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Zwei Brüder, die unterschiedlicher kaum sein könnten, werden durch einen Missbrauchsfall in einem Osttirolertal zusammengeführt. Der illusionslose, wortkarge Polizist und der romantische, empathische Barbetreiber. Schnell wird klar, dass die reale Welt hinter dem Schleier des heilen Tourismus-Narratives, voller menschlicher Abgründe ist. Doch je tiefer die beiden so verschiedenen Protagonisten hinter die Tourismus-Glamour-Bilderbuchfassade blicken, desto mehr bröckelt der Putz. Rassismus, Missbrauch, skrupellose Gewalt kommen hervor.
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2019
Über den Autor:
Jason Wolffe, Jahrgang 1953, war nach dem Studium der Geophysik acht Jahre weltweit auf deutschen Forschungsschiffen unterwegs. Die Geburt seiner ersten Tochter veranlasste ihn an Land zu gehen. Mit dem Vertrieb von Supercomputern und PLM (Product Lifecycle Management) in leitender Funktion hielt er sich erfolgreich über Wasser. Dann lockten ihn nicht nur die Berge in der Schweiz. Als Abteilungsleiter eines deutschen Multis und anschließend als Geschäftsführer einer Unternehmensberatung im Bereich Vertrieb und Logistik verdiente er seine Wegglis. Mit 60 Jahren erfüllte er sich seinen Bubentraum und führte fünf Jahre eine Bar/Lounge im schönen Defereggental/Osttirol. Mit der Rente zog der Autor nach Oberschwaben, wo er zunächst Heil! Wasser! und dann Keltenland zu Papier brachte. Mittlerweile ist auch die Fortsetzung Auf leisen Sohlen! erschienen.
Jason Wolffe
Heil! Wasser!
Kriminalroman
© 2023 Jason Wolffe
Layout, Cover: Dr. Matthias Feldbaum
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg
ISBN
Paperback:
978-3-384-02240-0
E-Book:
978-3-384-02239-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für alle, die geschunden wurden.
Verein Krisenberatung Osttirol Notfallnummer:
0664 439 32 11
E-Mail: [email protected]
Seite 273
Vorbemerkung des Autors
• Die Schauplätze dieses Buches existieren tatsächlich, die Personen nicht. Diese sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind in keiner Weise gewollt.
• Die dramatischen Ereignisse werden aus der Sicht der beiden Brüder, Sergio Berner und Maximilian Fein, geschildert. Ein Hinweis in den Kapitelüberschriften klärt auf, welcher der Brüder der Erzähler ist.
• Der Prolog hat einen anonymen Erzähler.
• Mit * gekennzeichneten Wörter werden in den Fußnoten erläutert.
• Mit T gekennzeichnete Wörter verweisen auf ein Rezept im Anhang.
Dank
Mein Dank gilt jenen, die mich immer wieder aufgerichtet haben.
Mein besonderer Dank gilt Silke für Rat und Tat.
Personenverzeichnis
Sergio Berner
Barbetreiber, glaubt an das Recht und an den Wert einer guten Kaffeemaschine
Max Fein
Polizist bei Europol, vertritt das Recht und sucht Gerechtigkeit
Christine Schneeberger
vermisst ihren Vater nicht
Harry Schneeberger
Vater von Christine, macht Ärger
Norbert König
Polizeidirektor Lienz
Heribert Svoboda
Polizei Innsbruck
Bruno Havlichek
Polizei Innsbruck
Franz Burgstaller
Polizei Lienz, kümmert sich
Peter Hampler
Polizist Lienz
Otto Ladstätter
Polizist Matrei
Kevin Sand
Polizist Matrei
David Lindauer
Multifunktionär, muss viel einstecken
Heiner
Gastronom, ihm fehlt ein Finger
Mathias
hat Einblick
Georg
Senioren-Runde, Kirk-Douglas- Double
Hagen
Senioren-Runde, mag keine Bimbos
Philipp
Senioren-Runde, Ex-Gendarm, hilft
Giovanni Manzoni
Tapezierer, hatte viel zu verlieren
Josef (Sepp) Fuchsgruber
Bauer
Brünhild Fuchsgruber
seine Frau
Nathalie Fuchsgruber
seine Tochter
Thor Fuchsgruber
sein Sohn
Frau Niederscheider
Pflegemutter
Obereisbacher Norman
steckt ein und teilt aus
Obereisbacher Susanne
Bäuerin, steckt viel ein
Niels Neid
Rapper, macht Radau
Koni
Unterhosenmodell
Joe
Kumpel von beiden
Hannes
Jungbauer, hat ein Namensproblem
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Prolog 1: Du sollst nicht Lügen
Prolog 2: Das Gelbe vom Ei
1. Ein Fingerzeig
2. Auf der Gemeinde
3. Estrade
4. Auf der Wache
5. Corpus Delicti
6. Das Treffen
7. Der geplatzte Deal
8. Bestie frei Haus
9. Private Investigations
10. Eiskaltes Händchen
11. Buttermilchkuchen
12. Vorfreude
13. Himmel auf Erden
14. Heimat
15. Die Pflicht ruft
16. Überholvorgang
17. Fremdenhass
18. Kleiner Bruder
19. Man kennt sich
20. Geheimniskrämer
21. Ein Rätsel
22. Der Vogelmensch
23. Neugier
24. Starker Mann
25. Das ewige Opfer
26. Abgang
27. Frühstück
28. Mitleidslos
29. Susis Geschichte
30. Unsäglich
31. Das Peter-Prinzip
32. Jim Beam
33. Private Räume
34. Nick Name
35. Kriminalstatistik
36. Loch im Kopf
37. Christine und ich
38. Unter Feuer
39. Kollegen
40. Aufgewühlt
41. UHM
42. Randalierer
43. Auftritt Niels
44. Die Bestellung
45. Unheil
46. Drei vs. Ein
47. Steinschlag
48. Die Araber
49. Ein unschuldiger PC
50. Lauch
51. Querverbindung?
52. Unsoziale Medien
53. Nathalie freut sich
54. Voll süß
55. Gymnastik
56. Araber bei mir
57. Die Burg
58. Harry taucht auf
59. Erleuchtung
60. In der Burg
61. Ärger mit Harry
62. Brainstorming
63. Sergios Traum
64. Reichsbürger
65. Einfühlsam
66. Planung
67. Wehmut
68. Finale
69. Trauer
Epilog: Der tote Sohn
Epilog 2: Strafverfügung I
Epilog 3: Was noch geschah
Epilog 4: Strafverfügung II
Epilog 5: Familie
Verein Krisenberatung Osttirol
Rezepte
Buttermilchkuchen
Kürbiskerntopfen (Gusto Happen)
Frühlingskräuterquark (Gusto Happen)
Möhren auf andalusische Art (Gusto Happen)
GranTyro
Treviso-Salat
Champignonsoße (-creme)
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Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Prolog 1: Du sollst nicht Lügen
Champignonsoße (-creme)
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Prolog 1: Du sollst nicht lügen
13. April 2018 – nachts
Giovannis linkes Augenlid blinzelte. Es zuckte, auf zu, auf zu, auf zu. Zaudernd erwachte er. Um ihn herum war es tiefe Nacht. In seinem Schädel pochte es pausenlos. Ja, es dröhnte ohrenbetäubend und quietschte schrill, wie eine alte Trambahn in einer Eisenbahnunterführung. Der Geschmack auf seiner Zunge erinnerte ihn an vergorenes Sauerfleisch. Eine Reminiszenz an die Küche seiner Mutter.
Sein linkes Augenlid flackerte nun schneller auf und zu. Langsam öffnete sich sein linkes Auge, dann auch das rechte. Sein Hirn nahm widerwillig die Arbeit auf. Es war eigentlich noch im Katastrophenmodus: Ich bin nicht da! Lasst mich in Ruhe!
Es blieb stockfinster. Auch mit zwei geöffneten Augen. Verflucht noch mal, verflucht, verflucht. Es war ganz sicher nicht sein erster Kater. Aber das war verflucht eher ein ausgewachsener Tiger. Er stierte in die totale Dunkelheit. Was er sich nicht erklären konnte, war, wo verflucht bin ich? Wie bin ich hierhergekommen?
Er fühlte seine Arme nicht. Eingeschlafen? Er versuchte sich zu drehen. Seine Arme lagen oberhalb seines Kopfes. Das war ihm schon des Öfteren passiert. Keine Panik! Man muss sich nur aufsetzen, Arme nach unten ausschütteln und Blut in die Arme rinnen lassen. Auf das Kribbeln und das Krabbeln warten. Wieder gefühlig in den Fingerspitzen werden. Einfach wieder funktionsfähig sein. Aber er konnte sich nicht aufsetzen! Sosehr er auch an seinem Körper zerrte. Er war augenscheinlich gefesselt! Verfluchte Scheiße.
Jemand hatte ihn fixiert! An den Knöcheln. An den Hüften und wahrscheinlich auch an den Händen. Eine Vermutung! Von den Händen gab es keine Rückmeldung. Mein Gott! Mein Gott! Mein Gott, ich bin wie ein Paket verschnürt! Ich bin gefangen! Langsam fraß sich diese bittere Erkenntnis durch seine schmerzende Rübe. Aber von wem?
„HILFE. Hallo. H I L F E!“, rief Giovanni zunächst mit heiserer, krächzender Stimme, dann mehr und mehr verzweifelt.
Stille. Absolute Stille. Nix. Kein Ton! Kein Luftzug! Garnix.
Er überlegte, was das Letzte war, an das er sich erinnern konnte. Sein Kopf hatte etwas dagegen. Kleine Heinzelmännchen malträtierten mit Presslufthämmern seinen Schädel von innen. Alles tat ihm weh, und es war entsetzlich laut in seiner Birne. Nein, wenn es mit solcher Pein einherging, dann wollte er sich doch nicht mehr erinnern.
Seine drei Kinder tauchten aus dem Gedankennebel auf: Ines, Ingrid und Isabella, seine Ex-Frau Carmen und ja, seine neue Flamme. Die neue Flamme??? Wie hieß sie noch? Er wusste ihren Namen nicht mehr. Er hatte aber auch erst zweimal mit ihr gevögelt. Note: so lala. Ihr Name war auf seiner Festplatte gelöscht! Egal. Schatz! Schatz geht immer. War ich mit ihr aus? Sie hatte einen Ehemann. Steckte der dahinter?
In seinem Kopf gab es ein schwarzes Gravitationsloch, alle Erinnerungen wurden hineingezogen, nichts kam mehr heraus. Seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Grinsen. Scheiß Alkohol.
Hatte er etwa randaliert? Hatte ihn die Polizei gefesselt? Lag er in einer Arrestzelle? Bei zu viel Alkohol wurde er mitunter handgreiflich. Verdammt, was habe ich getan? Er hatte nicht die leiseste Idee. Sein Kopf war leer. Leer wie sein Bankkonto.
Sein offizielles Bankkonto.
„Bist du endlich wach?“ Eine Mickey-Mouse-Stimme, die aus dem Nichts kam, ließ Giovanni aufschrecken.
„Was soll das? Wo bin ich? Warum bin ich gefesselt?“ Ein Stakkato von Fragen schoss aus seinem Mund. „Binden Sie mich sofort los!“
„Okay! Wach bist du!“, zwitscherte die Mickey-Mouse-Stimme. „Du bist zu Hause. Du bist in der Schweiz. Und du bist gefesselt, damit wir uns gleich eingehender unterhalten können.“ Und nach einer kleinen Kunstpause schob die Stimme nach, ohne die Stimme zu erheben: „Diese Fesseln werden bald dein geringstes Problem sein.“
„Habe ich dir mal in deinen Garten gepinkelt?“
Diese Frage von Giovanni hatte wahrlich eine Berechtigung, gestellt zu werden, denn sie hatte einen sehr realen Hintergrund. Er war nun mal kein Kostverächter und hurte quer durch die Nachbarschaft und den Freundeskreis. Als Tapezierer hat er tagsüber meist Zeit für eine schnelle Nummer, wenn der Hausherr nicht zugegen war. So weit, so gut. Bis die Damen erkannten, dass er nur ein blasierter Macho war. Zwar mit Nehmer-, aber ohne Geberqualitäten. Dann wurde von den Damen schnell ein Schlussstrich gezogen. Aber egal, es gab ja genügend Nachschub. Okay, manche Ehemänner nahmen es nicht sportlich, und er fing sich welche ein. Selbst wenn sie ihre Frauen gar nicht mehr selbst nagelten. Aber warum sollte er immer eine in die Fresse kriegen? Er gedachte, sein Jagdrevier zu erweitern. Und er hatte bereits damit begonnen.
„Wir können das doch wie Männer klären!“, schob Giovanni nach. „Warum dieses Versteckspiel?“
„Versteckspiel? O nein. Das dient ausschließlich deinem Schutz! Du willst doch hier lebend wieder raus? Oder?“
Sichtlich irritiert, stotterte Giovanni: „Was, was willst du von mir?“
„Namen, n u r Namen“, antwortete Mickey.
Giovanni sammelte sich ein wenig und blaffte: „Ich kenne niemand von euch Schwulen!“
„Ich spreche nicht von Schwulen, ich spreche von Pädophilen.“
Wäre der Raum nicht so stockfinster gewesen, wie er nun mal war, hätte man gesehen, dass die letzte Farbe aus Giovannis hagerem Gesicht verschwand. Dafür roch es plötzlich nach Schwefel und nach Spargel. Da ging wohl was in die Hose.
„Ich kenne auch keine …“ Giovannis Stimme versagte.
„Okay, dann kommen wir jetzt zu den Spielregeln!“, dozierte Mickey.
„Eine Lüge ist gleich ein Finger. Wir fangen mit dem kleinen Finger an und arbeiten uns Richtung Daumen vor, wahlweise auch ein Schlag in den Hoden, den brauchst du ja morgen ganz sicher nicht mehr.“
In seinem ruhigen geschäftlichen Ton verkaufte Mickey Giovanni den Verlust seiner Glieder. Und damit im engeren Sinn den Verlust seiner Männlichkeit.
„Ich, ich kenne keine Pädophilen!“, flüsterte Giovanni zaghaft.
„Oach, echt? Als was würdest du dich denn bezeichnen? Mm-hmm?“
Da Giovanni in Starrheit verfiel, plauderte Mickey weiter: „Als Hetero mit einer kleinen Schwäche für kleine Mädchen? Mm-hmm?“
„Ich, ich hatte, ich hatte nie, niemals etwas mit kleinen Mädchen!!! Niemals, ehrlich!“, flennte Giovanni.
„Tja, das weiß ich besser. Ich weiß, dir sagen die Namen etwas: Rosi, Annalena, Marie. Wer hat die Mädchen zu sich ins Bett geholt? Wer war das?“
„Das war aber nur Streicheln.“
„Was streicheln?“
„So am Bein.“
„Und zwischen den Beinen!“, korrigierte Mickey mit leicht erhobener Stimme.
„Aber nur mit Annalena und Marie, mehr war nicht!“, röchelte Giovanni.
„Das sind schon zwei zu viel!“, donnerte die Stimme von Mickey, als eine Hand die Schulter von Giovanni mit hartem Griff fixierte.
Giovanni war verwirrt, die Mickey-Mouse-Stimme kam direkt von vorn auf ihn zu. Sicher mit einem Abstand von fünf bis sechs Meter. Wem gehörte dann die Hand? Waren hier zwei Typen oder noch mehr am Werk? Der Fremde nahm seine Hand und schüttelte den ganzen Arm. Das Blut schoss hinein.
Mickey plauderte so ganz nebenbei: „Du sollst ja was davon haben!“, als säße er bei einem Kaffeekränzchen. Giovanni versuchte, sich durch ruckartige Bewegung loszureißen, aber er war eingespannt wie in einem Schraubstock. Der Typ musste übernatürliche Kräfte haben. Gut, er selbst war zwar groß und schlank, aber allzu viel Muskelmasse hatte er nicht.
„Was, was haben Sie vor?“, stotterte Giovanni.
„Du hast nix gemacht, ich mach auch nix. Fast nix. Sag tschüss.“
„AUAAAHHH“, schrie Giovanni, „was war das?“ Etwas Kaltes hatte in seinen kleinen Finger gekniffen.
„Jetzt kannst du mit deinen Fingern nur noch bis neun zählen! Das sollte aber zum Tapezieren reichen!“, ulkte Mickey, „das kommt davon, wenn man lügt.“
„Du Schwein, du erbärmliches Schwein!“, jammerte Giovanni. „Was willst du von mir?“
„Ich wiederhole mich ungern. Namen von Pädophilen. Verstanden, Manzoni?“
Giovanni Manzoni schluckte. Die Mickey-Bestie kannte seinen Namen. Giovanni räusperte sich mehrfach und versuchte, ohne Emotion zu antworten.
„Ich kenne keine Namen von Pädophilen.“
Seine Aussage ging in einen tierischen Schmerzschrei über. Irgendwer hatte ihm mit einem harten Gegenstand in den Hoden geschlagen. Er hätte sich zusammengekrümmt, wenn er nicht gefesselt gewesen wäre. So blieb ihm nur zu wimmern. Tränenflüssigkeit sammelte sich in seinen Augen, bis der Damm brach und das Tränenwasser an den Ohren vorbei zu Boden tropfte.
„Manzoni, Manzoni! Du hast es in der Hand, ich bekomme Namen! Dafür bekommst du Freiheit. Ich bekomme keine Namen! Dann bist du nutzlos, wie ein Tapezierer in einem Iglu. Exitus. Verstanden?“
Mickey betonte jede Silbe von „Ver-stan-den“.
„Aber ich kenne doch keine Pädophilen persönlich, auch nicht vom Hörensagen.“
„Okay, selbst schuld!“, referierte Mickey frostig, „und nicht vergessen: furt ist furt.“
Wieder wurde er gekniffen und sein Ringfinger war ab.
Giovanni heulte los. Alles tat ihm weh. Sein Kopf konnte vor Schmerzen nicht mehr denken.
„Schau, du verlierst deine Finger, einen nach dem anderen. Weil du ein gottverdammtes, verlogenes Schwein bist! Also bist du: Selbst schuld! Okay, ich helfe dir, aber dann musst auch du mir helfen. Okidoki? Lass uns mal über das Darknet reden.“
Giovanni erstarrte mit dem Rest seines Körpers. Woher wusste der das? Wie kann der das wissen?
„Nenn mir Namen und ihre Kontaktadressen, los Manzoni.“
„Ich habe nur eine. Das musst du doch auch wissen, du weißt ja auch sonst alles. Es ist eine Adresse in Tirol, in Österreich.“
„Darknet-Name?“
„Ich denk ja schon fieberhaft nach. Warte! Ich kann mich nicht mehr erinnern“, greinte Giovanni.
„Soll ich nachhelfen?“
„NEIN. NEIN. Bitte, bitte nicht. Grube, irgendwas mit Grube und …“
Er überlegte fieberhaft. „Loch in der Grube.“
„Klarname?“
„Habe ich nicht.“
„Wie habt ihr euch versichert, dass es kein Fake ist? Und die Bullen am anderen Ende stehen?“
„Ich habe ihm 500 Euro für ein kurzes Movie mit einem Mädchen geschickt.“
„Gut. Adresse?“
„Seine Adresse habe ich nicht, wir treffen uns an einer Tankstelle am Eingang zu einem Tal. Wildbachtal. Oder so!“ Manzoni wimmerte leise vor sich hin.
„Wildbachtal?“, wiederholte Mickey.
„Ja. Genau so hieß es! Ja, genau!“
Seine Stimme wirkte erleichtert, froh, dass ihm der Name eingefallen war.
„Sehr interessant!“
Fast klang es so, als fände Mickey das amüsant.
„Was ist der Preis? Hat er ein Bild von dir? Woran erkennt ihr euch?“, hakte Mickey wieder im sachlichen Ton nach.
„8000 Schweizer Franken. Ein Bild? Nein, natürlich nicht, bin ja nicht blöd.“
„Ach!“ Und nach einer kleinen Pause. „Und es ist für ein Mädchen?“
„Ja! Sie ist 12 Jahre, blond, eingeritten.“
„Wann und wo?“
„Ca. um 9 Uhr am 16. April mit einem Worldcar Leihwagen mit Schweizer Nummer. Also am Montag, 16. April, an der Tankstelle. Daneben wäre ein Café.“
„Gut. Dir ist klar, dass dieses Treffen nie stattgefunden hat.“
Giovanni spürte die Zange um seinen Mittelfinger.
„Ja! Äh. Also nein. Hat nicht stattgefunden. Nein! Bitte nicht!“, und dehnte das „nicht“ in ungeahnte Länge. „Ich erzähle nix. Niemand. Ehrlich.“
Die Zange ritzte die Haut auf.
„BITTE!“, auch dieses „Bitte“ wurde lang und länger.
„Solltest du von diesem Schwur zurücktreten, werde ich dich finden. Ob bei deinen Kindern, wenn sie dich denn aufnehmen, oder sonst wo. Ich finde dich! Lass die Finger von den Kindern, sonst werde ich dich töten. Jetzt schlaf gut. Und geh nach dem Aufwachen in ein Krankenhaus.“
Giovanni spürte einen Stich in seinen Oberarm. Er hörte noch die letzte Anweisung, verdrehte die Augen und fiel in tiefen Schlaf.
Prolog 2: Das Gelbe vom Ei
14. April 2018 – sehr früh morgens
Giovanni Manzoni blinzelte ins Sonnenlicht, das durch die sauber geputzten Fensterscheiben fiel. Erst nach und nach registrierte er sein Umfeld. Er lag, ohne Frage, in seiner eigenen Werkstatt, auf einem Feldbett, das ihm schon gute Dienste geleistet hatte. Wie konnte das sein? Wie wurde ich hierhergebracht? War alles nur ein schrecklicher Traum?
Seine linke Hand lag neben ihm und war dick in Gaze eingewickelt. Kein Traum. Wummernder Schmerz wurde an sein Hirn geleitet. Er richtete sich mühsam auf. Er war zwar nicht mehr gefesselt, aber seine Linke konnte ihm beim Aufrappeln nicht helfen. Er rieb sich die Fesseln und dann die Handgelenke. Aus seinem Unterleib drang dumpfer Schmerz in sein Hirn. Sein Gemächt war verpackt. Er fühlte seinen Schwanz. Er war da! Gott sei Dank! Tief zog er die kühle Luft ein.
Giovanni tastete nach seinem Hoden. Wo waren seine Eier? „Du Schwein!“, schrie er und heulte los. Kalte Wut stieg in ihm auf.
„Du Schwein, du Schwein!“
Vibrierende Panik erfasste ihn. Er musste schnellstens ins Krankenhaus. Aber mit welcher Geschichte? Verdammt! Oh, verdammt!
„Mit welcher Geschichte?“
1. Ein Fingerzeig
Sergio Berner
16. April 2018 – 7:30 bis 8:10
Wenn nicht jetzt, wann dann. Ich stand am geöffneten Fenster. Der Himmel wolkenlos und azurblau. Die Luft war frisch, klar und kalt. Es war diese knochentrockene Kälte, die einem die wahre Kälte verschwieg. Aber kleine Nebelwölkchen aus meinem Mund verrieten, nolens volens, die frostigen Temperaturen.
Mein Blick trug mich vom Gasser Horn in der Lasörling Gruppe über den Talboden zur Kapelle St. Leonhard und hinauf zum Skigebiet. Meine Augen blieben an der Lawinenverbauung unter dem Kleinen Leppleskofel hängen. In den 80er-Jahren waren hier noch traumhafte Tiefschneeabfahrten möglich. Aber jetzt verhinderte rostiger Stahl ein genussvolles Powder Skiing. Sicherheit für die Talbewohner geht nun mal vor.
Es roch nach Kaffee, es roch nach frisch gemahlenem Kaffee. Wahrscheinlich hatten die Mädels, die in der Wohnung unter mir wohnten, einen infiltriert.
Nachts hatte es leicht geschneit, die Bergspitzen waren weiß gepudert, wie der Kaiserschmarrn auf meiner Lieblingshütte. Die weißen Berggipfel hoben sich tourismus-malerisch vom blauen Himmel ab. Ich hatte mir mein Jogging-Dress angezogen, sowie mein altes Stirnband und meine Windblocker-Handschuhe gegriffen.
Ich öffnete die Haustüre und freute mich auf die Schinderei. Jedenfalls vor dem Laufen! Langsam trabte ich los. Auf der Sonnenseite des Tales, entlang dem Trojerbach, auf asphaltierter Straße. Natürlich mit der gebotenen Rücksicht auf meinen alternden Körper. Endlich dem vernachlässigten Leib wieder die Sporen geben. Fast ein halbes Jahr hatte ich meinen Arsch nicht mehr gehoben. Okay, wenn Zeit neben der Arbeit blieb, machte ich Gymnastik und pumpte Eisen. Aber für meine Ausdauer trainierte ich nicht. Fehlende Freizeit. Es sei denn, man betrachtet 12 bis 15 Stunden in einer Bar zu stehen, als Ausdauersport.
Ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Berner, Sergio Berner. Ich bin Geophysiker und habe vor vier Jahren eine Bar, neudeutsch Lounge, hier in Sankt Martin gepachtet. „Dal Anziano“ habe ich die circa Bar getauft. Für die Interessierten ein Grund zum Googeln. Für die Italophilen, wenn sie meiner ansichtig wurden, ein verständnisvolles Schmunzeln.
Offiziell ist die Bar von 9 bis 11 Uhr und von 15 bis 23:59 Uhr geöffnet. Aber wer kann so herzlos sein, beim Anblick Dürstender eine Oase zu schließen.
Mein linkes Knie schmerzte. Das beunruhigte mich nicht. Noch nicht. Der Schmerz würde sicher bald verschwinden und an einer anderen Stelle wieder auftauchen. Oberschenkel, Hüfte waren übliche Anlaufstationen. Ich nenne es Wanderschmerz und er begleitet mich seit über 20 Jahren. Vielleicht war er ein mahnendes Andenken an meine Marathonläufe? Möglich. Ich wollte es gar nicht wissen. Ich wollte es missen. Mein Capoeira- und Taekwondo-Training waren wahrscheinlich auch nicht ganz schuldlos. Und die Regeneration eines 65-Jährigen dauert nun mal seine Zeit. Egal, wie fit der alte Knabe vor Generationen war.
Mir kam Winston Churchill und sein berühmter Spruch „No sports“ in den Sinn. Mit dieser Ansage versuchten auch einige meiner Stammgäste, mich vor der völligen, selbst verschuldeten Lahmlegung meines Körpers retten zu müssen.
Ich überquerte den Trojerbach und ließ die sogenannte Wolfsschlucht, die der Trojerbach in Jahrmillionen hier tief eingegraben hat, rechts liegen. Die Schlucht wird zurzeit durch eine Muren-Verbauung entmystifiziert. Als hätte man eine Werwolf-Statue in die Gemeindekirche gestellt. Aber es war nun mal der geeignetste Platz, um die Gemeinde Sankt Martin vor Geröll- und Muren-Abgängen zu schützen. Alpine, architektonische Bebauungsschönheit war nicht gefragt. Es war betonierte Hässlichkeit.
Ich folgte nun vorsichtig der steil bergan gehenden Straße Richtung Gasthaus Trojen. Denn der Asphalt war teilweise extrem rutschig. Zurück wollte ich gehen. Trotz eisernen Willens, am ersten Tag sollte man achtsam sein. Abwärts Joggen geht auf die Knochen. Dafür hatte der alte Churchill leider keine Ratschläge hinterlassen.
Aber was die wenigsten wissen, Churchill stand auf dem Wetterhorn im Berner Oberland. Auf 3692 Meter und damit 250 Meter höher als auf unserem höchsten Gipfel, dem Hochgall. Ich schmunzelte, soviel zur Wahrheit: No sports. Neudeutsch ein Fake.
Ich trabte weiter und war stolz, meinen Arsch gehoben zu haben. Arsch hoch. Augenblicklich kam mir der Titelsong des Konzerts Arsch huh, Zäng ussenander von BAP, der Kölner Kultband, in den Sinn. Schöne Assoziation. Ich sang und summte über meine Wehwehchen hinweg, dabei nicht immer textsicher. Kein Wunder, dieses Wahnsinnskonzert fiel vor über 20 Jahren in die reale Welt. Und verdammt noch mal, es war damals nötig und es ist heute nötiger denn je. Die neobraune Pampe kochte wieder viel zu häufig über.
Wie wöhr et wenn du dämm Blaumann jetz sähs,
dat du Rassistesprüch janit verdrähs?
Wenn du en vüür dä Lück blamiers,
endämm du’n einfach oplaufe löhß?
Un övverhaup: wemmer selver jet däät,
wemmer die Zäng ens ussenander kräät?
Nicht überraschend, dass bei diesem Text mein Text einige Lücken aufwies. Doch der Refrain ging mir hechelnd über die Lippen.
Wenn mir dä Arsch nit huh krieje,
ess et eines Daachs zu spät.
Mit feuchten Augen trabte ich weiter bergan. Ich blickte nun Richtung Ende des Wildbachtales, auf den langen Grat des Pfannhorns, das halb verdeckte Almerhorn und all die anderen stillen Wildbacher Berge.
„Ein Finger?“, schoss es mir durch den schläfrigen Kopf! „Da lag doch ein Finger auf dem Asphalt?“
Ich blieb stehen. Der Bremsweg war bei der Steilheit des Weges sehr kurz. Ich drehte mich zögernd um und scannte mit meinen tränenden Augen suchend den Boden ab. Ein weißes Würstchen mit einem Fingernagel glaubte ich, aus meinen Augenwinkeln, gesehen zu haben.
Madre mia, meine Synapsen leiteten meine Wahrnehmung durch meinen grau behaarten Schädel zu den benötigten Nervenzellen. Das kann bei Billionen von Synapsen natürlich etwas dauern. Zumal es ja doch recht frisch war.
Aber es war eindeutig, das war tatsächlich ein …. Ich schluckte. Ein, äh blasser, blutleerer Finger mit einem manikürten Fingernagel. Ich kniete nieder und griff nach dem Objekt.
„Spinnst du? Das ist ein Beweisstück.“ Meine innere Stimme riss mich verbal zurück.
„NICHT anfassen! LIEGEN LASSEN!“
Auf jeder Silbe betont.
„Uuhps! Gabs hier etwa einen Unfall, ein Verbrechen?“ Eine zweite, weichere, zweifelnde innere Stimme brachte sich ein.
„Wer verliert einen Finger und merkt es nicht? Nicht sehr wahrscheinlich. O nein!“, antwortete geringschätzig die erste innere Stimme.
„Vielleicht wurde der Finger nicht so schnell gefunden und die Person hatte sich schon notfallmäßig auf den Weg in die Klinik nach Lienz gemacht. Kann doch sein!“
„Oder auch nicht!“
Meine inneren Stimmen analysierten aus meinem Bauch heraus. Haben innere Stimmen ein Geschlecht? Kann dieses Geschlecht vom umhüllenden, eigentlichen Geschlecht abweichen? Gibt es also so etwas wie die Frau im Mann? Das Kind im Mann gibt es ja schon. Eine dritte Stimme meldete sich: „LIEGENLASSEN. Was geht uns der Scheiß an? Du wolltest joggen. Äh. Also, wir wollten Joggen!“
„Hm-hmm! Was denn jetzt?“, sprach ich laut zu mir. Äh? Zu uns. O Gott!
„Hier ist ein Mord passiert!“, raunte Stimme Nummer eins.
„Mord? Gehts nicht ’ne Nummer kleiner?“ Leicht hysterisch No. 3.
„Sachte ihr zwei, wir müssen den Tatort sichern“, entschied No. 2.
„Es ist vielleicht ein Fingerzeig! – Für uns alle?!“, rätselte geschwollen No. 1.
„Dann warten wir, bis jemand kommt!“
„Blödsinn, hier kommt nur alle Jubeljahre einer vorbei.“
Ich hatte den Überblick über meine inneren Stimmen verloren.
„Ich bleibe da und warte, bis jemand kommt“, schlug ich vor.
„Blödsinn. Das kann dauern. Um 9 musst du dein Lokal öffnen.“
Stimmt. Um 9 Uhr habe ich einen allmorgendlichen Herren-Stammtisch. Die Honoratioren von Sankt Martin und teilweise auch aus Sankt Valentin tauschten sich bei mir über das Tagesgeschehen aus.
„Ich nehme den Finger mit und bringe ihn der Polizei.“ Ich fand meinen alternativen Vorschlag sinnvoll.
„Blödsinn, dadurch zerstörst du den Tat- bzw. Fundort.“
„Ich hole die Polizei und lass den Finger liegen.“
„Schwachsinn, dann holt der Fuchs den Finger. Dann kannst du ja genauso gut weiterlaufen.“
„Mal was ganz anderes, hast du dein Klugscheißer-Telefon dabei?“, wollte eine innere Stimme wissen.
Ich überlegte und ich suchte! Beide Handlungsstränge kamen zum selben Ergebnis. Nein.
Gelächter aus meinem Innersten.
„Ruhe!“ Ich war selbst über meinen lauten Ausruf überrascht. Rational war er nicht, aber es half. Meine inneren Stimmen hielten den Rand. Als ich nochmals in mich hineinhörte, war da nur noch ein leichtes Glucksen zu hören. Vielleicht war es aber auch nur mein ständiger Begleiter: Tinnitus.
Ich hatte mir für meinen Abstieg eine Jacke um die Hüfte gebunden. Die zog ich aus, steckte den Finger in die Seitentasche und zog den Reißverschluss zu. In der Hoffnung, der Finger würde durch den fusseligen Inhalt meiner Jackentasche nicht allzu sehr kontaminiert. Mit zügigem Schritt ging ich Richtung Gemeindehaus.
Auf der Gemeinde hatte die Polizei ein Büro im ersten Stock, das aber maximal unregelmäßig besetzt war. Das Ergebnis: Die Polizei ist nicht da, wenn du sie brauchst. Sie kam meist aus Matrei und brauchte für die Strecke etwa 20 Minuten. Ich benötigte nur noch etwas mehr als 5 Minuten, um das weiße Gemeindehaus zu erreichen. Die Treppe hochgehastet. Doch die Tür zum Polizeioffice war, wie erwartet, abgeschlossen. Ich blickte auf meine Sportuhr: 8 Uhr 10. Ich hatte noch ein bisschen Zeit.
2. Auf der Gemeinde
Sergio Berner
16. April 2018 – 8:10 bis 8:30
Auf dem Flur schräg gegenüber dem Polizeioffice war das Gemeindebüro. Ich klopfte in froher Erwartung an, ging, ohne auf eine Aufforderung zu warten, hinein und rief forsch: „Guten Morgen allerseits.“ Um mich umgehend nonverbal zu entschuldigen. All diese offiziellen Schreibtischtäter der Gemeinde, wie der Bürgermeister oder der Kassierer, waren zwar schon da, aber taten das, was man in Büros halt so macht, wenn man gerade keine richtige Aufgabe vor sich liegen hat. Man hat einen Hörer am Ohr.
„Guten Morgen!“, rief ich daher nochmals beinahe lautlos den Dienern der Gemeinde zu und winkte fröhlich mit einer kreisenden Handbewegung.
„Guten Morgen!“, kam es tröpfchenweise aus dem Schlauch der vier Büros zurück. Als sie jeweils aufgelegt hatten.
„Alles klar, Sergio?“, hauchte Carmencita, die sehr hübsche, große, brünette, wohlgeformte Gemeindesekretärin. Ich atmete tief ein, strahlte sie an und atmete aus.
Nix war klar, aber das behielt ich für mich.
„Weiß einer, ob unsere Sheriffs hier heute noch mal reinschauen?“, fragte ich naseweis in die Runde.
„Ja, die sollten eigentlich schon da sein“, wusste die schon zu dieser frühen Stunde äußerst Attraktive. „Haste Stress?“ Sie lächelte mich blauäugig an.
Ich schüttelte wortlos den Kopf. Wenn ich jetzt hierbleiben würde, würde ich meinen ganzen Charme, auspacken und der Tag hatte noch gar nicht richtig begonnen. Ich warf ihr eine Kusshand zu, verdrehte die Augen und murmelte beim Verlassen des Raumes etwas wie: „Muss leider, leider mit den Henkersknechten reden“, und deutete Richtung Polizeibüro.
Carmencita schenkte mir ihr süßestes Lächeln und ich schmolz dahin, wie eine Kugel feinstes Vanilleeis in heißem Motoröl.
Ich ließ mich auf der Bank gegenüber dem Sheriff-Büro nieder und machte es mir bequem. So bequem, wie man es sich auf einer zu kleinen, harten Holzbank machen kann. Und machte das, was ich, ohne was zu lesen, nicht gut kann. Ich wartete.
In meinen Gedanken schickte ich einen schönen Gruß an Burke, den Privatschnüffler ohne Lizenz von Andrew Vachss, dem Autor und Anwalt. Burke hat das Warten im Knast gelernt. Ich verfüge aber nicht über diese Erfahrung.
Wobei Wissenschaftler herausgefunden haben, dass das Warten in Wartezimmern kreatives Denken fördert. Natürlich nur, wenn man nicht auf ein Smartphone glotzt.
3. Estrade
Sergio Berner
Rückblick
Vor 3 Jahren brauchte ich die Polizei schon einmal. Nur, damals wesentlich dringender. Es war kurz vor Mitternacht. Ich stand in meiner Bar Anziano. Eine anerkannte Oase für gehobene Gastronomie - seit meiner Übernahme!
Das Anziano war von Beginn an ausgestattet mit ausgesuchten Materialien wie Stoffen, Holz und Leder. Es fehlten die adäquaten Genüsse: edle Getränke. Edle Speisen. Zur edlen Optik.
Meine letzten drei Gäste saßen am Tresen und bearbeiteten eine Flasche Bacardi unter Zuhilfenahme einer Big Bottle Coke. Alle drei waren Angestellte eines Hotels in Südtirol. So weit, so gut. Der Längste von ihnen, Paul, dunkelhaarig, schlank, ca. 1,90 Meter und Chef de Salle, beschimpfte den Kleinsten, Rudi, ca. 1,70 Meter, seines Zeichens Küchenhilfe. Rudi, ein in die Jahre gekommener Hardrocker, überzogen mit stümperhaften Tattoos, die einst mit guten Vorsätzen begonnen wurden, aber nie den finalen Stich verspürten! Oder gleich von koksenden Dilettanten gestochen worden waren. Sein spärlicher Haarwuchs war vorn wirr und zottelig, am Hinterkopf trug er eine Andeutung eines Pferdeschwanzes.
Und zu allem Überfluss zahlte er seiner Frau Unterhalt. Für Paul war es Grund genug, ihn mit Tiraden einzudecken. Er wäre ein kompletter Idiot, ein verblödeter Hirni und natürlich ein Schwuler.
Der Dritte war Sebastian, genannt Basti, Chefkoch, ca. 1,75 Meter, dürr, blass, ohrberingt, war quasi Stammgast im Sommer, wenn der Pass nach Italien befahrbar war. Er war immer gut drauf, weil immer auf Droge. Alkohol, Hasch, Speed. Oder mit Cocktails, die nicht an einer bürgerlichen Bar gemixt worden waren. Wenn ich das Licht ausgeschaltet hätte, seine rot leuchtenden Augen hätten genügt, die Bar zu erhellen.
Zusammengefasst ließ sich sagen, vor mir saßen nicht meine Wunschgäste. Aber immerhin gute Konsumenten. Ich entschied mich, ihre Besuchszeit nicht unnötig zu verlängern.
„Jungs, last Order, ich mach in 15 Minuten Schluss“, forderte ich die drei Vögel auf.
„Wir ziehen noch eine Ziggy durch, trinken aus und sind vor dem Zahlen weg“, entgegnete Paul und griente.
Ich verzog meine Mundwinkel und grinste zurück. Nach einigen Jahren in einer Bar kennst du jeden blöden Spruch.
„Okay, dann bis gleich. Stolpert nicht über die Schwelle!“
Die drei trotteten von meiner Tankstelle ins Freie.
Nach einer Zigarettenlänge erschienen die drei ungleichen Gefährten wieder. Innerlich neu geteert. Basti und Rudi gingen direkt zum Tresen und pflanzten sich nieder.
Paul schlug den Weg zur Toilette ein. Doch sein Ziel war einer der schweren Stühle am Kopfende des Mitteltisches. Dieser stand auf einer ca. 15 Zentimeter hohen Estrade. Dort baute sich Paul auf, nun noch größer, schwenkte den Stuhl in der Luft und brüllte: „Du bist das allerdümmste, schwule Riesenarschloch in Tirol!“
„Hey, das sind nicht die Bretter, die die Welt bedeuten. Und du bist nicht der Schiller“, rief ich ihm zu. „Stell den Stuhl wieder hin!“
Ich versuchte die Situation ironisch zu deeskalieren. Wahrscheinlich kannte er aber keinen Schiller und warf ohne weitere Ansage den Stuhl gegen die Stehtische am Eingang.
„Hör sofort auf“, brüllte ich auf ein Neues und rannte auf ihn zu. Fünf Meter im Nullkommanix.
„Stopp!“
Er schien mich nicht ernst zu nehmen. Paul nahm den Stuhl wieder auf und schwang ihn wie ein Lasso über dem Kopf. Ich wich dem kreisenden Stuhl durch einen Rückwärtsschritt aus und hakte bei der Estrade ein. Außer zum drüber stolpern war dieses verfickte Ding zu nix nutze. Zum Glück konnte ich mich mit der linken Hand am Boden in den Capoeira-Hockstand Negativa retten. Und vermied, dass mein zartes Popöchen auf den gekachelten Boden knallte. Dafür durchzuckte meine linke Hand ein stechender Schmerz.
86 Kilo morgens sind eben abends 90 Kilo. Aber ich konnte aus dieser Lage direkt zum Konter übergehen. Mit einer Viertelkreisdrehung meines gestreckten rechten Beines schlug ich Paul mit einem Rosteira in Wadenhöhe von den Füßen.
Je größer sie sind, desto tiefer fallen sie. Nach einer weiteren 90-Grad-Drehung hätte ich ihm noch einen Fußtritt verpassen können, doch er lag schon wie Kafkas Käfer auf dem Rücken. Tja, meine schwungvolle Ausführung, dieser Capoeira-Grundübung, unterstützt durch Pauls nicht zu vernachlässigendem Genuss von Bacardi, brachte ein für mich akzeptables Ergebnis. Ich war mit mir zufrieden und schüttelte meine schmerzende linke Hand.
Nach einer weiteren Drehung um 180 Grad stand ich über ihm von Angesicht zu Angesicht. Schwungvoll setzte ich mich auf Pauls Brustkorb. Seine Atemluft schoss mir entgegen. „Puuh!“ Es stank, wie aus einer mit Fusel gefüllten Kloake. Mit beiden Händen hielt ich die Handgelenke von Paul fest. Er war sichtlich bemüht, das Geschehene zu verarbeiten. Zumindest begriff er relativ rasch, dass sich seine Situation gerade massiv verschlechtert hatte. Wild versuchte er sich zu drehen und sich aus der misslichen Lage zu befreien.
„Halt dich ruhig, sonst tuts weh.“
Ich drückte mein rechtes Knie in Pauls Bizeps und holte zum Schlag mit der rechten Hand aus. Ich würde nicht schlagen, aber das wusste Paul nicht. Denn Paul hatte bei Bedarf möglicherweise zwei Zeugen. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Ich hatte, bei nüchterner Betrachtung, keinen Zeugen. Paul starrte mich ungläubig an. Hier lag ein großer kräftiger Junge auf kalten Steinfliesen, und auf ihm saß ein alter Knochen mit langen grauen Haaren.
Mir kam Dean Martin in den Sinn. Ob die Assoziation durch Pack1 kam oder durch den hingestreckten Paul, interessierte mich im Augenblick nicht. Auf jeden Fall passte sein Bonmot:
Ein Mann ist so lange nicht betrunken,
solang er auf dem Boden liegen kann,
ohne sich festhalten zu müssen.
Zu meiner eigenen Sicherheit musste ich ihn festhalten. Paul nutzte die Zeit, um das zu verdauen, was er gerade gesehen und erlebt hatte, und um eine sinnvolle Frage zu formulieren.
„Was war das für ein Karate-Scheiß?“
„Kein Scheiß, brasilianisches Karate, also bleib bitte schön liegen, sonst zeige ich dir noch ein paar andere Übungen.“
„Fick dich! Lass mich los, du Arsch, ich will aufstehen.“