Heimzahlung - Christoph Beyer - E-Book

Heimzahlung E-Book

Christoph Beyer

4,4

Beschreibung

Eine Gasexplosion erschüttert den Osnabrücker Stadtteil Sutthausen. Das Opfer: der ehemalige Kinderheimzögling Armin Sommer. Hauptkommissar Richard Fürst tippt zunächst auf Suizid, doch brisante Dokumente enthüllen, dass der Verstorbene mutmaßlichen Nazi-Kriegsverbrechern auf der Spur war. Gemeinsam mit dem jungen Wissenschaftler Jonathan Bach setzt sich Fürst auf die Fährte dieser Männer. Als ein kaltblütiger Mord geschieht, beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit.

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Christoph Beyer

Heimzahlung

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Benjamin Arnold

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © table / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4746-4

Zitat

Dreistöckig steht mein Haus,

Wer einmal drinnen wohnt,

der zieht so bald nicht aus.

Sehr hohe Fenster hats, doch schaut er nicht hinaus.

Sie glänzen nicht im Sonnenschein;

Kein Hagel schlägt die Scheiben ein;

Kein Ziegel von dem Dache fällt.

Das Haus wird stehn im weiten Feld.

Johan Peter Hebel, Rätsel

Prolog

Der Regen setzte ganz plötzlich und mit ungeheurer Wucht ein. Wahre Sturzbäche verwandelten die Beschaulichkeit des warmen Herbstabends in ein Naturspektakel. In kurzer Zeit liefen die Rinnen über, bildeten sich gigantische Pfützen, und der Duft regenschwerer Erde erfüllte die Luft. Ein dumpfes Gewittergrollen drang aus unbestimmter Richtung über die Stadt, dessen vibrierende Tiefe sie für einen Moment lang klein und verletzlich wirken ließ. Die plötzlich einsetzende Dunkelheit verschluckte alle Konturen des verwilderten Gartens, der das Haus umfasste und an seiner Westseite in den Wald überging.

Die Gestalt, die seit einer Stunde am Rand des Waldes kauerte, zog die Kapuze tiefer in die Stirn. Ihr Blick wanderte kontrollierend auf die neongelb leuchtenden Ziffern einer Militärarmbanduhr. Plötzlich setzte sie sich in Richtung des Gebäudes in Bewegung. Auf dem durchweichten Untergrund erzeugten ihre Schritte schmatzende Geräusche, als sie sich in die verwucherte Strauchreihe am Grundstücksrand schob. Niemand hätte die Gestalt inmitten der dunkelgrauen Regenschleier bemerken können. Sie würde ihren Auftrag ungestört ausführen.

Der ältere Mann am Fenster schaute mit leerem Blick nach draußen in den Dunst. Die Wetterprognose hatte richtig gelegen. Eine Gewitterfront zog, von Süden kommend, über Osnabrück hinweg, begleitet von heftigen Böen. Irgendwo über den nahen Höhen des Teutoburger Waldes schienen die Blitze am heftigsten zu zucken, die Elemente sich am stärksten auszutoben. Er liebte solche Momente, in denen die Natur ihre Macht demonstrierte. Das Leben der Menschen schien eine begrenzte Zeit lang stillzustehen. Es gab dann nur dieses nasse Rauschen eine leise Hintergrundmelodie für ein seltsames und schwer zu beschreibendes ›Für-sich-Sein‹.

Ganz anders war das Gefühl, das er in jenen Nächten empfunden hatte, als unerwartet Erinnerungen aufbrandeten. Wie schwere Sturmfluten drohten sie ihn zu überrollen und Verwüstungen in ihm zu hinterlassen. Früher hatte er sich ihnen oft ausgeliefert gefühlt und musste dann in mühevoller Kleinarbeit die Trümmer in seiner Seelenlandschaft zur Seite räumen. Doch jenes kleine Boot, das bald in solchen Situationen in ihm das Segel zu setzen begann, ein Bild, welches er sich selbst vorzustellen beigebracht hatte, war mittlerweile zu einem stolzen Schiff geworden. Es war in der Lage, allen Seelenstürmen zu trotzen.

Er wandte sich abrupt vom Fenster ab und ging langsam hinüber zu dem alten Tisch, auf dem neben einem gebrauchten Kaffeegeschirr zwei aufgeklappte Ordner lagen. Die Zugluft erfasste einen Zeitungsartikel und trieb ihn in kurzen Schüben vor sich her. Langsam beugte er sich hinunter, hob das Papier auf und legte es auf die verschrammte Tischplatte. Dann zog er einen alten Stuhl zu sich heran und ließ sich schwerfällig auf das Kissen fallen. Aus seiner Hemdtasche fingerte er ein dunkles Brillenetui, setzte sich einen alten Kneifer auf und begann zu lesen.

Der Artikel umriss mit dürren Sätzen die Lebensgeschichte eines ehemaligen Kinderheimzöglings. Für sein ehrenamtliches Engagement in der Jugendarbeit seiner Heimatstadt Melle wurde ihm eine silberne Ehrennadel verliehen. Auf dem dazugehörigen Foto blickte ein kleiner, ihm unbekannter Mann Mitte 50 schüchtern in die Kamera. Seine rechte Hand verschwand in der eines dynamisch wirkenden jungen Bürgermeisters, welcher mit jovialem Lächeln dem Fotografen zugleich die Ehrennadel entgegen reckte. Der Artikel war vorgestern erschienen und als Teil eines kleineren Pakets am heutigen Vormittag mit der Post gekommen. Er legte den Artikel nach einer oberflächlichen Lektüre wieder beiseite und griff sich eine selbstgemachte Postkarte, die neben einem Häuflein von zerknittertem Packpapier lag. Sein bester Freund hatte sich wieder mal als zuverlässig erwiesen. Unregelmäßig aber beständig schickte ihm Robert die Ergebnisse seiner Recherchen. Auf jeder der seinen Paketen beigelegten Postkarte mit den Vogelmotiven fand er immer die richtigen Worte. So sehr er die Bereitschaft seines Quakenbrücker Freundes, ihn mit Material zu unterstützen, auch schätzte, so wenig konnte er verstehen, warum dieser es nicht schaffte, zwischen brauchbaren und unbrauchbaren Informationen zu unterscheiden. Der Artikel konnte zweifellos der letzten Kategorie zugeordnet werden. Bei ihren Treffen sprachen sie öfter darüber, aber seine Erklärungsversuche schienen Robert nur zu verwirren. Es ging ihm wohl letztlich weniger um den Inhalt der von ihm gesammelten Informationen. Vielmehr schien es ihm einfach zu gefallen, seinem Freund ab und an ein Paket zu schicken.

Er blickte plötzlich auf und sah aus dem Fenster. Aus den Augenwinkeln heraus glaubte er, dort draußen eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Er fixierte den Waldrand, von dem nur noch schwarze Schemen zu erkennen waren, konnte jedoch nichts Verdächtiges bemerken. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder entspannte und in seinen Gedankenfluss zurückfand.

Er musste zugeben, Robert über die Jahre hinweg im Dunkeln gelassen zu haben, was seine genaueren Absichten anging. Gewiss, seinem Freund lag das Thema auch am Herzen, er konnte manchmal sogar eine spontane Aufwallung von Leidenschaft an den Tag legen, aber diese entpuppte sich schnell als Strohfeuer und ließ ihn nicht in dem Maße Vertrauen fassen, dass er sich ihm vollständig zu offenbaren traute. Dabei hatten sie als Heimkinder in der damals noch jungen Bundesrepublik das gleiche Schicksal geteilt. Sie wuchsen in einem Staat auf, der sich so sehr seines erfolgreichen wirtschaftlichen Aufbruchs in den Wirtschaftswunderjahren rühmte, dass dabei der doppelte Boden, den dieser Staat in vielen Bereichen aufwies, nicht aufzufallen schien. Hinter den schmucken Fassaden der damaligen Zeit, er wusste es genau, konnten geifernde Fratzen lauern und jene, die den Vorhang ein Stück weit beiseiteschoben, mit ihrem giftigen Atem verätzen. In einem elenden Schattenreich mussten sie damals ihr Dasein fristen. Dabei erschien es nach außen so, als existiere dieses gar nicht, zumindest nicht offiziell. Die Zustände in kirchlich geleiteten Heimen in den 1950er, 60er und 70er Jahren genossen im »Volksmund« zwar keinen guten Ruf, aber das wirkliche Leben in dieser Parallelwelt blieb den meisten Menschen verborgen. Bereits als Kind erfasste er die Gefährlichkeit der Lebensverhältnisse, die ihn umgaben. Dazu zählte auch seine Fähigkeit, die feinen Unterschiede zwischen den Menschen zu erkennen und seine Erwartungen daran zu orientieren. In den hämmernden Schlägen seiner ärgsten Peiniger offenbarte sich ein Überlegenheitswahn, der nur darauf gewartet hatte, sich aufgrund eines nichtigen und gerne auch erfundenen Anlasses mit sadistischer Lust zu entladen. Das war sein Geheimnis, sein Verdienst, jene Hinweise zusammengetragen und ausgearbeitet zu haben, die belegten, dass es sie dort gegeben hatte, die Täter eines wenige Jahre zuvor untergegangenen Regimes. Hinter den kahlen Mauern der Kinderheime war es ihnen, von kritischen Nachfragen unbehelligt, gelungen, eine neue Wirkungsstätte zu finden. Und es schienen viel mehr zu sein, als er am Anfang dachte. Akribisch verfolgte er die Spuren. Er hatte sich auf eine persönliche Entdeckungsreise begeben, die für andere Leute seines Alters eine inakzeptable Zumutung gewesen wäre. Mosaikstein für Mosaikstein setzte er in mühevoller Kleinarbeit zusammen. Dann jedoch geschah für ihn etwas Unbegreifliches. Der Zufall hatte ihm Material in die Hände gespielt, das aus den zuvor verschwommenen Konturen ein stimmiges Gesamtbild entstehen ließ. Verschiedene Bestandteile, die zuvor keinen Zusammenhang bildeten, ergänzten sich nun. Dieses neue Bild trug in sich eine Tragweite und Bedeutsamkeit, die seine bisherige Sichtweise grundlegend veränderte und ganz neue Perspektiven bot. Zugleich spürte er eine Unsicherheit darüber, wie er weiter vorgehen sollte. Wenn die Feststellungen, die er seit der letzten Woche aus dem vorliegenden Material glaubte, ziehen zu können, wirklich zutrafen, stellte es seine schlimmsten Befürchtungen in den Schatten.

Als er aus dem kleinen Papierstapel des Pakets beiläufig einen weiteren Artikel hervorholte, zuckte er zusammen. Von einem bleichen Zeitungsfoto blickte ihn eine Person kalt und prüfend an. Ihm wurde schlagartig schwindlig, die Konturen der Umgebung verschwammen. Die Erkenntnis drang unbarmherzig auf ihn ein und drückte ihn förmlich zu Boden. Plötzlich war Stille in ihm.

Draußen hatte sich tiefschwarze Nacht über eine regennasse Landschaft gelegt. Die Bäume rauschten, getrieben von einem böigen Westwind, laut und unregelmäßig aufbrausend in der Dunkelheit, als wollten sie die Tropfen abschütteln und zugleich eine drastische Warnung verkünden. Ein aufmerksames Augenpaar verfolgte durch einen Armeefeldstecher konzentriert jede Regung des Mannes hinter dem Fenster des kleinen Hauses.

Dienstag 9. Oktober

1. Kapitel

Der Anruf kam morgens um halb sechs, zwei Stunden vor dem offiziellen Dienstbeginn. Kriminalhauptkommissar Richard Fürst, stellvertretender Leiter des Fachkommissariats 1 beim zentralen Kriminaldienst der Polizeiinspektion Osnabrück, lag zu diesem Zeitpunkt in einem unruhigen Schlaf. Das Klingeln drang unsanft in seinen wirren Traum. Binnen weniger Sekunden wurde er in die Realität eines Hier und Jetzt geschleudert, in der das Geräusch einen derartig durchdringenden und harten Klang entfaltete, dass eine Welle der Erleichterung ihn erfasste, als er den Hörer endlich abnahm.

»Richard, entschuldige, dass ich dich so früh anrufe, aber es ist dringend.«

Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung klang ernst und eindringlich. Richard Fürst drückte sich hoch und lehnte sich gegen den Bettrücken.

»Ist schon in Ordnung Sabine, was gibt es denn?«

»Vor zehn Minuten ging ein Notruf bei uns ein. Am Ernst-Stahmer-Weg in Sutthausen hat es eine Explosion gegeben, vermutlich Gas. Die Kollegen der Streife sind bereits unterwegs, auch ein Krankenwagen, das volle Programm. Ein Einfamilienhaus, allein stehend. Die Feuerwehr ist schon vor Ort. Noch keine Angaben zu möglichen Opfern. Wir haben schon nachgeschaut, unter der Adresse ist ein Mann gemeldet, er heißt Armin Sommer.«

»Alles klar, ich mache mich auf den Weg. Hast du Krüger schon erreicht?«

»Nein, den rufe ich als Nächsten an.«

»Gut, ich fahre dann raus.«

Fürst drückte auf die Austaste und hielt kurz inne. Seit er vor einem Jahr in den Deliktsbereich Todesermittlungen und Brandsachen gewechselt war, kam es häufiger vor, dass er mitten in der Nacht oder frühmorgens aus dem Schlaf gerissen wurde. Manchmal bereute er seinen Wechsel vom Fachkommissariat 4, dem Bereich Staatsschutz, aber mit seinem damaligen cholerischen Vorgesetzten Siegfried Müller schien kein Auskommen möglich zu sein. Er hatte vieles probiert, aber Müller hatte sich jedem Kompromiss gegenüber verweigert. In dieser Situation bewahrheitete sich das abgedroschene Sprichwort auf dem ausgeschnittenen Kalenderbild in seinem Büro, das von jenem Lichtlein kündete, das von irgendwoher kommt, wenn es nicht mehr weitergeht. Er hatte nicht lange gezögert, als ihm unerwartet der Fachkommissariatswechsel angeboten worden war, und sich mit Elan in den neuen Aufgabenbereich eingearbeitet. Seine zahlreichen Fortbildungen, durch die er stets versucht hatte, über den Tellerrand der Arbeitsroutine zu schauen, waren ihm dabei zugutegekommen. Vor zwei Monaten kam dann plötzlich das Angebot für den Stellvertreterposten, und er hatte angenommen.

Mit einer ruckartigen Bewegung schwang er sich aus dem Bett, eilte zum Kleiderschrank und streifte bereits mehrere Tage getragene schwarze Jeans und einen grünen Kapuzenpulli mit der Aufschrift Polizeisportverein Osnabrück über. Dann lief er zielstrebig ins Bad. Auf einen Kaffee musste er wohl oder übel verzichten, was ihm zu dieser frühen Stunde alles andere als leicht fiel. Mit einigen vollen Händen kalten Wassers wusch er sich wie jeden Morgen das Gesicht und kämmte seine spärlichen dunkelblonden Haare. Einen Moment lang betrachtete er sich danach aufmerksam im Spiegel. Die Arbeitsbelastungen der letzten Tage hatten ihre Spuren hinterlassen, seine Augenringe sprachen Bände. In zwei Wochen würde er seinen 50. Geburtstag feiern. Der Gedanke daran löste bei ihm Unwillen aus. 50. Die Zahl kam ihm einfach nur abstrakt und unpassend vor. Er beschloss, am kommenden Wochenende endlich einmal auszuschlafen. Vielleicht würde es ihm dadurch gelingen, den Tatsachen entspannter ins Auge zu sehen. Er griff sich seine schwarze Lederjacke und verließ eilig die Wohnung.

Sieben Minuten und sechs Ampelkreuzungen später hatte er sein Ziel fast erreicht. Kreisende Blaulichter wiesen ihm nun den Weg. Die Fassaden und Fenster der kleinen anliegenden Einfamilienhäuser reflektierten das kalte Blau. Es schien ihm so, als würden sie dadurch zu stillen Teilhabern am Geschehen, und in diesem Fall galt dies, zumindest für die aufgeschreckten Bewohner, tatsächlich. Fürst würde unmittelbar mit den Befragungen beginnen, nachdem er sich ein genaueres Bild über die Lage verschafft hatte. Zwei Anwohner standen starr staunend auf dem regendurchweichten Rasen eines gepflegten Vorgartens.

Das Haus, in dem sich die Explosion ereignet hatte, lag am Ende der Straße, etwas abseits von den anderen Gebäuden. Fürst parkte seinen schwarzen VW-Passat am Rande eines kleinen Wendehammers, stieg aus, schlug den Jackenkragen hoch und schritt in ruhiger Beobachterposition auf das Haus zu. Er versuchte wie immer, möglichst viele Details und Eindrücke aus dem Umfeld eines Einsatzortes intuitiv aufzunehmen, um sie zu einem Gesamteindruck zu destillieren. Schon oft hatten sich aus scheinbaren Nebensächlichkeiten im Nachhinein wichtige Hinweise ergeben. Er sah, dass das Haus an ein größeres Waldstück grenzte, welches der beginnende Morgen noch mit nur wenig Licht durchdringen konnte. Irgendetwas beunruhigte ihn an dieser Szenerie, er konnte es jedoch nicht genauer benennen. Von außen war an dem Haus von der Explosion fast nichts zu erkennen. Nur bei näherem Hinsehen fiel ihm auf, dass die Scheiben zersprungen waren. Die Kollegen der Feuerwehr hatten keine Absperrungen errichtet, was für ihn ein klarer Hinweis darauf war, dass keine Explosionsgefahr mehr bestand. Durch die geöffnete Gartentür betrat er das Grundstück. Der Rasen wirkte ungepflegt, und auch das Haus machte einen heruntergekommenen Eindruck. Es war ein klassischer spitzgiebeliger Fünfzigerjahrebau, der in seiner Schlichtheit an Gebäude in uniformen und gesichtslosen Arbeitersiedlungen erinnerte. Die Außenwände hatten anscheinend schon seit Jahrzehnten keine neue Farbe mehr gesehen. Zwei Feuerwehrleute standen vor der Haustür, in den Händen hielt jeder ein Funkgerät, aus denen in gewissen Abständen schrille Pieptöne drangen.

»Moin.«

»Moin«, schallte es zurück.

»Alles im Griff? Fürst, Kriminalhauptkommissar.«

»Ja, alles klar soweit, Meyering, Oberbrandmeister. Wir haben im ersten Stock des Hauses einen Mann aufgefunden, er ist tot.« Meyering wirkte klar und gefasst. Fürst blickte ihn ruhig an.

»Unmittelbare Explosionseinwirkung?«

»Anscheinend nicht. Der Notarzt ist gerade dabei, die Lage zu klären.«

»Von wem erhielten Sie den Notruf?«

»Ein Nachbar hat es knallen gehört und sofort reagiert. Die Explosion war nicht besonders stark, aber in der ruhigen Gegend hier laut genug.«

»Gut, ich geh dann mal rein.« Er betrat einen kleinen Flur, es roch unangenehm nach verbranntem Plastik. Unter seinen Schuhen knirschte Glas. Aus einem Zimmer am Flurende drangen Stimmen. Durch eine halb geöffnete Tür erblickte er einen Feuerwehrmann, der den Fußboden abzusuchen schien. Richard drückte die Tür auf und hielt kurz seinen Dienstausweis hoch. Die beiden anwesenden Männer nickten ihm zu. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Ein zerrissener Rollladen hing in Fetzen über einem glaslosen gesplitterten Fensterrahmen, ein umgestürzter Tisch und mehrere in Mitleidenschaft gezogene Stühle waren von der Feuerwehr bereits an die Seite gehievt worden. Grauer Putz rieselte in kleinen Wirbeln von der Decke, und auf dem Boden liegende Papierschnipsel vervollständigten das trostlose Szenario.

Es erstaunte ihn immer wieder, welche Wucht und Zerstörungskraft Explosionen entfalten konnten. Er erinnerte sich noch lebhaft an die Ermittlungen zu einem Anschlag eines IRA-Kommandos auf eine britische Kaserne in Osnabrück im Juni 1996. Das Ziel war damals bewusst gewählt worden, denn in Osnabrück befand sich der größte britische Truppenverband außerhalb Großbritanniens. Mit einem selbstgebauten Granatwerfer hatte das Kommando ein Tanklager der damaligen Quebec-Kaserne beschossen. Glücklicherweise war das Tanklager nicht in Betrieb, aber die Druckwelle beschädigte Gebäude und Fahrzeuge. Bereits 1989 hatte die IRA einen Bombenanschlag auf die britische Garnison in Osnabrück verübt. Beide Vorfälle hatten bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Die Bilder vom Tatort hatte er sich eingeprägt, und jede Explosion, mit der er es seither in seinem Beruf zu tun bekam, musste sich an diesen Eindrücken messen lassen. Die letzten britischen Soldaten waren im Sommer 2009 aus Osnabrück abgezogen. Die Stadt nutzte die freigewordenen Flächen für die Erschließung neuen Wohnraums, die Ansiedlungen von Firmen und die großzügige Erweiterung des Areals der expandierenden Fachhochschule. Konversion nannte sich dieser Prozess, der für die Stadtentwicklung neue Chancen mit sich brachte. Der Kriminalhauptkommissar musste zugeben, dass diese Veränderung ausgezeichnet zur Bezeichnung ›Friedensstadt‹ passte, die sich Osnabrück als wichtiger Unterzeichnungsort des Westfälischen Friedens von 1648 gegeben hatte.

Fürst grüßte die beiden anwesenden Feuerwehrmänner und stellte sich kurz vor, um dann, ihren Hinweisen folgend, auf einer schmalen Holztreppe, die in einem vergleichsweise intakten, kargen Nebenraum des Wohnzimmers begann, in den ersten Stock zu gelangen. Die Treppe war eng und knarrte trocken, als er sich bedächtig nach oben bewegte.

Die Sanitäter und ein Notarzt standen in einem Raum, der ganz offensichtlich als Schlafzimmer diente, neben der Leiche eines grauhaarigen Mannes. Der Notarzt hielt ein Klemmbrett in der Hand und machte sich Notizen. Fürst blieb im Türrahmen stehen und klopfte laut und vernehmlich. Drei Köpfe wendeten sich ihm aufmerksam zu.

»Guten Morgen, wir haben Sie schon erwartet.«

Fürst fiel der erleichterte Unterton sofort auf. Sie tauschten die üblichen Gruß- und Vorstellungsformeln aus.

»Wir vermuten Herzversagen. Die Explosionseinwirkung hat ganz sicher nicht zum Tod geführt und auch nicht das austretende Gas.« Fürst lauschte einige Zeit den weiteren Angaben des Notarztes, während sein Blick zugleich über den Körper des toten Mannes wanderte. Die Augen waren geschlossen, etwas Friedliches lag in seinem Gesichtsausdruck.

Als der Notarzt mit seinen Ausführungen endete, resümierte Fürst den Sachverhalt aus seiner Sicht. »Da stellen sich jetzt also noch einige Fragen. Todeseintritt vor der Explosion? Das würde vielleicht auch die Explosion selbst erklären. Das Gas tritt aus, und keiner ist mehr da, der es abdrehen könnte. Die dann noch offene Frage nach der Zündquelle hat ohnehin der Brandsachverständige zu beantworten. Andererseits …«, Fürst stockte für einen Moment in seiner Rede, »andererseits ist, wenn ich Sie richtig verstehe, also auch nicht auszuschließen, dass er infolge der Explosion einen Herzinfarkt erlitten hat. Fremdeinwirkung ist ja, wie Sie ausgeführt haben, ganz offensichtlich auszuschließen. Von einer natürlichen Todesursache können wir aber angesichts der unklaren Umstände nicht sprechen. Das heißt folgerichtig, dass ich den Leichnam hiermit für weitere Untersuchungen beschlagnahmen muss. Die Staatsanwaltschaft wird einen entsprechenden Auftrag für eine gerichtsmedizinische Obduktion erteilen. Bei unklaren Todesursachen oder Suiziden ist eine Obduktion nun mal Pflicht, Sie wissen das ja.«

Der Notarzt nickte kommentarlos. In der Jackentasche suchte Fürst nach seinem Handy.

»Ich werde jetzt mal die Kollegen anrufen und fragen, ob ein Sachverständiger schon auf dem Weg ist.«

Er trat aus dem Zimmer auf den Flur und gab per Telefon einen ersten Zwischenbericht durch. Der Sachverständige war informiert worden und sollte in Kürze eintreffen.

»Ich sehe mich dann noch etwas im Haus um.« Der Notarzt und die beiden Sanitäter nickten und begannen ihre Sachen zu packen.

Das obere Stockwerk bestand insgesamt aus drei Räumen. Der Raum gegenüber dem Schlafzimmer schien als Arbeitsplatz genutzt worden zu sein. Ein schwerer Schreibtisch stand unterhalb eines Fensters. Auch hier war die Scheibe geborsten, und Glassplitter bedeckten die Arbeitsfläche. Fürsts Blick fiel auf eine große Bücherwand zu seiner Linken. Aufmerksam begann er die Titel einzelner Bücher zu studieren. Neben naturkundlichen und historischen Werken, einigen älteren Bildbänden und Romanen fielen ihm mehrere Aktenordner auf, von denen er einen herauszog und ihn näher inspizierte. Er enthielt sauber abgeheftete Zeitungsartikel neueren Datums. Der erste Artikel aus der Neuen Osnabrücker Zeitung berichtete über eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zu Missständen in Kinderheimen Osnabrücks in den 1960er Jahren. Nach kurzer Prüfung stellte Fürst fest, dass sich der gesamte Ordner aus thematisch ähnlichen Artikeln zusammensetzte. Ich muss Jonathan anrufen, ging es ihm schlagartig durch den Kopf. Gleichzeitig stieg in ihm die Erinnerung an zwei Vorfälle vor acht Jahren hoch. In einem Abstand von nur wenigen Monaten hatten sich zwei ältere Männer umgebracht. Im Zuge der Ermittlungen, die ihn damals nach Bad Essen und Wallenhorst führten, hatte sich herausgestellt, dass beide in den 50er Jahren in kirchlichen Kinderheimen im Landkreis Osnabrück untergebracht waren. In keinem der Fälle war ein Abschiedsbrief oder Ähnliches gefunden worden. In den Gesprächen mit Angehörigen hatte sich jedoch herausgestellt, dass beide unter den Nachwirkungen ihrer Heimunterbringung zeitlebens gelitten hatten. Es lag für ihn deshalb nahe, einen Zusammenhang zu ihren Suiziden zu vermuten. Letztlich konnte jedoch darüber keine abschließende Klarheit hergestellt werden. Da am Ende der kurzen Ermittlungen Fremdeinwirkung sicher ausgeschlossen werden konnte, wurden die Fälle schnell zu den Akten gelegt.

Wie er vermutete, bargen auch die anderen Ordner ähnliches Textmaterial. Auffallend war die Akribie, mit der die Texte abgeheftet worden waren. In jedem Ordner war ein Register eingelegt, das die Texte thematisch sortierte, und mit Bleistift und in kleiner Schrift geschriebene ergänzende Hinweise enthielt.

Es lag nahe, anzunehmen, dass er es auch in diesem Fall mit einem Suizid zu tun hatte. Ein einsamer, verbitterter älterer Mann hatte seinem vermutlich als zunehmend sinnlos betrachteten Leben ein Ende gesetzt. Genaueres würde er jedoch erst durch die Ergebnisse der Obduktion erfahren. Nach einem kurzen prüfenden Blick in den dritten Raum, der nur aus einer wilden Ansammlung von Gerümpel zu bestehen schien, machte er sich wieder auf den Weg ins Erdgeschoss. Am Treppenabsatz erwartete ihn Kommissar Helmut Krüger und blickte ihn aus müden Augen fragend an.

»Da hat es hier ja wohl ganz ordentlich gerumst?« Krüger versah seine Bemerkung mit einem rhetorischen Fragezeichen.

»Wie du siehst.«

Richard Fürst hatte in dem bisherigen Jahr ihrer Zusammenarbeit oft ein Problem mit Krügers direkter Art gehabt. Sie wirkte für ihn nicht authentisch, sondern vielmehr wie ein Schutzpanzer, mit dem der Kollege offenbar versuchte, Distanz zu den meistens wenig erfreulichen Aufgaben des Polizeialltags herzustellen. Sein zupackender Pragmatismus hatte sich jedoch oft als hilfreich erwiesen, und Fürst lernte mit der Zeit, ihre ganz unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe zu akzeptieren. Dies war seine bisher recht erfolgreiche Strategie, um mit dem schwierigen Kollegen einigermaßen klarzukommen. Knapp und präzise legte er Krüger den bisherigen Sachverhalt dar.

»Ich werde mich dann mal bei den Nachbarn umhören. Es wäre gut, wenn du in der Zeit den Kontakt zur Feuerwehr hältst und den Sachverständigen instruierst, wenn er da ist. Sieh bitte mal die Unterlagen durch, die du so findest. Dann die Angehörigen informieren, das Übliche halt.«

Krüger nickte und stieg dann mit einem gespielt wirkenden Keuchen die Treppe hoch.

Fürst machte sich daran, den durch die Explosion entstandenen Schaden noch genauer zu inspizieren. Die Küche war völlig verwüstet. Ein Teil der Hausmauer war eingestürzt und gab den Blick auf den hinteren Teil des Gartens frei. Steine, Holzteile und Glassplitter bedeckten die angrenzende kleine Terrasse, ein heilloses Chaos. Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu. Es war die Gesamtheit dieses Ortes, der etwas Unwirkliches, Bedrohliches an sich hatte. Durch die Trümmer bahnte er sich einen Weg ins Freie.

Eine Amsel hüpfte leichtfüßig über ein verwelktes Blumenbeet, auf dem sich Mauerteile und Schutt wie ein schmutziges Laken gebreitet hatten. Das fahle Morgenlicht warf flackernde Lichtornamente auf die Rasenfläche und brach sich in Pfützen, die der Regen am Vorabend hinterlassen hatte. Das unmittelbare Nebeneinander einer sorglosen Natur, die trotz einiger heftiger Ausschläge immer wieder in ihren Rhythmus zurückfand, und eines menschlichen Dramas, das sich an diesem Ort vor kurzer Zeit abgespielt hatte, stimmte ihn nachdenklich. Die Konfrontation mit der Vergänglichkeit allen Lebens war ein fester Bestandteil seines Berufes und wurde für ihn dennoch nie zur kalten Routine. Das Zulassen dieser Wahrnehmung ermöglichte ihm oft erst, die wichtigen Hinweise zu entdecken, vor denen andere Kollegen unbewusst die Augen verschlossen. Die Sache hier schien jedoch klar zu sein, die anfallenden Arbeitsvorgänge reine Routine, die jedoch erledigt werden mussten. Eigentlich war es der Beginn eines mehr oder weniger gewöhnlichen Arbeitstages. Plötzlich spürte er, wie sich eine Welle von Müdigkeit in ihm ausbreitete. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück. Das Loch, das die Explosion gerissen hatte, wirkte auf ihn wie das aufgerissene Maul eines Raubfischs, das gierig nach ihm zu schnappen schien.

2. Kapitel

»Verdammtes Teil.« Er fluchte. Das Schleifen des Hinterrades war jenes Geräusch, das Jonathan Bach seit zwei Wochen daran erinnerte, dem Fahrradhändler seines Vertrauens mal wieder einen Besuch abzustatten. An die Tatsache, dass er nun bereits seit vier Wochen nur im dritten Gang fuhr, weil die Schaltung gerissen war, hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Seine Untätigkeit hatte er damit schöngeredet, dass es für die Kondition ja nur förderlich sein konnte. Nun machten sich jedoch immer mehr Bestandteile seines Zweirades selbständig und forderten ihn zum Handeln auf. An diesem Morgen war er früher unterwegs als sonst. In der Nacht war er unerwartet aufgewacht, hatte mehrere Geistesblitze gehabt, war zum Schreibtisch geeilt und hatte sie schlaftrunken zu Papier gebracht, wenn auch nur flüchtig und assoziativ. Er war dann wieder eingeschlafen, eine Stunde früher als üblich aufgestanden und hatte sich nach dem Morgenkaffee direkt aufs Fahrrad geschwungen. Die ansonsten obligatorische Zeitungslektüre konnte warten. Seine täglichen Fahrten durch die Straßen der Osnabrücker Weststadt waren für ihn zumeist mehr als das simple Bewältigen einer Route von A nach B. Er genoss die sich ihm bietenden Impressionen, das Spiel des Lichts an den renovierten Fassaden der Altbauten und dem dichten Blätterwerk der Kastanienreihe an der Katharinenstraße. Die Weststadt und insbesondere das zugehörige Katharinenviertel mit seinen Gründerzeithäusern, Kneipen und Cafés hatten sich in den letzten 15 Jahren zu einem der beliebtesten Stadtteile Osnabrücks entwickelt, was sich leider auch bei den Mieten bemerkbar machte.

Ein entfernter trompetenartiger Ruf zog plötzlich seine Aufmerksamkeit auf sich. Weit oben über den Dächern der Stadt erblickte er mehrere lang gezogene, ineinander übergehende Keilformationen. Es mussten Hunderte von Kranichen sein, die, wie jedes Jahr, auf ihrer gewohnten Flugroute über Osnabrück hinweg gen Süden zogen. Er wusste, dass es nur die ersten Vorboten waren. Bis weit in den November hinein würde dieses Naturschauspiel noch zu beobachten sein.

Von hinten näherte sich ihm ein Auto, und er wendete seinen Blick wieder der Straße zu. Er freute sich darauf, gleich mit der Arbeit beginnen zu können. Jonathan war ein leidenschaftlicher Forscher. Von einigen seiner Kollegen grenzte sich der 30-Jährige, zumindest was die Arbeitsauffassung anging, allerdings in letzter Zeit stark ab. Zwar ließ sich mit ihnen zumeist ganz gut plaudern, aber bei der Arbeit selbst verhielten sie sich ihm oft zu angepasst. Der innere Antrieb, diese Lust am Entdecken, all das, was für ihn das Forschen so interessant machte, schien sich bei vielen von ihnen durch die immense Arbeitsbelastung abgenutzt zu haben. Dabei bot die Universität Osnabrück ihren Beschäftigten einen vergleichsweise angenehmen Arbeitsplatz. Im Gegensatz zu der vorherrschenden Anonymität vieler Großuniversitäten hatte sich diese Uni eine familiäre Atmosphäre bewahrt, die er sehr schätzte. Sein in letzter Zeit gewachsener Hang zu Pauschalisierungen, auch die Kollegen und ihre Arbeitsmoral betreffend, schob er, wenn er sich gelegentlich dabei ertappte, auf die Frustrationen bei seinem Forschungsprojekt. Eine lärmende Schülergruppe querte vor ihm plötzlich die Straße. Er bremste abrupt ab. Bei ihrem Anblick ging ihm spontan durch den Kopf, wie früh sich Schüler am Morgen auf den Weg machen mussten. Zu dieser Jahreszeit erschien es ihm noch zulässig zu sein, anders war es jedoch im nahenden Winter, wenn sich die kleinen Gestalten in Kälte und Dunkelheit die Bürgersteige entlang quälten. Er konnte sich nur zu gut an seine eigene Schulzeit erinnern. Das frühe Aufstehen war ihm damals zwar zur Gewohnheit geworden, aber an das Unbehagen, das ihn dabei insbesondere in der dunklen Jahreszeit begleitete, erinnerte er sich noch sehr lebendig.

Wenige Minuten später erreichte er die Seminarstraße, parkte sein Fahrrad im Hinterhof des schlichten Gebäudekomplexes und betrat über den Hintereingang das Domizil des Sozialwissenschaftlichen Fachbereichs. Die Flure waren noch menschenleer. Er eilte die Treppe in den zweiten Stock hinauf, schloss sein Büro auf und setzte sich an den Rechner. Abgestandene Büroluft kroch ihm in die Nase. Er stand auf, öffnete ein Fenster, das sich dabei gefährlich aus den Angeln hob, und blinzelte dann eine Weile gedankenverloren in den Morgenhimmel. Das plötzliche intervallartige Brummen des Computers erinnerte ihn an den Grund seines ungewöhnlich frühen Arbeitsbeginns.

Nachdem er sein Passwort eingegeben hatte, kramte er seine nächtlichen Notizen aus dem Rucksack und öffnete dann eine Datei. Der Bildschirm wurde von einem in Fettdruck gesetzten Arbeitstitel gefüllt: ›Regionalgeschichtliche Aspekte der Heimerziehung 1950 – 1970 und ihre biografieanalytischen Dimensionen am Beispiel des Landkreises Osnabrück‹. Die angebliche inhaltliche Sperrigkeit des Titels war ihm bereits von mehreren Freunden gelegentlich vorgehalten worden. Das hatte ihn jedoch nicht dazu bewogen, etwas daran zu verändern. Er hatte Monate nur mit der Entwicklung des Themas verbracht. Zwei Jahre waren seither vergangen, und aus dem damals von ihm erstellten Forschungsexposé, welches das Projekt nur grob umriss, hatte sich eine bis zu diesem Zeitpunkt 180 Seiten umfassende Doktorarbeit entwickelt. Gewiss, sie war noch nicht abgabereif, aber die intensive Forschungstätigkeit hatte Ergebnisse geliefert, die Jonathan sorgfältig und gewissenhaft zu Papier brachte. Dabei hatte er gelegentlich seinen Arbeitsplan umstrukturieren müssen, weil sich Forschungshypothesen als nicht haltbar erwiesen hatten oder einfach nicht mehr in das sich weiter entwickelnde Konzept der Arbeit passten. Insgesamt war er jedoch mit dem derzeitigen Stand zufrieden.

Es klopfte leise an der Tür. »Ja?« Jonathan hob neugierig den Kopf. Ein stämmiger Mann in den 30ern betrat den Raum und blickte sofort suchend um sich. Sein schwarzes Haar war zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden. An seinem linken Ohr baumelte ein auffälliger Federohrring.

»Sag mal, habe ich meine Tasche gestern hier vergessen?«

»Guten Morgen erst mal«, entfuhr es Jonathan, der sich in seinem Stuhl aufrichtete und die Arme verschränkte. Ein Lächeln lag in seinem Gesicht.

»Ja, Moin. Wenn ich die Tasche hier nicht finde, habe ich echt ein Problem.«

Ulf Reinders war für Jonathan ein wandelnder Widerspruch. Behäbig, versponnen und phlegmatisch pflegten jene Kollegen ihn zu charakterisieren, die ihn nur flüchtig kannten. Er selbst sah sich meistens als Ruhepol in einer aufgescheuchten Meute von Hochstaplern, wie er zu sagen pflegte. Für Jonathan kam dies einer gnadenlosen Selbstüberschätzung gleich, wurde er doch gelegentlich Zeuge, wie eine unerwartete und dem jeweiligen Anlass eigentlich unangemessene Emotionalität von ihm Besitz ergriff. Er mochte diesen kauzigen Typen, der seine Finanzen gelegentlich damit aufbesserte, als mittelalterlich gekleideter Nachtwächter Touristen durch die Osnabrücker Altstadt zu führen. Es war offensichtlich ein Job, der seinem Kollegen viel Spaß machte, wenn man die vielen Gelegenheiten, bei denen er ungefragt von seinen Führungen berichtete, dafür zum Maßstab nahm. Dass es bei ihm mit der Ruhe nicht weit her war, stellte er für Jonathan in diesem Moment wieder eindrucksvoll unter Beweis. Mühsam kniete er sich auf den Teppichboden, um unter Jonathans Schreibtisch und den beiden gut gefüllten Bücherregalen nach seiner abgenutzten Ledertasche zu suchen, deren Verlust, da war sich Jonathan sicher, tatsächlich einer mittleren Katastrophe gleichkäme. Er wusste, dass Ulf darin nicht nur seine täglichen Arbeitsutensilien aufbewahrte, sondern stets auch eine Menge elektronischer Kleinteile mit sich führte, deren Bedeutung sich Jonathan beim besten Willen nicht erschloss. Mehrere Male hatte er Ulf durch unbedachtes Nachfragen zu endlosen Monologen über Hardwarekomponenten und Hackeraccessoires animiert. Seither vermied er es, ihn auf den Inhalt seiner Tasche anzusprechen. Am PC war Ulf zweifellos ein Genie, und bei entsprechenden Problemen nahm Jonathan seine offensiv angebotene Hilfe gerne in Anspruch. Sein einmal getätigter provokativ gemeinter Ausspruch »Ulf, Dialog statt Monolog«, hatte auf dessen Gesicht jedoch nur ein großes Fragezeichen hinterlassen.

»Ach übrigens«, Ulf zog sich am Schreibtisch wieder hoch, »ehe ich es vergesse, da war gestern noch ein anscheinend wichtiger Anruf für dich.«

»Von wem?«

»Hab es mir notiert, auch die Nummer. Ich schau im Büro nach und reiche es dir dann gleich rein. Ich glaube, es war eine Frau von dieser Stiftung. Als ich ihr sagte, dass du nicht da bist, meinte sie, sie würde sich noch mal melden.«

»Oh, das war wahrscheinlich wirklich wichtig. Hat sie sonst noch was gesagt?« Der Jungforscher war plötzlich voll bei der Sache.

»Nein, nichts weiter. Wo ist nur diese verdammte Tasche? Bin dann mal wieder weg, bis später.«

Bevor Jonathan eine weitere Frage stellen konnte, hatte Reinders den Raum verlassen. Krachend flog die Tür ins Schloss.

»Dieser Grobmotoriker«, entfuhr es Jonathan zischend. Er wendete seinen Bürostuhl wieder in Richtung des Bildschirms und legte dabei verärgert die Stirn in Falten. Nebenbei warf er einen Blick auf seinen Terminkalender, der neben einem umsturzgefährdeten Stapel von Textkopien lag. Insbesondere das anstehende Forschungskolloquium bereitete ihm Kopfschmerzen. Alle zwei bis drei Monate trafen sich Nachwuchsforscher des Sozialwissenschaftlichen Fachbereichs, um den aktuellen Stand ihrer Arbeit den anderen Kollegen zu präsentieren und um über offene Fragen in ihren Projekten zu diskutieren. »Wissenschaftliches Schaulaufen«, nannte dies einmal ein Teilnehmer, und Jonathan hatte die Bemerkung mit einem zustimmenden Lachen honoriert. Beim letzten Kolloquium hatte Jonathan mit seiner Darstellung des unmenschlichen Alltags in kirchlichen Kinderheimen der 1950er und 60er Jahre jedoch für Betroffenheit in der Runde gesorgt. Worüber er staunen musste, war das Ausmaß an Unkenntnis unter den Doktoranden über sein Forschungsthema. Er hatte zwar nicht erwartet, auf detaillierte Kenntnisse bei seinen Kolleginnen und Kollegen zu stoßen, aber seine Annahme, dass sie von den schrecklichen Verhältnissen in den Kinderheimen und der schleppenden Aufarbeitung irgendwie schon etwas mitbekommen hatten, erwies sich als falsch. Das Thema, zumindest in seiner ganzen verhängnisvollen Tragweite, war ihnen nahezu unbekannt. Er hatte diese Erfahrung in anderen Zusammenhängen schon öfter machen müssen. Positiv dagegen war ihm die Reaktion einer Person ausgefallen, auf deren Meinung Jonathan viel Wert legte. Jonathan hatte Kriminalhauptkommissar Richard Fürst vor einigen Jahren in einer ungewöhnlichen Situation kennengelernt. Damals leitete der Polizist die Ermittlungen gegen eine Gruppe von Studentinnen und Studenten. Bei für Osnabrücker Verhältnisse ungewohnt heftigen Studentenprotesten, die sich gegen die Verschlechterung von Studienbedingungen richteten, hatten sie sich an der Besetzung eines Unigebäudes beteiligt. Man warf ihnen vor, Polizeibeamte mit Flaschen beworfen zu haben. Ein Beamter hatte sich dabei Gesichtsverletzungen zugezogen. Die Polizei war allerdings ebenfalls nicht zimperlich vorgegangen. Von einem unter Zugzwang stehenden Unipräsidenten hatte sie die Erlaubnis zur Räumung des besetzten Gebäudes erhalten und sich mit Hilfe eines Sondereinsatzkommandos und schwerem Gerät Zugang zum Gebäudeinneren verschafft. Jonathan war damals in einer unglücklichen Doppelposition mit der Sache beschäftigt. Zum einen war er selbst eine Zeit lang an der Besetzung des Gebäudes beteiligt, zum anderen hatte er in seiner Funktion als freier Mitarbeiter für mehrere Osnabrücker Medien darüber berichtet. Da die Polizei ihn als Zeugen der Vorgänge zu einer Vernehmung eingeladen hatte, wollte er die Gelegenheit nutzen, um den ihn vernehmenden Polizisten in eine Diskussion zu verwickeln. Der ihm gegenübersitzende Beamte des Bereichs Staatsschutz entsprach jedoch in keinster Weise dem Klischeebild des unzugänglichen und autoritären Behördenvertreters. Er ließ sogar Sympathien für die Anliegen der Studenten durchblicken und machte deutlich, dass er die Leitung dieser Ermittlung nicht gerne übernommen hatte. Die ganze Angelegenheit endete letztlich nach monatelangem Hin und Her mit der Einstellung der Verfahren. Niemandem der beteiligten Studentinnen und Studenten war konkret etwas nachzuweisen gewesen.

Nach dieser Geschichte war Jonathan dem Kriminalhauptkommissar bei einigen von der Polizei einberufenen Pressekonferenzen noch mehrfach begegnet, zu denen er als freier journalistischer Mitarbeiter gelegentlich geschickt wurde. Ein zufälliges Treffen in einer Kneipe der Osnabrücker Altstadt mündete in einen langen Abend, an dessen Ende keiner von beiden nüchtern nach Hause gegangen war. Seither hielten er und Richard regelmäßig Kontakt und trafen sich auch privat. Der Polizist entpuppte sich mehr und mehr als vielseitig interessierter Mensch, dessen herzliche Art Jonathan gefiel. Nur in familiären Bereichen konnte Fürst sich manchmal kaum beherrschen, wenn er Jonathan davon erzählte, zu groß war offensichtlich die Enttäuschung über den Verlauf seiner Ehe und den nach der Scheidung einsetzenden Sorgerechtsstreitigkeiten um seine Tochter Lilly.

Mit der Zeit hatte sich tatsächlich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Ihr großer Altersunterschied erwies sich dabei nicht als Hindernis. Jonathan notierte sich auf einem Zettel, Richard in Kürze anzurufen. Seit ihrem letzten Gespräch waren bereits wieder einige Wochen vergangen. Eine Zeit lang arbeitete er noch an seiner Doktorarbeit, dann fuhr er den Rechner herunter, nahm zwei Bücher aus einem Regal und verließ das Büro. In Gedanken ging er dabei seinen anstehenden Vortrag für das Forschungskolloquium durch.

3. Kapitel