Heiliger Krieg -  - E-Book

Heiliger Krieg E-Book

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Beschreibung

Der Band versammelt Beiträge zum Thema des "Heiligen Krieges" u.a. im Deuteronomium, bei Sacharja, im 1. Makkabäerbuch, in der Kriegsrolle von Qumran und in der Johannesoffenbarung, ergänzt durch einen Abriss zu Kriegskonzeptionen bei Griechen und Römern. Moderne komparative Kontexte kommen mit dem spiritual warfare im westafrikanischen Christentum zur Sprache, aber auch in der "Geistlichen Anleitung" der Attentäter vom 11. September 2001 sowie in Begründungen des bewaffneten Kampfes in der Roten Armee Fraktion (RAF). Deutlich wird zumal in den antiken jüdischen und christlichen Texten, dass entweder religiöse Deutungen erst in der historischen Retrospektive greifen oder dass das Medium des Textes in liturgischer Inszenierung und apokalyptischer Imagination den realen Krieg substituiert. Umgekehrt kann aber auch äußerste Gewalt in ihren extremsten Momenten als liturgische Handlung und spirituelle Übung aufgefasst und so überhaupt erst durchführbar werden (Anschläge von 9/11). Oder aber eine radikale Minderheit sieht sich an der Epochenschwelle eines weltweiten Befreiungskampfes in unbedingter historischer Verantwortung (RAF). Die Beiträge des Bandes sind je für sich und in der Zusammenschau vielfältig anschlussfähig an religions-, sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurse.

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Seitenzahl: 570

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Manuel Vogel / Günter Röhser

Heiliger Krieg

Antike Texte – moderne Kontexte

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057873

 

© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0939-5199

ISBN 978-3-7720-8787-5 (Print)

ISBN 978-3-7720-0223-6 (ePub)

Inhalt

VorwortEinleitungTeil I Antike TexteSakralisierung des Krieges im Alten Testament?Raik Heckl1 Heiliger Krieg im Alten Israel2 Der Vollzug des Bannes im Kontext des Alten Israels3 Der Bann in der dtr Geschichtskonstruktion (Dtn 2f.)4 Das Motiv der Vernichtung der Völker des Landes in Dtn 7 und 20 und seine Funktion5 Die Rede vom Bann als Mittel zur Relativierung von Gewaltdarstellungen6 Schlussbemerkungen7 LiteraturErst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit1 Redaktionelles oder eschatologisches Chaos?2 Sach 9-14 im Spiegel jüdischer und spätägyptischer Endzeitspekulationen3 Das Heilige und der Krieg4 LiteraturverzeichnisDer „Heilige“ und der „Gerechte“ Krieg1 LiteraturverzichnisDer „Heilige Krieg“ im ersten Buch der Makkabäer1 Das Problem der Historizität2 Die Feldzüge des Judas Makkabaios3 Traditionsbindung und Autorisierung4 LiteraturWas will ein Endzeitkrieg?1 „Heilig“ (קדש) und „Krieg“ (מלחמה) in der hebräischen Bibel2 „Heilig“ und „Krieg“ in 1QM3 Liturgische Abhandlung, Kriegshandbuch oder Apokalypse: Was ist 1QM?4 1QM: Krieg und Theologie5 Ausblick: Krieg und Emotionen6 LiteraturHeiliger Krieg in der Johannesoffenbarung1 Einführung2 Erstes Zwischenfazit und weiterer Verlauf3 Weitere Texte: Apk 11,3-13; Apk 12,7-17; Apk 12,18-13,10; Apk 19,11-214 Ergebnis5 LiteraturTeil II Moderne KontexteSpirituelle Kampfführung1 Einführung2 Spirituelles und kommunalistisches Weltwissen in Westafrika3 Spiritual warfare4 Resümee5 LiteraturDie „Geistliche Anleitung“ der Attentäter des 11. September*Wege in die Radikalität1 Einführung2 Einleitung: Systematisierende Textcollage3 Texte4 LiteraturAutoren dieses Bandes

Vorwort

Dieser Band geht zurück auf die erste Tagung einer vierteiligen Tagungsreihe zum Thema „religiöser Radikalismus“. Die Reihe wurde veranstaltet von einer Projektgruppe in gemeinsamer Verantwortung der Fachgruppen Altes Testament (Prof. Dr. Raik Heckl, Leipzig; Prof. Dr. Andreas Kunz-Lübcke, Hermannsburg) und Neues Testament (Prof. Dr. Manuel Vogel, Jena; Prof. Dr. Johannes Woyke, Flensburg) der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh).

Die vier Tagungen fanden von 2017 bis 2020 in der Ev. Familien- und Bildungsstätte Ebernburg (Bad Münster am Stein/Ebernburg) statt. Behandelt wurden die Themenkreise „Heiliger Krieg“, „Eifer“, „Kritische Diskurse zu Radikalismus und Gewalt“ und „Dissidenten und Außenseiter“. Die Bände der zweiten1 und vierten2 Tagung liegen bereits vor, der Band der ersten Tagung wird hiermit vorgelegt.

Zu danken ist der WGTh für die Aufnahme der Tagungsreihe in ihr Programm und für die großzügige Förderung der Tagung. Zu danken ist sodann den Mitherausgebern der TANZ für die Zustimmung zur Aufnahme des Bandes in die Reihe und dem Lektor Herrn Stefan Selbmann für seine Sorgfalt und schier unendliche Geduld.

 

Manuel Vogel    Jena, im September 2024

Einleitung

Manuel Vogel

Der Terminus „Heiliger Krieg“ kommt in den biblisch-jüdischen Quellentexten, die in den Beiträgen dieses Bandes untersucht werden, nicht vor. Er ist nur im klassischen Griechisch belegt, und das recht undeutlich. Beschreibungssprachlich ist es aber üblich, hilfreich und angemessen, im Sinne des heuristischen Zugriffs das Schnittfeld von Krieg und Religion kultur- und zeitübergreifend so zu bezeichnen: Gefragt wird nach religiösen Motivationen und Begründungen von Krieg und nach kriegerischen Ausprägungen religiöser oder religiös konnotierter kultureller Sinnsysteme. Die Beiträge des vorliegenden Bandes bewegen sich in seinem ersten Teil („antike Texte“) im Bereich der altvorderorientalischen und hellenistisch-römischen Antike. Im zweiten Teil („moderne Kontexte“) geht es um das westafrikanische Christentum, um gewalttätigen Islamismus und um den als „Krieg“ aufgefassten bewaffneten Kampf der RAF und verwandter Gruppen. Die Zweiteilung ist zunächst wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich begründet: Wo begegnen Motive des „Heiligen Krieges“ aus Texten der israelitisch-jüdischen Tradition in modernen Rezeptionskontexten wieder? Aber auch abseits traditionsgeschichtlicher Brückenschläge kann der Einblick in völlig anders geartete Begründungszusammenhänge für Konzeptualisierungen des eigenen Handelns als „Krieg“ dazu anregen, neue Fragen an die alten Texte zu stellen, oder aber dazu, den historischen Kontext des eigenen Rezeptionsstandpunktes auszuleuchten und besser zu verstehen.

 

Am Beginn des Bandes steht der Beitrag Sakralisierung des Krieges im Alten Testament? von RAIK HECKL. Heckl setzt sich kritisch mit der von Jan Assmann in die Diskussion gebrachten Unterscheidung von „primärer“ und „sekundärer Religion“ auseinander. Primäre Religion sei, so Assmann, tolerant und vermittelnd, sekundäre Religion (in Gestalt von Judentum, Christentum und Islam) neige dagegen zu Intoleranz, Gewalt und Krieg. Mit dem Motiv des „Banns“ im Deuteronomium, der im Rahmen der „Landnahme“ an den eroberten Städten und Gebieten zu vollstrecken ist – man würde heute von Genozid sprechen – untersucht Heckl Texte, die zunächst geeignet erscheinen, Assmanns These zu stützen, geht es hier doch um religiös begründete äußerste Gewalt in einem von der Gottheit befohlenen Krieg. Aufschlussreich sind nun aber die von Heckl aufgeführten Parallelen aus der Mescha-Stele, v. a. das Motiv der totalen Ausrottung der besiegten Bevölkerung. Der Vergleich zeigt: Das Motiv ist weder kennzeichnend „monotheistisch“, noch überhaupt einlinig „religiös“. Zwar spielt „Religion“ in den Texten des Deuteronomiums und der Mescha-Stele eine tragende Rolle, aber nicht anders, als dies in allen anderen Lebensbereichen der altvorderorientalischen Kulturen auch der Fall war, eine Beobachtung, die Heckl forschungsgeschichtlich einordnet in die Kritik an v. Rads These vom „Heiligen Krieg“ in Israel. Anstelle eines „theologischen“ legt der von Heckl angestellte Vergleich einen politischen Deutungskontext nahe, der außerdem (in Abgrenzung zu Assmanns „positivistischer“ Lektüre der Texte) literarisch-rhetorische Aspekte berücksichtigt: Der an der Bevölkerung der eroberten Gebiete vollstreckte „Bann“ artikuliert literarisch den jeweiligen Besitzanspruch auf diese Gebiete, wobei die Ausrottung der Bevölkerung die Fiktion eines entvölkerten Landes erzeugen soll, die, wie durch Signale im Text selbst, aber auch durch den archäologischen Befund nahegelegt wird, keinesfalls den geschichtlichen Tatsachen entsprach. Die Beobachtungen Heckls an den antiken Texten lassen sich, über seinen Beitrag hinausweisend, auch auf die gegenwartsbezogenen Aspekte der Religionskritik Assmanns übertragen. Zu fragen ist, ob Assmann einseitig den religiösen Glauben für die Genese von Gewalt und Intoleranz verantwortlich macht, unter Ausblendung der jeweiligen politischen Kontexte. Zu fragen ist: Wo ist Religion ursächlich für Gewalt und Intoleranz, und wo ist sie ein Epiphänomen ganz anderer Kräfte, die etwa unter dem Stichwort Kolonialismus und Imperialismus zu verhandeln wären. Der Monotheismus ist ein wohlfeiles Objekt der Kritik, doch unversehens weben seine Kritiker am ideologischen Schleier und tun das Ihre, die tatsächlichen Machtverhältnisse unsichtbar zu machen. Die Gegenprobe zur „Toleranz“ der „primären“ Religion bestünde darin zu fragen, ob multireligiöse und multikulturelle Toleranz notwendig war für das Entstehen und Funktionieren antiker Imperien.

 

Auch die von ANDREAS KUNZ-LÜBCKE in seinem Beitrag Erst Frieden, dann Krieg, dann Heiligkeit. Zur Dramatisierung des Krieges in Sacharjah 9-14 untersuchten Texte aus dem Sachariabuch, dem äthiopischen Henochbuch und dem ägyptischen Töpferorakel erschließen sich keinesfalls in Absehung vom politischen Hintergrund ihres perserzeitlichen und hellenistischen Entstehungszeitraums. Zwar ist der Gott Israels als militärischer Akteur bei Sacharja und in äthHen ständig präsent, doch ist sein Handeln sozusagen erkennbar sprunghaft und legt als solches eine Spur zu sehr unterschiedlichen politischen Situationen, die sich in den Texten niederschlagen. Greifbar sind im ersten Teil des Sacha-riabuches perserzeitliche Hoffnungen auf eine zuverlässig stabile politisch-militärische Großwetterlage. Diese Hoffnungen weichen im zweiten Teil des Buches jedoch zunehmend den realen Bedrohungen, die aus dem Expansionsstreben der Diadochenreiche resultierten. Die Vergleichstexte aus dem Töpferorakel sind erhellend in historischer Hinsicht, weil sie eine anti-hellenistische Perspektive erkennen lassen, die auch in DtSacharja und äthHen prägend ist, aber auch in literarischer Hinsicht: Das motivische Inventar, das bei DtSacharja mutmaßlich auf unterschiedliche literarische Schichten verteilt ist, findet sich vollständig auch in dieser paganen Schrift. Der zweite Teil des Sacharjabuches bewegt sich also, obwohl üblicherweise ein kompliziertes Textwachstum angenommen wird, doch innerhalb eines kohärenten Motivzusammenhangs. Da im Übrigen die Textgenese allem Anschein nach im Zuge immer neuer politischer Szenarien erfolgte, arbeitet die redaktionsgeschichtliche Rekonstruktion notwendig in enger Fühlung mit den Befunden der politischen Ereignisgeschichte. Schon aus methodischen Gründen verbietet sich also eine isoliert „religiöse“ Betrachtungsweise. Und schließlich: Die Texte sind als religiöse Texte nachholend, initiieren nicht, reagieren nur auf erlebte Geschichte. Obwohl der Krieg in DtSacharja dominiert, ist dieser zweite Teil des Buches keine Programmschrift für einen „Heiligen Krieg“.

 

Mit dem Beitrag Der ,Heilige‘ und der ,Gerechte‘ Krieg. Zur Kriegskonzeption bei Juden, Römern und Griechen in der vorchristlichen Antike von KARL LEO NOETHLICHS kommt als weiterer Quellenbereich die griechisch-römische Antike hinzu. Als Folgebeitrag zu demjenigen von Andreas Kunz-Lübcke passt er insofern, als wir ja bereits hier auf den Hellenismus gestoßen sind, freilich nicht als Kulturbringer, sondern auf der militärischen Bühne der Epigonen des Alexanderreiches. In den griechischen Texten begegnet nun auch der Terminus „Heiliger Krieg“ (πόλεμοϛ ἱερόϛ), in der ältesten Quelle (Aristophanes) freilich bereits in der Verfremdung der Komödie, mit unklarer Referenz auf ein offenbar vorausgesetztes älteres Konzept. Ging es bei Heckl und Kunz-Lübcke um die Freilegung politischer Bezüge von vordergründig rein religiösen Begründungszusammenhängen des Krieges, so ist Noethlichs umgekehrt damit befasst, den zutiefst „religiösen“ Charakter griechischer, v. a. aber altrömischer und reichsrömischer Politik des Krieges vorzuführen. Namentlich für das republikanische Rom gilt: „Wir haben es hier mit einem durch und durch religiös geprägten Kriegszeremoniell zu tun, das quasi jede Phase eines Kriegszuges in rituelle Formen verpackte.“ Wie ernst man von römischer Seite den religiösen Aspekt nahm, wird an der jedenfalls in älteren Quellen bezeugten Praxis der evocatio deutlich: Die Gottheit der von Rom militärisch Besiegten wurde feierlich aus ihrem Tempel „herausgerufen“, verbunden mit dem Angebot, nach Rom überzusiedeln und dort einen neuen Tempel zu erhalten. Dem römischen Selbstanspruch nach musste ein Krieg indes nicht nur pium sein, was von der sorgfältig zu beachtenden kultisch-rituellen Vorschriftsmäßigkeit abhing, sondern vielmehr auch iustum. Da ein „gerechter“ Krieg immer „auf ein vorheriges Unrecht“ reagierte, „konnte es – theoretisch – in Rom demnach keine reinen Eroberungskriege geben“. Dass die Geschichte des Römischen Reiches anders aussah, ist bekannt. Wie Rom an seinem Anspruch, ausschließlich gerechte Kriege zu führen, festhalten konnte, wäre eine interessante Anschlussfrage. Hier ginge es dann nicht um Religion oder Politik, sondern um Ideologie, um die beanspruchte Deutungshoheit, was „gerecht“ ist. Noethlichs resümiert: „Der ,gerechte‘ Krieg bleibt also immer eine Frage der subjektiven Deutung und der entsprechenden Propaganda, und so ist es bis heute geblieben!“

 

Mit dem Beitrag Der ,Heilige Krieg‘ im ersten Buch der Makkabäer von MICHAEL TILLY befinden wir uns wieder im biblisch-jüdischen Traditionsbereich. Das 1. Makkabäerbuch reflektiert die Begegnung von Judentum und Hellenismus als Geschichte eines Konflikts, in dem es von jüdischer Seite um die Wahrung religiöser, kultureller, ethnischer und politischer Identität und Eigenständigkeit geht, ein Konflikt, der wesentlich auch ein innerjüdischer Richtungsstreit zwischen assimilationsfreundlichen und konservativen Gruppen der judäischen Gesellschaft war. Einmal mehr bilden all diese Bereiche ein komplexes Gefüge. Das gilt es zu beachten, wenn 1Makk den makkabäischen Aufstand gegen die Fremdherrschaft der Seleukiden als Religionskrieg darstellt und diesen als lupenreinen „Heiligen Krieg“ nach dem Muster biblischer Landnahmetraditionen stilisiert. Tilly zeigt anhand der Kriegsberichte des 1Makk, dass diese „keine historischen Ereignisse ab[bilden], sondern (…) (unbeschadet aller Bezugnahmen seines Verfassers auf ihm bekannte Quellen und Realien) grundsätzlich einem literarischen Schema [folgen]. Tatsächlich schöpft der antike Autor bei seiner literarischen Darstellung der Vorgänge als ,alttestamentlicher Religionskrieg‘ durchweg aus dem reichen Fundus der biblischen Erzähltradition, die er immer wieder mit frei konzipierten Reden, Ansprachen und Gebeten als Darstellungs- und Interpretationsmittel, zeitgenössischem Kolorit und diffusem Fachwissen hinsichtlich zeitgenössischer militärischer Realien und diplomatischer Konventionen anreichert, um seiner fiktionalen Erzählung einerseits Plausibilität und Realitätsnähe zu verleihen und um ihre Protagonisten andererseits den beispielhaften Heroen der Geschichte Israels anzugleichen.“ Auch in 1Makk haben wir es also in erster Linie mit Literatur zu tun. Auch in 1Makk geht es um Geschichtsdeutung, um archaisierende Verklärung von Geschichte. Sie diente, was den Sachverhalt nochmals komplexer erscheinen lässt, im konkreten Fall der gegenwartsbezogenen Herrschaftslegitimation. 1Makk ist ein Stück Hofgeschichtsschreibung der Hasmonäerdynastie, die sich zur Zeit der Abfassung des Buches in der hellenistischen Staatenwelt politisch längst mühelos zu bewegen wusste und den konservativen Mythos eines Krieges für den „Bund der Väter“ gerade in einer Zeit pflegte, in der man sich kulturell und politisch auf den Hellenismus längst eingestellt hatte. Pointiert gesagt: Der „Heilige Krieg“ gegen den Hellenismus ist der Gründungsmythos eines Herrscherhauses, das mit dem Hellenismus kaum mehr Berührungsängste hatte.

 

Der Beitrag Was will ein Endzeitkrieg? Heiligkeit und Krieg zwischen Apokalypse und Realität in der Kriegsrolle (1QM) von SIMONE PAGANINI ergänzt das Tableau der einschlägigen Quellentexte um eine überaus wichtige Schrift. Die Kriegsrolle von Qumran ist nun nämlich im Unterschied zu sämtlichen anderen Texten allem Anschein nach eine regelrechte Programmschrift für einen „Heiligen Krieg“. Es werden Schlachtaufstellungen geschildert, begleitende Gebete und liturgische Handlungen ausformuliert und vorgeschrieben, ergänzt durch genaue Anweisungen über die Zusammenstellung der einzelnen Truppenteile. Dieser Ersteindruck täuscht aber. Sobald man den Text näher in Augenschein nimmt, zeigen sich Ungereimtheiten: Das für den Endkampf zwischen Licht und Finsternis vorgesehene Heer ist überaltert, die Kämpfenden bleiben eigentümlich passiv und der menschliche Part in diesem Krieg, dessen siegreicher Ausgang für die Söhne des Lichts sich der Mitwirkung von Engeln und himmlischen Heeren verdankt, besteht im Wesentlichen in der Rezitation liturgischer Texte durch die beteiligten Priester. Das wirft die Frage auf, mit welcher Textgattung wir es hier überhaupt zu tun haben: Handelt es sich um eine Anleitung für einen realen Krieg? Liegt eine apokalyptische Schrift vor? Oder ist 1QM einer liturgischen Textgattung zuzuordnen? Je nach Gattungszuschreibung ist die Textpragmatik sehr unterschiedlich zu beschreiben. Zugespitzt gesagt: Handelt es sich um die Imagination eines bevorstehenden realen Krieges als Liturgie oder umgekehrt um die Imagination gottesdienstlich vorgetragener liturgischer Texte als Krieg? Im einen Fall würden reale Kämpfer in einem (erwarteten oder aktiv vorbereiteten) realen Krieg gewissermaßen religiös agitiert: Ihr Kämpfen und Töten ist eigentlich ein Gottesdienst. Im anderen Fall würde das völlig gewaltlose und unmilitärische Handeln von Priestern und deren Gottesdienstgemeinde dramatisiert als imaginierte Kampfhandlung. Im zweiten Fall käme 1QM in die Nähe der berühmten „geistlichen Waffenrüstung“ aus Eph 6,11-17 zu stehen: lauter fromme Übungen, nicht weniger und nicht mehr.

 

Gilt bei einer liturgischen Lektüre von 1QM, dass „Krieg“ hier zur Metapher wird, freilich als Platzhalter für einen erwarteten realen Machtwechsel, den aber nur Gott selbst herbeiführen kann und wird, so gilt dies auch für die Johannesoffenbarung. Der Beitrag Heiliger Krieg in der Johannesoffenbarung von MANUEL VOGEL hebt an mit dem wortstatistischen Befund, dass die ntl. Belege für πόλεμος, πολεμέω und νικάω sich weit überwiegend in der ApkJoh finden. „Krieg“ ist in der Apk also beileibe kein Randthema, obwohl die Kämpfenden an keiner Stelle zu den Waffen greifen. Es gibt aber auch kein schiedlich-friedliches Nebeneinander von Bildspender und ansonsten unbehelligtem Bildempfänger. Das zeigt bereits Apg 5,5: Der hier nahmhaft gemacht Sieg des Lammes „besteht darin, dass das Lamm mit seinem Blut Menschen aus allen Völkern zu Gottes Eigentum erworben und sie für Gott zu einer priesterlichen βασιλεία gemacht hat, die künftig auf Erden wie Könige herrschen werden (βασιλεύσουσιν). Warum ist das ein ,Sieg‘ im militärischen Sinne und gegen wen? Antwort: Es ist ein militärisch relevanter Sieg gegen den römischen Kaiser und sein weltweites Imperium. Denn das Sühneblut ist das Mittel, um aus Menschen aus allen Völkern ein Großreich zu bilden und damit das imperiale Programm Roms zu unterlaufen. Parallel zur ständig expandierenden römischen βασιλεία entsteht auf römischem Territorium eine subversive βασιλεία, die zwar nicht militärisch erobert, die aber dennoch insofern real militärisch relevant und tatsächlich ein Sieg ist, als die militärische Macht Roms sich in dem Maße als wirkungslos erweist, wie auf reichsrömischem Boden Gemeinden von Jesusgläubigen entstehen, die etwas tun, was aus römischer Sicht als bedrohlich wahrgenommen wurde, nämlich auf der Grundlage des Bekenntnisses zum dem Gott Israels dem Kaiser die gottgleiche Verehrung zu verweigern.“ Ausführlich untersucht Vogel sodann weitere Abschnitte. In 11,3-13 sind es die die „zwei Zeugen“, gegen die „das Tier“ „Krieg führt“ und sie zunächst „besiegt“, indem es sie tötet, doch Gott erweckt sie vom Tode auf, woraufhin die Menschen das tun, was der Kaiser am allermeisten fürchtet, nämlich „den Gott des Himmels ehren“ – und nicht ihn. Die zwei Zeugen gewinnen den Krieg, indem sie ihn zunächst verlieren. In Apk 12,7-17 verschiebt sich das Bildfeld vom Kultischen ins Juridische. Der Sieg in einem „Krieg im Himmel“ wird von den Gläubigen errungen, die sich „vor Gericht“ auf das Blut Jesu berufen und damit den Sturz des Verklägers aus dem Himmel auslösen. Auch hier verbleibt die Kriegsmetaphorik nicht im bloß Imaginären, denn der Verkläger bekämpft nun die Gläubigen auf Erden durch die Repressionen des satanischen Imperiums. Auch in 12,18-13,10 kämpft das Tier gegen die Gläubigen, die seinen weltweiten Herrschaftsanspruch durch ihre Nichtteilnahme am Kaiserkult infrage stellen. Die Verfolgung der Gläubigen dient der Schließung „jener empfindlichen reichspolitischen Lücke in Gestalt jener Minderheit, die dem Tier die Anbetung verweigert“. Doch wird „[d]ie Androhung des Todes (…) vom Mittel, die Verehrung des Kaisers gewaltsam durchzusetzen, zum Erweis seiner Wirkungslosigkeit und zur Probe auf die Unbeugsamkeit der Gläubigen, die mit jedem Martyrium gewissermaßen verewigt wird. Mit jedem scheinbaren ,Sieg‘ über die Heiligen fährt das Tier eine Niederlage ein, mit jedem Martyrium wird die Sicherheitslücke im System seiner angemaßten Weltherrschaft größer.“ In der Zusammenschau der Texte treten das kultische und das juridische Leitmotiv hervor. Es geht um (verweigerte) Anbetung und um die Berufung auf das Blut Jesu vor Gericht. Auf beiden Feldern fügen die Gläubigen dem Imperium reale Verluste zu. Denn das Blut Jesu begründet ein Loyalitätsverhältnis zum messianischen Wegebereiter der Gottesherrschaft, und die strenge Alternative der Anbetung Gottes oder des Kaisers bildet den Kern des Konflikts zwischen Rom und der frühen Jesusbewegung. Beides ist in der Bildersprache der Apk ein metaphorischer, in gewisser Weise aber eben auch sehr realer „Krieg“.

 

Die drei Beiträge des zweiten Teils des Bandes erschließen komparative moderne Kontexte zu den Beiträgen des ersten Teils. Der erste Beitrag Spirituelle Kampfführung: Die Vertreibung böser Geister im westafrikanischen Christentum von WERNER KAHL schlägt einen Bogen vom dämonologischen Weltbild des antiken Judentums (u. a. in 1QM) und der frühen Jesusbewegung (u. a. in ApkJoh) zum Ahnenkult und Geisterglauben moderner afrikanischer Gesellschaften. Das Christentum geht mit den darin sich niederschlagenden Wirklichkeitsannahmen gewissermaßen eine natürliche Verbindung ein, und dies in einem Zugriff auf neutestamentliche Texte, dem man die Textgemäßheit nicht rundheraus absprechen kann. Zwar lässt der exegetische Blick wichtige Verschiebungen zwischen Text und Applikation zu Tage treten, etwa im von Kahl erbrachten Nachweis der Inkongruenz zwischen der fromm-defensiven „geistlichen Waffenrüstung“ in Eph 6,11-17 und ihrer Verwendung zur realen Tötung persönlicher Feinde mit den Mitteln eines christlichen Spiritismus. Doch grosso modo darf sich die „spirituelle Kampfführung“ afrikanischer neo-pentekostaler communities auf ihre Nähe zur Welt und den Texten des Neuen Testaments durchaus berufen. Man muss ja nur 1Kor 5,4f hinzunehmen, um festzustellen, dass die magisch-rituell vollzogene reale Tötung oder zumindest schwere Schädigung eines Menschen im breiten Spektrum frühchristlicher Handlungsmöglichkeiten einen Platz hat, u. zw. keinen abseitigen, denn wir befinden uns hier inmitten der echten Paulusbriefe und somit der paulinischen „Theologie“. Viel interessanter ist eine andere Verschiebung, auf die Kahl mit dem Vergleich zwischen „Befreiungstheologie“ und exorzistischer „deliverance-Theologie“ aufmerksam macht, ging es doch der Befreiungstheologie, wie wir sie aus lateinamerikanischen Anwendungskontexten kannten, um den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, dem neo-pentekostalen spiritual warfare dagegen um Erfolg und persönliches Wohlergehen im Kampf gegen echte oder vermeintliche Angriffe und Feindseligkeit im sozialen Nahfeld. Charismatische Mega-Churches erbringen hier im Kontext kapitalistischer Konkurrenzgesellschaften eine gefragte Dienstleitung, die sie sich dementsprechend auch gut bezahlen lassen. Es ist so gesehen nicht verwunderlich, jedoch einer Bemerkung wert, dass US-amerikanisches welfare-gospel und spirituelle Kampfführung für’s eigene Fortkommen Hand in Hand gehen. Dass die Akteure subjektiv ehrlich und mit Überzeugung handeln, wird schlaglichtartig deutlich, wo ihre verbalen Schaukämpfe mit den Dämonen (mehr unfreiwillig als freiwillig) dann doch ins Gesellschaftliche ausgreifen, weil es sich vom Persönlichen nicht mehr wie gewohnt separieren lässt: Die Bannung des covid-19-Dämons durch den Bischof einer ghanaischen Pfingstkirche setzte sich der Gefahr ihrer evidenten Wirkungslosigkeit aus. In größerer Bescheidenheit, erzwungen durch die ersten ghanaischen Corona-Toten, stellte er in späteren Äußerungen die Bannung des Dämons Gott anheim und bat um die Stärkung des Immunsystems der Menschen. Für solche charismatische Rollenbegrenzung gibt es an einer entlegenen neutestamentlichen Stelle eine religionsgeschichtlich direkt vergleichbare Parallele: Im Judasbrief geht es um die Debatte, ob es statthaft ist, Dämonen zu verfluchen. Der Verfasser hält das für häretisch und vertritt die Position, dass ein solcher Akt nur Gott selbst zusteht: Selbst der Erzengel Michael war nicht so kühn wie die im Judasbrief bekämpften Charismatiker (Jud 9).

 

Mit dem zweiten Beitrag des zweiten Hauptteils liegt der Wiederabdruck eines bereits in 2004 an anderer Stelle veröffentlichen Textes vor, der gleichwohl im Tableau der Texte und Themen dieses Bandes keinesfalls fehlen durfte. Es handelt sich um [d]ie ,Geistliche Anleitung‘ der Attentäter des 11. September. Dieser Text gehört in dasselbe Schnittfeld von „Krieg“ und „Liturgie“, in das auch die Kriegsrolle von Qumran einzuordnen ist. Der eingehende formgeschichtliche und textpragmatische Vergleich dieser beiden Texte dürfte sich als sehr lohnend erweisen, trotz und gerade wegen des erheblichen historischen Abstands. Dieser Vergleich wird im vorliegenden Band nicht geleistet, wohl aber soll die Wiederveröffentlichung der „Geistlichen Anleitung“ hierzu anregen. Deutlich ist jedenfalls, dass die zu 1QM angestellte Überlegung, ob es sich bei dieser Schrift um die Imagination eines bevorstehenden realen Krieges als Liturgie handelt oder um die Imagination gottesdienstlich vorgetragener liturgischer Texte als Krieg, für die „Geistliche Anleitung“ in ersterem Sinne zu beantworten ist und damit entgegengesetzt zu 1QM: Während in der Kriegsrolle liturgisches Handeln militärisch aufgeladen wird, sodass betende Priester sich in der Rolle von Gotteskämpfern in einem unsichtbaren Krieg sehen dürfen, erhält in der „Geistlichen Anleitung“ umgekehrt der als „Krieg“ [ǧihād] aufgefasste Angriff nicht nur einen durch und durch religiösen Charakter, sondern auch eine strenge liturgische Form. Soll sich in 1QM der Liturg als Kämpfer fühlen, so hier der Kämpfer als Liturg, wenn er einer heiligen Choreographie folgt und eine Art Stufengebet spricht von den ersten Vorbereitungen am Tage des Angriffs bis zum Einschlag des Flugzeugs in die Türme. Diese Junktur von Religion und Gewalt, für die realsymbolisch der 11. September 2001 steht, hat in den untersuchten Texten aus der biblisch-jüdisch-christlichen Tradition keine Entsprechung, und sie ist geeignet, Religion völlig zu diskreditieren, vergleichbar etwa dem Fürbittgebet des amerikanischen Militärpfarrers William Downy für die Besatzung des Fernbombers Enola Gay vor ihrem Start in Richtung Hiroshima 5. August 1945, das man heute wohl nur mit einer ähnlichen Bestürzung lesen kann. Wer diesen Vergleich ablehnt, möge sich fragen, warum im Krieg so leichthin als erlaubt gilt, was ansonsten verabscheut wird. Die Grenze zwischen dem ohne weiteres Statthaften und dem Verabscheuungswürdigen wird sprachlich scharf gezogen in der Unterscheidung von „Krieg“ und „Terrorismus“. Wo beides aufeinandertrifft, gilt es, „Krieg gegen den Terror“ (war on terror) zu führen, so das politische Schlagwort der Bush-Regierung nach den Anschlägen vom 11. September (mit eigenem Wikipedia-Eintrag). Hier geht es um Moral, um Definitionsmacht und um sprachliche Strategien der Legitimierung und Delegitimierung des Tötens. „Terrorismus“ ist eine delegitimierende Fremdzuschreibung. Die Parole des war on terror benennt einen heterogenen Antagonismus: Man führt Krieg gegen einen Feind, dem man abspricht, ein Kriegsgegner zu sein. Hier geht es nicht religiös um den heiligen, sondern politisch um den gerechten Krieg. Wenn wir hierzu nach Vergleichsgrößen im antiken Feld suchen, stoßen wir auf das republikanisch-reichsrömische ius ad bellum, auf das Recht, Krieg zu definieren und (im doppelten Wortsinn) Krieg(e) zu erklären.

 

Der den Band abschließende dritte Beitrag des zweiten Hauptteils Wege in die Radikalität. Biografische Zugänge zu RAF und Bewegung 2. Juni von MANUEL VOGEL ist befasst mit einer Innenansicht zu den im Aufsatztitel genannten Gruppen, die in der Form einer einleitend systematisch kommentierten Quellensammlung von Originaltexten die Motivation damals Beteiligter zu Illegalität und bewaffnetem Kampf offenlegen soll. Ihr unversöhnlicher Antagonismus gegen „den Staat“ bzw. „das System“ war genährt von einem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden im Blick auf die staatliche Mitwirkung der postfaschistischen BRD an globaler Unterdrückung und Gewalt im historischen Kontext des Vietnamkrieges, andererseits auch von dem Bewusstsein, Teil einer globalen Befreiungsbewegung zu sein, an deren Ende die unterdrückten Völker das Joch der Herrschenden abwerfen würden. Die intensive Feindschaft zwischen den Akteurinnen und Akteuren des bewaffneten Kampfes und dem BRD-Staat lässt sich sprachlich aufweisen anhand der bereits namhaft gemachten Unterscheidung von „Krieg“ und „Terrorismus“. Hier zeigt sich am deutlichsten die Unvereinbarkeit der Perspektiven auf die Nachkriegsgeschichte der BRD. Die Regierung konnte den Anspruch der Gegenseite „Kämpfer“ in einem „Krieg“ zu sein keinesfalls gelten lassen ohne die Rechtmäßigkeit des bewaffneten Kampfes zumindest im Grundsatz anzuerkennen und damit auch das eigene Unrecht, gegen das dieser Kampf gerichtet war. Konsequenterweise wurde von staatlicher Seite der Terrorismus-Begriff, den die Beteiligten selbst gar nicht verwendeten (bzw. nur für das, was sie selbst ablehnten), massenmedial ins Monströse gesteigert bis hin zur massiven Desinformation über die angebliche terroristische Bedrohung ganzer Stadtbevölkerungen. Für den Antrag des Verteidigers der Stammheimer RAF-Gefangenen, diese freizusprechen und in Kriegsgefangenschaft zu überführen, hatten die Bundesanwälte nur Gelächter übrig. Zugleich konnte regierungsseitig aber auch von der „Verpolizeilichung des Krieges“ die Rede sein. Die berühmte Formulierung des BKA-Chefs Horst Herold trug dem Umstand Rechnung, dass in einer Zeit, in der Krieg sich längst nicht mehr auf die klassische Form der militärischen Auseinandersetzung zwischen regulären Armeen souveräner Staaten beschränkte, der Begriff des Krieges phänomnologisch neu zu bestimmen und völkerrechtlich neu zu verhandeln war. Herolds Diktum betraf indes nur die operative Seite, die nach (der Legitimierung) einer Aufrüstung der Polizei verlangte. Die Anklage hat die Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes nie anders denn als Kriminelle behandelt. Die Anerkennung einer politischen Dimension ihres Handelns durfte niemals auch nur in die Nähe des Diskutablen gelangen.

In diesem letzten Beitrag geht es abermals nicht um den heiligen, wohl aber um den gerechten Krieg. Die RAF war für den Staat nicht zuletzt deshalb ein Ärgernis, weil sie auf eigene Weise das nationalstaatlich monopolisierte ius ad bellum in Frage stellte und es für ein globales revolutionäres Subjekt in Anspruch nahm, das sich machtvoll zu formieren schien und als dessen Teil sie sich sah. So gesehen gibt es dann doch Vergleichspunkte zu den antiken Texten dieses Bandes, nämlich (a) zum reichsrömischen Anspruch, stets nur „gerechte“ Kriege zu führen, sodann (b) zum frühchristlichen Marytrium und schließlich (c) zu den geschichtstheoretischen Aspekten antik-jüdischer und frühchristlicher Imaginationen eines „Heiligen Krieges“.

(a) Die kaiserzeitliche Expansion des römischen Imperiums, das unter Kaiser Trajan (98-117 n. Chr.) seine größte Ausdehnung erreichte, verdankte sich einer Reihe von Eroberungskriegen, die es nach der alten römischen Rechtsauffassung, derzufolge ein „gerechter“ Krieg stets auf ein zugefügtes Unrecht reagierte, eigentlich gar nicht geben durfte. Schon der Philosoph Karneades äußerte bei Gelegenheit der berühmten Philosophengesandtschaft des Jahres 155 v. Chr. den Gedanken, die Römer müssten, wollten sie gerecht sein, die von ihnen eroberten Gebiete zurückgeben und zu einem Leben in Bescheidenheit zurückkehren. Das an selber Stelle formulierte Gegenargument lautet, es sei für die Beherrschten nützlich, beherrscht zu werden, und deshalb sei es auch gerecht, vgl. Cicero, De re publica III,12(21).24(36). So liest man es bis heute, etwa bei Herfried Münkler, der zu bedenken geben will, Imperien seien jedenfalls nicht nur schlecht. Mit diesem Argument konnte auch Rom seine Eroberungskriege rechtfertigen, und wer die Segensgabe der pax Romana ablehnte, bekam römische Härte zu spüren. Zeige dich, Römer, bewusst der Pflicht, die Völker zu lenken / hierin beweise dein Können! –, das Friedensgesetz zu diktieren / die Unterworfnen zu schonen, doch Trotzige niederzuringen! So hat Vergil die Rolle Roms in augusteischer Zeit bündig formuliert (Aeneis 6,851-853). Wer sich gegen Rom erhob, führte keinen „Krieg“ (bellum), sondern beging den Frevel eines „Aufstandes“ (seditio). Dann nahm Rom sein ius ad bellum in Anspruch, die seditio der Unterworfenen mit Gewalt zu beenden. Hier geht es um eben jene sorgsame sprachliche Unterscheidung, die mutatis mutandis in der modernen Disjunktion von „Krieg“ und „Terrorismus“ wiederkehrt.

(b) Die Hungerstreiks der Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes waren in der Situation des völligen Ausgeliefertseins an die Staatsmacht eine letzte, paradoxe Möglichkeit der Selbstbehauptung, des selbstbestimmten Handelns und (darauf kommt es hier an) des Widerstands. Die Gefangenen zeigten sich (in Aufnahme des Titels der Monographie von Jan-Hendrik Schulz, Frankfurt 2019) „unbeugsam hinter Gittern“ (Auf Teil 2.6 des vorliegenden Beitrages sei an dieser Stelle eigens verwiesen). Das bewusste Inkaufnehmen der Möglichkeit des eigenen Todes war – im übertragenen Sinn und doch völlig real – eine Waffe, die die Gefangenen gegen den übermächtigen Staat richteten. Dabei geht es gar nicht um Fragen des Erfolges – Teilerfolge wurden erzielt, bei vielen Hungerstreiks wurde den damit verbundenen Forderungen aber auch nicht entsprochen –, sondern um den Gestus der Unbedingtheit des antagonistischen Standpunktes gegen das System. Die Weigerung zu essen war eine letzte Verweigerung des Gehorsams und des Funktionierens im repressiven Apparat der Gefängnishaft. Versteht man die frühchristlichen Martyrien als Akte des Widerstands gegen die im Kaiserkult ritualisierte Gehorsamsforderung des römischen Imperiums, ergeben sich Parallelen. Auf beiden Feldern geht es um die Zuspitzung des Widerstands im Einsatz des eigenen Lebens, der Lebenswillen und Todesbereitschaft paradox und sozusagen ergebnisoffen verbindet. Die Devise „Das Projektil sind wir“ (um einen weiteren Buchtitel aufzurufen, nun von Karl-Heinz Dellwo, Hamburg 2007) ist keineswegs ein verdecktes Plädoyer für die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes, sondern (in Anbetracht seiner rückwirkend zu konstatierenden – jedenfalls unmittelbaren – Wirkungslosigkeit) seine programmatische Ersetzung durch die jetzt erst recht festzuhaltende und durchzuhaltende Radikalität des eigenen Daseinsentwurfs im „vollen Lebenseinsatz“. Die Metaphorik dieser Devise hat im paulinischen Satz vom „Hingeben“ des „eigenen Leibes“ als „lebendiges Opfer“ (Röm 12,1), verbunden mit der Aufforderung sich den „Strukturen dieses Äons nicht anzupassen“ (Röm 12,2), eine ferne und doch sehr nahe Entsprechung. Dabei dürfte das in Röm 12,1 aufgerufene Bild sogar eine klar antimartyrologische Stoßrichtung haben: Man soll eben nicht sterben, sondern leben, aber man soll in derselben Radikalität leben wollen, wie der Märtyrer sein Leben aufs Spiel setzt. Das Martyrium wird also ersetzt, zugleich wird aber daran Maß genommen. Das Oxymoron „lebendiges Opfer“ (denn ein Opfertier ist nur als getötetes ein Opfer) bezeichnet diese Verschränkung von Todes- und Lebensbereitschaft, in der eines das andere interpretiert. Ein solcher Daseinsentwurf ist gegenüber seiner totalen Verzweckung „resistent“ (wörtlich: „widerständig“) und für jeden totalitären Verfügungsanspruch eine gefährliche Infragestellung. Die frühchristlichen Martyrien und die Hungerstreiks der Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes haben im Widerstand gegen einen totalen Verfügungsanspruch einen gemeinsamen Index und lassen in der Figur des radikalen Lebenseinsatzes eine eng verwandte Daseinsauffassung erkennen. An dieser Stelle ist nochmals auf die von Raik Heckl im ersten Beitrag dieses Bandes diskutierte Monotheismus-These Jan Assmanns zurückzukommen. Wenn Assmann nämlich notiert, „dass es bei dem Problem ‚Monotheismus und Gewalt‘ ebenso um das Erleiden wie um das Ausüben von Gewalt geht“ (Die Mosaische Unterscheidung, 35), dann ist dies nichts anderes als eine Denunziation des Martyriums als spiegelverkehrtes Selbstmordattentat mit dem gemeinsamen Nenner gewaltbereiter Intoleranz. Der Märtyrer ist aber nicht intolerant, sondern hat etwas, womit es ihm ernst ist. Da aber die total gewordene Warengesellschaft keine Überzeugungen mehr vorsieht, sondern nur noch Wohlgefühl, werden auf einem hohen kulturwissenschaftlichen Niveau Überzeugungen als Intoleranz verächtlich gemacht. Möglicherweise ist das die entscheidende Frage an die Bewohner der modernen Warenwelt, in der auch noch die Empörung über dies und das zum emotionalen Dressing gut gemachter Unterhaltung degeneriert: Ob es überhaupt noch etwas von Belang gibt, wovon wir sagen können, dass wir es wirklich ernst meinen.

(c) Die im antiken Judentum einschließlich der frühen Jesusbewegung weithin prägende apokalyptische Geschichtsauffassung sah im römischen Reich das letzte der vier danielischen Großreiche, die wie Raubtiere unter den Völkern wüteten. Nach dem Ende dieses letzten Reiches würde mit dem „Reich des Menschensohnes“ ein immerwährendes Reich der Gerechtigkeit erstehen. In der Johannesoffenbarung wird dem Untergang Roms („Babylons“) in einer dramatischen visionären Schau ein ganzes Kapitel gewidmet (Apk 18). Das Epochenbewusstsein der Akteurinnen und Akteure des bewaffneten Kampfes, an der Schwelle einer neuen Zeit zu stehen (ohne welches man die Stimmung dieser Jahre gar nicht versteht), hat in der apokalyptischen Erwartung, alle ungerechte Herrschaft werde ein baldiges Ende haben, eine entfernte Parallele, nicht zuletzt im Blick auf ihre politische Brisanz im historischen Kontext der frühen römischen Kaiserzeit. „Wir erwarten einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt.“ (2Petr 3,13).

Teil IAntike Texte

Sakralisierung des Krieges im Alten Testament?Raik Heckl

Raik Heckl

Unsere Gesellschaft und Kultur sehen sich im 21. Jh. einer von traditionellen religiösen Positionen herrührenden Gefahr ausgesetzt. Religiös motivierte Gewalt gefährdet das Zusammenleben im modernen freiheitlichen Staat, und staatliche Reaktionen oder Präventivmaßnahmen schränken verfassungsmäßige Rechte ein. Aufgrund des vor allem (aber nicht ausschließlich) islamistischen Terrorismus, der sich mit konservativen islamischen Positionen legitimiert, legt sich scheinbar ein direkter Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt und insbesondere zwischen monotheistischer Religion und angewendeter oder propagierter Gewalt nahe.1 Eine wichtige Rolle spielen in der Diskussion auch Passagen mit Gewaltdarstellungen in der Hebräischen Bibel. Diese biblischen Texte vor allem aus dem Bereich der Landnahmeüberlieferungen haben bereits eine tragische Wirkung entfaltet. Sie dienten in Auseinandersetzungen mit dem Hellenismus im 2. Jh. v. Chr. als Programmtexte2 und spielten eine wichtige Rolle in der Spätantike in der Auseinandersetzung des Christentums mit den heidnischen Religionen.3 Und auch in den kriegerischen Auseinandersetzungen der Zeit der Kreuzzüge sowie in der frühen Neuzeit hat man sich zur Rechtfertigung von Gewaltanwendung auf betreffende Textabschnitte bezogen.4

In der theologischen Diskussion spielten in den zurückliegenden Jahren die Namen Jan Assmann und Peter Sloterdijk eine besondere Rolle. Populäre kritische Äußerungen in der Gegenwart gehen in eine ähnliche Richtung.5 Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler J. Assmann hatte schon vor seinen kritischen Thesen einen großen Einfluss auf theologische und bibelwissenschaftliche Diskurse. Mit seiner Kritik am Monotheismus führte er Thesen seiner ersten populären Monographie „Das kulturelle Gedächtnis“ weiter.6 Ausgangspunkt seiner Kritik war die Unterscheidung monotheistischer und traditioneller Religion und Religiosität: Judentum, Christentum und Islam sind nach seiner Definition sekundäre Religionen, die sich religiöser Spekulation und der Auseinandersetzung mit traditioneller Religiosität sowie ihrer Ablehnung verdanken. Letztere bezeichnet er als primäre Religionen, bei denen es sich in der Regel um polytheistische Systeme handelt, die in einem Evolutionsprozess entstanden sind:

„Primäre Religionen sind über Jahrhunderte und Jahrtausende historisch gewachsen im Rahmen einer Kultur, Gesellschaft und meist auch Sprache, mit der sie unablöslich verbunden sind.“7

Assmann meinte, dass mit der sekundären Religion und der Entscheidung für eine Gottheit und für ihre Verehrung die Unterscheidung von wahr und unwahr in den Bereich der Religion eingetragen worden sei.

„Die Unterscheidung, um die es in diesem Buch geht, ist die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr in der Religion, die spezifischeren Unterscheidungen zugrunde liegt wie die zwischen Juden und gojim, Christen und Heiden, Muslimen und Ungläubigen.“8

Während primäre Religionen kulturelle Übersetzungsarbeit leisten und zwischen verschiedenen Nationen und Kulturen vermitteln können, führt die sekundäre Religion zu immer stärkerer Ausgrenzung von anderen Religionen, Konfessionen und Untergruppen bis hin zur Definition von Häresien. Von hier ist der Weg zur Anwendung von religiös motivierter Gewalt nicht weit. Die konstruktive Funktion des Polytheismus beschrieb Assmann so:

„Die antiken Polytheismen gehören zu solchen Techniken der Übersetzung. Sie gehören in den Entstehungsprozeß der ‚Alten Welt‘ als einer zusammenhängenden Ökumene politisch vernetzter Staaten. Die polytheistischen Religionen überwanden den Ethnozentrismus der Stammesreligionen, indem sie verschiedene Götter nach Name, Gestalt und Funktion oder ‚Ressort‘ unterschieden. Die Namen sind natürlich von Kultur zu Kultur verschieden, weil die Sprachen verschieden sind. Auch die Gestalten der Gottheit und die Riten ihrer Verehrung können sehr verschieden sein. Hinsichtlich ihrer Funktion dagegen bestehen große Ähnlichkeiten, besonders wenn es sich um kosmische Gottheiten handelt; und die meisten Gottheiten hatten kosmische Aspekte und Funktionen. Der Sonnengott der einen Religion ließ sich leicht dem Sonnengott der anderen Religion gleichsetzen, und so weiter. Aufgrund dieser funktionalen Äquivalenz ließen sich Götternamen verschiedener Religionen übersetzen.“9

Einen destruktiven Charakter und die Ursache von religiös motivierter Gewalt sah er im Monotheismus:

„Wenn man sich klarmacht, daß die dem Monotheismus innewohnende, sich aus der Mosaischen Unterscheidung mit Notwendigkeit ergebende Intoleranz zunächst einmal in passiver bzw. martyrologischer Form in Erscheinung tritt, d. h. als Weigerung, eine als falsch erkannte Religionsform zu akzeptieren und lieber zu sterben, als in diesem Punkt nachzugeben, dann zeigt sich, dass es bei dem Problem ‚Monotheismus und Gewalt‘ ebenso um das Erleiden wie um das Ausüben von Gewalt geht. Ebenso steht es mit dem Hass.“10

P. Sloterdijk setzt im Rahmen seiner Kritik der modernen Gesellschaft bei einem Grundkonzept der Gemeinschaftsbildung in monotheistischen religiösen Gruppierungen an. In dieser Hinsicht am bekanntesten ist sein Buch „Im Schatten des Sinai“. Darin formuliert er die Überzeugung, dass die Entscheidung für eine bestimmte Gottheit in den monotheistischen Religionen das Prinzip einer totalen Mitgliedschaft hervorbringt.

„Die drei theogenen Kollektive [Judentum, Christentum und Islam, R.H.] teilen miteinander den in der sinaitischen Verschärfung zuerst prägnant ausgeformten Zugriff auf das Leben ihrer Angehörigen im Modus der totalen Mitgliedschaft – ob dieser nun hebräisch qana heißt oder griechisch zélos oder arabisch djihad. Dies verrät sich nicht zuletzt in ihrer gemeinsamen tiefen Nervosität angesichts der Gefahr von Apostasie.“11

„Wer sich für Methoden zur Erzeugung von totaler Mitgliedschaft im frühen 21. Jahrhundert interessiert, braucht sich nur zu informieren über das Treiben von Taliban-Schulen in Afghanistan und von wahabitischen Ausbildungszentren in Saudi-Arabien, deren Abgänger vor allem in den Ländern Afrikas und Asiens als Glaubenskämpfer auffällig werden. Dass ähnliches in manchen Hinterhof-Moscheen Europas geschieht, lässt sich nicht mit Stillschweigen übergehen. Der Interessent sollte sich allerdings auch kundig machen über die protestantischen Sekten-Universitäten in den USA, über Seminare der Pius-Brüder in der Schweiz, über Engelwerke und marianische Inbrunst-Vereine in Bayern sowie über die Geschäfte einer Unzahl totalitärer Kleinreligionen in aller Welt, die bei all ihren Verschiedenheiten das eine gemeinsam haben, dass sie, scheinbar altmodisch, nach dem ‚ganzen Dasein‘ ihrer Mitglieder greifen.“12

Was die Kritik Assmanns und Sloterdijks verbindet, ist der Verweis auf die religiösen Grundlagentexte vor allem der Hebräischen Bibel. Beide sehen einen direkten Zusammenhang zwischen dargestellter und religiös motivierter Gewalt als Teil ihrer Wirkungsgeschichte.13 J. Assmann war in dieser Hinsicht relativ moderat. Auch ist er später von seinen kritischen Thesen ein Stück weit abgerückt, indem er von einem „Monotheismus der Treue“14 sprach und damit die besondere Gottesbeziehung Israels hervorhob.15

Meiner Ansicht nach unterscheidet sich der Gebrauch der religiösen Texte in der verhängnisvollen Wirkungsgeschichte bspw. im Mittelalter oder auch in der Antike kaum von der Sicht der Texte in den kritischen Stellungnahmen der beiden Forscher. Nicht nur die Verfasser der Makkabäerbücher haben die biblischen Texte auch in ihrer Darstellung von Krieg und Gewalt als verbindlich angesehen, nicht nur die Vertreter eines religiösen islamischen Fundamentalismus halten die Texte des Koran insgesamt für verbindliche Äußerungen für die heutige Zeit, sondern auch Assmann und Sloterdijk scheinen von der Verbindlichkeit der Texte bis in die Einzelheiten hinein für die jeweilige Religionsgemeinschaft als gegebenen Fakt auszugehen. Das entspricht in gewissen Sinne der kirchlichen Sicht der Bibel als kanonische Textgrundlage, wiewohl die Frage der Kanonizität und die Definition dessen natürlich umstritten sind. Doch sind sich Judentum und Christentum (abgesehen von bestimmten Randpositionen) immer darüber im Klaren gewesen, dass die biblischen Inhalte nie ohne Vermittlung auf spätere Situationen zu beziehen sind. Das Judentum hat daher die Halacha entwickelt. Das Christentum hat Bekenntnisse formuliert und ihre Anwendung an eine ethische Interpretation der biblischen Texte geheftet.

Die ganze Frage nach dem Gewaltpotential religiöser Grundlagentexte lässt sich nicht losgelöst von der Frage nach deren Charakter beantworten. Die Texte der Hebräischen Bibel oder des Neuen Testament können natürlich keine direkte Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen herstellen.16 Die alttestamentlichen Texte sind Traditionsliteratur, an der über Generationen gearbeitet worden ist. Ihre literarische Geschichte ist ein Faktum, auch wenn die Rekonstruktion der atl. Redaktionsgeschichte seit mehr als 200 Jahren nicht zu einem Konsens geführt hat. Auf festem Boden steht man, wenn man erkennt, dass die biblischen Texte in ihren Vorstufen bzw. im Verlauf ihrer literarischen Geschichte nicht nur im Sinne autonomer oder kanonischer Literatur der Rezeption, sondern der Vermittlung von theologischen Konzepten dienten. Sie tragen abhängig von der verwendeten Textsorte einen intentionalen Charakter. Die literarische Geschichte der Texte hängt mit einer Aktualisierung bzw. mit einer Veränderung der Absichten zusammen. Zu einer allgemeinen Geltung der biblischen Texte ist es dagegen erst später gekommen.17 Dieser Situation entspricht es, wenn man sie jeweils als Diskursfragmente versteht. Als Teil antiker Diskurse sollten sie bestimmte religiöse Positionen befördern und bei der Ausbildung einer religiösen Identität der intendierten Adressaten mitwirken.18 Ausgehend von diesem zugespitzten historisch-kritischen Zugang zu den Texten, soll die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt in den biblischen Texten erneut angerissen werden. Nur auf diesem Wege lässt sich klären, ob der Aufruf zu Gewalt sowie die Darstellung von Krieg und Gewalt eine Grundlage in der Religiosität hat.

1Heiliger Krieg im Alten Israel

Der Begriff des Heiligen Krieges im Alten Israel ist untrennbar mit Gerhard von Rad verbunden.1 1951 hat er die These aufgestellt, dass es sich beim Heiligen Krieg um eine grundlegende Institution des Alten Israels gehandelt habe, deren Ursprung am Anfang der Geschichte des Stammesvolkes gelegen hätte. Sie sei lebendig geblieben bis in die Zeit der Staatlichkeit und habe sich später allmählich verloren. V. Rad hat sich bei seiner Darstellung auf eine ältere These von Julius Wellhausen gestützt. Er schließt sich an dessen Worte an: „Das Kriegslager, die Wiege der Nation, war auch das älteste Heiligtum. Da war Israel, und da war Jahwe.“2 Man muss sich klarmachen, dass für Wellhausen und die ältere Forschung „Religion“ und „Volksleben“, wie man es damals bezeichnete,3 eine untrennbare Einheit bildeten, die sich institutionell als eine Art Theokratie darstellen. Und daher war auch der Krieg eine religiöse Angelegenheit.4 Der Ursprung der nationalen Identität des alten Israels lag nach Wellhausen im Krieg: „Die vornehmste Äußerung des Lebens der Nation war damals und auf Jahrhunderte hinaus der Krieg.“5 Und trotz der anderen Verortung war auch Wellhausen der Ansicht, dass der Bann, wonach der Gegner schlussendlich vollständig als eine Art Opfer für Jhwh vernichtet werde, ein Hauptcharakteristikum der alttestamentlichen Kriegsvorstellung sei.6

Die Zeit zwischen Wellhausen und v. Rad war davon geprägt, dass man die kultischen Aspekte, die zum Krieg entsprechend hinzugehören, zu bestimmen suchte.7 Man wies bspw. auf die Nähe zur Vorstellung des Nasiräats hin. Wenn der Krieg eine heilige Angelegenheit ist, wie das auch in Naturvölkern der Fall sei, so seien auch Krieger geweihte Personen, weswegen bestimmte Vorschriften für diese notwendig wurden.8 So erklärte man u. a. bestimmte Texte im Josuabuch und die Kriegsgesetze des Deuteronomiums.

V. Rad hat diese älteren Überlegungen weitergeführt und auf der Grundlage der form- und gattungskritischen Überlegungen von Hermann Gunkel die Konventionen des Heiligen Krieges als kultischer Begehung zu rekonstruieren versucht.9 Dies führte ihn zurück in die vorstaatliche Zeit. Der Heilige Krieg wurde von ihm daher als eine Institution der Amphiktyonie angesehen: Die Aufbietung des Volkes führt zur Versammlung des Heerbanns, dem oft in einem Gottesentscheid zugesprochen wird, dass die Feinde in die Hand des Volkes gegeben seien bzw. gegeben werden. Hierzu gehören der Aufruf, sich nicht zu fürchten, die Eröffnung des Krieges mit einem Kriegsgeschrei und die Darstellung des Eingreifens der Gottheit mit dem Gottesschrecken. Höhepunkt und zugleich Zielpunkt ist der Vollzug des Banns, bei dem die gesamte Beute an Jahwe übereignet wird:

„Abschluss bildete der Bann, die Übereignung der Beute an Jahwe. Wie beim ganzen heiligen Krieg, so handelte es sich auch hier um eine kultische Angelegenheit: die Menschen und Tiere werden getötet, Gold, Silber usw. gingen als קֹדֶשׁ in den Schatz Jahwes ein (Jos. 6,18f).“10

Entscheidende Kritik kam von Georg Fohrer:

„Wie alles und jedes im Leben war die Kriegführung von religiösen Vorstellungen umwoben und von religiösen Riten begleitet. Doch dadurch wird sie ebensowenig zu einem ‚heiligen‘ Krieg und zu einer sakralen Institution wie Geburt, Entwöhnung, Hochzeit, Tod oder Schafschur, die mit religiösen Vorstellungen, Riten und Formeln umgeben waren. Ein ‚heiliger‘ Krieg als sakrale Institution der alten Zeit ist lediglich das Ergebnis einer durch religiöse Feindschaft gegen das Fremde bedingten späten Systematisierung des praktischen religiösen Verhaltens einer frühen Kulturstufe.“11

Fohrer, der die Darstellungen als Rückprojektionen ansah, kann als Grundlage einer Neuorientierung gelten. Dass man nicht Elemente aus Erzählungen über Kriege extrahieren, zusammenziehen und dann daraus eine israelitische jüdische Institution konstruieren kann, setzt sich nun allmählich durch.

Das Konzept v. Rads kam aber erst zusammen mit Martin Noths Amphyktioniethese unter Druck, weil man die biblischen Texte nicht mehr als Zeugnisse der Frühzeit begreifen konnte. Dies war der Ansatz von Fritz Stolz, der alternativ davon ausging, dass besonders in den dtr. Texten eine Vorstellung von Jhwh-Kriegen entwickelt werde.12 Manfred Weippert führte letztlich die Kritik von Fohrer weiter und wies traditionsgeschichtlich darauf, dass altorientalisch die Kriege immer die Kriege von Göttern gewesen seien. Deshalb sei es möglich von Jahwes Kriegen zu sprechen, doch sei das eben kein Kriterium des Monotheismus, sondern eine dem altorientalischen Kontext entsprechende Beschreibung,13 womit Weippert ein Stück weit wieder zu den Thesen Wellhausens und der älteren Forschung zurückgelenkt hat.

Neue Akzente wurden von Eckart Otto gesetzt, indem er die biblische Vorstellung vom Jahwe-Krieg vor allem in den Kriegsgesetzen in die spätvorexilische Zeit datierte.14 Die neuassyrischen Praktiken bei der Kriegsführung werden seiner Ansicht nach gerade nicht positiv rezipiert, sondern kritisch hinterfragt und in den biblischen Texten des Deuteronomiums und der spätvorexilischen Literatur korrigiert.15 Erst die exilische Literatur habe das Konzept der kriegerischen Eroberung des Landes als Konzept von Gotteskriegen mit der Eroberung des Landes und der vollständigen Vernichtung der Vorbevölkerung entwickelt.16

„Die deuteronomistische Banntheorie in Dtn 7,1f. ist am Bann als Schibboleth der Gottesbeziehung orientiert, so dass er als Symbol des Gottesgehorsams fungieren kann.“17

Otto sieht es als Konzeption einer Zeit an, in der es überhaupt keine Kriege Israels mehr geben konnte.18 Dtn 7 ist für ihn das Paradigma für das Verständnis dieser Konzeption. Denn da das Banngebot offensichtlich in der Realität nicht realisiert worden ist, diente es dazu, die spätere Geschichte Israels zu konterkarieren. Die Frage nach der Intention der Texte wird so stärker gestellt. Ottos Lösungsvorschlag ist, dass weder die Kriege noch die Rede von der ursprünglichen Landesbevölkerung als Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit zu begreifen sind.

„Die ‚Landesbewohner‘, die längst eine Fiktion sind, stehen für die eigene zu überwindende Geschichte vor dem Exil, mit der es keine Kompromisse geben darf. Die ‚Landesbewohner‘ sind also eine rein fiktiv-symbolische Größe, die nicht fremd ist, sondern an der man selbst Anteil hatte – insofern es die Vorbewohner des eigenen Landes sind.“19

Rüdiger Schmitt sucht in seiner Monographie für den Bereich des Pentateuchs eine Synthese aus den Konzepten. Er geht von einer Sakralisierung des Krieges in den Texten des Deuteronomiums und der deuteronomistischen Geschichtsbücher als rhetorisches Mittel aus. Sie diene vor allem der Gesetzesparänese. Wie man das Gebot zum Vollzug des Bannes realisiere, zeige, wie gehorsam man Jhwh gegenüber sei. Gleichzeitig sei der Bann als Teil einer kontrapräsentischen Geschichtskonstruktion anzusehen, womit er die These von Eckart Otto aufnimmt.

„Die Sakralisierung des Krieges dient damit in der deuteronomistischen Tradition primär der Gesetzesparänese und der Konzeptualisierung von Situationen eines Status confessionis mit dem gesetzesgemäßen Vollzug des Banns als Meßlatte des Gesetzesgehorsams, ist aber zugleich kontrapräsentische Geschichtskonstruktion, die die eigene, exilisch-nachexilische Gegenwart durch den Rückbezug auf die glorreiche Vergangenheit zu transzendieren sucht und ebenso den Besitzanspruch auf das Verheißungsland mit der Mytho-Historie der gewaltsamen Landnahme begründet.“20

2Der Vollzug des Bannes im Kontext des Alten Israels

Um die unterschiedliche Funktion von biblischen Darstellungen von Krieg und Gewalt zu verstehen, ist ihre traditionsgeschichtliche Verortung in dem jeweiligen Kontext erforderlich. Die Anwendung von Gewalt bspw. bei öffentlichen Hinrichtungen oder auch das Zurschaustellen von Leichen und Leichenteilen bis zur frühen Neuzeit gehört zur vormodernen Propaganda.1 So suchte man abzuschrecken und Ordnung und Sicherheit zu dokumentieren. Dies dürfte in den verschiedenen antiken Kontexten entsprechend der Fall gewesen sein.2 Zu vermeiden sind daher anachronistische Urteile aufgrund der Beurteilung von Gewalt in der Moderne und im liberalen westlichen Kontext.

Aufschlussreich für das Alte Israel sind die Verhältnisse im Kontext des neuassyrischen Reiches. Andreas Fuchs hat die Frage gestellt, wieso die Assyrer in der Antike als besonders grausam galten.3De facto scheint sich ihr Umgang mit im Krieg unterlegenen Städten und Völkern und mit Aufständen nicht von dem zu unterscheiden, was nach ihnen von den Persern, den hellenistischen Reichen oder den Römern praktiziert wurde. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass sie die verübte Gewalt besonders detailliert dokumentiert haben. Fuchs’ Schlussfolgerung ist, dass die Darstellung von Gewalt den Assyrern der Abschreckung, aber auch der Dokumentation ihrer Macht diente.4 Sie stellten die Fähigkeit des Staates, die Ordnung aufrecht zu erhalten, heraus. Sie dienten u. a. als Aushängeschild gegenüber Vasallen oder potentiellen Verbündeten, denen am Schutz durch das assyrische Reich gelegen war und zugleich der Vorbeugung von Aufständen der Vasallen oder Bevölkerungsgruppen gegen die assyrische Herrschaft:

„Im Ergebnis hat sich die aus unserem heutigen Empfinden getroffene Feststellung, die Assyrer seien grausam gewesen, als durchaus zutreffend erwiesen. Aber wir haben gute Gründe anzunehmen, dass uns die assyrischen Könige und deren Untertanen in diesem Punkt vehement widersprochen hätten. Sie würden dabei wohl auf die Legitimität ihres Handelns und auf die Notwendigkeit hingewiesen haben, die königliche Macht zum Wohle der Welt durchsetzen zu müssen.“5

Die Darstellung von Gewalt beschränkt sich aber nicht auf assyrische Quellen. Wir besitzen mit der Bauinschrift des moabitischen Königs Mescha einen außerbiblischen Bezugstext für die biblischen Abschnitte, in denen vom Bann gesprochen wird. Die Inschrift dokumentiert massive Gewalt an den besiegten Israeliten im Anschluss an die kriegerische Auseinandersetzung, ist also in höchstem Maße für die Auslegung der biblischen Texte relevant.6 Denn auch dort wird von einem Vollzug des Banns an den Feinden berichtet.

„1 Ich (bin) Mēša‘, Sohn des KMŠ[JT], König von Moab, der 2 Dibonite. Mein Vater war König über Moab dreißig Jahre, und ich wurde König 3 nach meinem Vater. Und ich machte dieses Höhen(heiligtum) für Kamoš in Qeriḥō als Zeichen 4 der Rettung, denn er errettete mich vor allen Angreifern (?) und ließ mich triumphieren über alle meine Gegner.“7

Die Inschrift scheint die gleichen kriegerischen Ereignisse im Blick zu haben, die auch in 2Kön 3 erwähnt werden. Die Unterschiede in der Darstellung geben selbst kaum Einblick, wie sich die kriegerischen Auseinandersetzungen zugetragen haben. Sowohl 2Kön 3 als auch der Text der Mescha-Stele sind perspektivisch formuliert und bieten so einer bestimmten Leserschaft eine eingeschränkte Sicht.8 Im Bibeltext wird aus judäischer Perspektive ein siegreich verlaufender aber abgebrochener Kriegszug Israels und seiner Alliierten gegen Moab, das als ein abgefallener Vasall gilt, dargestellt. In dem moabitischen Text „feiert“ man die Befreiung von einer jahrzehntelangen Fremdherrschaft.

Die Inschrift behandelt neben verschiedenen Bauprojekten die außenpolitische Situation Moabs. Dabei kommt eine längere Geschichte in den Blick.

„Omri 5 war König von Israel, und er bedrängte Moab lange Zeit, denn Kamoš zürnte seinem Lande. 6 Und es folgte ihm sein Sohn. Und er sprach: Ich will Moab bedrängen. In meinen Tagen sprach er [so], 7 aber ich triumphierte über ihn und sein Haus. Und Israel ist für immer zu Grunde gegangen. Und es hatte sich Omri des ganzen 8 Gebietes von Mahdeba bemächtigt und er wohnte darin während seiner Tage und der Hälfte der Tage seiner Söhne, vierzig Jahre. Aber 9 Kamoš kehrte zurück9 während meiner Tage. Und ich baute Ba‘al-Me‘on (wieder auf) und errichtete die Zisterne darin. Und ich baute 10 Kirjathon (wieder auf).“

Theologisch relevant ist, dass die vorangehenden militärischen Niederlagen und die Zeiten der Fremdherrschaft mit dem Zorn der Nationalgottheit Kamosch erklärt werden. Des Weiteren wird die Wende zum Heil als Errettung durch denselben Gott und als Umkehr der Gottheit zu seinem Volk beschrieben. Religionsgeschichtlich von Bedeutung ist, dass dies in der Inschrift im Gegenüber des Gottes Moabs und des Gottes Israels geschieht.

Die Inschrift setzt voraus, dass über eine Generation hinweg das Nordreich Israel unter den Omriden sein Herrschaftsgebiet auf das moabitischen Territorium ausgedehnt und die Moabiter in die Vasallität gezwungen hatte. Die Wende zum Heil im Zuge militärischer Erfolge gegen Israel wird als dauerhaft beschrieben. Es ist auffällig, dass die Niederlage des Nordreiches als endgültig zu gelten scheint: וישראל אבד אבד עלם „und Israel ist wirklich für immer zugrunde gegangen“. Es geht dabei um jene Gebiete auf dem transjordanischen Gebirgsplateau, die zuvor über längere Zeit im Besitz Israels waren und durch die militärischen Aktionen Meschas in den Besitz Moabs übergegangen sind. Die in Diban aufgerichtete Inschrift setzt bei den Adressaten geographische Kenntnisse voraus. Und entsprechend betreffen die summarischen Aussagen über Israel dessen ostjordanische Gebiete. Die Feststellung, dass dies für immer der Fall sei, ist affirmativ. Der Erfolg wird rhetorisch überhöht, um die dauerhafte Bedeutung Meschas aufgrund seiner Territorialerwerbungen zu betonen. Dennoch scheint die Eroberung des Gebietes mit einer vollständigen Vernichtung des Gegners in dem betreffenden Territorium einherzugehen.

„Und die Leute von Gad wohnten seit jeher im Lande von Ataroth und der König von 10 Israel hatte Ataroth für sich gebaut. 11 Ich griff die Stadt an und nahm sie ein. Und ich tötete alles Volk, 12 [und] die Stadt gehörte Kamoš und Moab. Und ich brachte von dort den Altar ihres DWD und ich 13 schleppte ihn vor Kamoš in Qerejoth. Und ich ließ dort wohnen die Leute von Saron und die Leute 14 von MḤRT. Und Kamos sprach zu mir: Geh, nimm Nebo (im Kampf) gegen Israel! Da 15 zog ich bei Nacht los und kämpfte gegen es von Tagesanbruch bis Mittag. Und ich 16 nahm es ein und tötete alles: 7000 Männer, Klienten, Frauen, [Klientinnen 17 und Sklavinnen, denn ich hatte es ‘Aštar-Kamoš (durch Bann) geweiht (כי לעשתר כמש החרמתה) Und ich nahm von dort die [Gerät]e(?) 18 Jahves und schleppte sie vor Kamos.“

Die Ermordung der Bevölkerung wird mit חרם, das eine Art Opferung bzw. Weihung bezeichnet, ausgedrückt. Dieselbe Phrase findet sich u. a. in Dtn 7,2 und 20,17 sowie in den dtr Geschichtsbüchern (z. B. Jos 6,17f.21; 7,1; 11,20; Ri. 1,17; 1Sam 15,18). An allen diesen Stellen zielt der Gebrauch des Verbs חרם bzw. das Nomen חרם „Bann“ auf eine vollständige Vernichtung eines Gegners aus. Ausnahmen werden ausdrücklich als solche kenntlich gemacht und z.T. begründet. In Dtn 2,34 und 3,7 wird bspw. das Beutegut, offenbar bewegliches Gut, und das Vieh von der Vernichtung ausgenommen.

Mit der Vernichtung der Bevölkerung und der Rede vom Bann geht ein historischer Wechsel im Landbesitz in dem betreffenden Gebiet einher. Es handelt sich um den Wechsel von der Unheils- zur Heilszeit, dem in Z. 7 die Aussage, dass Israel für immer zu Grunde gegangen sei, entspricht. Die Inschrift behauptet nicht nur einen Wechsel der Herrschaft und Kultur, sondern einen vollständigen Austausch der Bevölkerung.10 Allerdings gibt es für einen solchen radikalen Umbruch für das 9. Jh. im jordanischen Bergland keine archäologischen Anhaltspunkte. Aber auch der Text selbst lässt erkennen, dass die Rede vom Bann vor allem in die Ideologie der Beschreibung der kriegerischen Ereignisse gehört, die Realität aber offensichtlich anders ausgesehen haben muss.

„Ich habe Qeriḥō gebaut, die Mauer der Parks und die Mauer 22 der Akropolis. Und ich habe seine Tore gebaut und ich habe seine Türme gebaut. Und ich 23 habe den Königspalast errichtet und machte die Umfassungsmauern des Becken[s für die Que]llen inmitten 24 der Stadt. Aber eine Zisterne gab es nicht inmitten der Stadt, in Qeriḥō, sondern ich sprach zu allem Volk: Macht 25 euch jeder eine Zisterne in seinem Hause! Und ich habe die Gruben hauen lassen für Qeriḥō durch Gefangene 26 Israels.“

In den Z. 22–26 werden bei der Aufzählung der Baumaßnahmen ausdrücklich Gefangene Israels erwähnt, wobei es sich um Kriegsgefangene gehandelt haben dürfte. In diesem Fall bedeutet das, dass selbst die Soldaten nicht unter den vollständigen Vollzug des Bannes gefallen sind. Ebenso aufschlussreich ist die Erwähnung der Menschen von Gad, die in Ataroth angeblich schon immer gewohnt haben.

„Und die Leute von Gad wohnten seit jeher im Lande von Ataroth und der König von 10 Israel hatte Ataroth für sich gebaut. 11 Ich griff die Stadt an und nahm sie ein. Und ich tötete alles Volk, 12 [und] die Stadt gehörte Kamoš und Moab. Und ich brachte von dort den Altar ihres DWD und ich 13 schleppte ihn vor Kamoš in Qerejoth. Und ich ließ dort wohnen die Leute von Saron und die Leute 14 von MḤRT.

Der Abschnitt behauptet, dass die von außen gekommenen Israeliten Ataroth errichtet und bevölkert hätten, definiert aber die Gaditer als indigene Bevölkerung. In den biblischen Texten sind sie dagegen selbstverständlicher Bestandteil und Stamm Israels, und die Angehörigen des Stammes werden auch in der betreffenden Gegend lokalisiert (vgl. Dtn 3,12.16). Es scheint, dass man hier flexibel mit den Zuordnungen der Bevölkerungen umgehen konnte, was gegen den Vollzug des Bannes spricht. Übertragen auf den Bann bedeutet das, dass dieser zu der ideologischen Konzeption der Präsentation der kriegerischen Ereignisse gehört. Angesichts des fehlenden archäologischen Befundes legt es sich nahe, dass die Vorbevölkerung nicht wie behauptet vernichtet worden ist, was Kriegsopfer und entsprechende Gräuel nicht ausschließt. Weshalb aber behauptet man, man habe die gesamte israelitische Bevölkerung getötet? Im Kontext der Inschrift dürfte intendiert sein, dass man mit der Behauptung der vollständigen Vernichtung Israels einen möglichen Anspruch auf das Territorium bestreitet. Das Monument dokumentiert so einen vollständigen Neuanfang, was kohärent mit der enthaltenen Geschichtskonzeption verbunden ist, die eine Heilswende sieht. In Bezug auf die Vorbevölkerung wird an eine der Unheilszeit vorausgehende Zeit angeknüpft. Die Darstellung einer vollständigen Vernichtung und der Gebrauch der Bannterminologie ist somit vor allem rhetorisches Mittel,11 um die Behauptung aus Z. 7 zu unterstreichen, dass Israel für immer zugrunde gegangen ist. Sie dokumentiert, dass Israel seine Ansprüche auf die Territorien im moabitischen Teil des Ostjordanlandes verloren hat oder um eine biblische Formulierung zu gebrauchen, dass es keinen Teil (mehr) an dem Gebiet hat.

Ist in diesem Kontext von einer Sakralisierung des Krieges zu sprechen? Meiner Ansicht nach spielen die Religion und der Kult eine untergeordnete Rolle. Die Gottheit und die Religion stehen weniger in einer Beziehung zum Krieg, der natürlich nicht säkular gedacht ist, als vielmehr in Bezug auf die Geschichtskonzeption, in der eine Unheilszeit von einer Heilszeit unterschieden wird. So wird über das Thema der Legitimität der Besitzansprüche ein kultureller Neuanfang des eroberten Territoriums postuliert.

Für die Interpretation der biblischen Texte ist die Tatsache, dass wir im direkten Kontext des Alten Israels auf vergleichbare Konzepte treffen – und zwar Jahrhunderte vor Abfassung der biblischen Texte –, von großer Bedeutung. Offenkundig ist nicht nur die Konzeption und die Rede vom Vollzug des Bannes älter als die theologischen Konzeptionen und auch älter als der biblische Monotheismus, sondern auch die scheinbar typischen dtr Konzeptionen von Zorn und Erbarmen der Gottheit, was Unheil und eine nachfolgende Heilswende nach sich zieht.

3Der Bann in der dtr Geschichtskonstruktion (Dtn 2f.)

In den biblischen Landnahmeüberlieferungen erlangen wir Einblick in die Genese einer solchen Argumentation. Wir besitzen in Num 21,21ff. und Dtn 2,24ff. inhaltlich parallele, aber sich sachlich unterscheidende Darstellungen der Eroberung des Ostjordanlandes.1 Gegenüber einer vorübergehenden Sicht in der Forschung, wonach das Numeribuch die Darstellung in Dtn 2f. generell rezipiere,2 muss man festhalten, dass Dtn 2f. auf der vordtr Überlieferung in Num 21 beruht.3

Auch wenn die Frage nach der literarischen Abhängigkeit zwischen Num 21,21ff und Dtn 2f nicht in allen Einzelheiten im Konsens beantwortet wird, so ist doch soviel klar, dass im Numeribuch und im Deuteronomium zwei denselben Sachverhalt behandelnde Texte mit einer unterschiedlichen literarischen Intention existieren: In Num 21,21–25.33–35 fehlt gegenüber Dtn 2f die Bannthematik und mit ihr die vollständige Vernichtung der Vorbevölkerung. Außerdem beginnt die Sihon-Episode mit einer Gottesrede (Dtn 2,24f), in der paradigmatisch die Landnahme eröffnet wird. Diese steht im Einklang mit Dtn 1–3 insgesamt, aber im Konflikt mit der Aussendung von Botschaftern mit der Bitte, das Land durchziehen zu dürfen, was ausgeglichen wird durch die Rede von den דברי שלום (Dtn 2,26), die im Sinne des Kriegsgesetztes (Dtn 20,10f) als Ultimatum aufzufassen sind und eine Verstockungsnotiz (Dtn 2,30), die die Ablehnung des Ultimatums auf ein Eingreifen Jhwhs zurückführt.4