Heavy - Tödliche Erden - Carla Mori - E-Book

Heavy - Tödliche Erden E-Book

Carla Mori

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Beschreibung

Kampf um »Seltene Erden«: In Köln stirbt ein Forscher, der einer geologischen Sensation auf der Spur war. Kommissarin Hannah Franckh übernimmt die Ermittlungen. Dabei deckt sie nach und nach Hintergründe von geopolitischer Bedeutung auf und erkennt, dass im weltweiten Kampf um Ressourcensicherung und Mobilität jedes Mittel recht ist - bis hin zum Mord. Sie gerät zwischen die Fronten skrupelloser internationaler Interessenvertreter aus Politik und Wirtschaft und muss um ihr eigenes Leben kämpfen. Am Ende ist klar: Ein wesentliches Fundament der Energiewende ist brüchig. Und gefährlich.

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Carla Mori

Heavy – Tödliche Erden

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Fablok / shutterstock

ISBN 978-3-8392-7208-4

Widmung

Für Berit und Malte

Jönköping, Schweden

Es war Samstag, und Nils Berglund konnte es kaum erwarten.

Die Frage, wie sie ihm in ein paar Stunden begegnen würden, in vertrauter Selbstverständlichkeit oder mit dieser verhaltenen Freundlichkeit, die sie beim letzten Besuch an den Tag gelegt hatten und die er fürchtete, führte dazu, dass er sich in der Nacht unruhig hin und her gewälzt hatte, und schließlich war er früher als gewöhnlich aufgestanden. Es war immer so, wenn sie kamen. Er kannte das. Zwei Wochen hatte er sie jetzt nicht gesehen.

Entschlossen spritzte er sich kaltes Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht, schlüpfte in seine derben Hosen und trank am Fenster stehend in kleinen Schlucken einen Becher Kaffee. Dann schulterte er sein Gewehr und ging hinaus in das Blaugrau des frühen Morgens.

Still und dunkel lag der Wald, der an seine Holzhütte grenzte und den er wie seine Westentasche kannte, vor ihm. Etwa einen Kilometer nordöstlich ging er über in steiniges Gebiet mit nur spärlicher Vegetation, und dorthin wollte er an diesem Morgen. Er dachte daran, dass noch in seiner Kindheit ein Baustoffunternehmen hier Basalt für den Straßenbau abgebaut hatte, doch seitdem die Vorkommen erschöpft waren und das Gebiet unter Naturschutz stand, passierte auf dem Areal nichts weiter, als dass die hier lebenden Singvögel, Käuzchen und Feldhasen sich vermehrten. Nils war froh darüber, denn er liebte es, die Tiere insbesondere in den frühen Morgenstunden zu beobachten. Vielleicht hatte er heute Morgen Glück und würde auf seinem Ansitz einen Hasen schießen. Nils streckte prüfend die Nase in die Luft. Der Wind stand günstig, er kam von Westen. Kein Hase würde ihn auf seinem Ansitz wittern.

Nils zog den Schulterriemen seines Gewehrs stramm und steckte die Hände tiefer in die Taschen seiner Wolljacke. Frühmorgens war es noch empfindlich kalt, seine Finger waren klamm, doch gegen Mittag konnten die Temperaturen durchaus 20 Grad erreichen.

Kinderwetter.

Nils blinzelte.

Wenn Olov und Ebba Lust dazu hatten, würde er morgen mit ihnen hinunter zum Fluss wandern. Er hoffte, dass sie von der Idee begeistert waren, denn etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Der Huskvarnaan war reich an Fischen, und die Chancen standen nicht schlecht, dass sie einen Lachs oder eine Forelle, vielleicht auch einen Barsch fangen würden. Seine Kinder liebten es, wenn ein Fisch am Haken hing, Ebba allerdings versteckte sich hinter dem nächstbesten Baum, sowie es ans Töten und Ausnehmen ging. Allein das dumpfe Klacken, wenn sein schwerer Holzstock den Fischkopf betäubte und er ihn mit einem schnellen Stich in Herz oder Kiemen tötete und der Fisch aufhörte, in seinen Händen zu zappeln, ließ sie die Hände vors Gesicht schlagen und blind die Flucht ergreifen.

Als würde sie vor allem Bösen im Leben wegrennen wollen, überlegte Nils. Doch auch Ebba würde die Begegnung mit dem Bösen nicht erspart bleiben, keinem blieb sie erspart. Selbst wenn Nils alles dafür tun würde, es von ihr fernzuhalten.

Olov hingegen stach ohne Zögern zu und schlitzte den Fisch mit seinem Taschenmesser geschickt auf, zweimal schon hatte er es gemacht. Nils hatte ihm das Messer zum Geburtstag geschenkt, und seitdem hütete Olov es wie seinen Augapfel und trug es stets in der Hosentasche bei sich.

Gedankenversunken folgte Nils dem kleinen Pfad durch den Mischwald Richtung Ansitz. Während er einen Schritt vor den anderen setzte, dachte er daran, wie vernünftig seine Kinder inzwischen geworden waren. Ebba war zwölf und Olov zehn, und in den zwei Jahren, in denen er nicht mehr bei ihnen und ihrer Mutter lebte, hatte ihre Entwicklung einen großen Sprung gemacht. Unter Ebbas T-Shirt zeigten sich bereits zarte Wölbungen, und Olovs Gesichtsauszüge hatten in den vergangenen Monaten trotz seines jungen Alters an Weichheit verloren und einen erstaunlich ernsten Ausdruck angenommen.

Nils malte sich aus, wie jede Nachdenklichkeit, die sich in den Augen seiner Kinder spiegelte, durch Neugier und Lebensfreude ersetzt werden würde, wenn sie erst bei ihm vor der Tür standen. Sie würden den Verdruss, der Trennungskindern anhaftete, abstreifen, neugierig gespannt auf das, was er mit ihnen vorhatte. Irgendwann würden sie schließlich ihre nackten Füße kreischend ins eiskalte Wasser des Huskvarnaan tauchen und später reglos mit der Angel in der Hand nebeneinander auf dem kleinen Steg über dem Fluss hocken. Wenn der Lachs, den sie schließlich fangen würden, an Ort und Stelle gegrillt und aufgegessen war und sie alle zusammen auf einer Decke am Flussufer lagen, würden die Kinder ihn anbetteln, eine Geschichte aus seiner Jugend zu erzählen. Nils kratzte sich hinterm Ohr. Ihm würde schon irgendetwas einfallen.

Auf die Wipfel der Bäume fiel gleißendes Licht.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sich noch den Kopf darüber zerbrochen, wie er seine Kunden zufriedenstellen konnte. Und heute? Heute war das einzig Wichtige in seinem Leben, seine Kinder glücklich zu machen. Nils seufzte. Die Zeiten änderten sich.

Nachdem ein Journalist im Swedish Art Magazine über seine handgefertigten schlichten Möbel berichtet hatte, waren die Kunden nicht nur aus Jönköping zu ihm gekommen, sondern auch von weiter her, aus Göteborg und Malmö und Stockholm, und einige waren sogar aus Großbritannien, Deutschland und Italien angereist. Oft hatte er bis in die Nacht hinein an der Hobelbank gestanden und dabei völlig vergessen, dass er eine Frau und Kinder hatte, die zu Hause auf ihn warteten. Die Rechte an seinen Möbelentwürfen waren mittlerweile verkauft, und wenigstens um Geld musste er sich keine Sorgen machen.

Nils presste die Lider zusammen. Nun lebte er seit zwei Jahren schon allein.

Ein lautes Knacken im Gebüsch ließ ihn zusammenzucken. Nils sah sich um, aber da war nichts. Er lauschte, das Geräusch wiederholte sich nicht, weiter entfernt hörte er nur das Kreischen einer Säge. Der Ton erstarb, und Nils setzte sich wieder in Bewegung. Wenn er die Hasen, die morgens besonders aktiv waren, nicht verpassen und rechtzeitig auf seinem Ansitz hocken wollte, musste er sich beeilen.

Er sog tief die Luft in seine Lungen und dachte, allein für die Einzigartigkeit der frühen Morgenstunde im Wald hat es sich gelohnt, nach der Trennung in die Blockhütte gezogen zu sein. Sein Vater hatte sie ihm vermacht, und er empfand tiefe Dankbarkeit dafür.

Taubenblau hatte er die Hütte gestrichen, nicht schwedisch rot. Wie immer ein klein wenig entgegen jeder Erwartung. Nils hatte den einzigen Raum von Spinnweben befreit, den Fichtenholzboden geschrubbt, bis er wieder hell war, und die Art und Weise, wie er die Hütte eingerichtet hatte, widersprach ebenfalls jeder Erwartung. Es gab einen Tisch, zwei Stühle, einen Hocker, einen Herd, ein schmales Bett, eine Kleidertruhe und auf dem Boden stapelweise Bücher. Die Möbel waren aus einfachem Fichtenholz. So hatte er es gewollt und nicht anders. Ballast abwerfen. Zu sich finden. Kein Schnörkel an nichts.

Seit er hier lebte, in diesem abgelegenen Winkel der Welt, ungefähr 200 Kilometer nordöstlich von Jönköping, vertrieb er sich die Zeit mit Lesen, wenn er nicht fischen oder jagen ging. Im Sommer suchte er nach Beeren, kochte ein, und an langen Winterabenden versuchte er sich am Schreiben von Gedichten.

Mittlerweile hatte er sich an die Einsamkeit gewöhnt. Auch seine Gedanken ängstigten ihn nicht mehr. Die quälende Frage nach seiner Schuld hatte er wie ein Paket verschnürt und in eine Schublade seiner Seele geschoben. Vielleicht würde er es eines Tages wieder ans Tageslicht holen, und vielleicht würde er eines Tages auch in die Zivilisation zurückkehren, aber soweit war es noch lange nicht.

Nils stutzte und hob den Kopf. Irgendetwas an der Umgebung irritierte ihn, doch er wusste nicht, was. Das Gefühl war jedoch deutlich, so deutlich, dass er stehenblieb und Bäume und Boden um sich herum mit zusammengepressten Augen begutachtete. Seitdem er das ungewohnte Geräusch vernommen hatte, war eine seltsame innere Unruhe in ihm aufgestiegen. Eine Nervosität, die er hier mitten in der Natur so noch nie gefühlt hatte.

Sein Blick wanderte prüfend über die Stämme von Fichten und Eichen und Buchen und glitt hinauf bis zu ihren Kronen und wieder hinunter, verharrte auf dem Waldboden und folgte dann plötzlich und überrascht Zweigen, die auf dem Boden lagen und als deutliche Spur in den Wald hineinführten. Die Blätter an den Zweigen waren noch voller Saft.

Nils konzentrierte sich auf die ihn umgebenden Bäume und Büsche. Bei genauem Hinsehen bot sich ihm das immer gleiche Bild, es sprang ihm geradezu ins Auge, dass irgendjemand eine Art schmale Schneise in den Wald geschlagen hatte.

Nils runzelte die Stirn. Wer hatte das gemacht?

Warum?

Ein vages Gefühl drohenden Unheils erfasste ihn. Er konnte nicht sagen, weshalb. Es war unbestimmt, aber es war da.

Ohne lange zu überlegen, folgte Nils der Spur in das Dunkel des Waldes hinein.

Der Hase konnte warten.

Köln, Deutschland

Hannah Franckh, Kriminalhauptkommissarin, betrachtete ihren Kollegen Sven Becker mit wachsendem Interesse. Sie hatte es sich in ihrem gepolsterten Bürostuhl so gemütlich gemacht, so gut es eben ging, den Rücken an die harte Lehne gedrückt, die Beine weit ausgestreckt. Die Tango-Vorstellung, die ihr Kollege Sven für sie gab, war zweifelsfrei unterhaltsam. Momentan gab es für sie sowieso nicht viel mehr zu tun, als letzte Zeugenaussagen an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Der Raubmord, in dem sie und Sven vier Wochen ermittelt hatten, galt seit gestern als aufgeklärt, und Hannah genoss das Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben. Ihre Beine waren heute jedoch schwer und ihre Bewegungen langsamer als üblich, und ihre kleinen Augen im Spiegel auf der Damentoilette hatten sie erschreckt. Schnell hatte sie den Blick gesenkt. Auch die Fahlheit ihrer graublonden Haare wirkte deprimierend, und so hatte sie sich auf ihre Hände konzentriert, eiskaltes Wasser über ihren Puls laufen lassen und gespürt, wie es sie erfrischte. Schließlich hatte sie mit müder Geste das Papierhandtuch in die Aussparung des Waschtischs geworfen und gedacht, es gibt eben solche Tage, und sie hatte sich damit getröstet, dass sie, dem Himmel sei Dank, nicht allzu oft vorkamen. Anschließend hatte sie im Automaten auf dem Flur einen Espresso gezogen und achselzuckend ihren Frieden mit sich und diesem Tag gemacht.

Sie hatte am Abend zuvor ihren 52. Geburtstag gefeiert.

Ein paar Freunde waren bei ihnen vorbeigekommen, Wein und Blumen und Bücher in der Hand. Sie und die Freunde und Carl, mit dem sie seit einem Jahr zusammen auf seinem Hof in der Eifel lebte, und sein Sohn Max hatten lange draußen auf der Terrasse gesessen. Sie hatten geredet, Käse gegessen und Wein getrunken und im Bewusstsein, dass das Leben schön war, auf den Paddock geschaut, auf dem Max’ Pferde standen. Doch irgendwann war die Stimmung gekippt. Ihre Freunde hatten das Thema Rechtsextremismus und Rassismus bei der Polizei angesprochen und damit Hannahs wunden Punkt berührt. Aktuell wurde in den Medien über eine beachtliche Anzahl von Verdachtsfällen berichtet, was sie schmerzte. Nicht, dass darüber berichtet wurde, sondern dass es diese Fälle tatsächlich gab. Carl und Max und ihre Freunde hatten sich in Rage geredet. Sie vertraten die Ansicht, dass viel zu nachlässig gegen rechtsextreme Beamte ermittelt wurde. Max, inzwischen 28, beharrte sogar darauf, dass disziplinar- und arbeitsrechtliche Maßnahmen nur in wenigen Fällen nach Abschluss der Disziplinarverfahren verhängt wurden, was an sich schon wieder verdächtig sei. Hannah hatte ihm Recht gegeben, fühlte sich jedoch wie immer, wenn ihr Arbeitgeber kritisiert wurde, persönlich angegriffen. Sie war durch und durch Polizistin, und daher lehnte sie die Rigorosität der Argumentation instinktiv ab, denn sie ließ ihrer Ansicht nach viel zu wenig Spielraum für alles, was nicht eindeutig gut oder böse, recht oder unrecht war. Vor allem war ihr am vergangenen Abend die einhellige Tendenz zur Verallgemeinerung auf die Nerven gegangen.

Hannah seufzte und sah auf die Uhr. Kein Wunder, dass sie heute nicht ganz auf der Höhe war, sich erschöpft und müde fühlte. Die Aussicht, dass sie in zwei Stunden ihre Sachen zusammenpacken und nach Hause fahren würde, half ihr durchzuhalten.

Aus schmalen Augen richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf Sven, und sie beobachtete ihren Kollegen bei seinen Verrenkungen. Tango tanzen konnte er nicht besonders gut, fand sie, aber wenigstens war er kein Rechter. Seit einigen Wochen besuchte er, wie er ihr anvertraut hatte, einen Tangokurs. Sven hoffte, hier mehr Glück bei der Suche nach einer Freundin zu haben als auf einer der vielen Dating-Plattformen, auf denen er sich schon nach einer Partnerin umgesehen hatte. Doch während Hannah ihn so betrachtete, fragte sie sich, ob Tango wirklich das Richtige für ihn war.

Sie beobachtete ihren jüngeren Kollegen dabei, wie er die fiktive Frau in seinen Armen mit halb geschlossenen Lidern durch den Raum schob, und plötzlich fühlte sie ein Glucksen in sich aufsteigen, das sie rasch unterdrückte. Ganz objektiv betrachtet, war Sven nicht sonderlich attraktiv, schon gar nicht beim Tangotanzen.

Hannah lehnte sich noch ein Stück weiter in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihn. Er war etwa ein Meter 90 groß, hatte dunkelblondes strähniges Haar und wirkte, egal was er tat, ungelenk. Doch er verfügte über einen scharfen Verstand und einen trockenen Humor, und sie wusste beides zu schätzen. Außerdem war er sensibel.

Sie selbst maß nicht mehr als ein Meter 64 und hatte graublondes Streichholzhaar. Außerdem glaubte sie im Gegensatz zu ihrem Kollegen ein wahres Wunder an Geschmeidigkeit zu sein. Für irgendetwas mussten die Gymnastikkurse, die sie seit Jahren besuchte, und ihr Fitnesstraining ja gut sein. Hannah strich zufrieden mit der Hand über ihr muskulöses Bein, wie um sich zu vergewissern, dass es immer noch in Topform war.

»Du hast ja keine Ahnung«, stöhnte Sven, stemmte eine Hand in seinen Rücken und richtete sich mühsam auf, »du hast keine Ahnung, wie schwierig so ein Tango ist.«

»Sieht ganz danach aus«, lächelte Hannah.

»Wie wäre es mit einem kleinen Applaus?« Sven strahlte Hannah auffordernd an, und als sich nichts tat, sagte er mit Nachdruck: »Motivier mich doch mal.«

Hannah klatschte in die Hände, leise zwar, aber sie klatschte. Dann beugte sie sich vor und sagte: »Du bist ein wunderbarer Kommissar und mein Lieblingskollege, aber ein großer Tänzer wirst du nicht. Nicht genug Körperspannung.«

»Direkt wie immer!«, beschwerte sich Sven und fragte: »Was meinst du damit?«

»Drama. Ich meine, es fehlt dir an Drama.«

Sven ließ sich frustriert auf den Stuhl vor Hannahs Schreibtisch fallen. »Willst du damit sagen, ich mache mich lächerlich?«

Hannah lehnte sich wieder zurück.

»Nein, natürlich nicht. So würde ich es nicht ausdrücken.« Bedächtig strich sie sich durch ihr kinnlanges Haar. »Vielleicht fehlt es dir ein wenig an männlicher Ausstrahlung …«, sagte sie vorsichtig und fragte sich, ob er den Ball, den sie ihm zugeworfen hatte, auffangen würde.

»Ich arbeite mich jeden Morgen vor dem Frühstück an Hanteltraining ab«, gab Sven zu.

»Dann wirst du eines Tages auch wie Phönix aus der Asche steigen«, neckte sie und lächelte. »Was nicht ist, kann ja noch werden.«

Hannah liebte diesen vertrauten Ton zwischen ihnen, seit Hannah in Köln lebte, arbeiteten sie zusammen. Sven war 20 Jahre jünger als sie, und er fragte sie gelegentlich auch privat um Rat, was ihr schmeichelte, denn es bedeutete, dass er ihr vertraute. Sven schien ihre Meinung und auch ihre Lebenserfahrung zu schätzen. Andererseits brachte er sie mit seinen privaten Anliegen auch in Bedrängnis und sie fragte sich, ob sie als seine Vorgesetzte damit nicht eine Grenze überschritt. Schließlich war sie nicht seine Psychotherapeutin und auch nicht seine Mutter.

»Zu wenig männlich?« Sven starrte Hannah frustriert an.

»Die Wahrheit liegt immer im Auge des Betrachters, das weißt du doch«, tröstete Hannah. »Nimm nicht so ernst, was ich sage. Meine Meinung ist eine von vielen. Wahrheit ist immer subjektiv. Wenn wir überhaupt darüber sprechen können, dass etwas wahr ist, müssen wir über Uhrzeiten, Körpergrößen oder Tathergänge reden. Und selbst die geben die Wahrheit häufig nicht eindeutig wieder, das haben wir doch in den langen Jahren unserer Arbeit oft genug erfahren.« Mit Bitterkeit erfahren, ergänzte sie im Stillen.

»Was sollte ich also deiner Ansicht nach unternehmen?«, fragte Sven nun, und Hannah überlegte, was sie ihm raten sollte. »Ich meine, was würdest du an meiner Stelle tun?«

Hannah seufzte. »Wenn du es wirklich wissen willst, kauf dir knackige Jeans und ein enganliegendes Hemd. Du hast doch eine breite Brust, die musst du nicht hinter diesen Stoffzelten verstecken. Und arbeite beim Tango an deinem Blick.«

»Meinem Blick?«

»Ja.« Hannah nickte und sagte zögernd: »Ein bisschen mehr Tiefe und Geheimnis wären nicht schlecht.«

Er erhob sich, und er ächzte ein wenig dabei, und zu allem Überfluss stemmte er eine Hand in den Rücken, als habe er Bandscheibenprobleme.

Wie sie ihn so sah und hörte, überflutete Hannah bei seinem Anblick eine Welle warmer Zuneigung, und am liebsten hätte sie ihn in diesem Moment wie den Sohn, den sie nie gehabt hatte, an sich gedrückt. Stattdessen sagte sie einfach nur: »Vergiss es. Wahrscheinlich stehen andere Frauen auf ganz andere Dinge als ich.«

Die Tür flog auf, herein stürmte ein Kollege. Hannah atmete auf. Sie war erlöst.

»Ihr müsst sofort nach Lindenthal fahren. Dort ist jemand in seinem Haus erschossen worden.« Der Kollege fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. »Die Spurensicherung ist schon unterwegs.«

Hannahs Müdigkeit war schlagartig verflogen. Sie und Sven tauschten einen Blick, und einen Moment später waren sie aus der Tür.

*

Hannah erfasste die Situation sofort. Die Küche des Hauses, in dem Professor Peter Meyers gelebt hatte, wirkte irgendwie maskulin. Auf dem übergroßen Edelstahl-Gasherd standen gusseiserne Töpfe, die dunkelgrauen Schränke waren mit einer Arbeitsplatte aus schwarzem Granit abgedeckt, und teure Messer wurden in einem hölzernen Block präsentiert.

Der Professor lag auf dem Rücken. Sein weißes T-Shirt war vollgesogen mit Blut, und der Steinboden in schwarz-weißem Schachbrettmuster war rund um seinen Brustkorb herum tiefrot. Auf Meyers Jeans gab es keine Flecken, seine Füße steckten in dunkelblauen Sneakers, die Schuhsohlen waren sauber. Hannah schätzte ihn auf Anfang 60. Professor Meyers hatte volle graue Haare und den Bauch derjenigen, die mit sich und ihrem Leben zufrieden sind, nicht zu voluminös, nicht zu flach. Gerade umfangreich genug, um ihr Meyers Sinn für Genuss wie auch für Disziplin zu verraten.

Hannah nickte kurz in die Runde. Die Kollegen von der Spurensicherung und der Rechtsmediziner waren bereits vor Ort. Er stand, ohne aufzublicken, über seinen Aluminiumkoffer gebeugt, sein wichtigstes Utensil. Hannah erinnerte es seit jeher an den Werkzeugkasten eines Handwerkers.

Der Rechtsmediziner hielt ein elektronisches Tatortthermometer in der Hand, mit dem er zur ersten Bestimmung des Todeszeitpunktes sowohl die Raumtemperatur als auch die Körpertemperatur des Toten messen konnte, und sortierte herabhängende dünne Kabel. Anhand der Messungen ließ sich bereits am Tatort eine Aussage zum ungefähren Todeszeitpunkt treffen.

»Und? Können Sie schon etwas sagen?« Hannah sah ihn fragend an.

Der Rechtsmediziner mühte sich ab, Ordnung in die Kabel zu bringen. »Kleinen Moment noch …«

Hannah blickte auf ihre Armbanduhr. Sie trug sie aus nostalgischen Gründen, aus Protest gegen den allgemeinen Handywahn, und nicht zuletzt, weil sie die 50 Jahre alte Uhr mit dem kleinen goldenen Zifferblatt und den schwarzen römischen Ziffern, die ihre Großmutter ihr vererbt hatte, immer noch schön fand. Es war kurz vor 17 Uhr.

Hannah ging in die Knie und hockte sich dicht neben die Leiche auf den Küchenboden. Der Anblick von Toten verursachte ihr schon lange kein Unwohlsein mehr. Auch nicht ihr Geruch, es sei denn, die Verwesung hatte bereits eingesetzt, was hier jedoch nicht der Fall war. Unmerklich sog sie tiefer als üblich Luft durch die Nase. Wenn Meyers roch, dann höchstens nach Zwiebeln.

Hannah musste unwillkürlich lächeln und überlegte kurz, was Carl heute Abend wohl auftischen würde. Sie hatte seit Mittag nichts mehr gegessen, und ihr Magen beschwerte sich mit einem leisen Knurren. Schnell lenkte sie ihre Gedanken zurück zum aktuellen Geschehen und konzentrierte sich wieder ganz auf den Toten.

Professor Meyers machte einen friedlichen Eindruck, seine Gesichtszüge wirkten entspannt, und wäre da nicht überall Blut, könnte man annehmen, er würde einfach nur zufrieden schlafen.

Hannah, immer noch in der Hocke, faltete die Hände. Es war ihr egal, was die Kollegen dachten. Sollten sie glauben, sie würde beten, was sie nicht tat. Den Kopf gesenkt, verharrte sie bei sich und dem Toten. Ein Moment tiefer Kontemplation. Sie war erfüllt von allumfassendem Respekt vor der Einmaligkeit gelebten Lebens und durchdrungen von Trauer angesichts seiner Bedeutungslosigkeit.

Bis vor Kurzem war Professor Meyers’ Körper noch warm gewesen, hatte sich weich angefühlt. Bis vor Kurzem hatte er noch geatmet und sich bewegt, aller Wahrscheinlichkeit nach mit seinem Mörder gesprochen. Vielleicht war es belanglos gewesen, möglicherweise wichtig, privat oder beruflich, wer wusste das schon.

Hannah versuchte, Meyers’ Wesen zu erfassen, in seine Aura einzutauchen, und in diesem langen Moment ignorierte sie alles andere um sich herum.

Zuletzt hatte er Bratkartoffeln gegessen, wahrscheinlich ein Bier dazu getrunken. Eine leere Kölsch-Flasche stand neben der Spüle. Möglicherweise hatte er sich beim Essen entspannt. Oder war er in Eile und gestresst gewesen? Hannah suchte in den Zügen und Linien, die seinem Gesicht die unverwechselbare Form verliehen, eine grundsätzliche Gestimmtheit seiner Seele zu erfassen, und auch die Stimmung zu erahnen, in der er sich kurz vor seinem Tod befand. Noch hatte die Totenstarre nur leicht eingesetzt, waren die weichen Informationen, sie nannte sie so im Gegensatz zu den harten Fakten, nicht für immer verloren.

Hannah überlegte, was der Mann als Letztes gedacht haben mochte. Was es auch gewesen war, es musste ihn zufriedengestellt haben, beinahe triumphierend wirkten seine Züge.

Oder täuschte sie sich?

Wie konnte ein Mensch, der ermordet worden war, in den letzten Sekunden seines Lebens derartig zufrieden aussehen? Hannah runzelte die Stirn. So etwas war ihr in den langen Jahren ihrer Dienstzeit noch nicht vorgekommen.

»Ich würde ihn jetzt gern ganz entkleiden und mit der Arbeit beginnen«, drängte der Rechtsmediziner. Hannah blickte auf, seinen Worten zum Trotz machte er ein freundliches Gesicht. Sie hatte noch nie mit ihm gearbeitet.

»Joost Franzen, ich bin der Neue«, stellte er sich vor. Ich bin erst seit zwei Tagen im Dienst.«

Hannah erhob sich und lächelte. »Auf gute Zusammenarbeit.«

Joost Franzen nickte und machte sich umgehend an der Leiche zu schaffen.

Hannah sah ihm zu, wie er die Körpertemperatur des Toten maß und mit unterschiedlichsten Instrumenten hantierte. Schließlich sagte Franzen: »Der Mann ist schätzungsweise vor etwa zweieinhalb Stunden ermordet worden. Selbstmord scheidet aus.«

Nach einem Moment erklärte er: »Glatter Herzschuss.«

Hannah sah sich um, sie hatte laute Schritte gehört. Es war Sven.

»Es sind sogar zwei Schüsse«, sagte Joost Franzen und deutete auf den Brustkorb des Toten. »Außer dem Schuss ins Herz gibt es unterhalb noch einen weiteren Schuss, der die Rippe verletzt hat.«

Hannah beugte sich über den Toten und folgte mit den Augen Franzens Zeigefinger.

»Wurde der Rippenschuss zuerst abgefeuert?«, fragte sie halblaut. »Wahrscheinlich, denn der wird ihn kaum getötet haben. 100-prozentig weiß ich es allerdings erst nach der Obduktion.«

»Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Täter kein Profi war«, sagte Sven, der das Gespräch verfolgt hatte und nun neben Hannah stand.

Hannah nickte und fragte: »Wie geht es Meyers’ Frau?«

»Sie ist verstört, sitzt immer noch wie betäubt im Wohnzimmer. Lass uns nachher nochmal mit ihr sprechen, wenn sie sich etwas erholt hat«, erwiderte Sven mit leiser Stimme. »Du willst dir doch bestimmt ein eigenes Bild machen.«

»Ja.«

»Was meinst du? Profi oder nicht?«, nahm Sven den Faden wieder auf.

»Es würde mich wundern, wenn nicht.« Nachdenklich strich sich Hannah eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht: »Einbrecher flüchten in der Regel, wenn sie überrascht werden, es sei denn, sie treffen auf unerwarteten Widerstand, sind ungewöhnlich brutal, oder suchen nach etwas ganz Bestimmtem.«

Sven nickte. »Allerdings müssten wir uns dann fragen, warum der Einbrecher die Ehefrau verschont hat.«

»Warten wir die Ergebnisse des Rechtsmediziners und der Spurensicherung ab. Wird sie noch von unserer Psychologin betreut?«, wechselte sie das Thema und deutete mit dem Kopf Richtung Wohnzimmer.

»Ja.« Sven trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Verwandte oder Freunde will sie momentan nicht sehen.«

Hannah überlegte, ob das etwas zu bedeuten hatte.

»Vielleicht hat sie ihn umgebracht?«, überlegte Sven.

Hannah beobachtete den Rechtsmediziner, der gerade im Begriff war zu vermessen, in welchem Winkel Professor Meyers’ rechtes Bein vom Körper abstand. »Haben Sie noch weitere Verletzungen entdeckt?«, wandte sie sich fragend an ihn.

»Keine erkennbaren.« Joost Franzen maß unbeirrt weiter.

»Ist diese Küche der Tatort?«

»Der Blutmenge nach zu urteilen, ja.«

Hannah fröstelte leicht. Durch die geöffnete Terrassentür, an der sich einige Kollegen von der Spurensicherung mit Pinseln und Folien zu schaffen machten, zog ein frischer Lufthauch ins Zimmer. Von gestern auf heute hatte es einen Temperatursturz gegeben. Sie dachte daran, dass sie am vergangenen Abend noch bis nach Mitternacht leicht bekleidet auf der Terrasse gesessen hatte, und jetzt sehnte sie sich nach einem Pullover. Hannah schlang die Arme um ihren Oberkörper. Das Wetter spielte verrückt. Morgen schwitze ich um diese Zeit vermutlich wieder, überlegte sie, sagte sich dann aber, dass vielleicht der Anblick des Toten sie frösteln ließ.

»Vermutlich ist der Täter dort hinaus«, Sven deutete auf die Terrassentür, »und aller Wahrscheinlichkeit nach ist er auch da hereingekommen.«

Hannah hörte Svens Überlegungen zu, doch sie zündeten keinen Funken in ihr. Allerdings bemühte sie sich darum, es sich nicht anmerken zu lassen, genauso wenig wie ihre Müdigkeit, die sie in diesem Augenblick wieder überfiel.

Sie beobachtete den Rechtsmediziner, der sich erhob und die Ergebnisse seiner Untersuchungen in ein kleines Gerät diktierte. Kurz darauf gab er den Kollegen von der Spurensicherung zu verstehen, dass er fertig sei und nun sie sich an der Leiche zu schaffen machen könnten.

»Haben wir Einbruchspuren?«, wandte Hannah sich an die Kollegen.

Ein Mann im weißen Schutzanzug schüttelte den Kopf. »Auch keine Kampfspuren.«

»Meyers hat den Täter wohl gekannt«, überlegte Sven.

Hannah sah auf. »Möglich«, sagte sie und trat an Sven vorbei aus dem Windzug auf den, für alle außer den Kollegen der Spurensicherung, markierten Laufweg. Es hatte oberste Priorität, keine Spuren zu verwischen. Während sie die Informationen in ihrem Kopf nach Wichtigkeit sortierte, beobachtete sie die Kollegen dabei, wie sie die Oberflächen der Luxusküche mit irgendwelchen Chemikalien einpinselten. Hannah war von der Intensität und Unterschiedlichkeit der Farben jedes Mal wieder beeindruckt. Stundenlang hätte sie dabei zugucken können, wie auf penibelste Art und Weise versucht wurde, auch den kleinsten Hinweis auf Tat oder Täter zu gewinnen. Ebenso faszinierten sie die Gestalten, die die Chemikalien auftrugen. In ihren weißen wulstigen Schutzanzügen mit Kapuze, Kunststoffhandschuhen und den Plastiküberzügen für die Schuhe hatten sie auf Hannah schon immer wie Marsmenschen gewirkt, die sich auf die Erde verirrt hatten. Sie hoffte, dass die Kollegen Brauchbares fanden wie Fingerabdrücke und Material für DNA-Analysen wie Haare, Speichel oder Hautschuppen. Hannah inspizierte den Fußboden. Vielleicht fanden sich auch dort irgendwo Hinweise, die Rückschlüsse auf den Täter zuließen, beispielsweise Fußabdruckspuren.

»Wenn schon keine Tatwaffe gefunden wurde, sind vielleicht Geschosse sichergestellt worden?«, wollte sie von einem Kollegen der Spurensicherung wissen.

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Die stecken wahrscheinlich noch in der Leiche.«

Hannah bemerkte, dass Sven neben ihr ebenfalls fröstelte. Ein leichtes Zittern ging durch seinen Körper, und sie fragte sich verwundert, warum. Lag es nur an der Kälte? Es hatte sich inzwischen noch weiter abgekühlt.

»Frau Meyers behauptet, sie habe sich um 13 Uhr schlafen gelegt und ihren Mann nach dem Aufwachen gegen 15 Uhr tot in der Küche gefunden«, berichtete er leise. »Sie sagt, sie habe nichts gehört. Kein Klingeln, kein Klopfen, keine ungewohnten Geräusche. Erst recht keinen Schuss. Sie hatte eine halbe Schlaftablette genommen.«

»Am Nachmittag?«, fragte Hannah kopfschüttelnd.

Sven zuckte mit den Schultern.

Einer der Kriminaltechniker unterbrach ihr Gespräch: »Dem Einschusswinkel nach zu urteilen, haben sich Täter und Opfer frontal gegenübergestanden.«

»Vielleicht doch ein Ehestreit?«, überlegte Sven.

Hannah sah ihn nachdenklich an, kommentierte seine Vermutung jedoch nicht. Stattdessen bedeutete sie Sven, ihr ins Wohnzimmer zu folgen.

Claudia Meyers hockte in der Ecke eines riesigen beigefarbenen Samtsofas. Sie war zierlich, hatte kurzes dunkles Haar und wirkte verloren in dem großzügigen Zimmer, das modern eingerichtet war. Auch hier hatte vermutlich der Geschmack von Herrn Professor Meyers regiert. Hannah schätzte das Baujahr des Bungalows, in dem das Ehepaar Meyers wohnte, auf Anfang der 60er- Jahre. Nach einem prüfenden Blick kam sie zu dem Ergebnis, dass Frau Meyers in etwa so alt sein musste wie das Haus.

Alles passt hier zusammen, dachte Hannah. Mir wäre es zu perfekt. Kunst in den Regalen und an den Wänden. Am Hungertuch nagte das Ehepaar offensichtlich nicht.

Claudia Meyers hielt ein zerfleddertes Papiertaschentuch in der Hand, und Hannah bemerkte sofort die eigenartige Entrücktheit der Frau. Mit leerem Blick starrte sie auf ihren Schoß, dann wandte sie langsam ihr und Sven den Kopf zu, und sie verzog keine Miene.

Die Psychologin saß Frau Meyers schräg gegenüber in einem Sessel und blickte Hannah und Sven bedeutungsvoll an. Hannah kannte sie seit vielen Jahren, und im Gegensatz zu einigen ihrer vorwiegend männlichen Kollegen hielt sie viel von Mechthild Spoors Arbeit. Wie sie selbst war Mechthild Anfang 50, hatte jedoch honigblondes Haar, und Hannah vermutete, dass sie es färbte.

Mechthild erhob sich und legte der Ehefrau des Toten behutsam eine Hand auf ihre Schulter. »Frau Meyers, hören Sie mich?«, fragte sie leise. »Meine Kollegen würden gern noch einmal mit Ihnen sprechen.«

Claudia Meyers reagierte nicht.

»Frau Meyers?«

Endlich zeigte Claudia Meyers eine Regung. Wie in Zeitlupe blickte sie von Mechthild zu Hannah und dann zu Sven. »Was wollen Sie denn noch? Wir haben doch schon miteinander gesprochen«, sagte sie mit leisem Vorwurf in der Stimme.

»Es wird nicht lange dauern, Frau Meyers. Was passiert ist, tut uns furchtbar leid, und ich verstehe Ihren Schock. Aber je mehr wir gleich zu Beginn unserer Ermittlungen wissen, desto eher können wir den Tod Ihres Mannes aufklären. Das wollen Sie doch auch?«, fragte Hannah.

Claudia Meyers nickte. »Natürlich will ich das.« Sie deutete auf die Sesselgruppe gegenüber vom Sofa. »Also gut. Bitte nehmen Sie Platz.«

Mechthild Spoor ergriff die Gelegenheit und verabschiedete sich. Bevor sie ging, bot sie Claudia Meyers an, dass sie sich jederzeit bei ihr melden könne, auch abends noch, ihre Handynummer habe sie ja. Die Psychologin bedachte sie mit einem ermutigenden Blick, dann wandte sie sich an Hannah und erklärte: »Frau Meyers hat vorhin eine Beruhigungstablette geschluckt, daher ist sie noch ein wenig benommen.« Die Psychologin ergriff ihre große Handtasche, aus der Papiere quollen, und verließ nach einem kurzen Abschiedsgruß den Raum.

Hannah wartete einen Moment, dann wandte sie sich an Claudia Meyers und fragte sanft: »Wann genau haben Sie Ihren Mann gefunden?«

»Es muss kurz vor oder nach 15 Uhr gewesen sein. Ich sagte es Ihrem Kollegen schon.«

»Ich weiß. Schildern Sie bitte trotzdem auch mir noch einmal die Situation. In allen Einzelheiten.«

Claudia Meyers holte tief Luft. Ihre Hand krampfte sich um das Taschentuch. »Ich hatte geschlafen. Nachdem ich wach wurde, ging ich vom Schlafzimmer in die Küche. Ich wollte ein Glas Wasser trinken.« Sie hielt einen Moment inne, bevor sie weitersprach. »Da sah ich meinen Mann auf dem Boden liegen. All das Blut …« Sie schüttelte sich. »Ich wusste sofort, dass er tot ist.«

»Was geschah dann?« Hannah bemerkte, dass Sven die Frau aufmerksam beobachtete.

»Ich wählte die Nummer des Notrufs. Wenige Minuten später war der Rettungswagen da. Kurz darauf trafen dann Ihre Kollegen ein. Die Sanitäter hatten sie informiert.«

»Was haben Sie zwischen Ihrem Anruf und dem Eintreffen des Rettungswagens gemacht?«

»Ich habe meinen Mann angestarrt. Irgendwann bin ich durch die Terrassentür hinaus in den Garten gegangen.« Claudia Meyers senkte den Kopf. »Ich konnte seinen Anblick nicht länger ertragen.«

Hannah wartete einen Moment, bis sie die nächste Frage stellte. »Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Gab es Hinweise, dass jemand Fremder in Ihrem Haus oder in Ihrem Garten war?«

»Die Terrassentür stand offen …«, Claudia Meyers dachte nach, »aber sie war schon beim Mittagessen weit offen gestanden. Vermutlich hat mein Mann sie beim Kochen geöffnet … um den Bratgeruch hinauszulassen … Sie kennen das …« Kurz darauf sagte sie, den Blick auf Hannah gerichtet: »Nein. Da war niemand. Das hätte ich bemerkt.«

»Wann haben Sie sich hingelegt?«, wollte Hannah wissen.

»Gegen 13 Uhr, unmittelbar nach dem Mittagessen. Da ich unter Schlafproblemen leide und heute Mittag völlig übermüdet war, habe ich eine halbe Schlaftablette eingenommen. Danach habe ich wie ein Stein geschlafen.«

Kein Wunder, dachte Hannah, dass Claudia Meyers so abwesend wirkt. Erst eine halbe Schlaftablette und obendrauf noch eine Beruhigungstablette, so viel Chemie verlangsamt Körper und Geist. Einen Moment überlegte sie, ob es nicht besser wäre, wenn sie und Sven sich verabschiedeten und am nächsten Tag wiederkämen. Die Frau schien völlig sediert zu sein, und der Gedanke, jetzt nach Hause zu fahren, erschien Hannah äußerst verlockend. Einen Moment gab sie sich der Vorstellung hin, in Kürze schon am heimischen Esstisch zu sitzen, doch dann entschied sie sich gegen diese Option. Es machte einfach Sinn, die Frau jetzt zu vernehmen, da sie noch frisch unter dem Eindruck des Erlebten stand, auch wenn sich ihr Hirn und ihr Körper im Schneckenmodus befanden. Aus Erfahrung wusste Hannah, dass Zeugenaussagen unmittelbar nach der Tat der Wahrheit am nächsten kamen. Sie musste unwillkürlich seufzen.

»Wie lange dauert es, bis eine Schlaftablette bei Ihnen wirkt?«, wollte Sven wissen.

»Etwa 20 Minuten.« Claudia Meyers lächelte beinahe unmerklich. »Wer so jung ist wie Sie, kennt dieses Problem wahrscheinlich nicht.«

Sven stutzte einen Moment und schüttelte dann den Kopf.

»Haben Sie in diesen 20 Minuten irgendetwas Ungewohntes gehört?«, fragte Hannah dazwischen.

»Nein. Nur vertraute Geräusche. Das Klappern von Geschirr und Besteck. Mein Mann hat nach dem Mittagessen wohl die Spülmaschine eingeräumt.« Sie unterbrach sich kurz, wandte sich an Sven und erklärte: »Nach etwa 20 Minuten sind Sie schlagartig weg. Es ist, als puste man Ihr Licht aus. Durchaus ein schönes Gefühl.«

Hannah und Sven sahen sich an.

»Wieso haben Sie Schlafprobleme? Hat irgendetwas in letzter Zeit Sie besonders beschäftigt oder aufgewühlt?«, fragte Hannah.

Claudia Meyers sah aus dem Fenster. Dass sie erregt war, erkannte Hannah an der Unruhe ihrer Hände. Sie umklammerten das Taschentuch, als könnten sie Halt oder Trost daran finden.

»Hatten Sie und Ihr Mann Streit?«, fragte Hannah behutsam.

»Nein.«

»Worüber haben Sie und Ihr Mann beim Essen gesprochen?«, wollte Sven wissen.

»Wir haben nicht viel geredet. Mein Mann war schon immer eher der schweigsame Typ.« Claudia Meyers lachte leise auf. »Es war nicht immer einfach für mich. Zu Beginn unserer Beziehung fand ich es noch interessant.«

Hannah spürte Mitleid. Beziehungen, in denen wenig miteinander gesprochen wurde, waren nie die glücklichsten. Da macht sich die Liebe eines Tages unweigerlich davon, dachte sie. »War es üblich, dass Ihr Mann mittags nach Hause kam?«, fragte sie.

Claudia Meyers wirkte plötzlich so erschöpft, als habe sie einen Marathonlauf hinter sich. »Nein. Das war heute eine Ausnahme, und dass mein Mann erst kochte und nach dem Essen sogar noch blieb, war noch ungewöhnlicher. Normalerweise aß er mittags kurz etwas in der Kantine.« Claudia Meyers schluckte.

»Was hat er beruflich gemacht?«, fragte Hannah.

»Er war Geophysiker und hat im Institut für Angewandte Geophysik gearbeitet. Er besaß echten Forschergeist. Vielleicht kam er heute so gut gelaunt nach Hause, weil er einen besonderen Erfolg zu verzeichnen hatte … Er hatte Kartoffeln eingekauft und freute sich aufs Kochen. Vielleicht wollte er sich für irgendetwas belohnen.«

Hannah und Sven sahen Claudia Meyers mit gerunzelter Stirn an. »Wofür? Hat er irgendetwas dazu gesagt?«, fragte Hannah.

Claudia Meyers zuckte mit den Schultern. »Über seine Projekte haben wir nie viel geredet, seine Forschung war für mich ein Buch mit sieben Siegeln.«

»Wieso?«

»Zu kompliziert.«

Haben Sie denn gar keine Idee, womit er sich inhaltlich beschäftigt hat?«, fragte Hannah ungläubig. »Nicht im Geringsten?« Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass man nicht wusste, womit der Partner sein Geld verdiente.

»Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen. Wenn er mal von einem Projekt redete, hatte ich nach fünf Minuten bereits wieder vergessen, worum es ging. Geophysik ist eine ungeheuer trockene Angelegenheit.« Claudia Meyers machte eine resignierte Handbewegung. »Irgendwann habe ich aufgehört zu fragen. Und mein Mann hörte auf, mir etwas zu erzählen. Wir haben das Thema ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach ausgespart.«

Hannah betrachtete sie nachdenklich.

Claudia Meyers fuhr sich mit den Fingern durch ihr dunkles Haar. »Im Großen und Ganzen waren es Steine. Was es so gibt in der Erdkruste …« Sie hielt einen Moment inne, bevor sie weitersprach. »Welche Mineralien oder Metalle wo vorkommen, und wie man sie zu Tage fördern kann. Er war ziemlich erfolgreich bei seiner Arbeit, hat viele Vorträge gehalten. Weltweit.«

»Mit welchen Vorkommen beschäftigte sich Ihr Mann konkret?«, fragte Hannah interessiert.

Claudia Meyers zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, das kann ich nicht sagen. Im Institut wird man es Ihnen sicher erklären können.« Sie stand auf, verließ den Raum und kam nach wenigen Minuten mit einer Visitenkarte in der Hand zurück. »Die gehörte meinem Mann. Es stehen alle Kontaktdaten drauf.«

Hannah nahm die Karte an sich. »Sie waren häufig allein?«, fragte sie und fügte hinzu: »Sie sagten, Ihr Mann sei viel auf Reisen gewesen.«

Claudia Meyers seufzte und sagte leise: »Er war ständig auf Kongressen.«

»Hatte Ihr Mann Feinde? Gab es Menschen, die ihm etwas neideten? Beruflich? Oder auch privat?«

Claudia Meyers strich sich einen unsichtbaren Fussel von ihren hellblauen Jeans. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Kam er Ihnen in letzter Zeit verändert vor? Hatte er Sorgen?«

Claudia Meyers zögerte einen Augenblick, dann erwiderte sie jedoch mit Bestimmtheit: »Nein. Es gab immer wieder mal Zeiten, in denen er mehr oder weniger in sich gekehrt wirkte. Dann gab es auf der Arbeit ein größeres Problem, aber das war ziemlich normal. Es kam regelmäßig vor, dass er sich mit schwierigen Fragen herumschlagen musste. Letztendlich hat er sie aber meistens gelöst.«

»Und in den letzten Tagen?« Hannah sah Professor Meyers’ Ehefrau aufmerksam an. »Wirkte er da bedrückt oder in sich gekehrt?«

»Nein, je länger ich darüber nachdenke … er wirkte tatsächlich eher aufgeräumt, beinahe beschwingt.«

Also doch, dachte Hannah. Ich habe mich nicht getäuscht. Wenn Claudia Meyers die Wahrheit sagte, war ihr Mann guter Laune gewesen, bevor er starb. Hannah dachte, wie schön es sein musste, mit einem Lächeln auf den Lippen zu sterben. Das war nicht jedem vergönnt.

»Hat Ihr Mann für die Zeit nach dem Essen jemanden erwartet?«, wollte Hannah wissen. Es war mühsam, Claudia Meyers zu vernehmen. Hannah musste ihr jedes einzelne Wort entlocken, und allmählich ging es ihr auf die Nerven. Sie wäre dankbar dafür gewesen, wenn die Frau etwas gesprächiger gewesen wäre.

»Nein. Unsere Freunde besuchen uns abends, und wenn, dann am Wochenende. Mitten in der Woche bleibt dafür gar keine Zeit.« Claudia Meyers schüttelte den Kopf und sah Hannah eine Spur länger an als nötig, und es kam Hannah so vor, als wäre Claudia Meyers exakt in diesem Moment etwas eingefallen. Doch sie senkte den Blick und sagte: »Nein, ich weiß von keinem angekündigten Besuch.«

Einen Augenblick schwiegen sie alle. Nach einer Weile sagte Hannah: »Nochmal zurück zur Frage meines Kollegen. Worüber haben Sie und Ihr Mann beim Essen gesprochen?« Sie ließ Claudia Meyers nicht aus den Augen. Aus der Küche drangen Stimmen von Mitarbeitern der Spurensicherung. Jemand wurde aufgefordert, einen Pinsel anzureichen.

Claudia Meyers hob die Hände und ließ sie dann wieder in den Schoß sinken, und nach einem Augenblick sagte sie: »Ich hatte meinem Mann erzählt, dass ich am Wochenende mit einer Freundin nach Berlin fahren wollte.«

»Ach ja?« Hannah gab sich keine Mühe, ihre Überraschung zu verbergen. »Und was hat er dazu gesagt?«

»Dass er sich für mich freuen würde.« Claudia Meyers blickte an Hannah vorbei an die Wand. »Abwechslung hat er mir immer gegönnt.«

»In jeder Hinsicht?«, fragte Sven doppeldeutig.

Hannah warf ihm einen strengen Blick zu. Sie hoffte, er würde merken, wie indiskret seine Frage war.

»Wieso interessiert Sie das?« Claudia Meyers Augenbrauen schossen in die Höhe.

Sven knetete versonnen sein Ohrläppchen. Eine Angewohnheit aus Kindertagen, hatte er Hannah verraten. Das Durchwalken des weichen Fleischlappens beruhigte ihn. »Tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Vergessen Sie’s«, sagte er und wiederholte noch einmal, dass es ihm leidtäte.

Hannah kam es so vor, als ob er sich auch bei ihr für die Frage entschuldigen wollte. Ihm schien bewusst zu sein, dass er, wie so oft, allzu interessiert am Privatleben seines Gegenübers war.

»Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Mann?«, lenkte Hannah ab.

»Denken Sie etwa, ich hätte ihn umgebracht?« Claudia Meyers’ Augen blitzten.

»Die Frage gehört zur Routine«, erklärte Hannah und fügte mit weicher Stimme hinzu: »Mehr nicht.« Die Frau tat ihr plötzlich leid.

Claudia Meyers ließ sich gegen das Polster der Sofa-Rückenlehne sinken und gab ein seltsames Geräusch von sich, das Hannah absurderweise an das leise Pfeifen eines Delphins, der aus dem Wasser auftaucht, erinnerte. Sie hatte es kürzlich in einer Tier-Dokumentation gehört.

»Haben Sie sich geliebt?«, fragte Sven.

Hannah merkte auf. Svens Frage war indiskret, aber nicht unwichtig.

»Was geht Sie das an?« Claudia Meyers blickte hilfesuchend von Sven zu Hannah, doch Hannah reagierte nicht.

»Haben Sie sich geliebt« war eine Frage, die Sven grundsätzlich und bei nahezu jeder Befragung stellte, ob es passte oder nicht, auf jeden Fall immer dann, wenn es sich wenigstens am Rande anbot, sie zu stellen. Hannah starrte an die Decke. Die Liebe. Svens Thema. Vor allem sein wunder Punkt.

»Wie das so ist mit alten Ehepaaren … ich meine, wenn man fast 10 Jahre verheiratet ist …«, antwortete Claudia Meyers überraschend versöhnlich. »Vermutlich verstehen Sie davon nichts«, fügte sie hinzu und sah Sven an. »Sie sind viel zu jung, um zu begreifen, was ich meine …« Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach: »Ich habe meinen Mann sehr geliebt, das ist die Wahrheit. Er mich auch, doch die Gefühle ändern sich im Laufe der Zeit … Wenn man Glück hat, wird Freundschaft daraus.« Claudia Meyers verstummte.

»Hatten Sie Affären?«, fragte Hannah leise. Sie hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da bemerkte sie bereits, wie Claudia Meyer erstarrte.

Die Frau des ermordeten Professors wirkte plötzlich verschlossen. »Ich weiß nicht, ob er eine Geliebte hatte. Was mich betrifft … nein, es gibt keinen anderen Mann.«

Claudia Meyers’ Verhalten gab Hannah zu denken. Ihr plötzlich kalter, abweisender Blick, das vorgereckte Kinn, die betonte Festigkeit ihrer Stimme – all das wirkte unecht. Hannah war sich sicher, dass sie nicht die Wahrheit sagte.

*

Hannah war spät dran.

Gegen 19 Uhr verabschiedeten sie und Sven sich von Claudia Meyers, ohne dass sie noch etwas Wesentliches erfahren hätten. Sie hatte versichert, dass weder sie noch ihr Mann eine Waffe besaßen, geschweige denn damit umgehen konnten. Sie hatten eine 24-jährige Tochter namens Lea, die in Würzburg studierte und eventuell am nächsten Tag anreisen würde.

Aus der Art und Weise, wie Claudia Meyers von Lea sprach, schloss Hannah, dass ihr Verhältnis nicht besonders gut war. Ihre Stimme war ohne mütterliche Wärme, als sie erzählte, dass Lea, nachdem sie vom Tod ihres Vaters erfahren hatte, überlege, ob sie vor der Beerdigung überhaupt anreisen wolle.

Im Grunde ist es nicht verwunderlich, dass Claudia Meyers Lea nicht hierhaben will, wenn Lea sich so zögerlich verhält, dachte Hannah. Sie ließ sich von Claudia Meyers Leas Handynummer geben und war jetzt schon gespannt auf das Gespräch mit ihr.

Dann schob Hannah jeden Gedanken an ihre Arbeit konsequent beiseite und konzentrierte sich ganz auf die Fahrt nach Hause.

Sie trat aufs Gaspedal. Nicht nur, weil sie hungrig war, sondern weil Carl Zuspätkommen hasste. Vor allem hasste er es, wenn Hannah freitags zu spät kam. Das war ihr gemeinsamer Abend. Hannah vermutete, dass er gerade in der Küche stand und das Essen zubereitete. Sie würde sich beeilen müssen, wenn sie nicht riskieren wollte, dass der Haussegen schief hing.

Ein Blick auf die Uhr vergrößerte nur noch ihr schlechtes Gewissen.

Sie tippte Carls Namen ins Display des Autotelefons und horchte auf das Freizeichen, während die Landschaft neben der Autobahn an ihr vorüberflog. Er nahm nicht ab. Hannah beruhigte sich mit dem Gedanken, es wenigstens versucht zu haben.

Hohe Schornsteine der Chemieindustrie säumten die Straße. Beinahe durchsichtige, spindeldünne Schwaden stiegen auf in den fahlblauen Himmel, und sie sahen nicht nur giftig aus, sondern sie rochen auch so. Es war ein undefinierbarer chemischer Geruch, dumpf und beißend. Hannah fuhr das Fenster hoch. Wie jedes Mal, wenn sie die futuristische Industrielandschaft hier passierte, war sie froh, wenn sie endlich daran vorbei war.

Die Abendsonne schien goldgelb durchs Fenster, und Hannah klappte den Sichtschutz herunter, um nicht geblendet zu werden. Die Freude über den Sonnenschein führte dazu, dass sie das Industriegift vergaß und das Gaspedal noch ein Stückchen weiter nach unten drückte. Im Radio gab es einen Bericht über Spaziergänger, die wieder einmal einen Alligator im Fühlinger See gesichtet haben wollten, und der Moderator erwähnte, dass die Feuerwehr auf der Suche nach ihm das Gelände durchkämmte. Ein breites Grinsen stahl sich in Hannahs Gesicht. Wenigstens musste sie sich nicht mit Alligatoren herumschlagen.

Die Tachonadel bewegte sich auf 150 zu, eine Geschwindigkeit, die sie grundsätzlich nicht überschritt. Sie hielt das Lenkrad fest in beiden Händen, sah in den Rückspiegel und überholte einen roten Kleinwagen.

Sie sann darüber nach, warum das gemeinsame Abendessen für Carl so wichtig war. Im Grunde war es ihr klar, dennoch wunderte sie sich immer wieder darüber. Sie glaubte, dass Carl ihr und Max und vor allem sich selbst das Gefühl vermitteln wollte, dass sie eine Familie waren. Hannah seufzte leise. Max war Carls Sohn, nicht ihrer, und sie war Carls Lebensgefährtin, nicht mehr und nicht weniger. Weder wollte sie jemals mütterliche Verantwortung für Max übernehmen noch wäre das in Max’ Sinne, das stand für sie und auch für Max außer Frage, wie sie glaubte. Allein Carl hing diesem Wunschbild nach, dem Bild von einer heilen Familie. Und weder sie noch Max brachten es übers Herz, es ihm zu nehmen.

Sie sah ihn vor sich, wie er am Vormittag eilig den Einkaufswagen an den Regalen des Supermarkts vorbeigeschoben hatte, um sie abends bekochen zu können. Sie ging davon aus, dass er anschließend Reitunterricht gegeben und die Pferde versorgt hatte, und höchstwahrscheinlich hatte er danach noch mit verschiedenen Anbietern wegen des neuen Zuchthengstes telefoniert.

Und sie? Hannah lenkte den Wagen durch die Toreinfahrt. Sie hatte ein wenig aussagekräftiges Gespräch mit einer Tatverdächtigen geführt, deren Mann tot in der Küche lag, und war hundemüde. Hannah blickte auf die Uhr, als der Motor erstarb. Es war 20.15 Uhr. Und sie war wieder einmal zu spät.

In dem Moment, als sie aus dem Auto stieg, betrat Hannah eine andere Welt. Ein Idyll inmitten von Grün. Bäume, Hecken, Wiesen soweit ihr Blick reichte. Einen Moment verweilte er auf dem alten Fachwerkhaus, Carl hatte es schon vor ihrer Zeit eigenhändig renoviert. Stall und Paddock lagen etwas erhöht linker Hand vom Haus, dahinter wuchsen ein alter Birnbaum und eine Zwetschge, im Sommer saßen sie hier oft. Hannah atmete tief ein. Es roch nach Pferd und gebratenem Gemüse. Ihr Herz ging auf, sie fühlte sich willkommen.

Sie umrundete das Haus, und als sich die Terrasse vor ihr auftat, sah sie Max. Er saß allein am Tisch. Seinen leeren Teller hatte er von sich geschoben, in der Hand hielt er eine Bierflasche. Um seinen Mund spielte ein kleines Lächeln, als er ihr entgegensah. »Na, einen anstrengenden Tag gehabt?«, fragte er lapidar.

Seinem Ton entnahm Hannah, dass ihre Antwort ihn nicht sonderlich interessierte, und sie spürte umso deutlicher, wie sehr dieser Tag sie mitgenommen hatte. Sie ließ ihren zierlichen schwarzen Lederrucksack, den sie statt Handtasche trug, auf einen der leeren Stühle plumpsen und zog einen Sweater über, der über der Stuhllehne hing und den vermutlich Carl schon für sie bereitgelegt hatte. Dann setzte sie sich und streckte die Beine aus.