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Ein Journalist treibt tot in der Kieler Förde, ermordet. Die Kripo zeichnet die Recherchen des Journalisten nach: Die Geschichte einer Werften-Familie, die Rolle der örtlichen Zeitung bei der Oberbürgermeister-Wahl, ein Bauprojekt in einem Naturschutzgebiet, das Zusammenspiel der Mächtigen in der Kiel-AG.
Beate Müller, Hauptkommissarin, straight im Job, sensibel und unvorhersehbar in ihrem bisexuellen und polyamoren Privatleben, ermittelt. Außerdem muss sie sich mit weiteren Morden beschäftigen, die im Osten der Republik begangen wurden: tote Journalisten, ermordet offenbar aus rechtsradikalen Motiven. Gibt es eine Verbindung zum Mord in Kiel?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Havarie
Dietmar Werner Wagner
Impressum: Dietmar Werner Wagner
www.dietmar-wagner.info
Copyright © 2019 Dietmar Werner Wagner
All rights reserved.
ISBN: 9798646326950
Für Mone.
»Kiel war so groß und so klein, dass alles, was sich auf dieser Welt ereignet oder ereignen könnte, sich auch in Kiel ereignete oder hätte ereignen können.«
Frei nach Günter Grass, Hundejahre
Alle Begebenheiten in diesem Roman sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder Personen sind rein zufällig.
Die Leiche wogte mit den Wellen hin und her. Der linke Arm lag über dem Oberkörper, der rechte fehlte. Die beiden Beine hatten sich an einigen größeren Steinen festgehakt. Die rechte Körperhälfte war nur noch rudimentär zu erkennen. Der kleine Strand von Möltenort hatte Hochbetrieb. Allerdings waren es jetzt im März weniger Touristen, die den Strand säumten, sondern Polizeibeamte, die die wenigen Neugierigen von der Fundstelle absperrten.
»Männliche Leiche, zwischen 40 und 50 Jahre alt, ein Arm abgetrennt, Schürf- und Schnittwunden am Oberkörper, Kopf stark zertrümmert, Gesicht halbseitig zerstört, vermutlich Schiffsschraube...“, murmelte Dr. Hansjochen Pasternack, Gerichtsmediziner der Fördestadt in sein i-Phone.
»Einschussloch in den Rücken«, sagte er laut, nun den beiden Kripobeamten, die vor der Leiche standen, zugewandt.
»Das mit dem Arm wird er nicht mehr gespürt haben, sonst wenig Spuren durch das Wasser, der ist noch nicht lange tot, schätze gestern Abend, mehr später.«
»Danke, Hajo«, entgegnete Beate Müller.
Sie wusste sofort, um wen es sich handelt, auch wenn nur wenig von seinem Gesicht übrig geblieben war. »Scheiße«, brachte ihr Kollege, Hubert Kaiser, heraus, mehr nicht.
Auch er hatte ihn erkannt und wusste, dass das für Beate ein schwerer Moment sein musste. Ihre Geschichte war zwar schon einige Zeit vorbei, aber sie hatte ihm mal in einem der wenigen vertrauten Momente erzählt, dass es sehr weit gegangen war, weiter als alles, was sie sonst mit Männern erlebt hatte.
»Bist Du okay?«
»Ja, es geht.«
Beate kämpfte mit den Tränen, wollte sich aber hier vor den Kollegen keine Blöße geben. Privates und Dienstliches hielt sie fein säuberlich auseinander, sie konnte das viel besser als andere in ihrem Job. Auch wenn viele ihrer Kollegen ihr Privatleben immer wieder zum Anlass nahmen, an ihren Fähigkeiten bei der Arbeit zu zweifeln, trennte sie das strikt. Alle Anfeindungen, alle Mobbing-Versuche perlten an ihr ab wie Regentropfen an der Fensterscheibe. Sie fragte sich oft, wie sie so unterschiedlich sein konnte: präzise, fast pedantisch im Job, chaotisch, manchmal absurd im Privaten.
Sie konzentrierte sich auf ihre Mitte. So nannte sie es, wenn es darum ging, Dinge, die jetzt störten, auszublenden. Stören konnten jetzt die Gefühle, die sie für Matthias Kerner hatte, der nun tot und verstümmelt vor ihr lag. Die Gefühle waren nicht erloschen, als sie sich trennten. Sie blieben, auch jetzt. Konzentration, Mitte, jetzt. Sie sah ihren Kollegen fragend an.
»Was meinst Du?«
»Erschossen, irgendwo da drüben«, Hubert Kaiser zeigte auf das gegenüberliegende Westufer der Kieler Förde. »Hindenburgufer, vielleicht Tirpitzmole. Ich check mal, wie die Strömungen hier laufen.«
»Okay, dann wissen wir vielleicht schon mal, wo der Tatort war, hier wird das wohl kaum gewesen sein.«
Die beiden drehten sich um und gingen hinter der Absperrung zu ihrem Wagen, der am Wendehammer des Strandweges stand.
Eine sogenannte bessere Gegend war dieser Ort am Wasser, kurz vor den Toren zu Kiels ehemaligen Arbeitervierteln Dietrichsdorf und Gaarden. Lotsen und Kapitäne hatten hier in Möltenort ihre Häuser vor 100 Jahren gebaut. Längst hatten wohlbetuchte Kieler das Viertel entdeckt. Einige Lotsenhäuser waren inzwischen imposanten Neubauten gewichen. Die Ostseite der Förde war eigentlich die bessere Seite der Förde, hier sorgte die Sonne auch am Abend noch für Licht und Wärme, wenn im Westen schon lange kein Sonnenstrahl mehr die Prunkbauten im Villenviertel Düsternbrook beschien.
Wenn nur nicht die Werften wären, die zwischen Hörn und Schwentine die sonnigen Plätze besetzt hielten.
Beate und Kaiser fuhren mit ihrem Dienst-Passat gerade an den Toren der Howaldtswerke vorbei, HDW war immer noch der größte Arbeitgeber der Stadt. Das Werftengelände war riesig und versperrte den Bewohnern des dahinter liegenden Stadtteils Gaarden den Zugang zum Meer.
Die früher einmal von Ur-Kielern und Studenten bewohnte Gegend ging nach und nach unter, wurde mehr und mehr zum Ghetto. Sie fuhren die Werftstraße weiter, die Halle 400 und die Neubauten rund um den Germaniahafen lagen nun zur Rechten. Dort sollte das neue Kiel entstehen, Business-Kiel. New-Economy-Träume waren hier schon geträumt worden und geplatzt. Doch nachdem die einstigen Werftbrachen weggeräumt waren und Internetstars wie mobil.com-Gründer Schmid vollmundige Zukunftsvisionen vorgestellt hatten, platzte der ganze Rummel. Jahrelang stand die Halle 400, eine alte Werfthalle für den U-Bootbau, allein auf freier Pläne. Ein paar Medienunternehmen hatten immerhin für ein halb volles Haus gesorgt. Die Regionalstudios von Sat1 und RTL hatten hier eine standesgemäße Adresse gefunden. Auch Kerners früheres Magazin hatte hier ein paar Jahre residiert. »Hauptsache hip«, hatte er Beate über diese Zeit gesagt.
»Fahr mal rechts ran«, Kaiser fuhr den Wagen bis fast an die Kaimauer vor den Hörn-Arkaden. »Ich geh zu Fuß.« Beate stieg aus. Kaiser kannte das schon. Sie hat einen Wanderwahn, sagte er zu Kollegen. Wann immer es ging, ging sie. »Ich brauch das zum Nachdenken«, war ihre Standardrechtfertigung, auch wenn sie riskierte, dadurch zu spät zu Konferenzen zu kommen. Heute war für Kaiser klar, warum sie allein sein wollte.
Sie ging am Hörn-Ufer entlang, blickte auf die wenigen Schiffe, die an der Kaimauer lagen. Viele Mordfälle hatten sie nicht, hier in der Provinz. Der Tote wird Schlagzeilen machen, das war ihr klar.
Matthias war Journalist, hatte beim Kieler Anzeiger gearbeitet, später ein Regionalmagazin gegründet. Vor einigen Jahren hatte eine Artikelserie einiges Aufsehen erregt. Machenschaften zwischen Politik und dem Kieler Anzeiger hatten zu Rücktritten im Rathaus geführt. Auch der damalige Geschäftsführer des Lokalblattes musste seinen Hut nehmen.
In einer Stadt wie dieser kannte man eigentlich immer alle. »Dorf auf Weltniveau«, hatte es mal eine Freundin genannt. »Viel Wind, wenig dahinter«, kommentierte es Reiner, ihr früherer Mann, der durchs Studium hier gelandet und durch sie hier geblieben war.
Sie nahm ihr Handy und rief Karl Stiller an. Er meldete sich nach fünf Klingelzeichen. »Stiller?«
»Beate hier, Matthias ist tot.« Stille. Beate konnte sich vorstellen, wie es in Stillers Kopf ratterte, wahrscheinlich lag er noch im Bett. Sein Job fing erst um halb Elf an. Er arbeitete noch immer beim Kieler Anzeiger. »Was ist passiert?«
»Er wurde ermordet, erschossen.«
»Mein Gott.«
Beate hatte die Klappbrücke erreicht, die den neuen Teil der Stadt mit dem alten verbindet.
»Können wir uns treffen?«
»Später, ich muss erst ins Büro. Sagen wir heute Mittag, bei Umberto?« Umberto war ein italienisches Restaurant in der Innenstadt. Hier traf sich die halbe Stadt zum Mittag, darunter auch viele Journalisten des Anzeigers.
»Okay, halb eins?«
»Bis dann.«
(Havarie, Seite 23)
Es war viertel vor elf. Angela stand vor dem Spiegel und war mit sich zufrieden. Heute morgen bei Kiels Prominenten-Frisör im Düsternbrooker Nobelhotel »Maritim« war sie noch unsicher, ob die Frisur so richtig war, jetzt fand sie alles bestens.
Als letztes kam der Hut. Das i-Tüpfelchen, passend zum Chanel-Kostüm.
»Okay«, dachte sie, »here we go.«
Sie verließ das Haus und bahnte sich den Weg durch die Menge. Dicht gedrängt waren die Zuschauer auf dem gesamten Werftgelände verteilt. Schiffstaufe war im Kieler Stadtteil Friedrichsort auch immer ein Volksfest. Sie hörte die Musik des Spielmannszuges aus der Ferne. Ein Umzug setzte sich bei jeder Taufe durch den Stadtteil in Bewegung.
Es war für Angela immer wieder beeindruckend. An diesen Tagen hatte sie ein Gefühl dafür, dass die Werft nicht nur Geld abwarf. Sie war etwas ganz besonders für die Menschen, die hier arbeiteten und lebten.
Während die Menschenmassen in Richtung Docks und Helling strömten, ging Angela in die entgegengesetzte Richtung, zum Eingang. Dort warteten Klaus Neubach und Günter Petermann, der ungeduldig zur Uhr schaute, bereits.
Taufe war für jeden in der Werft der Höhepunkt des Schiffsbaus, egal ob Schweißer, Buchhalter oder Geschäftsführer. Wer wollte, durfte mitfeiern, die geladenen Gäste feierten mit Champagner, alle anderen hatten traditionell immerhin Anspruch auf eine Wurst und ein Bier in der Werkskantine.
Eine der Sekretärinnen war für die Blumensträuße zuständig. Bei Taufen überließ Klaus Neubach nichts, aber auch gar nichts dem Zufall. Die Blumensträuße wurden vorher ausgesucht, damit sie zur Farbe der Kleider passten. Das anschließende Festmenü im Hotel »Maritim« wurde drei, vier Mal probegegessen, bis es passte.
Nun schaute auch Klaus Neubach zur Uhr. Fünf vor, es wurde Zeit. Vor der Taufe waren alle nervös, alles was schief gehen konnte, wurde schnell zum bösen Omen für das Schiff erklärt. Der Aberglaube wurde zwar weniger, aber ganz war er nicht wegzudenken. Da kam der Mercedes durch die Polizeiabsperrung. Herbert Linndner, Reeder aus Bremen, stieg zuerst aus. Er reichte seiner Taufpatin die Hand. Sina Relinghorst war diesmal die Glückliche. Taufpatin war immer eine Frau und es war immer Sache des Reeders, sie zu bestimmen. Diesmal war es die Tochter des Hauptfinanziers des Tankers. Die stolzen Eltern stiegen aus dem nächsten Mercedes aus.
»Mein lieber Neubach«, Linndner ging auf die beiden Geschäftsführer zu. »Ich freue mich, wieder bei Ihnen zu sein, Stapellauf in Kiel ist für mich und meine Frau immer ein besonderes Ereignis.« Bei diesen Worte erinnerte er sich dann auch an seine Frau und half ihr aus dem Wagen. Sie erhielt, wie die anderen Damen umgehend den jeweils farblich passenden Blumenstrauß.
Dann wies Klaus Neubach den Weg. »Wenn ich bitten darf.« Der engste Kreis wurde nun von einer Delegation der Geladenen begleitet, die sich ihre Kanzel-Pässe am VIP Tresen abholten. Auf der Taufkanzel hatten nur knapp 20 Leute Platz, entsprechend sorgfältig suchte Klaus Neubach die Auserwählten aus.
Diesmal waren der Bremer Wirtschaftsminister Fink und sein Amtskollege aus Kiel mit von der Partie. Die beiden hatten hinter den Kulissen einige Finanzprobleme aus dem Weg geräumt, um den Bau des zweiten Doppelhüllentankers für die Bremer Reederei zu ermöglichen. Die Gruppe war auf dem Weg zur Helling, der schräg zum Wasser abfallenden Fläche auf dem die Neubauten entstanden. Das Heck des Tankers ragte 15 Meter hoch über die niedrigen Häuser der Umgebung.
Anders als beim Konkurrenten HDW wurden die Schiffe bei Neubach sozusagen unter Aufsicht der Öffentlichkeit gebaut. Der Bug des Schiffes ragte fast bis zum Zaun, der direkt an der Straße verlief. Langsam ging sie die Stufen zur Kanzel hinauf. Nur keinen Fehler machen, dachte die Taufpatin, ein blutjunges, ziemlich dummes Ding, das es allein Papi zu verdanken hatte, hier heute die Ehre zu haben. Klaus geleitete sie hinauf, Angela folgte mit Reeder Linndner. Dahinter und immer aufs Neue genervt, weil nur in zweiter Reihe bei den Taufen, folgte Petermann mit der Gattin des Reeders. Danach gingen, ohne feste Reihenfolge, die anderen Mitglieder der Kanzel-Crew an »Bord.« Die Kapelle des Friedrichsorter Spielmannszug intonierte inzwischen eine Variation aus »Muss i denn« und »Ick hev mal ’n Hamburger Vermaster.« Dann gab Petermann ein Zeichen und die Kapelle kam zum Schluss.
»...taufe ich Dich auf den Namen „Sealord“. Ich wünsche Dir immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel und allzeit gute Fahrt.« Und nun knallte Sina Relinghorst die Flasche mit aller Kraft gegen den Schiffsrumpf. Sie hätte sich nicht so ins Zeug legen müssen: Man hatte inzwischen dafür gesorgt, dass da nichts mehr schief gehen konnte und der Champagnerflasche eine automatische Beschleunigung gegeben, damit sie sicher am Rumpf zerschellte.
Der Beifall brandete auf, die Gäste auf der Taufkanzel waren ebenso begeistert, wie die Menschen, die in der Nähe der Würstchenbuden und Bierständen das Schauspiel verfolgten. Und dann kam Petermanns Einsatz, die sogenannten Pale, die Stützen unter dem Schiffsrumpf, wurden der Reihe nach weggeschlagen. »Pal eins, los«, gab er ins Walki-Talki. Hinten am Heck des riesigen Tankers holten zwei Schiffbaumeister mit Vorschlaghammern aus und schlugen die Pfähle weg, die den Rumpf des Schiffes auf dem Trockenen in Balance hielten. Die Helling hatte einen Neigungswinkel von 5 Grad und war mit Schmierseife eingerieben worden. »Pal zwei, los«, gab Petermann ins Sprechgerät, zwei weitere Neubacher schlugen die nächsten Stützen weg. Jetzt begann das Schiff zu ächzen, die Stahlplatten rieben sich gegeneinander, das Schiff setzte sich millimeterweise in Bewegung.
»Pal drei, los«, Petermann sprach ganz ruhig, obwohl es in ihm brannte. Das war sein Moment, das war der Lohn für die Arbeit. Seine Arbeit. Denn ohne ihn, würde der Riesentanker jetzt nicht in die Förde rutschen. »Pal vier, los.« Er liebte und hasste diese Momente auf der Taufkanzel. Er hatte hier auf der Werft das Sagen, alle Betriebsabläufe wurden durch ihn gesteuert, jede Bestellung musste durch ihn genehmigt werden. Ohne ihn kein Tanker. Aber ich bin halt nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden, sagt er zu sich und blickte rüber zu Neubach. Er war wie er meinte, sicher aus gutem Grund, vom Seniorchef zum gleichberechtigten Geschäftsführer neben Klaus berufen worden. Alle Betriebsabläufe lagen unter seinem Kommando. Klaus war für die Akquise zuständig und für die Außenrepräsentanz. Für Smalltalk und große Reden, wie heute. »Pal fünf, los.« Jetzt nahm das Schiff Fahrt auf und rutschte zentimeterweise, langsam schneller werdend über die Helling, das Heck berührte jetzt das Fördewasser.
»Pal sechs, Pal sieben, Pal acht«, jetzt zischte der Tanker in die Förde. Der Schwung reichte, um ihn einige zehn Meter ins Wasser zu befördern. An Bord waren Mannschaften, die die Leinen der Schlepper einholten. Noch war der Tanker ja nichts als eine Hülle, ohne Maschine, ohne Führerhaus war er auf die Hilfe der Schlepper angewiesen. Die verbrachten den Tanker zum Kai der Neubachwerft. Schon am Nachmittag wird die Brücke auf die Hülle gesetzt, erhält das Schiff Kontur. In einigen Wochen wird der Tanker an die Reederei übergeben.