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Beschreibung

Zwölf literarische Stimmen aus Norwegen. Darunter so prominente Namen wie Karl Ove Knausgård, Siri Hustvedt, Dag Solstad and Tomas Espedal. Herausgeber von "Heimatland" sind IKH Kronprinzessin Mette-Marit und der Schriftsteller Geir Gulliksen - die in ihrem Vorwort die norwegische Mentalität, Gesellschaft und Literatur beleuchten.

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Seitenzahl: 299

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I.K.H. KRONPRINZESSIN METTE-MARIT & GEIR GULLIKSEN (HRSG.)

HEIMATLAND

und andere Geschichten aus Norwegen

Luchterhand

Die norwegische Originalausgabe erfschien 2019 unter dem Titel »Hjemlandet og andre fortellinger« bei Aschehoug, Oslo.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Klemperer-Zitate: Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942-1945. Aufbau-Verlag, Berlin 1995. S. 72, 215, 256

Copyright © der Originalausgabe 2019 H. Aschehoug & Co (W. Nygaard), Oslo

© der deutschsprachigen Ausgabe 2019 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Satz: Uhl + Massopust, AalenAutorenfotos von © Tine PoppeAutorenfoto von Karl Ove Knausgard © André Loyning

Schutzumschlaggestaltung: buxdesign, München, unter Verwendung einer Vorlage von © Sverre Malling/BONO219, Norwegian Muskox 2016 (detail), 180 x 263 cm, Charcolat/colourpencil on paper

ISBN 978-3-641-24234-3V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

INHALT

VORWORT

Du musst keine Angst vor dem Leben haben

TOMAS ESPEDAL

Frucht

VIGDIS HJORTH

Körpersprache

OLE ROBERT SUNDE

Stolpersteine in Oslo

MARIT EIKEMO

Liebe gibt es auch auf diesen Straßen

SIRI HUSTVEDT

Die zwei Norwegen

WENCKE MÜHLEISEN

#Shetoo

DEMIAN VITANZA

Das Wartezimmer

KARL OVE KNAUSGÅRD

Das Heimatland

HELGA FLATLAND

Bruchharsch

AGNES RAVATN

Olsok

MARIA NAVARRO SKARANGER

Die Zeit nach dem Vater

DAG SOLSTAD

Kann man einer Nationalsprache den Garaus machen? Ist das nötig?

BIOGRAPHIEN

VORWORT

I.K.H. Kronprinzessin Mette-Marit im Gespräch mit Geir Gulliksen

Du musst keine Angst vor dem Leben haben

MM: Als ich dich fragte, ob du dieses Buch hier mit mir herausgeben möchtest, waren wir uns sofort einig, dass wir Autoren und Autorinnen einladen wollen, über das Norwegische zu schreiben, darüber, was das Norwegische für sie heißt. Was bedeutet dir das Norwegische eigentlich, Geir? Und weshalb warst du einverstanden, dieses Buch mit herauszugeben?

GG: Mein erster Gedanke war: Daran kann ich mich nicht beteiligen.

MM: Ich erinnere mich aber noch genau an das, was du gesagt hast: »Und gerade deshalb will ich es machen, ich will es machen, weil ich Angst davor habe.«

GG: Zunächst dachte ich, wenn ich ein Buch mit dir herausgebe, sieht es dann nicht so aus, als würde es mir gewaltig schmeicheln, an etwas so Königlichem, Öffentlichem und ganz hoch Angesiedeltem beteiligt zu werden?

MM: Nein, nun hör aber auf!

GG: Doch, ich dachte, es könnte mir als Autor schaden. Schließlich möchte ich ja gern als jemand gesehen werden, der konträr ist oder ein bisschen schwierig, eine eher kritische Stimme. Und ein Buch mit dir herauszugeben, ist gewissermaßen das Gegenteil von meinen Intentionen. Aber ich kenne dich als eine sehr gute Leserin und habe deswegen zugestimmt. Und glücklicherweise ging es den Autoren und Autorinnen, die wir eingeladen haben, ebenso. Außerdem versuche ich mit all meinen Vorstellungen zu brechen, welche Art Schriftsteller ich eigentlich sein will.

MM: Welche Art Schriftsteller willst du denn sein, Geir?

GG: Ich bin sehr früh Schriftsteller geworden, beinahe zu früh, und das führte dazu, dass ich viel zu viele Jahre brauchte, um darüber nachzudenken, welche Art von Autor ich sein will und welche Art von Büchern ich schreiben will, um diese Art von Autor zu sein. Das machte mir das Leben wie das Schreiben schwer, bis ich herausfand, dass ich mich einfach nicht entscheiden konnte, was ich schreiben wollte; ich konnte mich nicht entscheiden, was in meinem Leben wichtig sein sollte. Aber das, was ich schreibe, muss auf einer Höhe mit dem Leben sein.

MM: Was macht das Norwegische so interessant, um darüber zu schreiben?

GG: Literatur wurde ja zur Bildung und Formung von Nationen benutzt, nicht zuletzt in diesem Land, das konstitutionell gesehen sehr jung ist. Daher wollte ich den entgegengesetzten Weg gehen. Wir sollten uns eher fragen: Wie norwegisch sind wir? Und da sind wir beide möglicherweise nicht ganz einer Meinung.

MM: Du bist eher schwedisch?

GG: Ja, ich bin ein Riesenschwede! Viele Jahre habe ich mehr schwedische als norwegische Literatur gelesen. Ich fühle mich frei, wenn ich über die Grenze fahre, ich atme freier. Die Erklärung ist einfach, glaube ich. Sobald ich mich in einem anderen Land und einer anderen Sprache befinde, erscheint es mir einfacher, mich selbst neu zu verstehen. Und genau darum geht es doch auch in der Literatur, sie hilft uns, von einem Punkt aufzubrechen, der erstarrt und hinreichend erklärt ist, sie soll uns in die Lage versetzen, neue Verbindungen zu erkennen. Das Schwedische hat bei mir also ungefähr dieselbe Wirkung wie die Literatur. Tatsächlich denke ich nur sehr selten mit Vergnügen an mich als Norweger. Ich fühle mich im Norwegischen so eingesperrt.

MM: Das begreife ich nicht, Norwegen ist doch das freieste Land der Welt!

GG: … sagt die Kronprinzessin von Norwegen! Warum fühle ich mich trotzdem so eingesperrt? Ich habe mein ganzes Leben das Gefühl gehabt, eingesperrt zu sein, und das ist einer der Gründe, warum ich schreibe – der Versuch, freier zu werden. Es hat sicher etwas damit zu tun, dass ich aus einem ganz kleinen Ort stamme, Kongsberg. Als meine Eltern dort aufwuchsen, war es eine noch kleinere Stadt, ein Ort, in dem dich alle kennen, in dem jeder jeden kennt. Du hast das Gefühl, dass die Leute glauben, etwas über dich zu wissen, und dass du vorsichtig sein musst bei dem, was du tust und was du sagst. Egal was du anstellst, du weißt, dass viele denken, oh ja, das ist doch der, ja, der Sohn von dem und dem. Das ist für mich ein sehr intensives Gefühl des Eingesperrtseins. Also bin ich sobald wie möglich nach Bergen gezogen. Ich wollte ins Ausland, kam aber nur bis Bergen. Dort studierte ich, doch nach einer Weile fühlte ich mich auch in Bergen eingesperrt. Verstehst du, was ich meine? Warum geht es dir nicht so?

MM: Ich bin da ganz anderer Ansicht. Ich bin in Kristiansand aufgewachsen, auch keine sonderlich große Stadt. Es gab dort einen Himmel, den offensten Himmel, den ich kenne. Ich glaube, ich war glücklich, als ich dort lebte und meine Freunde hatte. Ich erlebte eine ungewöhnliche Freiheit in der Art und Weise, wie ich gesehen wurde und wie ich andere sah. Erst als ich als Sechzehnjährige nach Australien kam, begriff ich, dass es Unterschiede gab, wie Jungen und Mädchen sich zu benehmen hatten, denn es gab ganz andere Regeln dafür, wie Jungen und Mädchen sein sollten. Als wir in Kristiansand aufwuchsen, war das nie ein Thema gewesen. Ich denke, die Freiheit, mit der ich aufgewachsen bin, war sehr wichtig für mein Selbstbild, und nicht zuletzt dafür, mit welchem Blick ich andere sehe. Das ist etwas, was mir am Norwegischen so gut gefällt. Das Gefühl, große Teile meines Lebens hier so frei gelebt zu haben.

GG: Da haben wir sehr unterschiedliche Erfahrungen, und doch sind wir beide norwegisch.

MM: Können wir etwas als das Norwegische definieren, oder sind es nur individuelle Erfahrungen, in einer Gemeinschaft zu sein? Gibt es etwas, wo du denkst, ja, das ist möglicherweise eine bestimmte norwegische Art, die Dinge zu betrachten? Beziehungsweise, gibt es eine spezifisch norwegische Eigenschaft oder eine norwegische Weise, die Dinge zu erleben?

GG: Du lieferst zumindest eine adäquatere gesellschaftliche Beschreibung von wichtigen Werten des Norwegischen als ich. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern sind wir sicherlich ein gutes Stück vorangekommen, wenn es um die Gleichstellung geht. Und bei der Freiheit, die du beschreibst, muss ich ja mit dir einer Meinung sein. Aber ich spreche von einer sehr tiefsitzenden Schüchternheit oder Verlegenheit, aus der ich mich mit Hilfe der Literatur befreit habe. Ganz klar, das Lesen und Schreiben hat mich freier werden lassen. Es hat mich in die Lage versetzt, relativ unbeschwert sprechen zu können. Und ich glaube, dass wir beide, du und ich, die Literatur vermutlich für dasselbe nutzen, allerdings von höchst unterschiedlichen Ausgangspunkten.

MM: Wenn wir über das Norwegische reden, warum reden wir dann darüber, wie wir es als Kinder und Jugendliche erlebt haben – und nicht als Mette im Alter von fünfundvierzig und Geir im Alter von fünfundfünfzig Jahren? Prägt unsere Heimat uns denn tatsächlich während des Aufwachsens am meisten? Was denkst du heute über das Norwegische in dir, als Fünfundfünfzigjähriger? Du bist Ehemann und Vater von fünf Kindern. Gibt es etwas Norwegisches in dir?

GG: Ich glaube, ich bin heute weitaus jünger, als ich es als Kind war. Ich weiß, das ist ein verstecktes Bob-Dylan-Zitat, aber für mich stimmt es unbedingt. Ich bin heute lockerer, freier, kindlicher, mehr ich selbst. Über mich wird nicht bestimmt wie über ein Kind. Wenn ich darüber rede, wie es war, ein Kind zu sein, und wie es sich anfühlte, im Norwegischen eingesperrt zu sein, dann hat das viel damit zu tun, dass man nicht über sich selbst bestimmen durfte. Aber danach hast du vermutlich nicht gefragt?

MM: Nein, eigentlich wollte ich wissen, ob es in dir heute etwas Norwegisches gibt? Etwa, dass du immer kindlicher wirst?

GG: Vermutlich ist es so, dass ich versuche, das loszuwerden, was ich das Norwegische nenne. Noch vor einigen Jahren war es ein weit verbreiteter Gedanke, dass die Idee vom Nationalstaat überholt ist und alle Überlegungen über etwas spezifisch Norwegisches im Grunde ideologisch problematisch sind. Das war zumindest meine Haltung. Aber ich sehe natürlich, dass es Antworten braucht, die nicht so vollautomatisch oder ideologisch gesteuert daherkommen. Die Antwort ist also komplizierter, ich kann die Frage nicht eindeutig beantworten. Für mich geht es beim Norwegischen aber noch immer sehr um das Eingesperrtsein. Allerdings weiß ich, dass dies eine individuelle Wahrheit ist und die Texte in diesem Buch ganz andere Herangehensweisen zeigen, sich dieser Frage zu nähern.

MM: Was passiert, wenn ein schüchterner Geir aus Kongsberg Belletristik liest und herausfindet, dass er sich ändern kann? Was geschieht bei der Begegnung mit dem Text?

GG: Ich glaube, es lässt sich in dieser Anthologie nachvollziehen. Zum Beispiel in den Texten von Dag Solstad, Tomas Espedal oder Wencke Mühleisen. Bei diesen Autoren findest du einen individuellen, besonderen Klang, beinahe so, als würdest du jemanden singen hören. Wenn dir solche besonderen Stimmen in der Literatur begegnen, erlebst du etwas Eigenes und Persönliches in dir selbst. Und das hat nicht nur etwas mit dem Thema zu tun, über das sie schreiben, hin und wieder ist es nachgerade unwesentlich, was sie sagen, aber ganz entscheidend, wie es gesagt wird. In diesem Wie der Literatur liegt häufig eine ganze Lebenseinstellung.

MM: Ja, ich denke, es hat etwas mit der Verletzlichkeit und dem Schmerz zu tun, mit dem etwas gesagt wird – tief unten, beim Schnitt bis auf die Knochen. Ein Erlebnis wird dann so wichtig, dass es sich auf keine andere Weise schreiben lässt. Dag Solstad hätte seinen Text vermutlich nicht so schreiben können, wie er es getan hat, wäre das, worüber er schreibt, nicht entscheidend für ihn gewesen? Es gehört für mich zu dem Anrührendsten an diesem Text, dass ich einen Blick in das Allerinnerste des Autors werfen darf. Natürlich bin ich mir nicht sicher, ob er selbst es sein Allerinnerstes nennen würde, aber für mich als Leserin ist es so, als hätte ich in das Verletzlichste und Wichtigste von Dag Solstad geblickt – als Mensch und als norwegischem Schriftsteller. Ich finde, sein Text fasst meine Intention dieses Buches zusammen: Es soll etwas über den Zusammenhang von Sprache, Literatur und unserem Leben gesagt werden. Und warum die Literatur für uns so wichtig ist. Obwohl es durchaus ein politisch unkorrekter Text ist.

GG: Was ist deiner Ansicht nach das Wichtigste an diesem Text?

MM: Er sagt etwas über unsere Sprache aus. Was ist die norwegische Identität? Ist die norwegische Identität dabei, unscharf zu werden, weil wir in vielen Zusammenhängen unsere Sprache verlieren? Vor allem drückt der Text meiner Meinung nach eine große Sorge darüber aus, dass die Welt in einem Tempo weiterrast, mit dem wir nicht mehr Schritt halten können. Ich glaube, sehr viele von uns können sich in der Angst wiedererkennen, dass die Welt einfach in eine Richtung davongaloppiert, mit der wir einfach nicht zurechtkommen. Weil wir uns wünschen, dass eigentlich alles ein wenig ruhiger zugehen sollte.

GG: Dag Solstad spricht auch darüber, aus einem Land zu kommen, das keine Großmacht ist. Möglicherweise ändert sich das ja – in gewissen Zusammenhängen sieht es durchaus so aus, als würde Norwegen sich wünschen, eine Großmacht zu sein. Es gibt auch eine Wut in diesem Text, und, wie du zu Recht sagst, einen Schmerz darüber, dass unsere Sprache austauschbar werden könnte. Kjartan Fløgstad hat einmal über Dag Solstad gesagt, er sei ein Desperado, ein Verzweifelter.

MM: Genau das ist er in diesem Text. Er entblößt sich selbst so gewaltig und überzeugend; es ist unglaublich, dass er es wagt. Es ist sehr schön.

GG: Und genau darum geht es! Wir reden selten darüber, dass es in der Literatur darum geht, etwas bloßzulegen, was für den Schreibenden entscheidend und wichtig ist. Aber um darauf hinzuweisen, muss jemand, der über Literatur spricht, auch imstande sein, sich – und seine Art zu lesen – zu entblößen. Wenn es um die Auswahl in diesem Buch geht, wenn es etwas gibt, das diese Autoren und Autorinnen gemeinsam haben, dann ist es …

MM: … dass sie schreiben wie existenzielle Desperados! Ja, da bin ich ganz deiner Meinung. Das ist eine Gemeinsamkeit dieser Texte. Glaubst du, dass diese Verzweiflung alle kennen, die mit der norwegischen Sprache aufgewachsen sind?

GG: Die Autoren und Autorinnen, die wir eingeladen haben, wurden aufgrund ihrer literarischen Stimmen ausgewählt. Das heißt, es ging uns ganz sicher nicht um eine Art von repräsentativem Denken. Wir haben einfach nach Stimmen gesucht, die wir beide persönlich als wichtig erlebt haben. Das war ein wesentliches Prinzip, das natürlich anfechtbar ist. Sicherlich gibt es sehr viele andere Autoren, die wir gern dabei gehabt hätten. Aber möglicherweise ist diese Verzweiflung, über die wir hier reden, tatsächlich etwas, das den Autoren und Autorinnen des Buches gemein ist.

MM: Viele schreiben darüber, von zu Hause weg zu kommen oder nach Hause zurückzukehren. Viele gehen zurück in die Kindheit, in Erinnerungen. Es gibt ein existenzielles Gewicht, das ganz offensichtlich bis in Details reicht. Sieh dir nur an, was Vigdis Hjorth in ihrem Text macht.

GG: Ja, diese Geschichte demonstriert gleichsam, was in der Belletristik möglich ist, denke ich. Es geht um etwas Winziges, offenbar vollkommen Unwichtiges, es geht darum, sich zu kratzen, nach Schuppen im Haar zu suchen und Pickel aufzukratzen, und der Text lässt all dieses verbotene Kratzen und Pulen zu einem enormen Schatten in der Existenz anwachsen. Aber ist es nicht so, dass viele Texte auch auf eine gewisse Sorge eingehen, beziehungsweise auf eine enorme Verzweiflung über den Weg, auf dem wir uns befinden? Das findest du bei Dag Solstad und Vigdis Hjorth, aber auch bei Maria Navarro Skaranger, Demian Vitanza, Ole Robert Sunde oder Wencke Mühleisen.

MM: Wencke Mühleisen ist eine Autorin, die ich sehr gern lese. Hier schreibt sie darüber, wie man allmählich unsichtbar wird und wie man diese Situation erlebt. Wie es ist, auf der Straße nicht mehr gesehen zu werden. Einige ihrer Sätze haben mich regelrecht umgehauen, sie waren wie ein Schlag ins Gesicht. Nicht unbedingt wegen meines Alters, sondern weil ich eine bestimmte Wahl für mein Leben getroffen habe, so wie viele von uns sich entschieden haben, wie sie leben wollen, egal ob wir achtzig, zweiundvierzig, fünfunddreißig oder sechsundzwanzig Jahre alt sind. Es geht um eine Wahl. Ob wir bereit sind, uns der Welt zu öffnen oder nicht. Es gibt nur wenige, die darüber so sprechen wie Wencke Mühleisen.

GG: Kannst du etwas konkreter werden?

MM: Viele von Wencke Mühleisens Texten haben mir zu der Erkenntnis geholfen, was es heißt, eine Frau zu sein. Eine Frau – oder vielleicht zunächst einfach nur einmal ein Mensch, denn ich glaube nicht unbedingt, dass diese Erfahrung nur für Frauen gilt. Was passiert mit uns, wenn wir die Kraft verlieren, die Sexualität als Lebenskraft? Ich glaube, es gehört zum Schlimmsten, was uns Menschen passieren kann. Durch Wencke Mühleisen sehe ich dies jetzt mit ganz anderen Augen als vorher. Ich verbeuge mich vor ihr, ich wünschte, ich wäre so.

GG: Das bist du doch, zum Beispiel, wenn du über Literatur sprichst. Deshalb will ich dich auch nach Demian Vitanzas Geschichte fragen. Sie spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, und es geht darin auch um dich und andere, die dir nahestehen. Was denkst du darüber?

MM: Ich habe ein sehr entspanntes Verhältnis zu Kunst und Literatur, das war schon immer so. Ich denke, die Menschen erkennen den Unterschied, sie begreifen eine Geschichte nicht als wahr oder als etwas, das mich, meinen Mann oder unser Leben widerspiegelt. Demian Vitanza weist auf einige Zustände in der norwegischen Gesellschaft hin, die uns gefallen können oder nicht, für ihn befindet sich Norwegen auf dem Weg in eine Richtung, die ihm missfällt, und er benutzt uns als Modell, um dies zu zeigen. Damit habe ich überhaupt kein Problem. Ich habe viele Jahre damit gelebt, dass das Interesse auf mich gerichtet war. Solche Dinge sind mir nicht wichtig, es gibt so viele andere wesentliche Dinge, die weit wichtiger sind. Für mich ist es viel entscheidender, ein ganzheitliches Leben zu führen.

GG: Was heißt das?

MM: Das bedeutet, dass ich viel lesen muss! Ich empfinde es so, dass mein Leben wahrer ist, wenn ich viel lese, dass ich einen besseren Kontakt zum Wahrhaftigsten in mir bekomme. Ich habe die Literatur sehr aktiv genutzt, um an einen Punkt zu gelangen, an dem ich mich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen kann, in der ich lebe, und zwar schon seit ich klein war. Wenn man die Literatur dafür nutzt, Dinge in das eigene Leben zu übersetzen, um sie zu verstehen, dann wird Lesen wichtig. Wenn man vergisst zu lesen, wenn man die Rolle der Literatur in seinem Leben vergisst, ist es so, als würde man einen wesentlichen Teil von sich selbst ausradieren.

GG: Das stimmt, das kenne ich auch von mir. Meinem Eindruck nach sind wir gar nicht so verschieden, wir sind beide fasziniert von einer gewissen Art von Literatur, von Schriftstellern, die eine klare und wiedererkennbare Stimme haben. Und diese Stimme ermöglicht es dem Leser, mit sich selbst in Kontakt zu treten, mit seiner eigenen inneren Stimme.

MM: Ja, und bei den Büchern, die ich lese, geht es häufig um Menschen, die mir überhaupt nicht ähnlich sind. Literatur, die von Menschen handelt, die mir ähnlich sind, ist oft ziemlich schlecht. Ich lese zum Beispiel viel über jüdische Männer. Ich denke an Philip Roth. Das Zeitkolorit, das er von dem Amerika liefert, in dem er lebte, hat mich stark beeindruckt. Er war ein jüdischer Mann, wuchs in Newark auf und schrieb vor diesem Hintergrund seine Geschichte in vielen Variationen und Nuancen. Und durch die persönliche Stimme, zu der er fand, liefern seine Romane vielleicht einige der interessantesten zeitgenössischen Ansichten der USA, die je geschrieben wurden.

GG: Aber niemand hätte sie bestellen können. Sie basieren auf persönlichen Erfahrungen.

MM: Ja, vermutlich hätte er nie von vornherein gesagt, über dieses oder jenes muss ich jetzt schreiben. Meinst du, das ist bei Tomas Espedal zum Beispiel ähnlich, wenn er über etwas schreibt, was ich als seine sehr norwegischen Erlebnisse lese? Dass er ein Mann ist, der an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geboren wurde?

GG: Ich habe bei Tomas Espedal unbedingt das Gefühl, dass er ein Mann ist und aus Bergen stammt, aus einer Schicht der Arbeiterklasse, die ich ein bisschen kenne. All dies kommt bei ihm deutlich zum Ausdruck. Aber wie er in seinen Texten gleichsam singt – so rein! –, das kommt nicht daher. Mit dieser Stimme kann er sich von allem befreien, was er mit sich herumschleppt. Und diese besondere Art seines Gesangs hat er unter anderem von einer französischen Autorin, von Marguerite Duras. Nicht dass seine Texte ihren ähneln würden, aber an seinem Ton und dem persönlichen Engagement lässt sich durchaus ahnen, dass es eine Verwandtschaft mit der Duras gibt. Das ist genauso, wenn Dag Solstad auf Schriftsteller hinweist, die für ihn wichtig waren. Es sind nicht viele norwegische Namen darunter – aber abgesehen von Agnar Mykle und Aksel Sandemose ist es ein wunderbarer Fächer europäischer Autoren. Und doch ist alles, was Dag Solstad schreibt, genuin an die Zeit gebunden, in der er schreibt – und an das Land, aus dem er kommt. Auch bei Tomas Espedal kommt eine ganz spezifisch lokale und persönliche Zugehörigkeit zum Ausdruck, allerdings ist seine eigenwillige und selbstbezogene Stimme nicht spezifisch Norwegisch. Sondern seine eigene.

MM: Für mich ist auch Ole Robert Sundes Text ungewöhnlich schön.

GG: Er schreibt über Stolpersteine, die eine Spur oder eine Erinnerung an die Opfer einer unfassbaren Brutalität sind, und auch das ist ein Teil der norwegischen Geschichte. Aber was lässt für dich den Text so schön werden?

MM: Es liegt eine solche Würde in dem, was er schreibt und wie er es schreibt, mich überkommt ein gewaltiges Gefühl der Nostalgie nach einem Leben, das ich nie führen werde, wenn du verstehst, was ich meine. Es hat etwas sehr Gebildetes, es hat eine sanfte, unaufdringliche Bildung, die ich selten erlebe.

GG: Es ist aber auch ein Text, der an keiner Stelle das Gefühl vermittelt, gut gemeint oder nett und freundlich zu sein, er bebt, er ist verletzlich und eigentümlich subjektiv auf eine Weise, wie in der Literatur manchmal die Erschütterung von Autoren zu spüren ist, die beim Schreiben mit etwas sehr Persönlichem in Kontakt stehen. Das muss nicht unbedingt persönlich sein, es ist vielleicht nur mit einer Einsicht in das Menschliche aufgeladen. Dies gilt im Übrigen auch für Maria Navarro Skarangers Text, dem Portrait eines Vaters aus der Perspektive der Tochter. Ein Text, in dem es auch um Klassen geht, in dem jemand plötzlich eine Reihe von sozialen Unterschieden bemerkt, die für ihn nicht mehr selbstverständlich sind. Du sprichst bei Sunde von Würde, aber bei Skaranger gibt es so etwas wie eine paradoxe Würde, finde ich. Anscheinend wird hier ein Leben in Armut beschrieben, sowohl psychisch wie materiell, aber die Beschreibung ist unerschrocken, voller Verwunderung und Humor, und damit wird dieses Leben geheimnisvoll und interessant – es ist wert, sich darin zu vertiefen. Als Leser musst du dich neugierig dazu verhalten.

MM: In Helga Flatlands Text geht es vermutlich um etwas Ähnliches, obwohl er anders ist?

GG: Ja, sie schreibt über die Nähe in einer kleinen Gemeinschaft, die mich überrascht und überzeugt hat, dass ich vieles in meinem eigenen Leben nicht gesehen oder verstanden habe. Ich denke zum Beispiel an die Passage, in der ein Mann, der im Dorf die Straßen und Wege vom Schnee freiräumt, weiß, wo er zusätzlich streuen muss, weil ihm bekannt ist, dass es beim Schnee Unterschiede gibt, je nachdem, wo er liegt. Und weil er darauf achten muss, dass es nicht glatt ist, wenn eine ältere Frau ihre Post abholt. Es ist ein physisch verankertes Bild, in dem es darum geht, was es heißt, in diesem kleinen Ort zu wohnen. Es hat etwas sehr Anrührendes, das mich über den Ort, aus dem ich komme, anders denken lässt. Und das steht in einem Text, der auch problematisiert, wie hoch die persönlichen beruflichen Ambitionen in einer Gesellschaft wie der unseren geschätzt werden.

MM: Besteht die Rolle der Literatur nicht überhaupt darin, uns aus dem gewöhnlichen Trott an einen neuen Punkt zu bringen, von dem aus wir unser Leben betrachten können? Ich hoffe, dass die Texte in diesem Buch dazu beitragen. Ich finde, die Geschichten haben etwas Wesentliches über das Land zu sagen, in dem wir leben. Ändern sich unsere Werte aufgrund des Reichtums, von dem viele profitieren? Ist die Genügsamkeit verschwunden, die uns Norweger geprägt hat?

GG: Siri Hustvedt schafft in ihrem Essay eine Verbindung zurück zu einem Norwegen, das es nicht länger gibt, das aber von den norwegischen Auswanderern in Amerika lebendig gehalten wurde – eine von ihnen war ihre Großmutter väterlicherseits. Dieser Text ist wie etwas, das man in einer Kiste auf dem Dachboden findet.

MM: Sie beschreibt eine vollkommen andere Landschaft, die vielen unbekannt ist. Es sind klare, erlebte und wertvolle Bilder.

GG: Vermutlich beschreibt ihr Essay auch die Vorstellungen mancher von einem verlorengegangenen Norwegen. Aber einige der anderen Texte versuchen das Gegenteil, sie zeigen andere Bilder als die, auf die man vorbereitet ist. Nimm nur Marit Eikemos Text über eine Fahrt auf den Straßen im Vestlandet. Ich habe das Vestlandet, das sie beschreibt, nie gesehen. Was ist mit diesem Gasthof? Was passiert dort eigentlich? Es ist beunruhigend, es ist eine schwarze und heftige Vision über das eigentliche Leben im Vestlandet.

MM: Und man hat das Gefühl, es sei absolut wahr. Mitten in der Idylle in Hardanger, mit dem irritierten Blick einer Mutter auf ihre Tochter und der Frustration, auf schmalen Straßen fahren zu müssen. Und dann kommt der Satz: »Liebe gibt es auch auf diesen Straßen. Alle Formen der Liebe.« Überleg mal, wie wichtig es sein kann, dass sie diese Bilder des Gasthofs beschwört. Es lässt das Leben größer werden. Genau wie bei Agnes Ravatn. Bei ihr gefällt mir das Burleske, Wilde und Grenzüberschreitende. Der Text, den sie zu diesem Buch beisteuert, ist allerdings von einer anderen Ernsthaftigkeit und Dunkelheit geprägt, als ich es von ihr gewohnt bin.

GG: Äußerlich beschreibt Agnes Ravatn eine norwegische Sommeridylle. Doch in ihrem Schatten verbergen sich furchtbare Geheimnisse. Für mich ist es beinahe unerträglich, wie weit sie geht, wenn sie einen männlich abschätzigen – ja, direkt feindlichen – Blick auf eine erwachsene Frau beschreibt. Und das ist die Frau, mit der dieser Mann verheiratet ist! Aber diese Düsternis, auf die du bei Agnes Ravatn hinweist, ist doch nicht spezifisch Norwegisch.

MM: Nein, und dennoch: Warum haben wir einen so starken Drang zu definieren, was Norwegen für uns ist oder nicht ist, und was das Norwegische in uns eventuell ist? Es scheint doch offenbar etwas tief in uns Liegendes zu repräsentieren, den Wunsch nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Ich finde es durchaus einen Gedanken wert, warum wir von Natur aus so sind, warum wir uns im Grunde die Gemeinschaft mit anderen wünschen? Die Frage ist, wie wir das in der modernen Zeit umsetzen, in der es so viele Kräfte gibt, die uns in ganz andere Richtungen zerren.

GG: Und was denkst du über Literatur und Gemeinschaft?

MM: Ich glaube, als Karl Ove Knausgård Min kamp schrieb, ist es ihm gelungen, etwas darüber zu sagen, wer wir sind – nicht nur als Individuen, sondern über uns, die wir in dieser Zeit in Norwegen aufgewachsen sind und jetzt hier leben. Indem er seine persönliche Geschichte erzählt, liefert er gleichzeitig ein Abbild von uns. Und, wie gesagt, nicht nur von uns als Individuen, sondern als Teil einer Gemeinschaft. Es war ein gewaltiges Bild einer bestimmten Zeit in Norwegen, in dem sich viele wiedererkennen konnten – wohin hat sich der norwegische Mann entwickelt, wohin haben sich die norwegischen Eltern entwickelt. Daher sind diese Bücher für so viele Menschen so aktuell und haben dazu geführt, dass in beinahe jedem norwegischen Haushalt über Literatur diskutiert wurde. Ich glaube, Literatur hat die Fähigkeit, nicht nur etwas darüber auszusagen, wer wir als Individuen sind und wer ich genau in diesem Moment bin, sondern auch darüber, wer wir zusammen mit anderen sind.

GG: Du fühlst dich wirklich als Norwegerin, ist das ein starkes Gefühl in dir?

MM: Ich denke oft, dass ich mich am Norwegischsten fühle, wenn ich über das Hochplateau wandere.

GG: Bist du nicht eigentlich bloß von der Ideologie über das Norwegische verführt?

MM: Ganz klar!

GG: Wenn du in Italien in den Bergen wandern würdest, hättest du vielleicht etwas vollkommen Identisches erlebt.

MM: Nein, das glaube ich nicht – da bin ich ganz sicher. Denn es geht darum, sich als Teil einer Tradition zu begreifen. Wenn ich über die Store Nordmannsslepa wandere – eine meiner Lieblingstouren von Uvdal aus, wo wir eine Hütte haben –, gehe ich meist allein. Und jedes Mal denke ich: all die Menschen, die mit schwerem Gepäck vor dir hier durch die Berge gewandert sind. Sich vorzustellen, dass man in der Tradition der Menschen steht, die hier gelaufen sind. Dann empfinde ich beinahe so etwas wie Stolz, dass ich mich in diese Reihe stellen darf. Ich bin sehr davon geprägt, dass ich eine von ihnen sein kann. Hin und wieder denke ich, vielleicht hätte ich in einem anderen Jahrhundert leben sollen.

GG: Wirklich? So etwas denkst du? Verrückt, so etwas zu sagen!

MM: Ich habe wahrscheinlich so viele Bauerngene in mir und fühle mich damit sehr wohl. Dieses Zähe, dieses Erlebnis, dass der Körper zäh ist und ich ziemlich weit gehen kann. Ich fühle mich nie norwegischer als genau in diesem Moment.

GG: Ist das nicht bloß Propaganda?

MM: Ich erlebe es nicht als Propaganda. Ich liebe es einfach, ich weiß nicht einmal, woher es kommt. Ich wuchs mit einer Mutter auf, die mich auf einen Schlitten legte und meilenweit lief, als ich klein war. Das sind meine ersten Kindheitserinnerungen, ich liege auf einem Schlitten und schaue hinauf in den Himmel. Seit ich klein war, ist dies ein sehr starker Sinneseindruck, der sich in gewisser Weise erhalten hat. Für mich ist das keine Propaganda, es fühlt sich eher an wie der Ort, an dem ich zu Hause bin. Ich habe immer an das Norwegische gedacht und dass all das Helle in mir norwegisch ist. Nicht meine Dunkelheit, sondern das Helle – genau das ist das Norwegische in mir. Das hört sich gewaltig nach Propaganda an, aber genau so empfinde ich es. So denke ich wirklich über das Norwegische.

GG: Es hört sich total nach Propaganda an, es könnte über die Lautsprecher des ganzen Landes ausgestrahlt werden, begleitet von einer Hardanger-Fiedel und gepökelter Lammkeule. Aber ich verstehe, dass es wahr ist, subjektiv wahr. Du hast ganz einfach eine sehr starke nationalromantische Ader, nicht wahr? Und da stellt sich natürlich die Frage, ob das auch schon so war, bevor du Kronprinzessin geworden bist?

MM: Genau das ist ja das Besondere. Ich erinnere mich noch gut an den Tod von König Olav, das war lange bevor ich irgendjemanden aus der Königlichen Familie kannte. Es war so, als wäre mein Großvater gestorben. Ich hatte ein leidenschaftliches Verhältnis zu König Olav. Und das Norwegische hat mich schon immer sehr beschäftigt. Vielleicht weil ich sehr früh zu reisen begann, meine Mutter hat mich immer mitgenommen. Ich glaube schon, dass auch meine Eltern eine Beziehung zum Norwegischen hatten und ich damit aufgewachsen bin. Allerdings war ich als Jugendliche auch extrem rebellisch.

GG: Erzähl ein bisschen darüber.

MM: Zum Beispiel habe ich mir in der dritten Klasse des Gymnasiums sämtliche Haare abrasiert. Mein Protest richtete sich dagegen, dass ich viel zu früh eine viel zu große Verantwortung tragen musste. Das führte dazu, dass ich sehr früh das Gefühl hatte, ich könnte die Welt anhalten, ich könnte die Welt still stehen lassen. Dann ging ich nach Australien, um all dem zu entfliehen, und als ich zurück nach Hause kam, machte ich das internationale Abitur in Kristiansand. Es war eine sehr schwierige Zeit. Ich begriff, dass meine Kindheit etwas in mir ausgelöst hatte; ich durchlief eine Phase, in der ich viel Böses in mir hatte, das heraus musste, und heraus kam es als Wut und Trauer. Bevor ich nach Australien ging, war ich das pflichtbewussteste junge Mädchen der Welt, ich war sehr artig und ordentlich, ganz nach dem Lehrbuch. Doch dann war wohl einfach Schluss, ich konnte nicht mehr, jedenfalls entsprach ich nicht mehr den Erwartungen, die andere an mich hatten. Ich habe immer gewusst, dass ich im Erfüllen von Erwartungen nicht sonderlich gut bin. Wenn die Leute zu große Erwartungen an mich stellen, dann …

GG: Dafür hast du dir dann aber einen ganz besonderen Beruf ausgesucht, das muss ich schon sagen.

MM: Ich habe mich noch nie davor gefürchtet, mich meinen eigenen Ängsten zu stellen. Ich glaube, das steckt tief in mir, ich muss dem, was ich am meisten fürchte, auf eine ordentliche und anständige Art und Weise begegnen. Bei meinem Protest ging es vermutlich eher darum, einen Punkt in mir zu finden, von dem aus ich weitergehen konnte und der mir Sicherheit gab.

GG: Hört sich an, als wärst du froh, dass es diesen Protest gab?

MM: Ich bin glücklich darüber. Dadurch war es mir möglich, mich auf eine ganz andere Weise zu akzeptieren als vorher. Ich habe in dieser Zeit gelesen, Literatur bedeutete mir schon damals sehr viel. Ich fing an, Hamsun zu lesen, über den Karl Ove Knausgård so schön in seinem Text schreibt: »Wo das Leben geschlossen ist oder das Leben schließt, kann die Literatur offen sein oder öffnen.« Es war eine Form der Rettung, als ich lernte, Literatur zu lesen und in ihr zu sein. Aber es steckt noch immer eine Menge Protest in mir. Ich übe meine Rolle nicht auf die Weise aus, wie viele es von mir erwarten. Eher im Gegenteil, glaube ich. Ja, die ersten zehn Jahre habe ich versucht, so zu sein, wie ich meinte, dass eine Kronprinzessin zu sein hat. Das beschäftigt mich jetzt nicht mehr. Es ist mir wichtig, ein Leben zu führen, für das ich eintreten und in dem ich ich selbst sein kann. Und ich glaube, dabei hat mir die Literatur geholfen.

GG: So etwas kann Literatur tatsächlich bei allen bewirken, die wirklich für das Leben lesen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass wir uns an einem Punkt sehr unterscheiden. Mir scheint, als könntest du deinen Gefühlen gegenüber nur wahrhaftig oder treu sein. Ich hingegen kann mich sehr leicht verstellen. Ich glaube sogar, es ist einer der wichtigsten Gründe, warum ich schreibe. Beinahe mein ganzes Leben habe ich gebraucht, um zu lernen, wie ich es vermeide, mich zu verstellen oder mich jeder Situation anzupassen, in die ich gerate. Das ist einer der Gründe, warum ich so selten ausgehe, am liebsten meide ich irgendwelche Veranstaltungen und Feste, es sei denn, ich muss hingehen. Ich bin meist zu Hause und verbringe so viel Zeit wie möglich mit Lesen und Schreiben, weil ich es einfach nicht ertrage, wie unwahr ich mich verhalten kann. In Gesellschaft von anderen verliere ich mich selbst, und dann gehe ich nach Hause und übergebe mich hinterher.

MM: Wir haben lange an diesem Buch gearbeitet, und die ganze Zeit hast du versucht, dich vom Norwegischen zu distanzieren, aber du bist einer der Norwegischsten, die ich kenne. Du wärst nie derselbe Geir, wenn du auf einem Dorf in den USA aufgewachsen wärst, du hättest ganz andere Bücher verfasst. Du hättest nicht diese Texte über Sexualität geschrieben, weil Sexualität dich nicht in der gleichen Weise beschäftigt hätte, wenn du nicht hier aufgewachsen wärst. Bist du nicht auch dieser Meinung?

GG: Ja, einverstanden. Wenn auch etwas widerstrebend.

MM: Also, wie beeinflusst deine norwegische Identität dein Schreiben?

GG: Eines habe ich in jedem Fall festgestellt: Es ist entscheidend für mich, dass das Thema, über das ich schreibe, in etwas verwurzelt ist, das mir wichtig ist. Es muss einen persönlichen Grund dafür geben, dass ich schreibe. Das bedeutet nicht, dass meine Texte direkt autobiographisch sind, aber es muss auf etwas Erlebtem aufbauen. Ich glaube, viele, die schreiben, machen die Erfahrung, dass du häufig etwas schreiben musst, obwohl du das Gefühl hast, es eigentlich nicht schreiben zu können, weil es sich gefährlich anfühlt. Häufig hat es den Anschein, als seien diese Erfahrungen nicht wirklich literarisch, als seien sie zu gewöhnlich oder zu ungewöhnlich. Aber wenn du an etwas sitzt und denkst, darüber kann ich nicht reden, weil du dich nicht traust, es nicht schaffst oder keine Sprache findest, um es auszudrücken, dann musst du es trotzdem versuchen. Eigentlich gibt es keinen anderen Grund zu schreiben, denke ich. Aber das ist keine spezifisch norwegische Erfahrung. Und die Impulse, die ich bekommen habe, um über Geschlechterrollen zu schreiben, über das Männliche und das Weibliche, über Sexualität und Liebe, sind auch nicht spezifisch norwegisch. Ich bin also nicht ganz einer Meinung mit dir, ich fühle mich nicht besonders norwegisch. Aber ich fühle mich natürlich getroffen, wenn du sagst, dass mein Widerwille gegen das Norwegische mich norwegischer macht als irgendetwas anderes.

MM: