee? Hatte man ihn in der Villa von Staatssekretär Kirchhoff betäubt? Schwer vorstellbar. Allerdings erinnerte er sich nicht, den Politiker getroffen zu haben. Er würde ihn sofort nach seiner Rückkehr anrufen. Um ihn was zu fragen? Ob der Termin stattgefunden hatte? Der Mann würde ihn für verrückt halten, im besten Fall für überarbeitet. Nein, zunächst musste er Isabel sprechen. Ihre Begegnung war verbürgt. Grüner Tee. Wie hatte sie ausgesehen, was für Kleidung getragen, Rock oder Hose? Seltsamerweise existierte in seiner Erinnerung keine andere Person. Hätte ihnen nicht irgendein Mitarbeiter von Kirchhoff begegnen müssen, ein Sekretär oder Zuträger? Die Auffahrt vor dem Haus war leer gewesen, der A6 das einzige Auto weit und breit. Freilich befanden sich, wie Hauser wusste, Garagen und Wirtschaftsgebäude auf der Hinterseite des Gebäudes. Der Regen bot eine Erklärung. Kein Wetter für Spaziergänge. Sogar den Rauchern unter den Security-Leuten, die sonst dort standen, war es zu kalt.

Worüber hatte er mit Dr. Kirchhoff, dem Intimus der Ministerin, verhandeln wollen? Auch das fiel ihm nicht ein. Den Termin hatte Isabel koordiniert. Das hätte sie nicht getan, wenn er es nicht gefordert hätte. Falls er sich vom Staatssekretär Unterstützung für eine neue Niederlassung erhoffte, würde ihn Peter Ehrlich begleitet haben. Vertragsfragen waren sein Fach. Auf ihn hätte Hauser nicht verzichtet, wenn man brisante Themen zu besprechen hatte. Über die Anfrage, einige Maschinen in der Gegend von Lyon zu stationieren, war man sich vor einem halben Jahr schnell einig geworden. Welche Maßstäbe die Regierung in Paris in der Asyldebatte anlegte, war nicht sein Problem, er kümmerte sich nur um die technische Abwicklung. Kirchhoff hatte ihn weitschweifig darauf vorbereitet, dass die französische Presse scharfe Attacken gegen ihn und sein Unternehmen reiten würde, damit rechnete sein Sekretariat, aber, keine Sorge, die Ministerin würde auf die durch osteuropäische Vetos entstandenen Aufweichungen in der Brüsseler Bleiberechtskonvention verweisen, man werde das gemeinsam durchstehen. Hauser hatte geantwortet, sein Französisch sei nur mittelmäßig und an unfaire Berichterstattung habe er sich inzwischen gewöhnt.

Ihm war, als würde die Box erneut bewegt. Wie hieß der Staatssekretär mit Vornamen? Eben lag er ihm noch auf der Zunge, jetzt war der Name verschwunden. Er fühlte eine Schwere, eine besondere Art von Schläfrigkeit, die sich um seinen Kopf legte. Seltsam, dass ihm warm wurde, obwohl die Luft sich abkühlte. Das Erste, was ihm auffiel, war die andere Stille. Der zirpende Singsang der Turboprop-Triebwerke hatte ausgesetzt. Ein Umstand, der ihn beunruhigte. Spielten ihm die Ohren einen Streich?

Er erinnerte sich an einen Transatlantikflug nach New York, als er, an das Bullauge gelehnt, träumte, er säße in einem Flugzeug. Dann setzten die Düsen aus. Träumend begriff er, dass die Maschine gerade abstürzte. Er war aus dem Alb erwacht und würde die Sekunde nie vergessen, als er, zwischen Traum und Wachsein, nicht wusste, ob sich die Katastrophe in seinem Unterbewusstsein abspielte oder wirklich ereignete.

Einen Hörsturz schloss Hauser aus. Nur äußerst selten betraf eine solche Störung beide Ohren gleichzeitig. Sosehr er sich anstrengte, die Triebwerke waren nicht zu vernehmen. Er begann zu zählen. Laut. Seine Stimme klang matt, hatte keinen Raum, sich auszubreiten. Ein Flugzeug, das aus neuntausend Meter Höhe abstürzt, hält sich höchstens eine Minute in der Luft. Sogar erfahrene Piloten könnten da nicht gegensteuern und rettende Maßnahmen einleiten. Bestenfalls den Aufprall verzögern. Aber darauf brauchte Hauser nicht zu hoffen, es war seine Idee gewesen, die Maschinen der AIRDROP-Flotte unbemannt fliegen zu lassen. Im Cockpit saß niemand. Die einzigen Lebewesen an Bord steckten in hermetisch abgedichteten, beständig mit Frischluft versorgten Transportkapseln und hatten keinerlei Einfluss auf die Bewegungen der Maschine. Sollte der Bordcomputer die Reiseflughöhe gesenkt haben, um einen Kandidaten abzusetzen, würde sich der freie Fall deutlich reduzieren. Normalerweise ging das Gepäck, auf den versachlichten Ausdruck hatte man sich innerbetrieblich geeinigt, bei einer Höhe von zweitausend Metern über Bord.

Er hatte bis dreißig gezählt, als ihn das Klicken stocken ließ. Hauser entdeckte den Lichtspalt, links und rechts seiner Augen verlief eine schnurgerade haarfeine Bruchlinie. Die Box hatte einen Riss bekommen, an Stabilität eingebüßt. Auch konnte er die Beine bewegen und spürte, dass der Druck auf die Handgelenke nachließ. Er hob die Arme und faltete die Hände. Tatsächlich vermisste er das Geräusch der sechs Propeller. Dafür hörte er jetzt ein Flattern. Segel, die kräftigem Wind standhielten. Er drückte gegen den Deckel der Kapsel. Das Gehäuse gab nach und kippte zur Seite. Grelles Licht ließ ihn sofort die Augen schließen. Er suchte mit den Händen die freigelegte Kante der Kiste, in der er lag, um in eine aufrechte Sitzposition zu geraten. Der Behälter geriet ins Rutschen, Hauser schlug mit der Schläfe auf den Boden. Der Schreck war größer als der Schmerz.

Allmählich gewöhnten sich die Augen an die Helligkeit. Er betastete die Stelle oberhalb seines linken Ohrs. Trockene Fingerkuppen. Kein Blut. Die Honigwaben an der Schnauze der Palette waren eingedrückt, die Gurte hatten den in Schieflage geratenen Container vor dem Absturz bewahrt, die Fallschirmseide flatterte, von Seilen gehalten, am Boden. Man hatte ihn tatsächlich abgesetzt. Die Frage war, wo? Hauser drehte sich um die eigene Achse. Er saß inmitten eines weitgestreckten Brachlands, das an allen Seiten von Bergen begrenzt wurde. In Abständen von zwanzig bis dreißig Metern lagerten wuchtige Felsbrocken, die für die Landung der Box keine geringe Gefahr dargestellt hatten. Offenbar war das Zusammenspiel zwischen den Kameras, dem Navigationsprogramm und der Steuereinrichtung des Schirms erfolgreich verlaufen.

Den Boden bedeckte roter Staub. Wo immer er sich befand, das war nicht die Brandenburger Steppe, er stand auch nicht auf Mecklenburger Scholle, zerklüftete Gipfel wie jene, die sich am Horizont erhoben, erinnerten ihn an den Abra del Acay. An sich herunterblickend musste er feststellen, er trug nicht den mattblauen Brioni, den er am Morgen dem Schrank entnommen hatte, sondern ausgewaschene Jeans, Hosen, die er verachtete. Auch die schwarze Windjacke, eine Art Anorak, war billig. Sie hing in den Schultern. Seltsam, dass ihm während des Fluges nicht aufgefallen war, dass er in fremden Sachen steckte. Er trug kein Oberhemd, sondern ein ausgewaschenes T-Shirt, darüber einen Strickpullover mit V-Ausschnitt und Norwegermuster. Hatte man ihn absichtlich in Sachen gesteckt, von denen bekannt war, dass er sie hasste?

Er durchsuchte die Taschen der Jacke. Eine halbvolle Schachtel Zigaretten und ein rotes Feuerzeug landeten in seiner Handfläche. Hauser hatte vor zwanzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Weitere Fundstücke waren: ein schwarzer Kugelschreiber, mehrere Berliner S-Bahn-Fahrkarten, eine Plastikschachtel Zahnseide der Marke Perlodent und ein Samsung-Handy mit zersplittertem Display. Auch diese Dinge hatte er noch nie gesehen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal S-Bahn gefahren war. Für eine Einzelfahrt zahlte man, wie er auf dem Papierstreifen las, inzwischen fast fünf Euro. Er drehte die Zigaretten in den Fingern. Fair Play. Eine unbekannte Marke. In der Hoffnung auf einen Hinweis leerte er die Schachtel. Dreizehn Stück. Hauser betrachtete das Foto auf der Packung: Ein Mann mit Zigarette, der einen Säugling auf dem Arm hielt. Wenn Sie rauchen, schaden Sie Ihren Kindern, Ihrer Familie, Ihren Freunden. Sollte das ein Witz sein? Eine Anspielung?

Hauser lebte allein, hielt zu seinem Vater lockeren Kontakt, seine Schwester hatte er vor vier Jahren zuletzt gesehen. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Das Feuerzeug funktionierte. Wie spät mochte es sein? An seinem Handgelenk fehlte die Patek Philippe. Die Geschichte löste sich nicht in Wohlgefallen auf, im Gegenteil, etwas lief hier völlig schief. Als er das Samsung-Gerät anschaltete, leuchtete für einen Augenblick das Display auf mit der Anzeige LOW BATTERY, dann erlosch der Bildschirm. Die Uhrzeit hatte er nicht erkennen können. Noch ein Versuch? Er zögerte.

Die Sonne stand hoch am blassblauen Himmel. Früher Nachmittag, schätzte er und atmete den scharfen Rauch ein. Die Abdeckung der Box lag im Sand. Er erklomm die Palette und untersuchte den Container. Vielleicht hatten die Schweine, denen er die Verbannung verdankte, dort eine Nachricht hinterlegt? Um das Unterteil mit dem Sitzmodul zu überprüfen, musste er die Gurte lösen und die Box auf die Erde rutschen lassen. Die Knoten waren maschinell festgezurrt. Seine Fingernägel brachen. Ohne Messer war da nichts zu machen. Hauser saß auf der Palette, blickte sich suchend um, griff nach der nächsten Fair Play. Sie schmeckte nicht besser als die erste, gab ihm aber das Gefühl von Kontrolle. In welche Richtung er auch sah, überall ragten Berge auf, schroffe Gebirgsketten, baumlos, einige schneebedeckt. Die Ebene war flach wie ein Frühstücksbrett, vereinzelte, struppige, vom Wind geduckte Sträucher unterbrachen die Ödnis.

Der Luftstrom ließ die Zigarette schnell abbrennen. Hauser bemerkte das Feuerzeug, das seine Faust umklammerte, und begann, die Seile mit der Flamme zu durchtrennen. Er verbrannte sich die Daumenkuppe, aber die Methode war erfolgreich, die Box schlug polternd auf den Boden. Er öffnete zunächst das Vorratsfach, in dem normalerweise das Notfall-Gepäck verstaut war, und fühlte große Erleichterung, als er das in blaue Folie eingeschweißte Paket in den Händen hielt. Darin steckten, wie Hauser hoffte, Lebensmittel und zwei Wasserflaschen (je ein Liter), Pflaster, Schmerztabletten (Ibuprofen 600), Handschuhe, eine Sonnenbrille und ein Regencape. Er riss die Folie auf und sortierte den Inhalt auf dem Boden. Eine Nachricht seiner Entführer, wenn man sie so nennen wollte, suchte er vergeblich. Er legte das Feuerzeug, die Schachtel Fair Play sowie Zahnseide und Telefon dazu. Dann kontrollierte er noch einmal die Jacke, er hatte die Innentasche übersehen, ein harter, flacher Gegenstand war dort zu spüren, er hoffte, es könnte sein Handy sein, doch handelte es sich um einen Reisepass mit einem Adler, allerdings war es kein roter deutscher Pass, sondern ein blaues Dokument, auf dem stand, woher es stammte, aus der Syrischen Arabischen Republik.

Er schlug den Ausweis auf und las den Namen Said, Vorname Walid, Name des Vaters Abdullah, Name der Mutter Alaa. Geboren war der Passbesitzer am 16. November 1976, das Datum überraschte Hauser, dann kam ihm die Erkenntnis, offenbar hatte man den Syrer mit ihm verwechselt, auch er war am 16. November geboren, in genau dem gleichen Jahr, nur nicht in Idlib, einem Ort, den er nicht kannte, sondern in Berlin. Hausers Beruhigung währte kurz, nur den Augenblick, bis er das Passfoto betrachtet hatte: Es war sein eigenes. Sein Gesicht. Allmählich begriff er, dass das Ganze kein Spiel war, keine Gespensterbahnfahrt, die ihn nur in Unruhe versetzen sollte, ihm passierte etwas anderes, das er noch nicht durchschaute, das er womöglich nie durchschauen würde, aber etwas, das es auf ihn abgesehen hatte. Seine Hände zitterten. Er stand im Nirgendwo, in einem wildfremden Land, neben einer Palette mit eingedrückten Honigwaben und zersplittertem Sperrholz, hinter der ein Fallschirm rötlichen Staub aufwirbelte.

Was wollte man ihm anhängen? Bestand zwischen dem Passbesitzer und ihm irgendeine Verbindung? Er öffnete ein weiteres Mal den Ausweis des Mannes, der sein Gesicht und Geburtsdatum gestohlen hatte. Gab es diesen Walid Said? Oder war er eine Erfindung seiner Feinde? Pässe konnte man leicht fälschen. Ein einträgliches Gewerbe. Der Ausweis sah abgegriffen aus. Angeblich war er am 3. Mai 2019 ausgestellt, wenige Monate vor Ausbruch der ersten großen Pandemie. Dass es damals noch eine funktionierende Bürokratie in Syrien gegeben haben sollte, bezweifelte Hauser. Said war im September des Jahres 2020 in den Libanon gereist und hatte es immerhin geschafft, in Beirut ein Flugzeug nach Rom zu besteigen. Der Stempel der Italiener, der die Einreise bestätigte, war blassblau. Said hielt es nicht lange in Italien. Trotz der Reisebeschränkungen, die in diesem Jahr in Europa herrschten, stellte der Syrer bereits am 7. Dezember 2020 in München einen Asylantrag. Der letzte Eintrag war ein rechteckiger Stempel mit dem ultimativen Urteil ABGESCHOBEN / DEPORTED, ausgestellt von der Bundespolizeiinspektion Berlin.

Das Datum gab Hauser zu denken: 4. Oktober 2029. Nicht nur, weil er sich fragte, wieso der Mann nach fast zehn Jahren plötzlich des Landes verwiesen wurde, wobei er für einen Augenblick vergaß, dass er ja dieser Mann war, während der echte Said möglicherweise noch immer in Deutschland weilte. Vielleicht unter seinem Namen? Nun, das war eher unwahrscheinlich. Sein Name war zu bekannt. Hauser beunruhigte viel mehr, dass irgendjemand, der an seiner unfreiwilligen Verschickung beteiligt gewesen war, den Pass am Donnerstag in den Händen gehabt hatte. Der 4. Oktober, das wusste er genau, war ein Donnerstag gewesen, Mittwoch Feiertag, der Staatssekretär hatte auf sein Drängen den Termin auf Freitag verlegt. Wieso wunderte er sich? Logisch, der Coup war von langer Hand vorbereitet. Man hatte genug Zeit, das Dokument zu manipulieren. Keine spontane Aktion, planmäßiger Vollzug

Wahrscheinlich war sogar die Verabredung in Halensee Teil der Unternehmung. Steckte etwa Kirchhoff hinter der Geschichte? Angeblich besaß er Ambitionen auf ein Amt. In zwei Jahren fanden in der Stadt Bürgermeisterwahlen statt. Berlin war noch immer ein verstockt liberales Pflaster. Dass er hinter den Kulissen daran gedreht hatte, das Genehmigungsverfahren für AIRDROP zu beschleunigen, dürfte ihm bei einem solchen Rennen kaum nutzen. Der Staatssekretär war nicht der Einzige, der ihn unterstützt hatte.

Die Debatte war öffentlich gewesen, am Ende sogar, dank des Antrags der Linksgrünen, Gegenstand einer parlamentarischen Stunde. Er war persönlich vorgeladen worden. Obwohl er selbstbewusst in die Anhörung ging, Peter Ehrlich begleitete ihn, machten ihm die Unterstellungen zu schaffen. Man erdreistete sich, ihn mit den Schleusern zu vergleichen, die für horrende Summen gutgläubige Flüchtlinge an die europäischen Außengrenzen lenkten und dort oft genug im Stich ließen. Er verteidigte sich, indem er betonte, AIRDROP würde nur Asylbewerber transportieren, deren Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt oder durch Gerichtsbeschlüsse aufgehoben worden war. Die Dienstleistungen seiner Firma kämen nur in Anwendung, wo andere Transportmittel, also Eisenbahn, Bus oder Linienflüge, unmöglich waren. Viele Repatriierte würden die ungewöhnliche, aber sehr effektive Art der Rückführung sogar bevorzugen, behauptete Hauser vollmundig, oft genug beende man so eine sich qualvoll hinziehende Abschiebehaft, auch erspare sie den Heimkehrern peinliche Befragungen durch lokale Sicherheitskräfte, die sie gewöhnlich bei ihrer Landung in Häfen und auf Flugplätzen erwarteten. Stattdessen fielen sie wie Meteoriten vom Himmel und kehrten unauffällig in den heimatlichen Alltag zurück, manch einer so geräuschlos, dass seine Abwesenheit von keiner Behörde je registriert wurde. Alle Landeplätze erfüllten logistische Standards. In zwanzig Kilometer Luftlinie musste eine menschliche Siedlung erreichbar sein. Flüsse, Schluchten, Moore, Dschungel durften niemanden gefährden. Mit Hilfe der Navigationssysteme, AIRDROP-Reisende behielten ihre Handys, war die Orientierung kein Problem.

Nur in seinem Fall, dachte Hauser, hatte man die Ausrüstung absichtlich reduziert, das Samsung war Schrott oder unzureichend geladen. Wollte man seine Heimkehr vorsätzlich verhindern? Er zog eine weitere Zigarette aus der Schachtel. Jetzt besaß er nur noch zehn Stück. Er beschloss, die Kippen aufzusammeln, die er achtlos in den Dreck getreten hatte. Er würde die Reste womöglich bald vermissen. Wenn die Sonne, wie gerade jetzt, hinter den Wolken verschwand, wurde es empfindlich kühl. So weit das Auge reichte, sah man keine Siedlung, keine Stromleitungen oder Windräder. Eine Mondlandschaft ohne menschliche Spuren.

Er musste, besser früher als später, eine Entscheidung fällen, in welche Richtung er aufbrechen sollte. Am Landeplatz zu warten, bis ihn jemand entdeckte und rettete, schien keine sinnvolle Alternative. Er drehte sich zum wiederholten Male um die eigene Achse. Die Palette war, wenn er den Sonnenstand richtig interpretierte, in Nord-Süd-Richtung zum Stillstand gekommen, rechts von ihm war also Westen. Falls er sich in Syrien befand, eine Annahme, für die es keinen anderen Anhalt gab als das gefälschte Dokument in seiner Innentasche, glaubte er, nach Norden laufen zu müssen, also in Richtung der türkischen Grenze. Es war ohnehin alles ein Glücksspiel.

Hauser rauchte die Zigarette bis zum Filter und ließ die Kippe in den Sand fallen. Müll musste er nicht aufbewahren. Auch das Fußwerk, er benutzte den anachronistischen Ausdruck, gehörte ihm nicht, er trug anspruchslose Sportschuhe aus Leder oder Kunstleder, sie passten erstaunlich gut. So, als hätte er sie selbst eingelaufen. Wenn er an den Marsch dachte, der vor ihm lag, bedauerte er den Verlust seiner italienischen Halbschuhe nicht. Sie hätten den Aufstieg erschwert. Hatten seine Feinde diese Situation berücksichtigt? Wie weit war es bis zum Fuß der Gebirgskette? Drei Kilometer oder zehn? Was für ein Ausblick würde sich ihm von dort oben bieten? Käme er über den Berg? Wie lange überlebte man mit zwei Litern Wasser? Er musste sich jeden Schluck einteilen. Auch durfte er dem Drang, sich aus der Zigarettenschachtel zu bedienen, nicht nachgeben.

Über ihm, in großer Höhe, kreisten zwei Raubvögel. Unwillkürlich suchte er in seiner Umgebung nach einem Stock. Einer Waffe. Der in die Box montierte Sitz ließ sich nicht lösen. Er war schutzlos. Er raffte den Fallschirm, hielt den Stoff mit den Knien fest, brannte ein Loch hinein und riss ein Stück Seide ab, um darin seine Habseligkeiten zu verstauen. Dann lief er, die Vögel im Blick behaltend, querfeldein auf das nördliche Gebirge zu. Es gab keinen Weg oder Trampelpfad, trotzdem kam er gut voran. Die einzigen Hindernisse, die er beachten musste, waren die überall herumliegenden scharfkantigen Steine. Wenn die Vögel angriffen, würde er ausreichend Munition haben, um sie abzuwehren.

Nachdem er sich etwa dreihundert Meter von der Landestelle entfernt hatte, sah er die Tiere auf der Palette landen. Sie würden, dachte Hauser, nichts Brauchbares finden. Alles, was essbar war, trug er in seinem Beutel. Adler oder Geier? Da er die Vögel auf die Distanz deutlich erkennen konnte, waren es keine Spatzen. Würden sie ihm, wenn sie am Schlitten keine Beute machten, folgen? Er bestand aus Fleisch. Am Südstrand des Bergmassivs glaubte er vereinzelte Bäume zu erkennen. Sonst bot das Gelände keinerlei Schutz. Er war circa eine Stunde unterwegs, hatte also etwa fünf Kilometer zurückgelegt. Wie schnell kam die Dämmerung? Nachts weiterzumarschieren, traute er sich nicht. Einen Unfall konnte er nicht riskieren. Schon eine Verstauchung wäre eine Katastrophe.

Hauser wischte sich die Stirn. Sein Schatten verlängerte sich von Minute zu Minute, die Sonne wärmte kaum noch. Er musste sich bewegen, um nicht auszukühlen. Weiter Richtung Norden? Ohne Plan? Er blieb abrupt stehen, blickte zurück, fluchte und drehte um. Er würde die Nacht in der Box verbringen und bei Sonnenaufgang mit neuer Frische starten. Der Rückweg verlief zügiger. Als er sich dem Landepunkt auf fünfzig Schritt genähert hatte, zögerte er. Von den Greifvögeln war nichts zu sehen, sicher sein konnte er sich nicht, die Dämmerung kippte bereits ins Dunkel, nur das Glimmen der Fallschirmseide, die das Mondlicht reflektierte, hatte ihm auf den letzten Metern den Weg gewiesen.

Nur ein Teil der Palette war einsehbar. Vielleicht lauerten die Tiere auf der Hinterseite? Hauser warf Steine. Traf er die Transportkapsel, schepperte der Container. Da sonst nichts geschah, wagte er die Annäherung. Mutterseelenallein, dachte Hauser, ein Wort, das er nie verstanden hatte. Obwohl erschöpft vom Marsch, zögerte er, sich schlafen zu legen. Erst versuchte er, die Honigwaben zu zerreißen, um sich im Inneren des Schlittens ein Lager zu errichten, doch musste er den Plan aufgeben, weil sich die Pappe als zu widerständig erwies. Wiederum vermisste Hauser ein Messer. Immerhin befreite er eine Sperrholzplatte, die zur Bedeckung der Pappschicht gedient hatte, von ihren Gurten. Er schob das Unterteil der Box gegen die Rückwand der Palette und nahm auf dem Sitz Platz. Zwar konnte er so die Abdeckung über sich ziehen und war gegen einen Angriff wilder Tiere geschützt, allerdings würde er die Nacht mit angewinkelten Beinen verbringen müssen.

Nach wenigen Minuten begannen seine Füße einzuschlafen. Er verließ den Sitz und zog den Deckel in den Windschatten der Palette, stopfte den Fallschirm als Matratze und Bettdecke hinein. Die Aluminiumschale erinnerte ihn an einen Sarg, war aber tief genug, um von der Sperrholzplatte bedeckt zu werden. Zwischen Hausers Nase und dem Holz blieb ein handbreiter Luftspalt. Als er sich in dieser Position eingerichtet hatte, fiel ihm ein, dass sein Notgepäck, das Bündel aus Fallschirmseide, in dem die Lebensmittelvorräte steckten, noch draußen lag. Er bewegte das Sperrholz und stieg aus der Wanne. Da er die Schuhe ausgezogen hatte, spürte er durch die englischen Socken, die seine eigenen waren, Baumwolle, schwarz und elegant, aber zu dünn gewebt, die Eiseskälte des Erdbodens.

Am Himmel standen mehr Sterne, als er jemals gesehen hatte. Über der Zackenlinie der westlichen Berge leuchtete ein eiförmiger Mond. Kein Wind ging. Die Stille lähmte jede Bewegung. Hauser unterdrückte das nagende Hungergefühl, öffnete eine Wasserflasche und nahm einen Schluck. Dann legte er sich in das Lager aus Fallschirmstoff und zog das Brett über sich. Er musste auf dem Rücken liegen. Sobald er sich drehte, berührte er mit der Schulter das Sperrholz und brachte es zum Rutschen. Ihn fror an den Füßen, doch war er zu müde, um in die Schuhe zu schlüpfen.

Den Kleidern entstieg ein säuerlicher Geruch. Fremd. Er hatte noch nicht überprüft, ob er seine eigene Unterwäsche trug. Seit seiner Landung hatte er kein einziges Mal uriniert. Würde er die Kraft haben, in der Nacht aufzustehen, um sein Wasser abzuschlagen? Die Vorstellung ängstigte ihn, doch konnte er sich nicht überwinden, sein Versteck zu verlassen. Wenn er jetzt stürbe, dachte Hauser, würde man seinen Leichnam irgendwann in dieser Einöde entdecken und ihn als Walid Said beerdigen. Eine muslimische Totenfeier. Hauser hatte keine Ahnung, wie eine muslimische Bestattung ablief. Man würde ein paar Koran-Verse vorlesen, in einer Sprache, die Hauser nicht verstand. Das konnte ihm egal sein, er würde ohnehin nichts mehr hören. Walid Said. Ein nichtssagender Name.

In den ersten Monaten nachdem AIRDROP mit zwei Maschinen gestartet war, hatte Hauser noch die Passagierlisten überflogen, um zu wissen, über welchen Regionen die Fracht abgeworfen wurde, später verzichtete er darauf. Wenn, selten genug, Komplikationen gemeldet wurden, konnte er die Angaben im digitalen Archiv überprüfen. Ein Zurückgeführter landete, durch ein fehlerhaftes Software-Update, auf einer Baustelle in einer pakistanischen Kleinstadt. Man hielt den Mann für einen indischen Spion, dank des schnellen Eingreifens der Polizei entging er der Lynchjustiz einer Horde schaufelschwingender Arbeiter. Zwei andere Boxen wurden während des Landevorgangs mit Maschinengewehren angegriffen und zerstört. Man erwähnte beide Zwischenfälle in den Abendnachrichten.

Sein Flug, dachte Hauser, würde gar keine mediale Spur hinterlassen. Niemand wusste von seiner Entführung. Irgendwann in den nächsten Tagen würde jemandem auffallen, dass er nicht mehr online war, nicht mehr ans Telefon ging. Am Sonntag war er zu einem Kammermusikabend in Neuhardenberg eingeladen. Er hatte sein Kommen angesagt, obwohl er klassische Musik nicht mochte. Isabel würde spätestens am Montag nervös werden, falls sie nicht in die Sache eingeweiht war. Der Aufsichtsrat der Gesellschaft hatte seine turnusmäßige Zusammenkunft Anfang November. Die Tagesordnung sollte längst verschickt worden sein. Man würde in seinem Büro nachfragen und sich über seine unbegründete Abwesenheit wundern. Mit Peter Ehrlich, seinem Anwalt, hatte er in der nächsten Woche einen Termin, wo sie den Lizenzvertrag mit den Briten diskutieren wollten, London hatte wieder eigene Wege beschreiten wollen, war aber am Ende eingeknickt, weil es kostengünstiger war, AIRDROP zu verpflichten, als ein eigenständiges Unternehmen aufzubauen.

Peter Ehrlich war nicht nur der Anwalt seines Vertrauens, sondern fast so etwas wie ein Freund. Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte es Hauser anmaßend oder albern gefunden, dass ein Jurist Ehrlich hieß. Klang das nicht wie ein Einfall aus einer deutschen Vorabendserie? Peter hatte schallend gelacht, als er ihm dieses Vorurteil irgendwann beim Angeln beichtete. Dabei erfuhr er, dass Ehrlich nicht einmal sein Geburtsname war, sondern ein Erbstück seiner ersten Ehe. Er hatte schon während des Studiums geheiratet, mit ganz pragmatischer Absicht, da er zwar Talent für die Jurisprudenz besaß, aber leider auch einen Namen, mit dem er niemals Karriere gemacht hätte. Wie hieß er denn?, hatte Hauser gefragt. Peter Schaden, sagte sein Rechtsbeistand. Auf ihn war Verlass. Kein Weichei, ein Gewinnertyp. Er würde eine Vermisstenanzeige veranlassen. Ihn abzuwimmeln, würde man nicht wagen. David Hauser, 52 Jahre, Größe ein Meter neunundsiebzig, Haare braun, Augen braun. Vollbart, kurz geschnitten. Hinweise werden von jeder Polizeidienststelle entgegengenommen. Sein Foto würde in Revieren hängen, bis es gelb würde, sich einrollte und der Fall zu den Akten käme. Keine Leiche. Kein Hinweis. Ein Verschwundener. Mit diesem Gedanken schlief er ein.