Heinrich und Puk - Carlo Salto - E-Book

Heinrich und Puk E-Book

Carlo Salto

0,0
13,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der achtzehn Jahre junge Heinrich, seines Zeichens Halbwaise, Strohkopf und Plauderer, fällt aus allen Wolken, als ihm, entgegen jeder Erwartung, durch eine für ihn hinterlegte Waisenrente aus der Obdachlosigkeit geholfen wird. Doch als er mit dem Schiff, seinem Wohnmobil, auf einem Parkplatz anlegt, und er Bekanntschaft mit dem elfjährigen Puk schließt, geht das Abenteuer erst richtig los: Er wird Fluchtfahrer, Geisterbeschwörer, Verfolgter und Attentäter - vor allem aber Kenner der Liebe und Gelassenheit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Carlo Salto

Heinrich und Puk

Roman

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Carlo Salto

Heinrich und Puk

Roman

Heinrich und Puk

Schönen Geburtstag. In der Hoffnung Sie sitzen bequem und haben ’ne ordentliche Ruhe weg, weil Ruhe weghaben doch das wichtigste ist, muss ich mich wohl vorstellen, aber so recht geht das nicht. Ihr Erzähler für diese Geschichte bin jedenfalls ich, und so gern ich meinen Namen auch hätte preisgegeben, so kann ich’s doch nicht, weil das Abenteuer, von dem hier noch die Rede sein soll, einige Spuren hinterlassen hat und ich fürs Erste keinerlei Interesse daran habe, beim guten Herr Hauptwachtmann vorzusprechen oder ähnliches. Ein Krimineller bin ich ganz bestimmt nicht. Manche werden das allerdings anders sehen und eigentlich bin ich froh, heil aus dem ganzen Schlamassel rausgekommen zu sein. Aus unbestimmtem Grund gelingt es mir immer, unbehelligt aus dem Stunk herauszukommen, den ich ja gar nicht will, der mir aber doch leider auf Schritt und Tritt folgt. Man kann sagen, dass ich zu einem Schlag Mensch gehör, von dem niemals jemand was mitbekommt. Trotzdem bleibt irgendeine Ungereimtheit zurück, wenn ’s zu viel wird und ich abhauen muss. Na, wenn ich schon meinen Namen nicht verraten kann, so will ich mich dennoch bemühen, zu sagen, woher ich komme und was ich in den jüngsten Zeiten meines Lebens hab angestellt.

Vor fast drei Jahren, so schnell geht das Leben, besuchte ich die Schule und war natürlich ein lausiger Schüler, den man gern gefoppt hat und einen Strohkopf nannte. Das war dann auch der Grund, weshalb ich es vermied, in der Schule aufzutauchen und wäre ich beim Genf, einem gewissen Lehrer, nicht auf besonders gutem Fuß gestanden, hätte man mich wohl rausgeworfen, ehe ich Mitternachtsformel sagen konnte. Der Genf hat mich aber immer in Schutz genommen und war einer, der die Welt am liebsten zum Guten gedreht hätte, wäre er nicht Lehrer geworden. Und so oft man bei meiner alten Ma auch anrufen mochte, so änderte sich doch rein gar nichts. Man wollte sich über mein Versagen beschweren. Man hat aus der Schachtel aber nichts rausbekommen und solang man ihr keine Zigarette anbietet, hält sie einen für sehr dumm oder hochnäsig oder geizig. Sie ist ganz wahrheitsgemäß so verrückt nach den Stängeln. Als die Sternsinger Spenden einholten, hat sie ihnen Zigaretten angeboten. «Teilt se euch», hat sie gesagt.

Wie ich zwei war, starb der Paps an Krebs und als ich das erfahren hatte, war mir zum ersten Mal aufgegangen, dass Gerechtigkeit nur ein Art von Schweinhaben ist. Wenn man die alten Bilder anschaut, dann sieht der Paps aus, wie ein Athlet von vor hundert Jahren und ganz und gar nicht wie einer, der Krebs bekommt. Postbote war er gewesen und gern stell ich mir vor, dass er ein anständiger, bedachter Mann war, der es nur nicht geschafft hat, mir seinen Grips zu vererben. Ich will mich nicht beschweren, dass er dann mit der Ma zusammen kam, ansonsten wäre ich ja nicht hervorgegangen, aber wenn ich die Bilder anschaue, wundere ich mich, warum ein so feiner Kerl eine solche Frau geheiratet hat, und die einzige Erklärung, die ich finden kann, ist, dass meine Schwester kein Wunschkind war. Der Krebs geht in meiner Familie jedenfalls um wie ein Teufel und hat auch meine Schwester dahingerafft. Leukämie sagt man dazu.

Darum war ich, seit ich sieben war, mit meiner Ma allein und sie hat sich nie um was geschert und ist nie beim Lehrergespräch aufgetaucht und der Genf hatte ein Mitleid, dass er sich recht bemüht hat, mir nach der Schule zusätzlich Stoff rein zu pauken. Manchmal hat er mich zum Abendessen eingeladen und ’s war immer ein Festessen, wie ich ’s nicht mal von Weihnachten kannte. Er hat alles getan, mich zu ermutigen, aber ich war doch nur ein undankbarer Hohlkopf, der sich auf nichts verstand. Immerzu sagte er: «Du bist ein Empath, kein Denker.» Aber die Prüfungen waren eben für Denker und was ein Empath sein sollte, traute ich nicht zu fragen.

Na, der Showdown, wie man sagt, geschah, als am Anfang des letzten Schuljahrs ein Nachhilfekurs gegeben wurde. Das Plakat versprach, aus jedem Fünferkandidaten einen Zweierkandidaten zu machen und nur für den Genf wollt ich hingehen und zu einem Zweierkandidaten werden: Hab das Zigarettengeld von der Ma gestohlen, um mich einzuschreiben. Es fehlten aber dreizehn Euro und fünfzig Cent, so bin ich abgezogen und hab ein Mathebuch gekauft, um wenigstens irgendwie in diese Bildung zu investieren. ’s war allerdings das falsche Buch, für so genannte Master, und ich musste noch eines kaufen und na, man weiß ja, dass diese Bücher nicht billig sind. Ich war so zerstreut, dass ich gar nicht auf die Idee kam, das Buch zurückzugeben, sondern hab’s einfach im Spind verrotten lassen. Und wie die Ma Wind bekommen hat, dass das ganze Geld weg war, zudem für Bücher mit denen niemand was anfangen konnte, prügelte sie mich den Treppenflur runter, so einen Bewegungsaufwand hätte man der Schrulle gar nicht zugetraut. Aus den Türen kamen die anderen Mieter und glotzten recht, wie die Ma auf mich einfluchte und mich davon jagte; gesagt hat keiner was.

In die Schule ging ich dann erst recht nicht mehr. Nur ein paar Mal, um Zigaretten zu verkaufen. Weil, als ich durch den Innenhof geschlichen bin, hat sich wohl doch so etwas wie ein Mutterherz gezeigt und die Ma hat mir ihre Daunenjacke aus dem Fenster, ohne ein Wort, auf den Hof gepfeffert. Darin waren sechzehn oder siebzehn Zigaretten und ich konnte sechzehn oder siebzehn Euro daraus machen, bei den aufgetakelten Mädchen, die das Geld hatten.

Wenn ich zurück denke, muss ich mich doch schämen. Aber na, inzwischen hab ich rausbekommen, dass ich doch gar nicht so dumm bin, wie ich immer gedacht hatte, vermutlich darum, weil mir niemand mehr sagt, ich sei dumm, und weil ich ’s eben nicht mehr denken muss. Die Schule zu verlassen hat mich demnach schlauer gemacht, als in der Schule zu bleiben, denn als ich meine Reise antrat, passierte irgendetwas mit mir und wie alles hinter mir lag, die Ma, der Genf, die vermaledeite Schule, das auf dem Hof Rumlümmeln, das Duckmäusern, das Hoffnungslosverliebtsein und überhaupt das ganze Dummsein, wie all das also hinter mir lag, merkte ich, dass ich durchaus gerissen genug bin, mich auf eigene Faust durchzuschlagen.

Eine Weile lebte ich auf der Straße, wie man sagt, aber eigentlich lebte ich in einem recht modernen Haus, das zum Verkauf ausstand, und in das ich mich durch ein offenes Badezimmerfenster einschlich. Zwar war es da nicht warm und manchmal recht kalt, ohne Bett und Decke, aber ich schaffte einen Ersatz für all das heran und legte los, Sport zu treiben, um ’s warm zu haben. Am Anfang war ’s ganz gut mit dem Haus, aber spätestens nach einer Woche bemerkt man, dass es eben doch ein klägliches Dasein ist, vor allem, da man immer auf der Hut vor den eigentlichen Besitzern sein muss.

Also hab ich den Plan gefasst, auf ein Abenteuer zu gehen, ich denke, weil ich zeitlebens nichts als ferngesehen hab und dachte, so schwer könne es ja kaum sein, ein eigenes Abenteuer zu erproben. So einfach war ’s dann allerdings nicht, weil man einen Grund oder ein Ziel für ein Abenteuer braucht und ich wusste lange nicht, wohin mit mir. Bis mir einfiel, dass ich einen Onkel in Baden-Württemberg hab; der war mit seiner Familie einmal und nie wieder zu Besuch gewesen. Also war mein Ziel gesetzt und der Grund hat sich auch schnell ergeben, indem mich ein Anzugkerl aus dem Schlaf brüllte. Er war ganz außer sich und hat mich einen «Penner» und einen «Pisskopf» geschimpft. Als er jedoch sah, dass ich ein harmloser Bursche war, der auch nicht freiwillig hier gelandet, hat er mich mit Flüchen hinaus gebracht und mir eine Fünfzigerbanknote zugesteckt. Ich dankte meinem Gott recht herzlich und ging gleich zum Bahnhof, um mit dem Zug nach Baden-Württemberg zu fahren.

In Stuttgart hat sich ein Haufen Leute bereit erklärt, mir zu helfen, meinen Verwandten aufzufinden. Aber der Familienname war dann alles andere als selten und ich stand recht verloren, ehe das Leben auf der Straße wieder losging.

Um die Stadt herum gibt ’s ’ne Menge Weinberge und in einem solchen Weinberg richtete ich mich ein. Es war ein kleines Gut, ohne eigenen Weinberg, direkt an der Straßenbahn gelegen. Ich hab ’s ordentlich rausgeputzt, sogar ein Schloss gekauft und angebracht, und dann war ’s eben meins. Wenn ich was auf dem Sperrmüllhaufen gefunden hab, schleppte ich ’s hoch, dass ich bald zwei Sofas und einen Klapptisch besaß. Ansonsten bin ich häufig herum gestromert und man lernt dabei allerhand Obdachlosengesichter kennen und fühlt sich ihnen auf eine Weise verbunden. Aber ich wollte mich denen gar nicht so doll verbunden fühlen und daran lag ’s dann wohl, dass ich immer öfters um die Schulen schlich und in den Pausen auf einer Bank am Schulhof saß und mir vorstellte, dass ich gleich in den ollen Unterricht gehe und mit den anderen Späße treibe und all das, was man sich so schön fantasiert.

Jedenfalls hab ich mich in ein Mädchen verguckt, ein großes Mädchen mit echtem, blonden Haar und einem Gesicht, das immer lebensfroh wie eine aufgehende Blume aussah. Sie trug meistens Stiefel und einen Rock und hatte hauptsächlich zwei Freundinnen, die einem vielleicht, wenn man nicht richtig guckt, hübscher vorkommen, als das Mädchen, in das ich mich verguckt hab, aber ich hab mich nun mal in dieses Mädchen verguckt.

Ausreden hatte ich ja nicht und eines Tages hab ich sie angesprochen. Ich wusst ’s schon zuvor, aber es hat sich gezeigt, dass sie ziemlich durchtrieben war und Lust an allem Geheimen und Abenteuerlichen hatte und ich fragte, ob sie mein Versteck sehen wolle. Wir verabredeten uns, und an einem Dienstagnachmittag stiegen wir den Weinberg hoch und ganz stolz zeigte ich meine Hütte her. Wir saßen bestimmt bis Mitternacht zusammen und ich log einen ganzen, krummen Balken zusammen, was meine Vergangenheit anging. Aber sie hat ’s sofort durchschaut. Sie hat mich wieder besucht und wieder und bald kam ’s zum ersten Kuss. Beim nächsten Besuch brachte sie mir Zahnbürste und Creme mit.

Na, wie man’s auch dreht und wendet; wir gingen zusammen und mein erstes Mal ging vor der Hütte unterm Nachthimmel vonstatten. Irgendein Feuerwerk hat sie dabei in mir angezündet, wie eintausend Raketen knallte es, und fortan stolzierte ich durch die Stadt wie ein Adliger oder was. Im Übrigen hieß sie Maya. Selbst in den Namen war ich verliebt.

Es kam jedenfalls, wie ’s kommen musste und Maya wollte mich mit zu sich nach Haus nehmen. Mir war ’s schrecklich unangenehm, denn sie wohnte in einem prachtvollen Haus aus dem Mittelalter oder woher, und ihre Eltern waren überall rasiert und besaßen den ganzen technischen Schnickschnack, den man von der Werbung kennt. Davor hab ich den halben Tag versucht, meine Klamotten sauber zu bekommen, aber der Bach, an dem ich ’s tat, war wahrscheinlich schmutziger als die Klamotten selbst, und darum trug ich einen von Mayas weiten Pullovern. Wir sagten den Eltern, ein paar Rowdys hätten mich ausgeraubt, damit ich nicht wie der letzte Strolch daherkäme. Der Vater wollte allerhand Dinge von mir wissen, gar nicht forsch oder unangenehm, er war eigentlich viel zu reich, um unfreundlich zu sein. Als es um meine Eltern und meinen Wohnort ging, sagte ich, meine Eltern seien ganz weit oben, in Hamburg, und dass ich hier ein Internat besuche.

– Diesesjenes Internat?

– Ja, diesesjene Internat.

– Dann müsse ich ja ein helles Köpfchen sein, und wir stießen drauf an.

Mayas Mutter hat mich furchtbar betüddelt und ich glaube, sie hat den Braten von Anfang an gerochen. Sie schenkte mir Hefte und ein Buch und eine Tüte Gummibären, dass ich mir vorkommen musste, wie Jesus Christus bei seiner Geburt. Na, gewissermaßen war ich dann adoptiert, wurde zum Essen geladen oder auf Kaffee und Kuchen und dergleichen mehr. Mit der Mutter verstand ich mich so gut, dass ich manchmal aufschlug, ehe Maya eintraf, für einen Plausch. Meistens legte ich mir ein paar Lügengeschichten zurecht, damit wir was zu schwatzen und lachen hatten. Recht häufig fand ich nach den Besuchen einen Geldschein in meinem Schuh und davon kaufte ich mir ordentliche Kleidung, Seife, einmal sogar Zahnseide. Der Vater zeigte mir seine Bibliothek, denn er war ein Professor, und ich tat natürlich, als sei ich sehr angetan, was ja auch irgendwie stimmte. Dort machte ich jedenfalls ein paar Bildungslücken wett, auch wenn ’s war, als versuche man, ein Schwarzes Loch zu stopfen. Ich las einen ganzen Haufen, selbst das, was ich im Ansatz schon nicht verstand. Vor allem Kriegsgeschichten interessierten mich; mitunter las ich von einem Zug, der pünktlich war und Krieger mit sich fuhr. Das machten mich wissen, was eine Erzählung eigentlich wert ist und ich las einen Sammelband nach dem anderen, und unter anderem mag ’s daran gelegen sein, dass ich Ihnen jetzt schreibe. Der letzte Band ist immer noch in meinem Besitz und ich sage mir jedes Mal, wenn ich ihn sehe, dass ich das Buch sofort zurückbringe. Aber ich will es dann als Andenken behalten und sage mir Eines Tages machst du ’s doch!

Bevor das Jahr sein Ende fand, hat mich Mayas Vater gedrängt, dass ein Führerschein sehr wichtig sei und ob ich mit meinen Eltern nie darüber gesprochen hätte und da ich überhaupt keine Haltung dazu hatte, stimmte ich bei allem zu. Tage später sagte er, er habe eine kleine Arbeit für mich, bei einem Professorenkollegen, auf einem Weingut.

«Natürlich nur, wenn es dein schulischer Weg zulässt, du sollst nicht die Schule leiden lassen, um ein Taschengeld zu machen. Aber pass auf, wenn du bei der Ernte fleißig mitmachst, verdienst du, schwarz, sagen wir, achthundert Euro. Und wenn du mit Maya in die Fahrschule gehst, dann bezahle ich dir den Rest auf die Achthundert. Hört sich das nach was an?» und ich sagte natürlich, das höre sich ganz fabelhaft an.

Also arbeitete ich ein paar Wochen auf einem Weingut, mit einigen Freunden des Professorenkollegen. Die kannten das Geschäft alle recht gut und ernteten fleißig wie Maschinen. Wir ernteten die Trauben in bunte Eimer und stellten sie, wenn sie voll waren, unter die Pflanzen. Dann kam das Quad mit dem Anhänger und dem Eimermann und sie sammelten die vollen Eimer ein, schütteten sie in größere Eimer und verteilten die leeren Eimer dann anderswo, wo noch zu ernten war. Ich war jedenfalls ein lausiger Ernter und schaffte es sogar, mir mit der Gartenschere in den Daumen zu schneiden, und überhaupt war ich recht langsam im Vergleich zu den anderen. Darum kam dann wohl auch der Professorenkollege und fragte, ob ich nicht lieber die Eimer einsammeln würde, als zu ernten, und ich sagte, wenn ’s denn besser wäre. Und besser war ’s mit Bestimmtheit; ich konnte hinten auf dem Hänger sitzen und mich an den Weinzeilen vorbei kutschieren lassen und musste nur hin und wieder einen Eimer aufladen und einen leeren Eimer von mir werfen. Also war ich der neue Eimermann und das einzigen Mal in meinem Leben, auf Grund von schlechter Arbeit, befördert worden.

Über den Winter machte ich den Führerschein. Maya und ihre Eltern gingen mir ordentlich zur Hand, sie bearbeiteten Anträge für mich und schickten mich hier hin und dort hin, um allerhand Dinge nachzuweisen, dass ich etwa geradeaus sehen kann. Ich glaube, es war die beste Prüfung, die ich je abgelegt hab, weil ’s mir eine Heidenfreude bereitet, den Fahrlehrer durch die Stadt zu fahren.

Na, am Ende waren ’s vierzehn Monate, in denen es prächtig ging mit Maya. Dann hat sie sich nicht mehr für mich interessieren können, schließlich hatte ich nichts mehr an Abenteuern zu bieten, und alles was ich hatte, gehörte ihr schon lange. Außerdem mochte sie so einen Blödmann recht gern haben, auch wenn sie ’s abgestritten hat. Ich hab ’s aber gemerkt und bevor sie Schluss machte, wusste ich, dass sie ’s tun würde. Sie war dann immer, als gäb ’s etwas furchtbar Dringendes zu erledigen, aber eigentlich gab ’s das nicht und sie hatte nur keine Lust, mit mir zu sein. Man hat ’s auch an den Haaren gesehen. Die waren nicht mehr blond und bauschig, nur glatt und wie Schnittlauch, und ich denke, wenn man die Leute kennt, kann man viel von deren Haar ablesen.

Wir sprachen drüber und sie sagte, sie könne nichts dafür, es läge an den Hormonen, und dann erklärte sie, wie es mit der Liebe im Kopf funktioniert. Ich fragte, ob ich auch Hormone hätte. Sie sagte ja und ich sagte, dass ich sie aber noch immer gern hätte, Hormone hin oder her. Damit konnte ich sie zumindest für den Abend zurückgewinnen. Aber ’s hielt nicht lange. Wegen diesem verfluchten Zwiebelvorfall.

Zwei von Mayas Freundinnen waren zu Besuch und wir standen in der Küche um zu kochen. Und eine von den Freundinnen sollte die Zwiebel in den Salat schneiden und sie hat sich furchtbar dusselig angestellt und andauert gesagt, sie koche ja nicht oft, sie könne es nicht, verstehe nichts davon – und dann hat sie der Zwiebel jede Schale abgezogen und in den Salat gegeben, und ich fragte, ob sie nicht wisse, wie man eine Zwiebel schneide. Ich meinte es nicht bös, sondern war im Begriff, ihr zu zeigen, wie ’s geht, denn wenn bei mir und meiner Ma gekocht wurde, war ’s schließlich ich, der ’s tat. Sie ist in Tränen zerbrochen, als hätte ich ihr Kryptonit oder was in die Augen gegeben und ich sagte, das komme von der Zwiebel und sie schrie, ich solle mich nicht lustig machen und dann ist sie mit der anderen Freundin geflüchtet und ich blieb zurück wie ein Mörder. Maya hat mit dem Kopf geschüttelt und ist den beiden hinterher, und als ich ihr später erklären wollte, dass der Ursprung allen Übels die Freundin gewesen sei, wollte sie nichts hören und sagte, ich kenne nicht einmal ihre Freunde und habe allem Anschein nach keine Ahnung, wie es dieserjener Freundin zu schaffen mache, wenn sie etwas nicht könne. Das gab dann ein ordentliches Hinundher, bis ich sagte, dass ich jetzt doch wüsste, was sie mit den Hormonen gemeint habe, und dass ich sie nicht gern haben könne, wenn sie mich denn gar nicht mehr gern habe. So haben wir geweint. Lagen uns in den Armen und trösteten uns gegenseitig, was ein seltsames Gefühl sein mochte. Wie damals, als meine Schwester starb, nur tragischkomisch, wie man sagt.

Ohne diese vermaledeite Zwiebelgeschichte wär ’s möglicherweise anders ausgegangen, aber eigentlich glaub ich das nicht. Jedenfalls hatte ich ’ne Heidenangst davor, die Trennung bekannt zu geben, weil ’s mein Gewissen nicht recht hat zulassen wollte. Immerhin hat mir der Vater gute tausend Euro geschenkt und die Mutter einen festen Termin für mich im Kalender und na, ich gehörte eben dazu. Man malt sich aus, wie man den Vater um die Hand seiner Tochter angeht oder wie man die Mutter pflegt, wenn sie alt ist, und dass alles in Ewigkeit und heiligem Licht dahin geht, aber dann kommt der Krebs oder eine Schlange von einer Liebe und beißt alles kaputt. Außerdem musste ich bemerken, dass die Sache mit den Hormonen doch nicht so schnell erledigt war.

Wohin ich auch gehen mochte, Maya nahm ich im Kopf mit und sie ließ mich nicht los, wie eine Zecke oder eine verknotete Nabelschnur, und ich wusste nicht, wie ich dem ein Ende setzen sollte. Saß auf meinem Gut und war bekümmert, aber nach außen wie ein Stein. Lag auf einer Wiese und konnte die Blumen nicht riechen. Liebte mich selber und heulte mittendrin los, wie der scheußlichste aller Schlosshunde nicht. Mehr denn je streunte ich umher und fand mich am Ende doch bei den Obdachlosen wieder, und da fing ich das Trinken an, das war schlimm.

Es gab einen Obdachlosen, der trug immer ein schmutziges Jackett und man nannte ihn den Doktor. Und der Doktor hörte mich an und erzählte viel von seinen Ehefrauen; nachdem er die letzte verloren, habe er alles verloren und war darum jetzt ohne Obdach. Wir schimpften auf die Frauen, aber dabei wurde ich mir selber nur immer widerlicher und als der Doktor sagte, er sei ein psychologischer Doktor und er im Begriff war, meine Vergangenheit auszugraben; gegen ein Bier am Tag nehme er mich in Behandlung, da begriff ich, dass es keinen Wert hatte, weiter derart zu verkehren. Mit Blei an den Füßen ging ich auf mein Gut und packte alles zusammen, entfernte das Schloss, und ging ein letztes Mal zum Haus von Mayas Eltern.

Maya ließ mich nicht herein und nahm mich draußen beiseite. Sofort hab ich ’s gerochen, denn sie sah sehr hübsch hergerichtet aus, mit dollen Locken ins Haar gedreht und ich wusste, dass der Blödmann zu Besuch war. Mir wurde so weh, dass ich nicht anders konnte, als sie zu hassen. Dann kam zu Mayas Glück die Mutter heraus, sich selber fest umschlungen und ich wünschte, sie hätte nicht so mitleidig drein gesehen, denn davon wurde mir umso schlechter. Sie sagte, ich solle herein kommen, es gäbe Post für mich, und Maya war empört und wollte es nicht, aber ich bin einfach hinein gehuscht.

«Von der Bank», sagte die Mutter mit trüben Lächeln und reichte mir den Brief. Ich hatte mit dem Vater ein Bankkonto eröffnet, hatte aber gar keine Lust auf diesen Zettelirrsinn und schaute also auch nicht hinein in den Brief, sondern saß lange am Küchentisch, nur ich und die Mutter, uns anschweigend.

«Dann geh ich besser. Muss langsam los», log ich und sie sprang auf und gab mir Geld und das Buch, das sich nach wie vor in meinem Besitz befindet. Sie war wirklich sehr gerührt und weinte richtig, während ich mich hinsetzte, um die Schuhe anzuziehen. In der Hoffnung, sie bemerke es nicht, zog ich die Schuhe vom Blödmann an und ließ meine abgetragenen Latschen liegen. Aber sie bemerkte es wohl, lachte schluchzend und hielt sich die Hand vor den Mund, und dann umarmte sie mich und sagte mir alle Dinge, die man nur aus Filmen kennt; dass man auf sich aufpassen soll, sich melden soll, wenn es Probleme gibt, dass sie wisse, wie weh mir sei und dass das Leben manchmal so spiele. Zu guter Letzt kam Maya mit dem Blödmann im Schlepptau herunter. Sie wollte sich entschuldigen und mir den Neuen vorstellen, aber da ich seine Schuhe trug, sagte ich nur «Die Hormone!» und ging geschwind.

Bis zum Park trugen mich die Beine, dann musste ich ausruhen vom Seelenkampf in mir. Saß auf einer Bank und war ganz bei mir, denn wieder mal wusste ich nicht, wohin. Zum Glück fiel mir der Brief ein und zu einem noch größeren Glück warf ich ihn nicht in den Teich, denn zunächst hatte ich große Lust dazu.

Das Flunkern kann ich mir ab und an nicht verkneifen aber das, was ich Ihnen jetzt schreiben will, ist die volle Wahrheit: Da stand etwas von einer Waisenrente geschrieben, über die ich ab meinem achtzehnten Lebensjahr verfügen könne, genau 75.995 Euro und 20 Cent. Halten Sie mich nicht für so einen, aber mir wurde schwarz vor Augen, so schwarz, dass ich den Seelenkampf sofort beilegte. Ich rannte durch den Park, bis zum nächsten Menschen und erkundigte mich nach dem Datum. Ich rechnete bestimmt zwanzig Mal, ehe ich drauf kam, dass es noch drei Wochen und drei Tage bis zu meinem Geburtstag waren. Hernach eilte ich zum nächsten Gotteshaus, um ein ernstes Wörtchen mit dem Obersten zu sprechen.

Na, man sagte mir oft, dass der Oberste nur für Dumme und Arme existiere, was mir gleich war, schließlich war ich nicht mehr dumm und auch nicht mehr arm, und außerdem hatte ich nur wenige Gespräche geführt, die so erbaulich sein mochten, wie die mit dem Obersten. Also kniete ich hin und faltete die Hände, wie man ’s kennt, aber als mir die Knie wund wurden, fragte ich, ob ’s in Ordnung sei, entspannt zu sitzen und er sagte ja. Des Weiteren sagte er, ich solle nicht mehr trinken, das tue nicht gut, außerdem tue es ihm leid wegen Maya, wir seien ein herrliches Paar gewesen.

«Und weshalb das Geld? Um ’s wieder gutzumachen?», fragte ich laut, dass eine Dame herüberstierte. Flüsternd: «Und weshalb das Geld?»

Er sagte nichts dazu und ich denke, er spricht nicht gern übers Geld. Ich solle mein Glück machen, sagte er nach einer Weile und ich antwortete, wir hörten voneinander, er solle den Paps und meine Schwester grüßen.

Da die Nächte warm wurden, schlief ich im Park und legte mir einen Plan zurecht. Einen Tag später suchte ich den Doktor auf, weil ’s eben der klügste Mensch war, bei dem ich mich derzeit konnte blicken lassen.

«Ein Wohnmobil?», fragte er.

«Ja», sagte ich.

«Ich kenn’ da jemanden. Hast überhaupt ein’ Lappen?»

Worauf ich keine Ahnung hatte, was er meinte, bis er hitzig FÜHRERSCHEIN in die Luft buchstabierte. Also zeigte ich den rosa Zettel her. Der Doktor meinte, ich müsse den richtigen Schein auf dem Amt abholen und auch, dass ich damit kleinere Wohnwägen fahren dürfe. Ich versprach dem Doktor einen Kasten seines Lieblingsbräus, wenn er mir helfe. Er stand auf, machte sich wichtig und erklärte mit schnapsroter Nase, dass er schon mehr verlangen müsse, er sei promoviert.

«Zwei Kästen?», fragte ich.

«Und ein Likör!», nickte er.

Also kamen wir ins Geschäft.

Es stellte sich heraus, dass ich denjenigen, den der Doktor kannte, auch kannte. Es war ein Zigeuner aus Rumänien (wie der Doktor sagte), den man oft mit seinen zwei Kindern von Haus zu Haus ziehen sieht. Wenn es aber dunkelt, taumelt er allein mit einer Flasche Whiskey durch den Bahnhof, grinst die Leute schepps an und hält die Hand hin. Bei den großen braunen Augen und den schiefen gelben Zähnen wird einem schnell eigenartig zumute, aber der Doktor warnte mich; er sei ein Schlitzohr und ich solle die Verhandlungen ausschließlich ihm überlassen.

Tage darauf trafen wir uns abseits der Weinberge am Waldrand. Da war ein gutes Lager aufgeschlagen mit allerhand alten Schrottlauben, worin die Kinder saßen und davor; schmutzige Decken und noch schmutzigere Matratzen. Der Doktor kannte den Zigeuner wohl recht gut, und erst tranken sie haufenweise Schnaps, bis der Doktor endlich anfing, mit wilden Gesten einen Wohnwagen zu beschreiben und so zu tun, als fahre er irgendwohin.

– Ah! Diesesjenes?, rief der Zigeuner.

– Nein, nein!, rief der Doktor, stand auf, ging zu einem der Autos und fuchtelte herum, ohne dass der Zigeuner irgendwas verstand. Schließlich verschwand der Zigeuner hinter einer Hecke und kam mit einem Benzinkanister zurück.

«Kannst das brauchen?», fragte der Doktor. Ich verneinte. Der Doktor schüttelte heftig den Kopf und begann, ein Wohnmobil in die Erde zu malen. Na, man verstand am Ende doch, was er sagen wollte und sie unterhielten sich eine gute Zeit mit Händen und Gesichtern, und dann nahm mich der Doktor beiseite und sagte, man könne ein Wohnmobil beschaffen, aber ich müsse eine Anzahlung machen. Bevor mein Erwachsenenalter nicht erreicht sei, könne ich auch keine Anzahlung machen, und wir gingen.

Drei Wochen vergehen unheimlich langsam, wenn man wartet. Einmal riss man mich aus dem Schlaf und wollte mich nach Hause fahren. Die Herren Polizisten dachten, ich flunkere sie an, als ich die Wahrheit sagte; Ich habe kein Zuhause. Sie zogen eine leere Bierflasche aus meinem Rucksack und unterhielten sich, als sei ich nicht da, ob man mich hier hin oder dorthin bringe; am Ende aber lief ein Verdächtiger, wie sie sagten, durch den Park, und sie ließen mich zufrieden.

Ansonsten musste ich es mir Tag ein Tag aus verkneifen, nach Maya zu suchen und auch jeden blonden Haarschopf mit Maya zu verwechseln und überhaupt erinnerte mich alles an Maya und ich beschloss, eine ordentliche Beschäftigung zu finden, bis das Geld da war.

Es gibt da einen Händler, der möchte Abraxas genannt werden (ein Deckname, wie man sagt) und für den arbeitete ich gewissermaßen. In der Nacht stieg ich in ziemlich viele Rohbauden und stahl das Werkzeug, das die Arbeiter hatten liegen lassen. Abraxas bezahlt nur, wenn die Geräte sauber sind und demnach musste ich jede Nacht in den Park, um dort Werkzeug im Teich sauber zu schrubben. Natürlich konnte das nicht lange gut gehen; nach zwei Wochen rannte eine Gestalt mit einer schweren Taschenlampe auf mich zu und ich türmte. Na, das war dann wohl eine derer Ungereimtheiten, die mein Schlag zurück lässt; jedenfalls lagen die Kellen und die Wasserwaage für die nächste Woche unberührt am Teich, als wartete jemand darauf, dass ich zurückkäme, um mich auf frischer Tat zu ertappen. Davor hütete ich mich jedoch und ich ließ mich auch bei Abraxas nicht mehr blicken. Mit den verdienten 57 Euro konnte ich jedenfalls aushalten, aber der kalte Kummer um Maya beutelte mich doch weiter, so dass ich in der ganzen Zeit keinen Appetit bekam und am Tag meines Geburtstags noch immer 36 Euro in der Tasche stecken hatte.

Na, natürlich nahm ich den Doktor mit und zuerst gingen wir aufs Amt, um den Führerschein abzuholen. Gelogen wär ’s, wenn man uns nicht beäugt hätte; Die Amtsleute taten zwar, als seien wir normale Kundschaft, aber stille Blicke sprachen, dass wir dubios waren, wie man sagt. Vor allem, da der Doktor seinen Morgentrunk nicht bekommen hatte und dann sehr laut und übereifrig wird, und mir wie verrückt der Magen flatterte, und womöglich der Ungepflegtheit wegen. Ich zeigte also den Ausweis und den rosa Zettel her und bekam prompt die kleine Karte, mit der ich überallhin fahren durfte. Da der Doktor bei Laune gehalten werden musste, hielten wir Pause in einem Pub, und auf der Toilette sagte ich zum Obersten: «Zur Feier des Tages!» und trank hernach vier Korn mit dem Doktor.

Auf der Bank war es noch schlimmer mit den Blicken, aber ich legte das Schreiben vor und forderte, dass man mir das ganze Geld in meinen Rucksack packe. Die Dame war ordentlich überfordert und verschwand für eine gute Zeit, ehe die Chefin kam, das war am Auftreten zu erkennen.

– Sie sind der Kontoinhaber?

– Ich sei der Kontoinhaber.

– Und Sie?

– Ein Onkel. Onkel zweiten Grades, um genau zu sein, ein bekümmerter Onkel, promoviert, ganz nebenbei, enchanté.

«Aha», sagte die Direktorin und auch, dass sie gerne mit mir unter vier Augen spräche. Wir gingen also in ein Glaszimmer und ich verlor mich heillos im Kauderwelsch der Dame, die mir tausend Dinge anbot und über allerhand Zeug sprach, von dem ich nichts verstand. Immerzu sagte ich, sie solle das Geld auszahlen und erst eine halbe Stunde später erklärte sie sich bereit; Sie könne aber nur 30.000 auszahlen, ansonsten müsse man diesesjenes tun. Also sagte ich 30.000, und hob ihr den Rucksack hin. Sie bekam es mit den Nerven und zählte mir Bündel für Bündel auf den Tisch, dass ich mir vorkommen musste wie der verdammte Al Capone oder sonst wer.

Draußen vor der Bank bekam der Doktor Stielaugen und wollte «Erstmal einen heben!»

Da ich aber so lange gewartet, war ’s mir nicht rechtens und sagte, wir gingen jetzt ein Wohnmobil beschaffen, danach könne er saufen bis er umfalle. Und auf einmal wurde der Doktor zu einer Art Mutter Theresa und wollte sich um alles kümmern. Öfters verschwand er in einer Telefonzelle, doch im Nachhinein muss ich denken, dass er nur so getan hat, als telefoniere er anregt. Er sagte, da ich keine Anzahlung gemacht hätte, müsse ich ihm 9000 geben. «Zusätzlich Spesen!», hob er den Finger erregt, «Spesen, ja! Du musst dich ein, zwei Tage gedulden, bis ich den Wagen hergeschafft hab.»

In meiner begierigen Dummheit gab ich ihm also 9050 aus dem Rucksack, die er in eine Plastiktüte steckte, dann marschierte er davon, und als ich hinterher rief; wo wir uns träfen, antwortete er: «Am üblichen Platz, weißt schon, drüben, drüben bei, na, du weißt schon.» Er bog um die Ecke und da ich überhaupt nicht wusste, wo er meinte, rannte ich nach. Sie können ’s sich ja denken, er nahm schneller Reißaus als der Fuchs mit der Gans im Maul, und wie ich um die Ecke wischte, hatte er schon den nächsten Block erreicht; da sieht man, wie flink solch dürre Doktorenbeine sein können.

Neun Riesen Lehrgeld sind eben keine unerhebliche Summe und aus der ganzen Wut auf mich selbst heraus, schlug ich mir die Hand an einer Laterne blutig. Unzufrieden saß ich auf einem Treppenaufgang, gewiss eine Stunde, bis mir die Einsicht kam, dass einundzwanzig Riesen immer noch ausreichen und der Doktor hoffentlich genug Verstand zwischen den Saufereien behalten hat, um etwas anständiges mit dem Geld anzufangen. Ich hatte gedacht, ihn nie wieder zu sehen, aber ’s kam anders, wie’s immer anders kommt…

Wie ich dort also saß und mir den Kopf klar dachte, stromerten zwei merkwürdige Menschen daher, wobei die eine eher eine Zwergin war. In meiner Heimatstadt hatte ich bereits viele Zwerge gesehen, aber diese Zwergin war besonders zwergenhaft; mit blonden, hochgestecktem Haar und einem fiesen Gesicht voll Pocken. Die andere war ebenso blond, falsches Blond jedoch, mit brauner Haut vom Solarium, das sieht man sofort, und an ihren Kleidern konnte man sehen, dass sie nicht zur gut bezahlten Bevölkerung gehörten, wie man sagt, denn die Kleidung tat nur so, als sei sie schick; mit falschen Edelsteinen und so ’nem Zeug. Na, die Zwergin musste irgendwas gerochen haben und watschelte direkt auf mich zu, und wie sie vor mir standen, sagte sie: «Was hast ’n du gemacht?»

Ich war sicher, dass mich der Oberste noch ein wenig weiter beuteln wollte, und sah schon das Messer vor mir fuchteln und wie sie mir den Rest abknöpften. Da ich gar keine Lust hatte, schob ich wortlos den Rucksack hin. Sie wollten aber nichts davon wissen und interessierten sich nur für das Blut auf meiner Hand. Ich war zu müd zum Flunkern und erzählte die Geschichte mit dem Doktor, und da waren sie ganz erstaunt und wollten nun doch das Geld sehen; ob ich die Wahrheit sagte. Weder die eine noch die andere machte Anstalten, mich um das Gut zu erleichtern. Stattdessen nahm mich die Zwergin bei den Händen und zog mich auf die Beine. «Wir päppeln dich auf, komm mit» und sie vergnügten sich sehr daran, mir zu helfen.

Also ging ich mit ihnen und es war recht angenehm, denn ich musste nichts sagen und die zwei kamen auch so schnell ins Gespräch, dem ich gerne lauschen wollte. Die große Blonde redete viel von ihrem Mann, sie hätten ja erst kürzlich geheiratet, er sei ganz wundervoll, und gerade auf Montage. Ob sie das nicht störe, wollte die Zwergin wissen. Die Große störte sich nicht daran und pries das Vertrauen – und mir stieg das zu Kopfe und ich sagte plötzlich, aus dem Nichts, viele Dummheiten. Beschwerte mich über launische Frauen und dergleichen; Zeug das mir der Doktor wohl hat eingetrichtert. Obschon ich mir selbst viel zu garstig vorkam, hatten die zwei Verständnis und taten, als sei ich nur ein verwirrtes Hündchen. Beruhigter fragte ich, ob Zwerge nur mit Zwergen zusammen seien – und da donnerte mir die Zwergin die Hand in den Nacken, dass mir das Licht für kurz verging. «Sag das nochmal und ich reiß dir dein Gehänge ab!», knurrte sie und es war genau der Wortlaut.

«Das Z-Wort?», fragte ich bestürzt, und die Große beschwichtigte die Zwergin, die ich nie nochmal so nannte. Feststellen musste ich, dass die Interessen und Wünsche und Leiden der Menschen wohl ins Unermessliche reichen, und ich mir besser ein Blatt vor die Gosch nehme, ehe ich nicht weiß, mit wem ich ’s zu tun hab. Der Zwergin tat ’s dann doch Leid und sie entschuldigte sich und sagte, dass ich mir ja vorstellen könne, wie oft sie sich idiotische Bemerkungen gefallen lassen müsse. Dann erklärte sie, wie aus dem Himmel, dass sie ihr Geld mit so genannten Fetischisten verdiene und durchaus in der Lage sei, mit Nichtzwergen zu verkehren. Darauf wollte mir auch nichts einfallen; ich schwieg und ging den beiden demütig hintendrein.

Es zeigte sich, dass die Große einem eher klassischen Berufe nachging, und wir erreichten bald einen Hinterhof, wo sie die Tür zu einer Metzgerei aufsperrte. Erst verarzteten sie meine Hand; viel zu sorgfältig, wenn Sie mich fragen, hernach half ich, Restwaren, Würste also, in Tüten zu packen. Damit machten wir uns auf, um bei der Zwergin den Grill anzuwerfen, wie sie ’s wohl jeden Samstag hielten. Unterwegs machten wir Halt bei einem Spirituosenladen. «Was trinkste?», fragte die Große mit einem Glühen im Gesicht, wie wir vorm Regal standen.

«Muss es sein lassen. Tut mir nicht gut», gab ich Antwort.

«Iwo! Heute feiern wir! Deine neue Freiheit, oder nicht?» Sie musterte mich kurz und entschied dann für einen mir unbekannten Schnaps, der zu mir passe, wie sie meinte. Gegen solche Gastfreundschaft kann man sich schlecht erwehren; Ob ich rauche, wollten sie wissen und kauften eine ganze Stange, und hernach wurde noch mit dem Kassenmann geplaudert, dass mir ganz eigenartig zumute wurde: So viel Schurkerei und Gutherzigkeit gibt es auf der Welt, dass man sich nur verwundern kann, wenn sie Schlag auf Schlag erfolgen.

Trauen konnte ich mich nicht zu fragen, was man im Fetischistengeschäft verdiene, aber die Wohnung der Zwergin war ganz und gar nicht das schmuddelige Loch, das ich erwartet hatte. Eine Fünf-Zimmer-Wohnung im obersten Stock, mit weiter Dachterrasse; ordentlich Liegestühlen, einem Kugelgrill und einer Miniaturbar. Drinnen war alles schick. Weiße Tische und Couches, ein paar Pflanzen; wie im Möbelkatalog schaute es aus, nur dass überall Schemel herumstanden.

«Und hier; darfst du nicht rein», klopfte die Zwergin vor eine Zimmertür, nachdem sie mir Bad und Gästezimmer gezeigt hatte. Ehe ich fragen konnte, sagte sie: «Arbeitszimmer», zwinkerte – und mir pochte das Blut durch die Schläfen. Hernach steckte sie mich unter die Dusche.

Mit Feuermachen kannte ich mich aus und so überließ man mir den Grill, während meine Freundinnen die Würste anschnitten, Brote bereiteten, Salat anmachten und Tisch deckten. Ab und an klingelte es und ein neuer Gast kam dazu. ’s waren allesamt Hallodris. Manche mit Jogginghosen und schmierigem Haar, andere braungebrannt mit Hochglanzfrisuren und stark nach Parfüm riechend, als hätten sie ’s in den Adern anstatt Blut. Ich blieb der Jüngste, aber keiner interessierte sich an mir, und so war ’s mir nur recht, denn, wenn ich ehrlich mit Ihnen bin; ernstlich über den Weg traute ich keinem von denen und so suchte ich, es war schon dunkel, die Zwergin in der Küche auf. Sie half mir meinen Rucksack zu verstecken; besaß einen Tresor und da er derzeit leer stand, bekam ich sogar den Schlüssel. So war ich beruhigt und mischte mich zurück unters Volk, wie man sagt, und die große Blonde muss direkt um meine Erleichterung gewusst haben, denn sie grölte plötzlich, schenkte mir ein, stellte mich den Hallodris vor und ganz unversehens wurden mir die Sprüche locker und mein Mund kannte die Schwerkraft kaum mehr, und selig dudelte ich mir ein Glas nach dem andern durch den Schädel, dass es den anderen eine Freude war.

Durchaus war ’s anders, in dieser Gesellschaft zu trinken, als mit den missgelaunten Resignierten ohne Obdach und na, irgendwie schaffte ich es in die Herzen der Hallodris und ich glaubte hernach, dass Allewelt die Streuner und Abenteurer liebt, solang sie jung sind und gute Miene machen. Gegen später, vor Mitternacht, schlug die Stimmung um; ein Türke und ein Pole gerieten aneinander. Da sie sich beiderseits ihre Männlichkeit beweisen mussten, standen sie sich recht schnell auf der Dachterrasse gegenüber, schubsten und beleidigten sich, und ich denke, weder sie noch sonst wer wusste, worum es ursprünglich gegangen war. Die Große ging dazwischen, der Türke aber brüllte, sie solle ihn nicht anfassen und stieß sie von sich. Das kam mir sehr unangebracht vor. Ich dachte gar an den Ehemann, der auf Montage war, und was er getan, wenn er das mit angesehen – und da bekam ich ’s wohl auch mit dem Männlichkeitsbeweis, auch wenn ’s gewiss nach etwas andrem ausgesehen hat. Zur Fußballweltmeisterschaft gab ’s jedenfalls solch lange Plastiktröten und da ich eine solche auf dem Schrank hatte liegen sehen, schaffte ich sie herbei, ging zwischen die Streithähne und trötete so gut es ging. Das brachte sie so sehr durcheinander, dass der Streit beigelegt wurde. Sie mieden einander. Der Türke setzte sich an den Terrassenrand, nachdenklich, manchmal funkelte er den Polen an. Der Pole saß wieder am Tisch, schaute kein einziges Mal und trank. So nahm ich zwei Bier aus dem Kasten und gesellte mich zum Türken. Dummerweise wollte er von mir nichts wissen; ihm schmeckte nicht, wie ich ihm die Show gestohlen und ihn obendrein lächerlich gemacht hatte. Na, ich plauderte ihn weich und bald erzählte er, dass er im Verkauf bei seinem Onkel arbeite, er sei Automobilhändler. Da gingen mir natürlich die Lauscher schneller auf als eine Bärenfalle zuschnappt, und überschwänglich erzählte ich von meinen Plänen. Wir verabredeten uns zum Montag.

Zwei Stunden später hatten sich die meisten Gäste verzogen; zu viert saßen wir am Tisch und leerten die Reste. Neben mir und der Großen war nur ein Mensch geblieben, der war lang wie Spargel und dürr wie ein Nagel; nicht einmal bis zur Brustwarze dürfte ich ihm gereicht haben. Zwar trank er viel, doch sprechen tat er kaum und einen geraden Satz bekam er nicht zustande. «Kann ich haben?» und «Mir gefällt» und «Porst!», mit russischem Akzent, da ich’s nicht besser weiß.

Na, die Große machte sich bald auf den Weg und da mir schummrig war, wankte auch ich zu Bett. Später ging ich nochmal auf die Beine, musste Stoffwechsel betreiben, und wie ich zurückkam, bemerkte ich gar nicht, wie ich zur falschen Tür einging. Beinahe war ich am Schlafen, da stieg der Riese zu mir ins Bett und begann mich zu liebkosen. Er küsste meinen Kopf und streichelte meinen Bauch, halb im Traum gefiel ’s mir sogar, doch als er sich meiner Brust näherte, wurde seine Hand plötzlich forsch und ruckartig; tastete prüfend, dann fuhr er auf und machte die Nachttischlampe an. Da konnte ich sehen, dass ich im Arbeitszimmer lag; in meiner Gutgläubigkeit von all den Liebeswerkzeugen wie umgeworfen. Der Riese sprang aus dem Bett, fluchte in seiner Muttersprache, und als er rausstürmen wollte, stand die Zwergin im Türrahmen, fasste alles in wenigen Augenblicken und brach in ein Gelächter aus, das war Hexenwerk, so schadenfreudig. Sie winkte und zwinkerte mich aus dem Zimmer, und bugsierte den Riesen, um die Hüfte gefasst, zurück ins Bett. Mir blieb nichts, als den Kopf zu kratzen und gleichsam fiel ich ins rechte Bett und in tiefen Schlaf.

Ich könne noch ein wenig bleiben, eine Woche, wenn ich wollte, und so hielt ich es. Am Sonntag grillten wir zum Frühstück, den restlichen Tag verbrachte ich dösend im Liegestuhl, versuchte zu lesen, das weiß ich genau, denn mir wurde immerzu schlimm in der Brust. Der Band erinnerte mich an Maya. Schrecklich viel Zeit verbrachte ich mit Ausmalungen, wie sie und der Blödmann zusammen taten, was wir immer getan hatten, und ’s kann wohl nichts Schlimmeres geben, als plötzlich nicht mehr geliebt zu werden, als sei alle Liebe reines Zufallsglück, als gäb ’s der menschlichen Rasse wegen kein echtes Lieben zwischen Mann und Frau, nur Begier, Rumgebums und Enttäuschung. Ich entschied meine Einstellung zu ändern, doch bekanntlich ist das leichter gesagt als getan.

Am Montag darauf erledigte ich Einkäufe für die Zwergin, zerdepperte eine Vase beim Putzen und brach hernach auf, um Yusufs Automobilhandel aufzusuchen. Ich lief eine Stunde, und im Industriegebiet eine weitere, denn es gab gleich drei Yusufs, die mit Automobilen handelten und erst beim letzten hatte ich Glück. Mein Freund vom Vorvorabend war jedoch nicht zugegen, er habe frei – und das wurmte mich doch recht ordentlich, denn er hatte mir mit Freundschaftspreisen und dergleichen in den Ohren gelegen. Obendrein gab ’s gar keine Wohnmobile – Wohnwägen gab es!

Ich streunte zur Zwergin zurück, machte Halt im Park, lümmelte auf einer Bank, und da verwickelte mich ein älterer Herr in ein sehr eigenartiges Gespräch – ich will Sie nicht langweilen, ’s kommt mir nur eben in den Sinn. Er trug nur schwarz, trotz der Sonne nur schwarz, mit Hut und engem Rollkragenpullover, und sagte, er sei mein Schutzengel. Ich solle mit ihm kommen, er müsse mir etwas Wichtiges zeigen. Mir war ’s natürlich ungeheuer und nur aus Höflichkeit blieb ich sitzen. Eine Weile schwiegen wir und als ich einen Blick riskierte, sah ich seine Hand zwischen uns zittern, als halte er sich gerade noch zurück, meinen Schenkel zu packen. So sprang ich auf, sagte, ich hätte die Zeit vergessen, er solle eben da sein, wenn mir etwas zustoße. Nach einem Kilometer Abstand sprach ich unter einem weiten Baum zum Obersten und er attestierte mir, dass der Schutzengel nur ein Verrückter gewesen sei…

Ich genoss es nicht wirklich im Zwerginnenheim. Auf eine Weise fühlte ich Schuld und Unzulänglichkeit und oft grübelte ich, wie es nun weiter gehen sollte, denn eigentlich hatte ich gedacht, mit achtzehn sei man fertig und richtig in Kopf und Körper, aber das stimmt nicht. ’s ist eben nur eine menschengemachte Grenze und diese Art von Grenzen sind in der Regel nichts als Unfug. Die Zwergin bemerkte meinen Unmut und war gekränkt. Sie nahm es sehr persönlich. Fuhr mich an, ich könne gerne verschwinden und unter einer «Mücke» schlafen. Über den Versprecher musste ich mich vor lauter Lachen derart wegwerfen, dass sie mir ein Veilchen schlug. Das brachte die Dinge zwischen uns zurück ins Lot. Sie bestand fortan darauf und verbot mir, vorm Wochenende abzureisen. Ich erledigte weiterhin die Einkäufe, putzen durfte ich nicht mehr, und hörte mich des Öfteren nach dem Doktor um. Auf unheimliche Weise beäugten mich die Doktorkollegen und ich ahnte bereits, dass sich das Wissen um mein Vermögen rum gesprochen haben musste.

Zwei Tage später war ich allein bei der Zwergin zu Haus und die Klingel schrillte. Durch den Spion besah ich mir zwei Zigeuner, die ganz eindeutig Anstalten machten, etwas Verbotenes zu tun. Sie sahen sich im Treppenhaus um und hatten einen Leinensack dabei, worin schweres Werkzeug sein musste. Ich bekam ’s mit der Angst, tat, als sei niemand Zuhaus, und schaffte den Rucksack aus dem Tresor. Schrieb einen knappen Abschiedsbrief an die Zwergin und ging auf die Terrasse. Na, ein guter Kletterer war ich immer, und Höhenangst konnte meinen Armen nie an Kraft rauben und ich kletterte, wie man ’s aus Actionfilmen kennt, auf einen unten gelegenen Balkon. Dort trommelte ich an die Fenstertür, bis eine betagte Dame den Vorhang beiseite zog. Sie hatte schnell Vertrauen, öffnete, und ihr gefiel ’s wohl, an meiner Flucht teilzuhaben. Nie war ’s mir so schwer gefallen, Kaffee und ein erbauliches Gespräch abzulehnen, doch wusste ich, dass ich den Zigeunern jetzt oder nie entwischen musste, da sie ansonsten vorm Haus gelauert hätten. Die Dame schob mir eine Tafel Nougatschokolade zu und nannte mich immerzu Heinrich, weshalb kann ich nicht sagen. Heinrich gefiel mir aus mehreren Gründen, so beließ ich sie im Glauben und stahl mich mit eigenartig schwerem Herzen die Treppen runter.

Es war wohl das Beste, keine alten Wege zu begehen, und so ging ich durch die Stadt, bis zu einem Punkt, an dem ich nie gewesen, und von dort an weiter, bis zum Stadtrand. Ich erforschte die Schrebergartenlandschaft und bei einem, wo die Spinnenweben wie Wolken hingen, entschied ich, zu ruhen.

Des nächsten Tages ging ich in ein Einkaufszentrum, beschaffte etwas Brot und Wasser, und vor einem Schwarzen Brett machte ich Halt und sah nach, was gesucht und geboten wurde, sicherlich in der Hoffnung, jemand wolle sein Wohnmobil loswerden. ’s war aber nicht der Fall. Stattdessen brachte mich eine Anzeige auf andere Gedanken und ich ging zurück in den Markt. Kaufte Zelt, aufblasbare Matratze und einen großen Rucksack. Den kleinen Rucksack im Großen, die Matratze darüber geklemmt und das Zelt in der Hand, machte ich mich auf den Weg, bis zu einer Tankstelle, nahe der Autobahn. Ehe ich in Aktion treten konnte, fragte mich ein dickbäuchiger Herr, der königlich auf einer Bank vor dem Tankstellenhäuschen hockte und rauchte, wohin ich wolle. Er hatte glasklar blaue Augen und einen weißen Schnauzer, nicht übergroß aber doch groß genug, um ihm Ruhe und Erhabenheit einzugestehen. So hatte er mich schnell überzeugt und ich ging mit ihm. Er war Trucker und fuhr einen solchen, wo vorn ein Namen hinter der Windschutzscheibe klemmt, mit ordentlich Lichterketten versehen. Wir fuhren gen Osten. Er hatte viel zu berichten, sprach von seiner Familie, und dass er einst Chirurg gewesen sei, dem Klinikleben aber fürs eigene Herz nicht weiter dienen wollte und nun die Freiheit auf den Autobahnen genieße. Nur die Kollegen, sagte er, nur die Kollegen seien ihm oft zu griesgrämig, überall seien sie griesgrämig, ob im Klinikum oder in der Zentrale; er freue sich über jeden heiteren Fahrgast. Das machte mich umso heiterer und ich erzählte ebenwürdig viel, und das Blauauge wuchs mir schnell wie Unkraut ums Herzen. Im Stau hängten wir die Füße aus den Fenstern, rauchten genüsslich und lachten oft ohne Grund, weil uns das Leben so erquicklich vorkam, wie die Sonne einfiel und der Straßenrand blühte und die Berge in der Ferne blau zum Himmel jubelten. Wie der Stau überwunden war, machten wir an einer Raststätte Halt, und er wollte am Logbuch herumflunkern und fuhr mich hernach eine halbe Stunde weiter, um mich bei einem Campingplatz am See abzusetzen. Blaubeersee, Brombeersee, auf irgendsolche Art. Er wollte mir Geld zu pumpen, ablehnend wollte ich Geld zurück pumpen, und als er fragte, ob ich ein Ganove sei, sagte ich: «Nä. Halbwaise.» Ausgiebig lachten wir und er drückte mir die Hand mit seinen beiden und wünschte mir das Glück der Götter aus ganzer Inbrunst; ich solle ihn nicht vergessen. Und so halt ich es; schreibe Ihnen von meiner Bekanntschaft mit Frederick.

’s war später Nachmittag und auf dem Campingplatz nahm man keine Gäste mehr an. Das hielt mich nicht ab, ich ging ein paar hundert Meter und stieg über den Zaun. Abseits schlug ich das Zelt auf, gewiss eine Stunde lang, ehe mein Ungeschick der Einfachheit des Zelts Form gab. Das Geld versteckte ich direkt unterm Zelt. Fünf Zigaretten später, man kann’s wohl eine Suchtverschiebung nennen, ging ich übers Gelände, vor an den See, ließ die Beine ins kalte Wasser fallen, lehnte mich um und döste für ein Stündchen selig. Dann wurde aber Radau geschlagen und ein Haufen jugendliches Gesindel eroberte den Steg, mit Kästen und braunen Flaschen, ausgelassen wie eh und je, und prompt saß eine Dame links, eine rechts von mir, und sie versuchten mich zu necken. Na, da mir gewiss war, mit mehr Wassern denn sie gewaschen zu sein, hingen sie mir bald an den Lippen wie Fensterputzer-Fische, und da ließ der nächste Kerl nicht auf sich warten und forderte mich mit Frechheiten heraus, als legte ich es darauf an, ihm die Damen streitig zu machen.

– Ob ich mich im Dreck gesuhlt hätte?

– Schwein sei ich, im chinesischen Sternkreis.

– Ich säh’ gar nicht aus wie ein Japse.

– Ein Japse sei ein Chinese nicht.

Da gab er auf, verstrubbelte mir mit Grobheit das Haar und ging laut grölend zu seinen Kumpanen, damit jeder mitbekam, dass dort ein Schwein hocke. Das spielte mir gut in die Karten und die Damen umsorgten mich fortan, tranken Bier mit mir, und der Abend schritt fort und der Pegel stieg; es wurde nackt gebadet und des späteren vergnügte ich mich mit einer der Damen sehr ausgiebig am abgelegenen Stege, indes der Mondschein wies, wohin was gehörte.

Mag ’s am äußeren Abstand oder am Blumen pflücken gelegen sein, am nächsten Tag konnte ich vergnüglich lesen und ich tat es beinahe zweihundert Seiten lang, ließ mir die Sonne auf den Bauch prallen und aß zu Mittag am Kiosk. Ich ging den Zeltplatz auf und ab, und stieß auf eine Anzeigetafel. Heureka! ein Dutzend Wohnmobile zum Verkauf ausgeschrieben. Ohne Zögern erkundigte ich mich an der Pforte, wo der nächste Ort sei und ging. Kaufte ein einfaches Mobiltelefon, bekam eine Nummer zugewiesen, eilte zurück und wählte vier Gefährte aus, die gefielen. Mit einer sehr gemütlichen Stimme verabredete ich mich schließlich. Er wollte schon morgen direkt vor Ort kommen und das Gefährt vorzeigen.

Ich lungerte den ganzen Vormittag auf dem Parkplatz, bis das Schiff endlich einfuhr. Ich hab ’s sofort gewusst. Wusste sofort, dass dieses Schiff mein Schiff sein sollte. Es war nicht besonders neumodisch, nicht weiß wie gebleichter Zahn, sondern von schmutzigem weiß und kantiger Form und verzeihen Sie, dass ich mich in Sachen Technik und Modellen und Werbung nicht auskenne, ansonsten hätte ich ’s ausführlicher beschrieben. Der Herr, der ausstieg, war sehr überrascht, einen jungen Kerl vor sich zu haben. Angenehm überrascht jedoch. Er trug eine Künstlerkappe, ein blaues, gespanntes Hemd, das sorgfältig im Hosenbund endete, und zu allererst steckte er sich eine Zigarette an. Ich hätte ihn umgehend als meinen Großvater adoptiert, wenn ’s denn gegangen wär.

«Ah, wir wollen ’s verkaufen und uns was Neues her tun. Meine Frau will über den ganzen Kontinent und die Mühle hier erträgt sie nicht. Sie denkt, das gute Stück hält es nicht durch.» Er sah mich wehleidig an, als wolle er sagen, dass die Frauen nichts von gutem Fahrwerk verstünden. So tat ich selbstverständlich, als gäb ’s ganz offenbar nichts auszusetzen an der alten Schleuder, obschon ich keine Ahnung hatte und mir das Ding ganz einfach so schnell wie nur möglich unter den Nagel reißen wollte. Er kam gar nicht auf den Preis zu sprechen, plauderte lieber und war ein sehr Angenehmer; bedächtig, ruhig redend, mir Zigaretten anbietend und mich über Details aufklärend. «Also», sagte er nach der dritten Zigarette. «Du willst sicher Probe fahren?» Und bei Gott, das wollte ich.

Na, ich weiß ja nicht, ob Sie eine solche Mühle schon gefahren sind, aber mir explodierte schier das Herz, so beglückt war ich im breiten Sitz mit dem großen Lenkrad vor mir. ’s war ein wenig wie im Truck, und Bernd wollte mich noch einweisen, doch ich ließ an und rollte schon über den Schotter. «Vorsicht!», hat er gemahnt und ich bremste abrupt, um nicht den Jungspund auf dem Fahrrad zu rammen. Der ganze Wagen ächzte und die Eltern des Jungspunds gestikulierten empört. Bernd schaffte es irgendwie, dass sie plötzlich lachten. Er hatte eine wirklich beruhigende Art, wie man ’s von ’nem Heiligen annehmen könnte.

Wir fuhren über die Landstraße. Selten hatte ich solch eine Freude am Spaß. Bernd fragte, ob ich zu ihm nach Haus fahren wolle, und ich nickte nur und konnte gar nicht sprechen vor lauter Grinsen. Er telefonierte also mit seiner Frau, sagte, er bringe einen Gast mit, und wie er das Mobiltelefon einsteckte, frohlockte er, es gäbe Kuchen. Wenig später dirigierte er mich auf einige Feldwege und letztlich kamen wir auf einem weiten Hof an, ganz ablegen von Dorf und Stadt – und seit ich das gesehen, wünschte ich mir zeitlebens nichts für mein hohes Alter, als eine solche Niederlassung. ’s war ein alter Bauernhof, mit prächtigen Bäumen ummantelt, Hühner gab es, Katzen gab es, zwei Hunde gab es, und natürlich eine wunderhübsche Frau, die uns empfing und die unterm grauen Haare noch blühte, als sei sie gestern erst zwanzig geworden. Sie war groß und schlank, trug ein graues Kleid und eine kunterbunte Halskette, und wie sie ihren Mann küsste, da glotzte ich recht ordentlich, denn die reinste aller Lieben lag in der Luft und wie der Frühling schon alles mit seinem heiteren Duft lieblich machte, so dachte ich, ich sei im Himmel oder wo gelandet.

«Und du bist?», fragte sie und reichte mir vergnügt die Hand. Wir gingen zusammen unter eine Laube hinterm Haus. Es gab allerhand Kräuter, Blumen und Bienen und auch eine Staffelei, wie ich ’s vom Kunstunterricht kannte, und na, ’s stellte sich heraus, dass Bernd Maler und Anne Dichterin war. Anne wollte alles von mir wissen, dass mich in meiner Dummheit gar das Gefühl beschlich, sie sei verliebt in mich. Mir war so wohl, dass ich sofort meinen ganzen Lebensweg berichtete, und bald drehte sich das Verhältnis um und nun bestaunten mich die zwei Glücklichen, ohne dass ich wusste, weshalb. «Der gefällt mir», sagte sie zu Bern gelehnt und mit Seitenblick auf mich. «Erinnert mich an Kosta, weißt du noch?»

Bernd lachte zustimmend. Ich wollte natürlich wissen, wer Kosta sei. Ein Kerl, den sie in Timbuktu oder sonst wo getroffen hätten und der, so hat sie gesagt, «einer der letzten freien Hermessprossen» sei. Das stieg mir gehörig zu Kopfe und machte mich gockelstolz, bis ich mich gar schämte, denn; griechische Götterkataloge waren mir zu Schulzeiten das wertvollste an Geschichte gewesen. Der Ausdruck vom letzte Hermesspross spukt bis heute in mir herum; und ich denke doch, er wird ’s tun, bis mir der letzte Hauch entweicht.

Nachdem der Kuchen gegessen und Anne im ersten Stock verschwunden war, führte mich Bernd in den Keller und zeigte mir seine Gemälde. Türkis und lila waren wohl seine Lieblingsfarben und er malte wirklich fabelhaft, mit Stil, wie man sagt. Stunden hätte ich darauf glotzen können, doch was er genau gemalt, konnte ich nicht sagen, ’s war einfach irrsinnig schön.

Man lud mich zum Abendessen ein und da ich mich pudelwohl fühlte, lag ’s mir fern, abzulehnen. Ich durfte mit den Hunden spazieren und es waren die schlausten Hunde, die ich je gesehen hab. Es muss wohl an der Erziehung liegen, denn ich war auch dumm gewesen, als man mich nur schlecht behandelt hatte, und so sollte es mir eine Lehre fürs Leben sein. Man konnte richtig mit ihnen kommunizieren. Später lümmelte ich in einer Hängematte. Anne brachte mir ein Buch, das hatte ich bis zum Abend gelesen. Es ging um zwei Arbeiter und der eine war schrecklich stark und genauso dumm, und sein Kumpan litt sehr darunter. Ständig hat der liebenswerte Hohlkopf aus Versehen Tiere zerquetscht und er war ganz besessen von Kaninchen, die er haben wollte, und aus Angst hat er dann einem wuschigen Frauenzimmer den Hals umgedreht. Sein Kumpan hat ihn darauf erschossen, wohl auch, damit er selbst sein Glück machen konnte.

Es gab Gemüseragout und wir aßen draußen, unter der Laube. Ich erkundigte mich, ob sie, Bernd und Anne, Kinder hätten, und sie sagten, es habe nicht funktioniert, man wisse nicht weshalb. Ich nahm an, das müsse bedrückend sein und wurde selbst bedrückt. Doch Anne nahm Bernd bei der Hand und sie glühten einander an. «Es ist nicht schlimm. Wir haben einander und es gibt genug Menschen da draußen, die man lieben lernt.»

Das beeindruckte mich und wieder dachte ich, im Himmel gelandet zu sein. Sie hätten nachgedacht, faltete Bernd die Hände. Und sagte dann: «Wir schenken dir das Mobil.» Da bekam ich ’s ganz gehörig mit dem Gewissen! Bestürzt lehnte ich eintausend Mal ab, doch sie wollten nichts hören! Anne ging hinein und legte mir, wie sie zurückkam, einen Zettel vor. Damit könne ich das Fahrzeug ummelden, ihre Nummern stünden darauf und auch ihr Einverständnis, wirklich, sie wollten kein Geld von mir, nur, dass ich sie zu Hilfe hole, wenn mir etwas zustoße. Ich verdächtigte den Obersten mir nun doch zwei Schutzengel gesandt zu haben. Es dauerte eine Stunde, bis ich das Geschenk annehmen konnte, und ich schob den Zettel in den Rucksack – vergas ihn umgehend. Dann bemühte ich mich mit aller Manier, die ich hier und da hab aufgeschnappt, räumte den Tisch ab, begann umständlich zu spülen, bis Anne kam, mir die Spülmaschine zeigte und mich mit weichsten Händen, aus denen ich mich im Grunde nie wieder lösen wollte, zurück nach draußen bugsierte.

Unter den Bäumen war ’s nun angenehm kühl und Bernd saß schon mit einem großen Glas Weinschorle, worin sich die Bäume verkehrtherum spiegelten, in der Hängematte, rauchte genüsslich und winkte mich zu sich. Wie wir zusammen mit den Beinen Schwung holten, lachte er wie ein Knabe, verschüttete den halben Wein übers Gras und lachte noch mehr, und mir wurde ganz eigenartig, als sei mir das alles schon mit dem Paps widerfahren, als ich noch keine zwei Jahre alt gewesen. Als wir nur noch ganz sachte schwangen, fragte er: «Und. Wo fährst du als erstes hin?»

«Wo lohnt es ?», fragte ich gegen.

«Heh. Wird ein heißer Sommer. Vor zwei Jahren waren wir oben, Norwegen. Aurora Borealis. Die Lichter bestaunen. »