Heaven's End – Wen die Geister lieben - Kim Kestner - E-Book
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Heaven's End – Wen die Geister lieben E-Book

Kim Kestner

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Beschreibung

Jugendbuchautorin Kim Kestner beGEISTERT ihre Leserinnen mit einem neuen romantischen Fantasyroman – denn wo der Himmel endet, beginnt die Welt der Geister ... In Heaven's End, einem kleinen schottischen Küstenort, lebt die fünfzehnjährige Jojo mit ihrer Familie – der lebenden und der toten. Denn Jojo kann Geister sehen und wohnt mit einer ganzen Horde verrückter Vorfahren unter einem Dach. Von ihrer besonderen Fähigkeit aber darf niemand etwas wissen. Erst recht nicht Zack, der Schulschwarm, dessen funkelnde Augen Jojo blöderweise ganz kribbelig machen. Doch im idyllischen Heaven's End gehen auf einmal unheimliche Dinge vor sich. Wie lange kann Jojo ihr Geheimnis noch wahren? Und was lauert jenseits der Welt der Lebenden? Endlos spannend, himmlisch romantisch, teuflisch gut – packende Ghostfantasy at its best!

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Seitenzahl: 501

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Kim Kestner

Heaven’s End – Wen die Geister lieben

Band 1

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Inhalt

WidmungProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132GeisterverzeichnisDanksagungLeseprobeIch erwachte von einem [...]

Für meinen Sohn Max

 

Deine unglaubliche Phantasie ist ein Schatz.

Hüte ihn nicht, sondern teile ihn mit allen Menschen,

die Geschichten lieben.

Prolog

Glenshire County28. Juni 1519

Berauscht von der Leichtigkeit, die der Tod mit sich brachte, glitt er durch seine Festung. Ihm war, als wäre er ein Windzug, der durch ein geöffnetes Fenster fuhr – nur, dass er meterdicke Mauern durchdrang, ohne sie überhaupt zu spüren. Als er in den Spiegelsaal eintauchte, hielt er inne. In dem Glas reflektierte Tausende Mal das Licht der Wandfackeln. Um eine von ihnen tanzte eine Motte. Er sah ihr dabei zu, bis sie der Flamme zu nah kam. In ihrer Hitze zerfiel sie zu Asche. Genau wie sein Körper es in diesem Moment tat. Draußen, vor dem Tor. Sein Hochgefühl wich heiß lodernder Wut.

Wie hatten sie es wagen können? Ihm, dem größten Hexenmeister aller Zeiten … Dessen Gedanke reichte, um Menschen vor Schmerz in die Knie sinken zu lassen. Der durch die Augen einer jeden Krähe zu sehen vermochte, gleichgültig, wie weit entfernt sie war. Dem der Tod selbst nichts anhaben konnte! Wie hatten sie es wagen können, ihm seinen Körper zu nehmen?

Mit einem Grollen schnellte er durch die Außenmauern seiner Festung, hinaus in die Nacht. Sie war mondlos und finster. Aber der Schein des Feuers erhellte das Tor, vor dem seine Kutsche in Flammen aufging. Rotglühend züngelten sie in den Himmel, fraßen sich durch das Holz seiner Kutsche, in der er gesessen hatte. Bald würde von ihm nicht mehr überbleiben als ein Häufchen Asche. Es würde schwer werden, seinen Körper daraus wiederzuerschaffen, vielleicht unmöglich.

Schlimmstenfalls würde er einen neuen Körper wählen müssen. Beispielsweise den des Earls …

Er entdeckte ihn mit den anderen zusammen auf dem Weg hinunter ins Tal. Und sie gingen geradewegs auf einen Feuerkreis zu. Das Interesse an seinen Mördern war mit einem Schlag verschwunden. Was dort, mitten auf dem Weg, brannte, war nicht nur ein Ring aus Feuer, es war ein magischer Schutzkreis. Er hatte nur eine Aufgabe: Geister – wie ihn – fernzuhalten. Aber er hatte sich noch nie von etwas fernhalten lassen. Und er tat es auch jetzt nicht.

Vier Gestalten hockten in dem brennenden Ring. Aber sein Augenmerk galt nur einer von ihnen. Einem Mädchen mit langem, fuchsrotem Haar. Er hatte es Minuten vor seinem Tod gesehen. Nur einen Wimpernschlag lang, denn dieses Mädchen war wie ein Geist durch seine Kutsche geglitten. Dabei hatte sie ihm direkt in die Augen gesehen. Doch sie war kein Geist. Geister mussten sich nicht durch Magie vor anderen Geistern schützen. Was aber war sie dann? Und weshalb lag neben ihr im Gras etwas, das ihm gehörte? Sein Lebenswerk – Das Compendium der schwarzen Magie. Dieses Buch barg unbeschreibliche Macht. Die größten Hexenmeister hätten dafür getötet.

Umso weniger konnte er begreifen, wie es in die Hände dieses rothaarigen Mädchens gekommen war. Zumal sein Buch unzweifelhaft zu ebendiesem Zeitpunkt, sicher verwahrt in einem geheimen Fach, in seinen Gemächern lag.

Es gab nur eine Erklärung: Das Mädchen hatte eine Beschwörung aus seinem Buch angewandt, um diesen Ort mit einer anderen Zeit verschmelzen zu lassen. Mit ihrer Gegenwart.

Aber wieso hatte sie dafür ausgerechnet den Tag seines Todes gewählt? Wer war sie? Etwas musste ihn mit diesem Mädchen verbinden. Nur was?

1

Glenshire County6. Juni 2019

Es waren nur zwei Worte. Doch die Schlagzeile würde für eine Menge Ärger sorgen. Sie richtete sich gegen den Mann, dessen Vorfahre unserem Highland-Städtchen den Namen gegeben hatte, der das Feldhockeyteam unserer Schule mit großzügigen Spenden unterstützte und in dessen Sohn mindestens die Hälfte aller Schülerinnen hirnlos verliebt war. Kurzum: den Earl of Glenshire. Mit meinem Artikel gedachte ich ihm so fest wie nur möglich gegen das Schienbein zu treten. Von mir aus konnte die Story in Druck gehen.

Benny schien das anders zu sehen. »Ich weiß nicht, Jojo …« Mit gerunzelter Stirn sah er auf den Bildschirm. »Blutgeil – Weidmannsheil? Ist das nicht ein wenig zu dramatisch für eine Schülerzeitung?«

Zu dramatisch? Jetzt war ich es, die die Stirn runzelte. »Dein Ernst, Benny?« DRAMA war quasi sein zweiter Vorname. Benjamin DRAMA Spencer.

»Hach, ich glaube, es sind die Schriftfarben«, überlegte er halblaut.

Ich schnaubte. Mein Beitrag verurteilte die Fuchsjagd, sinnloses Töten also, da war Blutrot genau die richtige Farbe. Auf der anderen Seite … Die Farbe war doch schnurzegal. Hauptsache, der Artikel rüttelte die Leute auf.

Aus dem Rucksack zu meinen Füßen kam ein wütendes Scharren.

War ja klar. »Eine Stunde noch!«, zischte ich.

»Ich geb mein Bestes«, grummelte Benny. Er hatte keinen Schimmer, dass nicht er gemeint war. »Aber du weißt, wie ich das sehe. Farben transportieren eine –«

»… wichtige unterschwellige Aussage.« Ich verdrehte die Augen.

»Ich kann hören, wie du die Augen verdrehst.«

»Tu ich nicht.«

»Tust du doch«, sagte Benny, ohne sich nach mir umzudrehen. Er kannte mich zu gut.

Da ich ihn mindestens ebenso gut kannte, wusste ich: Benny durfte man nicht hetzen, sonst wurde er pampig. »Lass dir Zeit. Alles cool.«

»Nichts ist cool!« Die spitze Schnauze eines meiner beiden Wiesel bohrte sich aus der Öffnung meines Rucksacks. Messerscharfe Zähnchen ragten daraus hervor. Aber sie konnten Benny nichts anhaben, denn Scrooge war ein Tiergeist. »Sag dem selbsternannten Picasso da draußen, wir nehmen Schwarz«, giftete er. »Los! Ich will nach Hause.«

Ich schwor mir, dem miesepetrigen, kleinen Wiesel zukünftig das Frettchenmaul zuzubinden, bevor ich das Haus verließ. Tierliebe hin oder her. Scrooge trug seinen Namen mehr als verdient. Wie Scrooge, der alte Widerling aus Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte, war mein Wiesel ein echtes Ekel, ein Stimmungskiller, bestenfalls ein Trauerkloß, und mindestens genauso muffig wie sein zerzaustes Präparat, das in meinem Zimmer hing. Seit ich es vor Jahren zwischen verstaubten Fotoalben und der Weihnachtsdekoration auf dem Dachboden gefunden hatte, haftete dessen Geist an mir. »Ich sagte: eine Stunde!«

»Mag sein. Ich lasse mich trotzdem nicht hetzen«, murrte Benny, woraufhin Scrooge aus dem Rucksack schoss und sich mit ausgefahrenen Krallen auf Benny stürzte.

Ich schüttelte nur den Kopf. Benny konnte Scrooge weder sehen noch sein Schimpfen hören, und von ihm verletzt werden konnte er schon gar nicht. Das Gleiche galt für Scout. Aber der lag die meiste Zeit ohnehin wie ein Schal um meinen Hals, in möglichst großem Abstand zu seinem Artgenossen. Die beiden Wiesel konnten sich nicht ausstehen. Kein Wunder, Scout war der liebste Tiergeist der Welt, wenn auch furchtbar ängstlich. Scrooge hingegen wusste nicht mal, wie man Angst schrieb (sonst wusste er aber alles besser), und er war ständig mies gelaunt. Wenn er mal lachte, dann nur aus Schadenfreude. Vor allem bei Oops, Fail, der Sendung, in der ständig Leute gegen Laternenpfeiler rannten oder beim Rückwärtsgehen ins Wasser fielen. Das war übrigens der Grund, weshalb Scrooge so dringend nach Hause und vor den Fernseher wollte.

Ich bekam mein Miesewiesel an der dunkelbraunen Schwanzspitze zu fassen. Bis auf ein ebenso dunkles Dreieck zwischen seinen Ohren, das sich bis zur Nase zog, war sein Fell sandfarben, an der Brust eine Spur heller. Scout hingegen hatte nichts Dunkles an sich. Im Gegenteil. Seine Pfoten waren weiß, genau wie ein herzförmiger Fleck auf der Brust. Es war beinahe sinnbildlich.

Ich ließ Scrooge im Reißverschlussfach meines Rucksacks verschwinden, bevor er seine Zähne in meine Hand schlagen konnte. Mit den Tiergeistern war es merkwürdig. Ich war fähig, sie zu berühren, zu streicheln, auch festzuhalten, wenn es sein musste. Sie selbst waren allerdings nicht dazu in der Lage, Materie zu bewegen. Das heißt: Scrooge war es nicht, obwohl er verbissen (und das konnte man wörtlich nehmen) daran arbeitete. Er blieb vollkommen talentfrei in puncto Grobstofflichkeit. Scout hingegen konnte Materie bewegen, es bedeutete allerdings große Anstrengung für ihn. Von der Sache her hätte er jede Walnuss knacken können. Noch ein Grund, weshalb Scrooge ihn aus seinem tiefsten Wieselherzen hasste.

Manchmal fauchten und stritten sie so sehr, dass ich kein Wort vom Unterricht mitbekam. In meinem letzten Zeugnis hatten Scrooge und Scouts Streitereien mir den Vermerk: Josephine folgt dem Unterricht nur teilweise eingebracht. Zu Hause konnten meine Wiesel sich jedenfalls aus dem Weg gehen. Dafür lebten vier meiner verstorbenen Vorfahren bei uns, was nicht selten genauso anstrengend war. Vor allem weil sie immer merkwürdiger wurden, je länger sie tot waren. Und einige von ihnen waren schon über zweihundert Jahre tot. Das mit dem Geistersehen hatte ich von meiner Mutter. Und die von ihrer. Aber das behielten wir für uns. Die Leute hier befanden einen sonst für verrückt, weswegen wir so taten, als wäre das Ungewöhnlichste an unserer Familie die chilenische Andentanne in unserem Garten.

Ich blickte über Bennys Schulter. Sein Zeigefinger glitt in enormer Geschwindigkeit über das Touchpad. Er war imstande, einen ganzen Tag damit zu verbringen, Textblöcke und Bilder hin und her zu schieben, und einen weiteren damit, die richtige »farbliche Aussage« zu finden. Als wäre unsere Schülerzeitung die verdammte Cosmopolitan.

Erstaunlicherweise jedoch schien er zufrieden. »Und? Was sagst du?«

»Dass ich mich auf Fluckmores Gesicht freue, wenn er die Zeitung in den Händen hält.« Unser Direktor hatte den Tierschutzartikel nämlich nur unter einer Voraussetzung genehmigt: Der Earl durfte mit keinem Wort erwähnt werden. Mit keinem Bild hatte er allerdings nicht gefordert, da musste man schon unterscheiden, fand ich.

Das Foto unter der Schlagzeile zeigte eine Jagdgesellschaft. Den Earl zusammen mit anderem Landadel, allen möglichen Lords, Viscounts, sogar irgendeinem Duke. Ausnahmslos, wie es die Tradition verlangte, in roten Reitjacken. Hinter ihnen, grau und efeuberangt, Glenshire Castle. Vor ihnen drei Reihen wunderhübscher, aber toter Füchse.

Jedes Tier, das getötet wurde, war eines zu viel, aber bei Füchsen fand ich es besonders schrecklich. Sie waren so wundervolle Kreaturen, schlau, geschmeidig und bildschön. Außerdem hatten sie und ich die gleiche fuchsrote Haarfarbe. Für mich war die Fuchsjagd jedenfalls Hobbymord. Die meisten der Tiere landeten wenig später im Müll, einige Felle an den Körpern irgendwelcher aufgeblähter Schnepfen, wie einer Lady mit ausladendem Hut links am Bildrand. »Ist das nicht furchtbar?« Ich ertrug den Anblick kaum. »Wie kann man sich nur ein totes Tier um den Hals hängen?«

»Zu nah?«, fiepte Scout in meinem Nacken. Seine vor Schreck zitternden Schnurrhaare kitzelten mich am Ohr.

»Du doch nicht …«, wisperte ich, dabei strich ich über seinen mageren Körper und tat, als würde ich mir die Schulter massieren. Sofort entspannte Scout sich wieder.

»Ein totes Tier.« Angewidert verzog Benny den Mund. »So wie du es sagst, klingt es definitiv furchtbar. Genauso gut könnte man Benetton tragen!«

»Klar, beides schrecklich.«

Mein bester Freund zupfte an seinem exakt gestutzten Kinnbart. »Also … Headline in Blutrot oder Himbeer?«

»Blutrot«, antwortete ich ihm finster.

Seine Stimme bekam einen beleidigten Unterton. »Du bist die Chefredakteurin, ich nur der Handlanger.« Er gab der Graphiksoftware irgendwelche Befehle und rief die Seite der Onlinedruckerei auf.

Es würde dauern, bis die Daten hochgeladen waren. »Holst du uns einen Milchkaffee?«

»Oh, sicher. Eben noch Handlanger, jetzt Botenjunge …«

»… aber immer mein bester Freund.« Ich drückte Benny einen Kuss auf die Wange, worauf er halbwegs versöhnt Richtung Cafeteria verschwand.

Mir war klar, es würde einen Rüffel wegen des Fotos geben. Aber bis unser Rektor sein Belegexemplar in den Händen hielt, würde die Zeitung schon längst in Produktion sein.

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen ging ich zum Drucker und sah dabei zu, wie er die Höhepunkte des vergangenen Schuljahres Seite für Seite ausspuckte.

Ich nahm einige davon aus der Auffangschale des Druckers. Ein Potpourri aus lauter bunten Sätzen. Darüber die Frage: Was hast du nach dem College vor?

Meine Schuluniform verbrennen, stand ganz oben. Ich überflog einige andere Antworten. In London studieren – Aufwachen – PARTY, PARTY, PARTY! – Erst mal ein Praktikum …

Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was ich nach dem College machen wollte. Vielleicht etwas im Tierschutz. Oder Journalismus? Zum Glück hatte ich noch ein paar Jahre Zeit, um meine Antwort zu finden. Noch war ich im vorletzten Jahr der Highschool.

Das College war im selben Gebäude untergebracht. Es war eines der ältesten im gesamten County. Man hätte es glatt für ein Schloss halten können, sah man von den Schulbussen davor ab.

Von draußen ertönte die Schulglocke. Die letzte Nachmittagsstunde war beendet. Mit anderen Worten: Spätestens in einer halben Stunde würde uns der Wischmopp, unser Hausmeister, aus dem Computerraum jagen, um das Gebäude abzuschließen.

Benny kam zurück und drückte mir einen lauwarmen Pappbecher in die Hand. »Fluckmore ist im Anmarsch.«

»Was?« O nein. Panisch sah ich zum Bildschirm.

Benny setzte sich davor und stellte seinen unangerührten Kaffee zur Seite, da hallten Schritte über den verlassenen Flur. »Ich geb die Daten in Druck, dann ist es zu spät«, sagte er.

»Beeil dich«, flehte ich, doch schon im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und Fluckmore stand im Rahmen. Hager, mit papierweißem Haar, einem beunruhigend eierförmigen Kopf und langen, knochigen Fingern. Benny hatte einmal gesagt, wenn man Mr Burns von den Simpsons und ein Alien kreuzen würde, käme unser Direktor dabei raus. Erschreckenderweise traf es das genau.

Scout drehte sich unruhig auf meiner Schulter. Er spürte meine Nervosität. Leider entging auch unserem Direktor selten etwas. Er besaß einen siebten Sinn dafür, wenn etwas Außerplanmäßiges an seiner Schule vorging. Und mit außerplanmäßig meinte er jede Form von Kreativität und eigenständigem Denken. Fluckmore hatte von dem Foto Wind bekommen, da war ich mir sicher. Erst recht, als Scarlett Rose Sinclaire hinter ihm auftauchte, von der ich das Foto hatte. Natürlich versuchte unser Schul-Prinzickchen, mir eine reinzuwürgen. Wir waren nicht gerade Freundinnen. Gelinde ausgedrückt.

Wütend warf Fluckmore seinen ausgebeulten Aktenkoffer auf den Tisch. »Ist die Druckplatte schon gesetzt?« Ob er wusste, dass die flachen Dinger auf den Tischen Laptops waren und keine Tabletts aus der Kantine?

»Der Botenjunge bringt sie gerade zur Presse«, erwiderte Benny, ohne eine Miene zu verziehen. Ich schielte zum Bildschirm. Von der Tür aus konnte man es nicht sehen, aber erst 83 Prozent der Daten waren hochgeladen. Jetzt bereute ich, nicht auf Scrooge gehört zu haben.

»Lass mal sehen.« Scarlett hatte sich an unserem Direx vorbeigeschoben und Benny zur Seite gedrängt. »Ha! Wusste ich es doch«, rief sie gleich darauf, »eine Lüge!« Sie sah sich triumphierend nach Fluckmore um. Er stand beim Drucker. Ich hatte die Hoffnung, dass er ihn für einen Toaster hielt. »Soll ich den Ladevorgang abbrechen, Direktor?« Scarletts Wangen glühten vor Eifer. Scheinheiliges Miststück! Sie bekam keine Antwort.

»Ist das mein Beleg?« Fluckmore griff in das Ausgabefach.

»Ja, Mr Fluckmore.«

»Nun denn …« Mit spitzen Fingern blätterte er den Stoß loser Seiten durch. Wahrscheinlich fürchtete er, sich andernfalls mit Druckerschwärze einzusauen.

Noch war nichts verloren. Waren die Druckdaten erst hochgeladen, konnte der Auftrag nicht mehr storniert werden, und ein zweites Mal würde Fluckmore die Schülerzeitung nicht drucken lassen. Wenn er etwas noch mehr hasste als außerplanmäßig, dann war es Verschwendung. Neben seiner Bürotür hing ein Messingschild, auf dem »DIREKTOR FLUCKMORE« stand, das heißt beinahe stand, denn jemand hatte schon vor ewigen Zeiten das L ausgekratzt. DIREKTOR F_UCKMORE hatte das Schild trotzdem nie ausgetauscht.

Ich sah in sein verkniffenes Gesicht und wappnete mich. Egal, welche Konsequenzen die Sache mit dem Foto hatte, ich würde für meine Überzeugung kämpfen.

Am Rande registrierte ich, wie Benny und Scarlett um die Vorherrschaft am Touchpad rangen. »Direktor!«, rief Scarlett panisch. Beinahe hätte ich laut losgelacht. Ihre Hilflosigkeit war mindestens so falsch wie ihre hüftlangen Haare.

Fluckmore blickte kurz auf. »Lassen Sie den Unfug, Mr Spencer.« Im nächsten Moment wurden seine Augen ganz schmal. Er hatte bis zu meinem Artikel vorgeblättert. »Aber das ist ja …!«

»… meine Verantwortung«, beeilte ich mich zu sagen. Benny sollte da auf keinen Fall mit reingezogen werden.

»Sie haben dieses Foto hier abgelichtet?« Mr Fluckmore klang überrascht. Ich war es definitiv. Hatte er etwa bis eben überhaupt nichts von dem Foto gewusst? Aber wieso war er dann hier? Und Scarlett?

»Stoppen Sie die Maschine!«, rief Fluckmore ihr zu, als wären wir auf der Titanic.

»Schon geschehen.« Mit einem Siegerlächeln kam sie zu uns. Benny hob bedauernd die Schultern. Scarlett schielte auf den Artikel in Fluckmores Händen. »Ist das Bild nicht aus dem Glenshire Paper, Josephine?« Nur sie nannte mich bei meinem vollen Namen.

»Das weißt du doch genau«, zischte ich. Schließlich hatte ich mich vor zwei Wochen dazu durchgerungen, Scarlett nach einem Archivfoto von einer Fuchsjagd zu fragen. Ihren Eltern gehörte der Glenshire Paper. Deshalb war es für sie ganz besonders ein Dorn im Auge, dass ich Chefredakteurin der Schülerzeitung geworden war und nicht sie. »Herr Direktor, ich muss Sie darüber informieren, dass die Schule keinerlei Rechte an diesem Bild besitzt.«

»Das spielt keine Rolle«, brummte Fluckmore. »Der Artikel wird nicht erscheinen.«

Ich verschluckte fast mein Kaugummi. Das konnte er nicht machen! »Benny kann das Bild rausnehmen.«

Fluckmores Augen wurden noch schmaler. »Mr Spencer wird den gesamten Artikel rausnehmen.«

»Dann haben wir aber ein Problem«, warf Benny sich für mich ins Zeug. »Die Gesamtseitenanzahl muss immer durch vier teilbar sein, sonst –«

»Sparen Sie sich das Fachsimpeln, Spencer. Miss Sinclaire hat glücklicherweise einen Beitrag in petto.« Fluckmore ließ seinen Aktenkoffer aufschnappen und reichte mir eine Pappe heraus. Eine, die mit einer Kordel und zwei Knöpfen zusammengehalten wurde. »Der Setzer soll sich darum kümmern.«

Hinter ihm deutete Benny auf sich. Scarlett warf ihm einen Stick zu. »Da ist das druckfertige PDF drauf. Ich hoffe, du weißt, was du damit machen musst.«

»Die Rechtschreibkorrektur drüberlaufen lassen?«, fragte mein bester Freund. Scarlett war nicht die hellste Kerze auf der Torte. Benny mochte sie nicht, aber allen anderen Jungs genügte es, dass sie heiß war.

Ich nestelte an der Kordel. In dem Artikel ging es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um irgendein Styling-Blabla. Jedenfalls redete sie auf ihrem YouTube-Kanal von nichts anderem.

Die Tür flog auf, und der Hausmeister steckte seinen Kopf herein. Er sah aus wie immer – genau wie sein Wischmopp. Graues, zerzaustes Haar über einem stieldünnen Körper. »Oh, verzeihen Sie, Herr Direktor. Ich wusste nicht, dass Sie … Ich wollte das Gebäude abschließen.«

»Schon gut. Gehen Sie nur«, meinte Mr Fluckmore. »Ich verschließe das Portal, wenn das hier geregelt ist.« Er ließ meinen Ausdruck in seinem Aktenkoffer verschwinden. »Spencer, sobald er vorliegt, bringen Sie mir den neuen Beleg ins Büro. Und Sie, Miss Connery, sehe ich morgen früh dort.«

»Natürlich, Direktor«, sagte ich mit einem Zähneknirschen.

»Ach, das ist jetzt aber wirklich blöd gelaufen.« Scarlett tat untröstlich.

Ich ballte die Fäuste.

»Darf ich sie beißen?«, fragte Scout mit gebleckten Zähnen.

»Später«, knurrte ich.

Fluckmore wandte sich zum Gehen.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, riss ich die Kordel von der Mappe und fingerte Scarletts Artikel heraus. »Das ist ein Witz, oder?« Ich wünschte geradezu, es wäre einer. »Spuk im Last Drop?«

»Ist das die Headline?« Benny öffnete das Dokument auf dem Stick. »Ach du meine Güte, wie klischeehaft. Mausgrau für einen Spuk-Titel.«

»Echt? Das regt dich auf?« Ich begriff nicht, weshalb Direktor Fluckmore so was genehmigt hatte, egal in welcher Farbe. Und überhaupt: dass ausgerechnet Scarlett über Spuk schrieb. »Jetzt glaubt sie plötzlich an Geister«, sagte ich zu Benny.

Scarlett warf mir einen bitterbösen Blick zu. »Ich glaube an gute Stories. Dank mir wird die Schülerzeitung das erste Mal gelesen werden. Also … gern geschehen.«

»Ich sagte nicht Danke.«

»Musstest du auch nicht.«

»Mach ich auch nicht«, giftete ich. Scarlett war die Letzte, bei der ich mich bedanken würde. Ganz abgesehen davon, hatte sie keine Ahnung, wovon sie da schrieb. Aber in letzter Zeit hielt sich hier jeder für einen Geisterexperten. Egal, wo man hinhörte, es ging um Geister, Spuk oder schwarze Magie. Was an der Legende lag, die sich um unser kleines Städtchen rankte. In ein paar Wochen war es nämlich fünfhundert Jahre her, da soll ein zerlumpter Mann in Heavend aufgetaucht sein, wie es früher noch hieß. Keiner wusste, woher er kam, aber er brachte es in kürzester Zeit zu größerem Reichtum als der Earl. Der Kerl nannte sich Sir Magmartes Throckmorton.

Die Frauen lagen ihm zu Füßen, die Männer vermachten ihm ihr gesamtes Vermögen, weswegen die Bewohner von Heavend sich bald sicher waren, dass der Fremde ein Alchemist sein musste. Nicht wenige nannten ihn auch einen Hexenmeister.

So oder so … Wer die Schwelle des Throckmorton-Anwesens überschritt, war Magmartes quasi verfallen. Bald auch zwei der drei Töchter des Earls. Aus Eifersucht vergiftete die ältere und weniger hübsche die jüngste, floh aus Angst vor ihrem Vater in Throckmortons Festung und wurde nie wieder gesehen. Nachdem der Earl zwei seiner Töchter durch Throckmorton verloren hatte, beschloss er, ihn zu töten, bevor auch die dritte zu dessen Opfer wurde. Er lauerte Throckmorton auf und steckte dessen Kutsche in Brand.

Bloß nach Throckmortons Tod fing der Spuk erst richtig an, hieß es. Männer und Frauen wandelten angeblich in den Mauern umher, bis sie auf die Knochen abmagerten und verhungerten, weil sie nach wie vor unter Throckmortons Bann standen. Seither wurde die Gegend von den Menschen, die hier lebten, nicht mehr Heavend, sondern Heaven’s End genannt. Der Ort, wo der Himmel endet und die Welt der Geister beginnt.

Throckmortons Anwesen existierte immer noch. Es war eine Festung aus dem 11. Jahrhundert, Fort Blackshore, die dazu gedient hatte, Schottland gegen die Übergriffe der Wikinger zu schützen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts dann soll Magmartes Throckmorton auf Fort Blackshore gelebt haben. Danach war die Festung jedoch zunehmend verfallen. Wahrscheinlich, weil sich das Gerücht, es spuke dort, hartnäckig hielt. In einem Spukführer stand über die Throckmorton-Ruine geschrieben: An manchen Tagen, wenn der Nebel über die Klippen kriecht, kann man die verlorenen Seelen nach wie vor zwischen den Mauern umherirren sehen.

Die Story war nicht schlecht. Aber Schottland ist nun mal voll von Spukgeschichten, daher hatte unsere letztes Jahr nicht mehr als 768 Besucher angelockt (laut Betty von der Stadtverwaltung).

Allerdings jährte sich die Legende in einigen Wochen zum fünfhundertsten Mal, und die Leute in Heaven’s End erwarteten Wunder was. Je näher der Tag kam, desto verrückter wurde es. Jedes Bed and Breakfast hatte plötzlich seinen eigenen Geist. Frühstück, täglich frische Handtücher und paranormale Erscheinungen inklusive.

Auch in den meisten Läden konnte man jetzt irgendeinen Blödsinn kaufen, der mit Throckmorton zu tun hat. T-Shirts, Magnete, Tassen … Auf der Getränkekarte des Last Drop stand sogar ein Burning Revenge – Brennende Rache –, ein Whisky mit Kaminasche.

Und genau da knüpfte Scarletts total bescheuerte Story an.

»Hat Pubbesitzer McDoogle Throckmortons Rache damit heraufbeschworen?«, las ich halblaut. Bei dem Namen Throckmorton verkroch sich Scout fiepend unter meinem Pullover. »Ist ja gut …« Leise schnalzte ich mit der Zunge. Nicht nur Scout, alle Geister waren furchtbar abergläubisch. Für sie war Throckmorton ein Schreckgespenst. Unsere Geister hatten tatsächlich Angst vor Gespenstern, was ungefähr genauso lächerlich war wie ein Schatten, der sich vor Dunkelheit fürchtete.

Der Artikel von Scarlett befasste sich mit dem Schrecken im Last Drop, Glenshires ältestem Pub. Zugegeben, die Vorfälle dort waren tatsächlich ziemlich seltsam. Erst war der Gewölbekeller eingestürzt. Wenig später waren sämtliche Fässer der Whisky-Brennerei ausgelaufen. Die gehörte ebenfalls den McDoogles. Das Merkwürdigste aber daran war, dass die Fässer weder beschädigt noch geöffnet gewesen sein sollen. Ich las den Rest des Artikels.

Bis dahin hatten die McDoogles noch gedacht, eine normale Erklärung für die unheimlichen Vorfälle zu finden.

»Seit gestern weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll und was nicht«, gestand uns Mr McDoogle. »Es gibt keine Erklärung.«

Als er wenige Stunden zuvor den Gastraum des Last Drop aufgeschlossen hatte, meinte der Wirt, hätte er seinen Augen nicht trauen können. »Flaschen lagen zerbrochen auf dem Boden, der gesamte Bestand. Und dann diese Pyramide … Alle Tische und Stühle auf einem Haufen. Völlig verrückt!«

Die Art der Verwüstung gibt auch den Ermittlern ein Rätsel auf. Nach derzeitigem Stand könne ein Einbruch auf alle Fälle ausgeschlossen werden, erklärte die Polizei auf Nachfrage.

»Klar. Den Ermittlungsstand hat dir die Polizei einfach so auf die Nase gebunden«, sagte ich zu Scarlett.

Sie stand an den Drucker gelehnt und betrachtete ihre künstlichen Glitter-Fingernägel. »Geht dich zwar nichts an, aber der Ermittler ist ein Freund der Familie. Er meinte, es gab keinerlei Einbruchsspuren. Da reden alle gleich von Spuk. Du weißt das ja am besten«, sagte sie spitz. »Aber wenn du mich fragst, war es Versicherungsbetrug.«

»So bescheuert kann man doch gar nicht betrügen«, meinte Benny vom Tisch aus. »Keine Versicherung zahlt ohne Einbruchsspuren.«

Scout steckte sein kleines, zitterndes Näschen aus meinem Ärmel. »Vielleicht haben sie sich einen Boggart eingefangen.«

Ich wog den Kopf. Boggarts waren ausgesprochen ungeliebte, stinkende Naturgeister, die sich in Häusern einnisteten und dort Unfug trieben. Genug Unsinn hatten sie allemal im Kopf, aber in erster Linie waren Boggarts faul. Einen solchen Aufwand würden sie niemals betreiben. Wer oder was auch immer dahintersteckte, ein Boggart war es bestimmt nicht.

»Tja, dann muss es wohl doch spuken«, schloss Scarlett. Sie fixierte mich mit ihren blassblauen Augen.

»Musst du nicht ganz schnell Zackary hinterherlaufen?«

»Musst du nicht ganz schnell irgendwelche Geister beschwören?«, fragte Scarlett zurück.

»Du spinnst doch.«

»Keine Ahnung … Bei uns sprechen wir nur mit Lebenden. Ich denke, der Wahnsinn liegt eher in deiner Familie.«

Noch bevor ich mir überlegen konnte, ob ich zu einer Antwort oder mit der Faust ausholen sollte, kam Scout aus meinem Pullover geschossen. »Darf ich sie jetzt beißen?«

Ich gab Scout einen Stups. »Hau rein!«

2

Benny stand neben mir an der Bushaltestelle und seufzte sehnsuchtsvoll. Ich folgte seinem Blick über den gepflasterten Schulhof, zu dem silbernen Rolls-Royce. Er wartete direkt neben dem Eingangstor – damit Zackary, dieser verwöhnte …

Scout fing leise an zu knurren.

… damit Zackary, der zukünftige Earl of Glenshire, keinen Schritt zu weit gehen muss, korrigierte ich mich in Gedanken. Scout nahm jede meiner Gefühlsregungen auf, vor allen Dingen Wut. Und Zackary machte mich wütend. Weil er zuließ, dass sein Vater Füchse tötete. Und weil seine Familie sich für was Besseres hielt. Nur weil sie reich waren. Und adelig.

Zackary stand locker an den Rolls gelehnt und war umringt von vier Mädels. Sie sahen so aus, als würden sie jeden Moment über ihn herfallen – oder in Ohnmacht. Wahrscheinlich beides. Erst das eine, dann das andere.

Gerade lachte er über irgendetwas, wobei er sich sein hellbraunes Haar aus der Stirn strich. »Numptie«, entschlüpfte es mir halblaut. Das war Schottisch für Idiot.

»Aber ein hübscher …«, seufzte Benny. »Absoluter Zucker. Und ich meine nicht den in meinem Kaffee.«

Okay, zugegeben: Zackary war attraktiv. Ein ebenmäßiges Gesicht, gerade, dunkle Brauen, einen Kopf größer als ich, perfekte Lippen, lange Wimpern, Grübchen in den Wangen … so was eben. Die Mädchen waren ganz verzückt von seinem Wirbel am Hinterkopf. Ich von der kleinen Narbe auf seiner Stirn. Aber auch nur, weil ich gehört hatte, dass ihn da als Kind ein Stein getroffen hatte.

»Es sind seine opalgrünen Augen«, behauptete Benny. Er hatte für jede Farbnuance einen eigenen Namen.

»Opale sind weiß. Oder blau. Nicht grün«, entgegnete ich.

»Opalgrün ist nur sehr selten. Aber es trifft genau die Farbe seiner Augen«, schmachtete er. »Vor allem wegen dieser zauberhaften, hellen Funken in seiner Iris.«

»Und wenn schon.«

Benny betrachtete mich von der Seite. »Du kannst mich steinigen«, bot er an, »aber ich sprech’s jetzt mal aus: Insgeheim stehst du noch auf ihn.«

»Warte kurz …« Mit einem Schnauben sah ich mich nach einem ausreichend großen Stein um. Leider waren alle in Frage kommenden im Vorplatz verankert. Vielleicht war ich ganz kurz mal in Zackary verknallt gewesen. Aber das war ewig her. Und auch nur, weil er Benny gerettet hatte.

Da war Benny fünfzehn gewesen und nicht gerade beliebt in seinem Jahrgang. So ziemlich alle nannten ihn damals Candy – was er einer bonbonfarbenen Klamottenphase zu verdanken hatte. Benny tat mir leid. Wir waren zwar noch nicht befreundet, aber ich sah ihn immer nur allein in der Cafeteria sitzen. Meistens ganz hinten in der Ecke.

Am Fenster gegenüber hatten die angesagten Schüler ihren Stammplatz. Als Zack sich dazusetzte, rief irgendeiner: »Guck mal, Candy da drüben wird ganz rot, wenn er dich sieht.« Alle lachten. Natürlich lief Benny knallrot an, worauf die Idioten sich weiter lustig machten. »Uuh, Candy! Hast du dir heute extra Rouge für Zack draufgemacht?«

Am liebsten hätte ich den Typen eine verpasst, und vielleicht hätte ich es sogar getan, wenn ich nicht dreizehn und selbst ziemlich unsicher gewesen wäre.

Gerade als ich überlegte, ob ich mich einfach zu dem Jungen in den bonbonfarbenen Klamotten setzen sollte, sah ich, wie Zackary aufstand, sein Tablett nahm und zu ihm herüberging. Die anderen johlten, aber nur kurz. Keine Ahnung, was sie dachten, dass Zackary vorhatte, aber sicher nicht, dass er sich hinter Benny stellte und verkündete: »Wenn einer ein Problem mit meinem Freund hat, hat er ein Problem mit mir.« Dann setzte er sich neben Benny und fing an, zu essen.

Seitdem war er für Benny so was wie ein Rockstar. Und zugegeben: Ein paar Monate lang waren wir beide ziemlich verknallt in Zackary gewesen.

Ich nahm den Blick von ihm. Es war nicht leicht, sich zu entlieben, selbst nicht, wenn es weh tat, weil man Luft für den anderen war.

»Wirst du auf seine Party gehen?«, fragte Benny in meine Gedanken hinein.

»Party?« Ich tat ahnungslos, dabei war mir sofort klar, von welcher Party er redete.

Benny zog die Augenbrauen in die Höhe. »Na, die Party, von der im Umkreis von zwanzig Kilometern alle sprechen, die noch nicht tot sind?«

Und bei mir zu Hause selbst die, dachte ich mit einem Seufzen. Meine verstorbenen Vorfahren liebten Dorftratsch, vielleicht weil sie es hassten, das Haus zu verlassen.

»Ach, die Party«, sagte ich endlich, als hätte ich erst eine lange Liste mit Einladungen durchgehen müssen, um darauf zu kommen. »Weiß nicht.« Ich wusste es wirklich nicht. Normalerweise war die Anwesenheit unserer Familie auf dem Gelände des Earls nicht erwünscht. Auf der anderen Seite: Ich war noch nie im Schloss gewesen und zugegebenermaßen ziemlich neugierig, wie es innen aussah. Außerdem hatte Zack ohnehin die halbe Schule eingeladen. Alle ab meinem Jahrgang aufwärts. Aber ich wollte unter keinen Umständen den Anschein erwecken, immer noch in Zackary verknallt zu sein. Daher entschied ich mich gegen die Party. »Ich schätze, eher nicht.«

»Also, ich lasse mir die Party auf keinen Fall entgehen«, meinte Benny. Ein vertrautes Brummen ließ mich über die Schulter und meinem Bus entgegenblicken. »Und ich muss lo–« Mitten im Satz löschte sich der Rest meiner Botschaft an Benny von selbst. Zack sah zu uns. Nein, nicht zu uns. Zu mir! Es vergingen drei, vier Sekunden, in denen meine Wangen so heiß wurden, wie ich es mir von dem Rest Milchkaffee in meinem Becher gewünscht hätte. Shit! Mein Herz geriet aus dem Takt. Wieso zum Teufel sah er mich an?

Benny grinste. »Klar, du stehst nicht mehr auf ihn, kleine Tomate.«

In meinem Rücken öffnete sich zischend die Bustür und rettete mich davor, auch noch einfältig rumzustottern. »Bis morgen.«

»Bis morgen, Sweety.« Benny drückte mir einen Kuss auf meine glühende Wange. Ich lächelte schief, bevor ich im Bus verschwand und mich auf einen der muffigen Uraltsitze plumpsen ließ. Erst als der Fahrer um die Straßenecke bog, spürte ich mein Gesicht kühler werden.

Zackary hatte mich noch nie so lange angesehen. Dabei spielten wir beide in der Feldhockey-Schulmannschaft, den Black Blizzards. Aber ich erinnerte mich nicht daran, dass er mich schon mal mit einem längeren Blick bedacht hätte. Oder besser erdolcht – wie gerade eben.

Er musste von dem Artikel Wind bekommen haben! Eine andere Erklärung gab es nicht. Bestimmt hatte Scarlett, seine Knutschfreundin, keine Sekunde gezögert, um ihm von dem Fuchsjagd-Foto zu erzählen. Wütend starrte ich aus dem Fenster, bis der Bus bei der Endstation angekommen war.

Außer mir war niemand mehr im Bus. Ich schnappte mir meinen Rucksack. »Bis morgen!«

»Bis morgen, Mädchen.« Der Fahrer öffnete die hintere Tür für mich, und ich stieg aus.

Der Schulbus wendete auf dem Parkplatz des Scot’s End, Glenshires ältestem Bed and Breakfast. Es hieß nicht so wegen der Buslinie, die dort endete, sondern weil mit dem Gästehaus die Zivilisation aufzuhören schien.

Zugegeben, dahinter sah man bloß noch Hügel und zottige Hochlandrinder, trotzdem war es noch ein gutes Stück bis zur Küste, dem tatsächlichen Ende Schottlands. Mein Zuhause lag auf halbem Weg dorthin. Benny behauptete immer, von unserem Garten aus müsste man schon den Arsch der Welt sehen können. Blödsinn – das konnte man nur bei wirklich gutem Wetter.

Gerade ein Viertel des Weges lag hinter mir, da zog sich der Himmel zu. Ich sah über die grasbedeckten Hügel. Vielleicht noch zehn Minuten bis zum nächsten Schauer. Scout verkroch sich vorsichtshalber unter meiner Regenjacke. Er hasste die Vorstellung, nass zu werden, auch wenn er es genau genommen nicht wurde. Nur sein kleines Näschen lugte noch hervor.

Ich blieb stehen. »Du hast da was.« Vorsichtig zupfte ich etwas aus seinem Schnurhaar. Eine Fluse. Sie war hellviolett und ließ mich grinsen. »Schau mal, ein Andenken an Scarletts Socken.« Scout schnaubte die Fluse von meinem Finger. »Schade, wenn sie größer gewesen wäre, hätte ich sie mir eingerahmt.«

»Ich besorg dir mit Vergnügen eine ganze Socke«, bot Scout an.

»Abgemacht. Aber sag mir vorher Bescheid, ich will unbedingt ein Foto von ihrem Gesicht machen.« Schon bei dem Gedanken daran musste ich loskichern. Scarletts entsetzt aufgerissene Augen, als Scout an ihren Hacken hing … Diesen Ausdruck würde ich nie vergessen. Und erst recht nicht ihr Rumgespringe und Gehopse auf einem Bein.

»Die haben wir ganz schön dumm aussehen lassen«, meinte Scout hochzufrieden.

Ich prustete los. »Dafür braucht sie uns doch nicht!«

»Stimmt, das schafft sie auch allein.«

Die ersten Regentropfen fielen, kaum dass unser Haus in Sichtweite kam. Es war eins dieser typisch schottischen Steinhäuser. Verschachtelt, mit jeder Menge Erkern und Gauben, weißen Sprossenfenstern, darunter dicht an dicht stehend Hortensiensträucher (und noch dichter stehendes Unkraut), drum herum eine halbzerfallene Steinmauer. Ich schätze, überall anders auf der Welt hätte man einen Maurer bestellt oder gleich einen Schuttcontainer, nur in Schottland gelten Steintrümmer als wildromantisch.

Manchmal blieben sogar Touristen stehen, um unser Cottage zu fotografieren, ohne die geringste Ahnung, dass (jedenfalls theoretisch) der Geist von Miss Duff mit auf dem Foto war, der sich vor Neugier am Fenster die Nase plattdrückte.

»Die ist bloß so lang, weil du sie ständig überall reinstecken musst und zum Schluss nicht mehr rausbekommst«, behauptete Annabelle Stewart bei jeder sich bietenden Gelegenheit, um Miss Duff zu ärgern. Wie gesagt, es war nicht immer einfach mit unseren verstorbenen Mitbewohnern.

Am Gartentor ging mein Blick unwillkürlich zum Fenster. Dicke Regentropfen hingen daran und zerflossen zu Bindfäden, von Miss Duffs Nase jedoch keine Spur. Na, großartig. Wenn sie ihren Posten verließ, musste drinnen irgendetwas Interessanteres im Gange sein. Interessant bedeutete: aufregend für die Geister, nervig für mich.

Ich durchsuchte meine Jacke. »Wo ist nur dieser blöde Schlüssel?« Dringend musste ich damit beginnen, ordentlicher zu werden.

»Vorne im Rucksack?«, tippte Scout.

»Stimmt ja.« Ich zog den Reißverschluss auf. O nein. Der Schlüssel lag unter Scrooge, und schlafende Miesewiesel sollte man tunlichst nicht wecken. Nur leider war das unmöglich. Zwar konnte man problemlos durch Geister hindurchgreifen, aber sie spürten es trotzdem. Onkel Paddy hatte das Gefühl mal als ein furchtbares Kitzeln beschrieben: »Wie eine Ameisenkolonne, die einem durch den Körper marschiert.«

Es verbesserte Scrooges Laune nicht gerade. »Ich will essen«, knurrte er mit angelegten Ohren, obwohl eben erst wach geworden.

»Du kannst nicht essen, du bist tot.« Wahrscheinlich hatte Scrooge gerade von einem Berg Nüsse geträumt, jedenfalls schmatzte er. Rein körperlich verspürten Geister natürlich keinen Hunger und schmecken konnten sie ohnehin nichts. Eine der Nebenwirkungen vom Totsein.

Ich schloss die Tür auf.

Beinahe im selben Moment tauchte der Kopf meines verstorbenen Urururgroßonkels Paddy durch die Wand. Mit seiner zu großen Hornbrille, den buschigen Augenbrauen und nicht weniger buschigen Haaren in den Ohren erinnerte er mich immer ein bisschen an eine Waldohreule. Aber nicht nur deswegen. Onkel Paddy war auch unheimlich weise. Und belesen. Wenn ich mal nicht weiterwusste, war er der Erste, den ich um Rat fragte – außer in Sachen Liebe. Also … nicht dass es da momentan viel zu beratschlagen gegeben hätte, es wäre mir einfach peinlich, mit meinem Urururgroßonkel über Jungs zu reden.

Doch anders als sonst schien heute er Hilfe zu brauchen. »Bin ich froh, dass du da bist, Jojo.« Onkel Paddy machte ein ziemlich verzweifeltes Gesicht. Aus der Küche konnte ich aufgeregtes Tuscheln hören.

»Was hat Luke angestellt?« Mein zehnjähriger Bruder war … Dad nannte es experimentierfreudig, Mum todessehnsüchtig. Ich schnupperte. Angekohlt roch es schon mal nicht, das war gut.

»Nicht Luke. Ich mache mir wegen der anderen Sorgen«, flüsterte Onkel Paddy, ich war nicht sicher, ob es das besser machte. »Sie haben diesen Spuk-Artikel gelesen.«

Ich blinzelte verwirrt. »Den in der Schülerzeitung?«

»Im Glenshire Paper.«

Na toll, die auch noch. Ich zog eine Grimasse. »Und? Wie haben sie es aufgenommen?«

»Du weißt doch, wie sie sind« – Onkel Paddy kam ganz durch die Wand und senkte seine Stimme zu einem Wispern –, »wenn es um Throckmorton geht.«

Ja, das wusste ich. »Total paranoid?«

»Verängstigt?«, wisperte Scout unter meiner Regenjacke.

»Völlig irre«, brachte Scrooge es auf den Punkt.

»In dieser Reihenfolge«, bestätigte Onkel Paddy.

Scout sprang zitternd aus dem Ärmel auf das Treppengeländer und schoss in mein Zimmer hinauf. Er wollte von Throckmorton genauso wenig hören wie ich, wenn auch aus Furcht. Scrooge jagte ihm hinterher.

Ich sah in Onkel Paddys Eulengesicht. »Ist Dad in seiner Werkstatt?«

»Er ist mit Luke in Halgory. Bei Sir Colin Huges.«

Halgory war unsere Nachbarstadt, Sir Colin Huges ein Patentanwalt dort. Dad war Erfinder. Als Luke die ersten Zähne bekommen hatte, war mein Vater auf die Idee mit dem Toast-Cutter gekommen. Das Ding schnitt den harten Rand vom Toast ab, gleichzeitig teilte er ihn in neun mundgerechte Stücke. Außer Luke und Dad konnte niemand in Großbritannien einen nennenswerten Mehrwert darin erkennen, aber in Japan wurde der Toast-Cutter ein Riesenhit. Leider blieb es dabei. Alles, was Dad danach erfand, hatte bislang nur Sir Colin Huges reichgemacht.

Aus der Küche drang ein erschrockener Kiekser. Onkel Paddy seufzte. »Vielleicht bringst du die Bande ja zur Vernunft.«

»Bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, stöhnte ich. Dad wäre ohnehin keine große Hilfe gewesen – er konnte unsere verstorbenen Mitbewohner schließlich nicht sehen. Es gab Tage, da beneidete ich ihn darum.

In unserer Küche roch es immer nach Thymian, Rosmarin und den anderen Kräutern auf der Fensterbank. Davor stand ein großer Holztisch, die Oberfläche vernarbt und von Dads Teebeuteln fleckig geworden, drum herum acht Stühle. Der Tisch war der Mittelpunkt des Hauses, und auch wenn Geister streng genommen ewig stehen konnten, hatte jeder seinen Sitzplatz. Wir waren eben eine Familie.

Als ich reinkam, standen Sir Robert, Annabelle und Miss Duff jedoch vor dem Tisch. Seite an Seite, wie eine Mauer. Sie wollten den Zeitungsartikel vor mir verbergen – entgegen der landläufigen Meinung waren Geister nämlich nicht halbtransparent –, und die drei wussten genau, was ich von blödsinnigen Spukgeschichten hielt.

»Na, was schreibt der Glenshire Paper? Sind wir jetzt alle verflucht?«

»So etwas darfst du nicht sagen«, zischte Miss Duff und bekreuzigte sich (zur Sicherheit gleich zweimal). »Du forderst dein Schicksal heraus.«

»Los. Zeigt schon her.«

Die drei rückten noch enger zusammen.

»Ach, kommt schon, Leute. Euer Ernst?« Ich griff durch Sir Roberts verschränkte Arme nach der Zeitung. Sein Backenbart zuckte vor Empörung. Ich murmelte eine Entschuldigung, wobei ich die Zeitung glattstrich.

Echt jetzt? Nicht nur, dass ich wegen der blöden Spukgeschichte meinen Schülerzeitungs-Artikel hatte opfern müssen, unsere Lokalzeitung, der Glenshire Paper, hatte den Blödsinn auch noch zur Titelstory gemacht?

Unerklärliche Vorkommnisse im Last Drop, lautete die Überschrift.

Wenigstens sprachen sie nicht gleich von Spuk. Ein Foto zeigte den Gastraum. Tatsächlich hatte jemand sämtliche Stühle zu einem verrückten Haufen aufgetürmt. So was Ähnliches hatte ich mal während einer Klassenfahrt in der Scottish National Gallery Of Modern Art bewundern müssen. Dass jemand ins Last Drop einbrach, um sich künstlerisch zu verwirklichen, war jedoch wenig wahrscheinlich. Eine Erklärung gab es trotzdem. Eine sehr naheliegende sogar.

»Habt ihr schon mal an einen ganz normalen Geist gedacht?« Zwar beschränkte sich meine Geisterseherei auf meine dahingeschiedenen Vorfahren, das hieß, sie mussten in irgendeiner Form mit mir verwandt sein, aber es lag nahe, dass auch andere Familien ihre Geister hatten.

»Dieser Geist müsste schon einen besonderen Humor besitzen«, sagte Annabelle Stewart.

Ich zuckte mit der Schulter. »Kann doch sein …« Geister wurden schließlich immer merkwürdiger, je länger sie tot waren.

»Nein, so viel Materie kann noch nicht einmal Lady Annabelle bewegen«, widersprach Sir Robert mir.

»Da hat er betrüblicherweise recht«, stimmte Annabelle zu. Dabei war sie ein absolutes Ausnahmetalent. Normalerweise gingen menschlichen Geistern mit ihrem Eintritt in die Zwischenwelt die grobstofflichen Fähigkeiten verloren. Nur bei Tiergeistern blieben sie wohl öfter einmal erhalten. Warum, wusste keiner. »Wenn es ein Geist war, dann jedenfalls kein gewöhnlicher«, mutmaßte Annabelle. »Seht Ihr das nicht ebenso, Sir Robert?

»Fürwahr.« Sein Blick verdüsterte sich. »Es müsste jemand sein, der über außergewöhnliche Macht verfügt.«

»Vielleicht ist es ja wirklich Throckmorton«, wisperte Miss Duff. »Die schreiben, er ist fünfhundert Jahre nach seinem Tod zurückgekehrt.«

Ich tippte mir an die Stirn. Geister konnten nicht aus dem Jenseits zurückkehren. Das hatten mir meine lieben verstorbenen Mitbewohner mehr als einmal erklärt. Wenn man starb, wachte man in der Zwischenwelt wieder auf. Sie war mit dem Diesseits verbunden, weswegen meine vier Mitbewohner sich entschlossen hatten, dort zu bleiben. Wenn man sich allerdings fürs Jenseits entschied, gab es kein Zurück mehr. »Das ist Blödsinn hoch vier, und das wisst ihr auch!«

Miss Duff tat empört. »Ich hab’s doch gelesen!«

»Gelesen? Wie das?«, fragte Annabelle Stewart mit hochgezogener Braue.

Miss Duff war Hausmädchen gewesen. Sie hatte nie lesen gelernt, und in den zweihundertzweiundzwanzig Jahren seit ihrem Tod hatte sie sich auch nicht viel Mühe gegeben, daran etwas zu ändern.

»Throckmorton wird uns holen kommen«, jammerte sie.

»Und wann genau? Hab ich vorher noch Zeit, was zu essen?« Ein Pfirsich am Morgen war meine letzte Mahlzeit gewesen.

»Wann genau, weiß natürlich keiner. Aber geschehen wird es«, sagte Miss Duff schnippisch. »Wenn’s schon in der Zeitung steht.«

»Genau wie das Horoskop«, nuschelte ich.

»Wir müssen uns auf alles gefasst machen«, meinte Sir Robert. Er trug den Kilt, in dem er 1746 bei dem letzten schottischen Jakobitenaufstand gestorben war. Die Schlacht hatte keine halbe Stunde gedauert, aber die Zeit hatte gereicht, um über tausendzweihundert Schotten niederzumetzeln. Der Grund, weshalb Sir Robert die Engländer so hasste. »Männer ohne Ehre greifen bei Nacht und aus dem Hinterhalt an«, sagte er finster.

Von Miss Duff kam ein Keuchen. »Wir brauchen Kreuze!«

»Ihr braucht gar nichts! Außer eurem Verstand!«, schimpfte ich. »Der Glenshire Paper macht doch nur so eine Riesensache daraus, weil sich Throckmorton gerade gut verkauft. Geister«, sagte ich überdeutlich, »können nicht aus dem Jenseits zurückkehren.«

Jedoch erntete ich nur störrische Blicke. Es war sinnlos.

Noch knapp drei Wochen bis zur Burning Night, der Nacht, in der Throckmortons Untergang gefeiert wurde, danach würde der ganze Spuk vorbei sein. Hoffentlich.

Plötzlich knurrte mein Magen.

Miss Duff fuhr mit aufgerissenen Augen herum. »Was … was … war das?«

»Der Hund von Baskerville«, sagte ich trocken, worauf Miss Duff so bleich wurde, dass sie das erste Mal aussah, wie man sich einen Geist vorstellt. Ich lachte auf.

»Hier ist kein Dämonenhund. Mein Magen hat nur geknurrt.«

Sir Robert sah mich vorwurfsvoll an, während er den Arm schützend um Miss Duffs Schultern legte. »Meine Teuerste, sorgen Sie sich nicht. Sie stehen unter dem Schutz eines schottischen Freiheitskämpfers.«

Es war sinnlos. Ich ging zum Herd, auf dem ein Topf stand, und hob den Deckel. Hm … Sah nach Irish Stew aus oder, besser gesagt, Mums Versuch, gewisse Zutaten zu verkochen, bis man nicht mehr erkennen konnte, was sie ursprünglich gewesen waren. Sobald ich meine Mutter daran erinnerte, dass ich keine toten Tiere aß (lebendige erst recht nicht), meinte sie nur: »Dein Dad rührt kein Gemüse an, Luke ist laktoseintolerant und du Vegetarierin. Wenn ich auf alle Rücksicht nehmen würde, müssten wir Stroh essen.«

Viel mehr würde mir tatsächlich nicht übrigbleiben. Im Kühlschrank fand ich außer Orangensaft nur eine Schale Cornloops, die aufgedunsen in laktosefreier Milch trieben.

Ich zog unsere Kramschublade auf. Ha! Zwischen Gummibändern, Brottütenclips, Streichhölzern und Ersatzbatterien lagen tatsächlich noch Butterkekse. Perfekt, um damit das Chocolate-Chips-Eis aus dem Gefrierfach zu löffeln. »Wir sollten Ziegelstaub auf die Türschwellen streuen«, hörte ich Annabelle in meinem Rücken.

»Macht, was ihr wollt. Aber nicht auf meine«, stellte ich klar und stapfte mit meinem Eis und den Keksen aus der Küche, die Treppe hoch in mein Zimmer. Man konnte mir nicht nachsagen, dass ich es nicht versucht hatte.

3

Schlüpfriges Scheißerchen!«

Der Fluch kam von Onkel Paddy. Er hatte in meinem Zimmer auf mich gewartet und so lange bei Scout Nachhilfe im Sachenaufheben genommen. Das Übungsobjekt war eine meiner herumliegenden Socken. Egal, wie Paddy sich bemühte, sie glitt durch seine Finger wie ein Wackelpudding durch eine Gabel.

Scrooge saß in meinem Erker auf einer kleinen gepolsterten Bank, meinem Lieblingsplatz, und plusterte die Backen vor Lachen.

Ich klaubte meine Socken vom Boden, stopfte sie ineinander und schleuderte sie in den Wäschekorb, haarscharf an Scrooge vorbei. Drei Jahre Schulhockey. Scrooge hätte in der Socke gesteckt, wenn ich es gewollt hätte. Sein Lachen war schlagartig verstummt.

»Sieht nicht so aus, als wäre es gut gelaufen«, resümierte Onkel Paddy.

»Ich will kein Wort mehr über Throckmorton hören.«

Mein Urururgroßonkel runzelte die Stirn. »Das wird wohl kaum möglich sein so kurz vor dem Jubiläum.« Im nächsten Moment hellte sich seine Miene auf. »Was hältst du davon, wenn wir zwei zusammen Ghostbusters schauen?«

»Aber du hasst den Film!«

»Aber du liebst ihn, und ich liebe dich.«

Ich schenkte meinem Urururgroßonkel ein schiefes Grinsen. »Wärst du böse, wenn wir das ein anderes Mal machen? Ich muss noch was erledigen.«

»Ich bin nie böse. Nicht mit dir«, versicherte er, dann bohrte er seine Pantoffeln in den Teppich und seufzte. »Na gut. Dann sehe ich mal, ob ich da unten größeren Schaden verhindern kann.«

»Halt nach Ziegelstaub Ausschau!«, rief ich, bevor Paddy ganz durch den Fußboden in die Küche abgetaucht war. Sie lag direkt unter meinem Zimmer.

Ich ließ mich in meinen Sessel plumpsen und nahm das Netbook auf den Schoß. Es dauerte ein paar Sekunden, bis es hochgefahren war und ich die Admin-Maske des Schulblogs aufrufen konnte. Genug Zeit, sich mit einem Keks Chocolate-Chips-Eiscreme in den Mund zu schieben, fand ich. Der Mauspfeil schwebte über der Adressleiste des Browsers. Ich steuerte ihn zu dem Eingabefeld, tippte grüner Opal und drückte die Entertaste. Wow. Es gab sie tatsächlich. Und sie waren von überwältigender Schönheit: wie helles Moosgrün, mit silbernen Funken darin.

»Wie schön die sind«, flüsterte Scout, der auf dem Schreibtisch saß und wie ich auf den Bildschirm starrte.

»Hmmm …«, erwiderte ich versonnen.

Hatte Zackary wirklich Opalaugen? Bislang hatte ich mich nie getraut, direkt hineinzusehen. Ich gab Zackarys vollen Namen in die Bildersuche ein. Gleich darauf sah ich sein ebenmäßiges Gesicht. Verwuschelte Haare fielen hinein. In Zackarys Wangen saßen Grübchen, die sein Lachen hervorgelockt hatte. Bei welcher Gelegenheit auch immer dieses Foto von ihm gemacht wurde, er wirkte unverfälscht und sympathisch.

Mit einem Klick vergrößerte ich das Bild und zoomte in Zackarys Augen. Feine Lachfalten umspielten sie. Ich spürte mein Herz schneller schlagen. Sie waren tatsächlich von einem ungewöhnlichen Grün, in dem helle Funken sprühten. Wie bei einem Opal.

»Wie schön die glitzern«, flüsterte Scout.

»Es gibt Schöneres«, nuschelte ich, tippte schnell den Namen unseren Schulblogs ein und meldete mich an.

Nur zwei Administratoren waren eingerichtet, der Direktor (wobei Fluckmore noch nie einen Beitrag geleistet hatte) und der jeweilige Leiter der Schülerzeitungs-AG, aber jeder aus der Schule konnte einen Beitrag erstellen. Der neueste kam von Scarlett: Spuk im Last Drop.

Klar, was sonst.

Der Post war von 15.39 Uhr. Jetzt war es kurz vor fünf, und laut Statistik wurde der Artikel schon zweihundertdreiundvierzigmal aufgerufen und siebzehnmal kommentiert. Gespannt scrollte ich nach unten.

Ruby_Rabbit 06. Juni um 15.42 Uhr:

Also, ich würde da keine Sekunde schlafen.

Ruby war eines der Mädels, die sich um Scarlett scharten. Wenn sie und ihre Freundinnen mir auf dem Schulflur entgegenstöckelten, konnte ich nicht anders, als an eine Herde Klonschafe zu denken: a), weil sie alle gleich aussahen und b), bei dem, was aus ihren Mündern kam.

Ich las den nächsten Kommentar.

BIG-Kate 06. Juni um 15.52 Uhr:

Hat das Last Drop denn überhaupt noch geöffnet? Meine Mutter wollte wegen einem Job dort anfragen.

BIG-Kate … Der Name sagte mir nichts. Aber das musste nichts heißen. Schließlich konnte ich nicht jeden der 1143 Schüler der William Wallace School samt Nickname kennen.

Ruby_Rabbit 06. Juni um 15.52 Uhr:

@ BIG-Kate: Klar. Aber vorher sollte Josephine Connery erst mal checken, ob da alles geisterfrei ist.

Scarlet-Rose 06. Juni um 16.06 Uhr:

Dein Ernst?

Ruby_Rabbit 06. Juni um 16.08 Uhr:

Nein. XD

Logisch. Es war nur eine Frage von Minuten, bis mein Name fiel. Josephine, die Geisterseherin, das Medium, die, die eins auf The Sixth Sense macht.

Littlepony 06. Juni um 16.17 Uhr:

Meint ihr, sie kann wirklich Geister sehen?

Wer war Littlepony? Das Schülerprofil zeigte rotblonde Haare, ein Gesicht voller Sommersprossen und große, erschrocken dreinblickende Augen. Hinter Littlepony steckte niemand anderes als Holly, die Tochter von Hayden McDoogle. Ihm gehörte das Last Drop.

Soviel ich wusste, war Holly zwei Klassen unter mir. Ich kannte sie kaum, aber sie wirkte so scheu und zart, ich verspürte den Wunsch, sie vor Scarlett und ihrem herumspritzenden Gift zu warnen.

Scarlet-Rose 06. Juni um 16.17 Uhr:

Natürlich kann sie keine Geister sehen. Aber sie hätte das gern. Josephines Großmutter ist doch schon allen damit auf dem Geist gegangen.

Ruby_Rabbit 06. Juni um 16.17 Uhr:

@ Scarlet-Rose: > … auf den gegangen <

Blöde Klonschafe! Ich massierte meinen wutverkrampften Kiefer.

BIG-Kate 06. Juni um 16.29 Uhr:

Josephine? Wer ist das? Geht sie auch auf die William Wallace?

Ruby_Rabbit 06. Juni um 16.34 Uhr:

@ BIG-Kate: Ehrlich gesagt, weiß ich gerade gar nicht, wer du bist.

BIG-Kate 06. Juni um 16.44 Uhr:

Ich bin erst vor ein paar Tagen von Sydney nach Schottland gezogen.

Ruby_Rabbit 06. Juni um 16.44 Uhr:

Aus Australien? Wahnsinn!

Scarlet-Rose 06. Juni um 16.52 Uhr:

OMG! In welche Klase gest du?

OMG! In welche Klasse gehst du? Gleich zwei Rechtschreibfehler in einem Satz?

BIG-Kate 06. Juni um 16.53 Uhr:

Komme nach den Sommerferien in die von Direktor Fluckmore.

Zu uns? Fluckmore hatte nichts von einer Neuen gesagt. Besonders sympathisch war mir BIG-Kate jetzt schon nicht mehr. Obwohl es kein Profilfoto gab. Vielleicht lag es an Scarletts und Rubys OMG! Wahnsinn! Cooooool!

Scarlet-Rose 06. Juni um 16.55 Uhr:

Cooooool! Dann bist du bei uns! Josephine ist die mit den komischen ausgestopften Frettchen im Profilbild.

Und Scarlett ist die mit der komischen Rechtschreibung.

Siehste dann ja. Mittelgroß, fuchsbraune, ziemlich lange Haare, so ne eckige Möchtegern-Designer-Brille, Speckhüfte

Zähneknirschend schob ich den Eisbecher von mir. Zugegeben, ich hatte tatsächlich mehr Hummelhüfte als Wespentaille. Aber lieber ein paar Kilo zu viel als ein paar Gehirnzellen zu wenig. Außerdem war Scarlett so dürr, dass Benny sie hinter ihren hervorstehenden Rippen Klappergestell nannte.

Scarlet-Rose 06. Juni um 16.56 Uhr:

@ Littlepony: Erzähl mal – hast du auch Schritte oder so was gehört?

Littlepony 06. Juni um 16.59 Uhr:

Ich möchte nicht darüber sprechen.

Kluge Holly. Besser so.

Meine Familie sprach nie mit anderen über unsere Geister. Trotzdem hielt das die Leute nicht davon ab, uns schräg anzusehen oder hinter unserem Rücken zu tuscheln. Und das nur wegen eines blöden Zeitungsartikels über meine Großmutter, der vor über zwanzig Jahren erschienen war.

Genau wie alle aus Mums Linie konnte Granny Geister sehen. Als Grandpa starb, entschied sie sich, mit der SUN zu sprechen. Granny wollte den Menschen die Angst nehmen, ihnen sagen: Das Leben ist nicht zu Ende, nur weil wir sterben.

Aber die Zeitung drehte ihr jedes Wort im Mund um, und nachdem der Artikel erschienen war, wollte niemand mehr etwas mit unserer »verrückten« Familie zu tun haben.

Granny hatte immer gesagt: »Wen interessiert’s, was die Leute denken …« Aber Mum sah das anders. Sie wollte, dass Luke und ich ein ganz normales Leben führen. Jedenfalls so normal, wie es mit vier Geistern möglich war. Weswegen Mum uns kurz nach Grannys Tod auf ihre Asche schwören ließ:

Nie wieder ein Wort über Geister zu verlieren.

Notfalls zu lügen, falls die Sprache auf unsere Gabe kam.

Niemanden in unser Haus zu lassen, der nicht zur Familie gehörte.

Ich hatte mich neun Jahre lang an meinen Schwur gehalten.

Hatte gelernt zu lügen, damit gelebt, niemanden einladen zu dürfen. Und Scarlett konnte über Geister reden, ohne dass irgendjemand es komisch fand. Gerade hatte ich nicht übel Lust, ihren doofen Post zu löschen.

Wieso eigentlich nicht?

Ich steuerte den Mauszeiger auf das Mülleimer-Symbol. Verdient hätte Scarlett es. Und irgendeinen Vorteil musste es ja für mich haben, Admin zu sein.

»Nicht«, flüsterte Scout von meiner Schulter aus.

Scrooge schlug mit der Pfote durch die Luft. »Na los, trau dich!«

»Das ist es nicht wert«, entschied ich. Der Post war auch ohne Tonne Müll.

Ich scrollte wieder nach oben. Keine fünf Minuten später hatte ich meinen Artikel eingestellt. Und zwar mit dem Foto der toten Füchse und gegen Fluckmores ausdrückliche Anweisung. Dann ging ich auf Einstellungen und änderte das Zugangspasswort. So konnte Fluckmore jedenfalls nicht meinen Artikel löschen. Und auch sonst niemand.

»Das wird Ärger geben«, fiepte Scout ängstlich.

»Mi-mi-mi-mi.« Scrooge verzog verächtlich seine Schnauze. »Jede Feldmaus hat weniger Schiss in der Hose.«

»Feldmäuse tragen keine Hosen«, merkte ich an.

»Erbsenzähler«, zischelte Scrooge.

»Nihilist«, antwortete ich gelassen. Über die Bedeutung dieses Wortes musste Scrooge nämlich erst mal nachdenken.

Ich zog mein Englischbuch aus dem Rucksack. Nicht nur um auf andere Gedanken zu kommen. Am nächsten Tag stand eine Klausur an, und ich musste noch sämtliche literarischen Vertreter der Viktorianischen Epoche in meinen Kopf kriegen. Bei Charles Dickens hörte ich Dad und Luke nach Hause kommen, bei Oscar Wilde schob ich die Eisverpackung über den Tischrand in den Mülleimer und ging Zähne putzen. Mein Bett sah so aufgewühlt aus, es brauchte mich.

Keine zwei Minuten später lag ich mit Wilde, Dickens und den anderen Vertretern der Viktorianischen Epoche unter meine Decke gekuschelt und versuchte sie von dort aus in meinen Kopf zu bekommen.

Ach egal. Ich gähnte. Würde schon schiefgehen. Bislang lief es gut in der Schule. Nur Fluckmore durfte ich am nächsten Tag nicht vergessen. Ich sollte ja noch vor dem Unterricht in seinem Büro sein.

Als ich die Brille zur Seite legte, rollte Scout sich in meiner Armbeuge zusammen. Ich seufzte. »Erinnerst du dich noch daran, wie Mum mich früher als Strafe ins Bett gesteckt hat?« Scout nickte. »Wie dumm ich war«, murmelte ich und schaltete die Nachttischlampe aus. »Gute Nacht, ihr beiden.«

»Schlaf gut«, flüsterte Scout, von Scrooge kam nur ein Brummen.

Im Halbdunkel konnte ich sehen, dass er sich wieder auf sein zerzaustes Präparat gelegt hatte. In solchen Momenten tat Scrooge mir sogar leid. Darüber, wann und auf welche Weise er gestorben war, schwieg er sich aus, aber eins war klar: Ihm fehlte sein Körper.

4

Verdammt! Wieso konnte ich abends nicht so müde sein wie morgens? Nach dem Aufstehen bestand mein Körper zu achtzig Prozent aus Müdigkeit, der Rest wollte einfach nur Kaffee. Doch bevor ich in die Küche wankte, klappte ich das Netbook auf.

Das war jetzt nicht wahr, oder?

Scarletts Spukgeschichte hatte zehnmal mehr Reichweite erzielt als meine toten Füchse. Von den Kommentaren ganz zu schweigen. Es waren exakt zwei.

Der erste ein weinendes Emoji von BIG-Kate. War sie vielleicht doch kein Klonschaf?

Der zweite Kommentar stammte unverkennbar von Scarlett. Sechzehn Wörter, sechs Rechtschreibfehler, null Aussage.

Und Zackary? Obwohl es bei der Fuchsjagd um seine Familie ging, hatte er mit keinem Wort reagiert.

Ich hätte mir einreden können, dass die meisten den Post einfach noch nicht gelesen hatten, aber so naiv war ich nicht. Fakt war: Niemanden interessierte, ob am nächsten Wochenende jede Menge Füchse aus Spaß am Töten erschossen werden würden. Vor lauter Enttäuschung knallte ich mein Netbook zu.

Scout und Scrooge flüchteten in meinen Rucksack.

Als ich in die Küche kam, streckte meine Mutter mir wortlos eine Tasse entgegen. Ich nahm zwei Schlucke, verzog das Gesicht und griff nach dem Zucker.

»Falls du Salbei, Knoblauch oder Rosmarin suchst, wir haben nichts mehr davon.«

Ich konnte mir denken, warum. Alles drei waren typische Hausmittel, um angebliche böse Geister zu vertreiben. Ich machte ein tapferes Gesicht. »Dann muss ich meinen Kaffee heute wohl ohne Knoblauch trinken.« Mum lachte auf. »Hat Onkel Paddy dir von gestern erzählt?«, fragte ich sie. Der süße Milchkaffee hatte zumindest meine bösen Geister vertrieben.

»Du meinst von dem Zeitungsartikel?«

Ich nickte.

»Hat er. Und auch, wie Annabelle versucht hat, einen Ziegelstein aus der Hauswand zu bekommen.«

»Nicht wirklich …?«

»Doch.« Meine Mutter schob zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster. »Ach, weißt du. Soll sie doch, wenn es sie beruhigt …«

Sie fürchtete anscheinend tatsächlich, von Throckmorton ins Jenseits gezerrt zu werden. Was unsere Geister betraf: Jeder hatte einen anderen Grund, weshalb er noch am Diesseits hing. Sir Robert sah seine Aufgabe als nicht erfüllt an, solange Schottland unter britischer Herrschaft stand. Miss Duff fürchtete das Fegefeuer, Onkel Paddy – keine Ahnung, ich nehme an, er fühlte sich einfach verantwortlich für uns. Und Annabelle Stewart war davon besessenen, ein Werk zu erschaffen, das sich mit Shakespeares Romeo und Julia messen konnte.

»Vielleicht haben unsere Geister auch einfach Angst, dass nach der Zwischenwelt nichts mehr kommt«, überlegte ich halblaut.

»Das werden wir erst wissen, wenn es so weit ist«, meinte Mum. »Nimmst du noch einen Milchkaffee?«

Gedankenverloren schüttelte ich den Kopf. Was, wenn es da wirklich nichts gab? Wenn die Zwischenwelt Endstation war wie das Scot’s End? Seit meine Großmutter gegangen war, schwelte das Gefühl in mir, hinter dieses Geheimnis kommen zu sollen, optimalerweise, ohne extra dafür sterben zu müssen.

Durch die halboffene Tür konnte ich ins Wohnzimmer blicken. Grannys Urne stand dort im Bücherregal, eingeklemmt zwischen Die Welt der Orchideen und Exotische Pflanzen: Aufzucht und Pflege, ihren Lieblingsbüchern. Als Grandpa noch lebte, waren er und Granny in der ganzen Welt unterwegs gewesen und hatten von jeder ihrer Reisen Blumenzwiebeln mitgebracht, die Granny und ich dann gemeinsam eingepflanzt hatten. Für mich war es das Größte, zu sehen, was daraus wuchs, weshalb ich irgendwann nur noch Zwiebelchen von Granny genannt wurde.

Warum sie sich nach ihrem Tod nicht wenigstens als Geist in der Zwischenwelt von mir verabschiedet hatte, begriff ich bis heute nicht. Ich jedenfalls würde ein anständiger Geist sein, der sich zeitnah blicken ließe und auf Wiedersehen sagte.

»Etwas Gutes hatte der Zeitungsartikel doch«, unterbrach Mum meine Gedanken. »Dreiundzwanzig neue Buchungen für die Burning Night.« Sie war schon wieder beim Jubiläum in knapp drei Wochen.

»Woher weißt du das?«

»Betty von der Stadtverwaltung. Sie hat es gestern beim Festausschuss erzählt. Dreiundzwanzig Buchungen! Toll, findest du nicht?«

»Doch, super!« Ich zwang mich zu einem Lächeln. Meine Mutter freute sich auf Throckmortons Todestag wie andere Menschen auf das Weihnachtsfest. »Das ist die einzige Zeit, in der ich über Geister reden kann, ohne komisch angesehen zu werden«, hatte sie erklärt und dabei ein Maßband zwischen die Küchenfenster gehängt, von dem sie jeden Tag einen Zentimeter abschnitt, bis die Burning Night gekommen war. Nun, vielleicht wurde Mum nicht komisch angeguckt, wenn sie über Geister sprach, ich aber sehr wohl. Spätestens nach Rubys und Scarletts ätzenden Kommentaren. Ich nahm mir die Orangenmarmelade und stach mit dem Messer hinein.

Mum reichte mir die Toasts. »Ich glaube, die ist schon tot.«

»Hm? Was?«

»Die Marmelade.«

»Ach, die …« Rasch verstrich ich sie auf dem Toast. »Und äh … mit wie vielen Leuten rechnet ihr so?«