Helagonitis (Das Leipziger Experiment). SF-Horror - Tino Hemmann - E-Book

Helagonitis (Das Leipziger Experiment). SF-Horror E-Book

Tino Hemmann

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Beschreibung

Ein unglaubliches Experiment wird Wirklichkeit. In einem Bunker tief unter der Elite-Universität Leipzig werden zwanzig Kinder versteckt. Gerettet vor der Vernichtung durch die als Virus von einer Marsexpedition importierte und im Krieg der Menschen eingesetzte Lebensform Helagonitis, ein rotes Pulver, das alles in Seinesgleichen verwandelt? Nach fünfzig Jahren Tiefschlaf erwachen die Kinder und müssen weitere zwanzig Jahre ausharren, bis sich der hermetisch abgeriegelte Bunker wieder öffnen wird. Es sind Jahre der Verzweiflung, Ungewissheit und Angst. Die Helagonitis, die in der Lage sind, jede erdenkliche Form von Materie anzunehmen, sie sind längst überall! Was noch ist Wirklichkeit in diesem Bunker, der die Letzten der Menschheit beherbergt? – Zweite, komplett überarbeitete und erweiterte Auflage.

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Inhalt

Titelseite

Impressum

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Bibliografie von Tino Hemmann

Tino Hemmann

Helagonitis

Das Leipziger Experiment

SF-Horror

Engelsdorfer Verlag 2011

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

2. überarbeitete und erweiterte Auflage

Copyright (2011) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Covergestaltung: Tino Hemmann

unter Zuhilfenahme folgender Werke:

Gesicht © chrisharvey – Fotolia

Wüste © Mammut Vision - Fotolia

Lektorat: Birgit Rentz – www.fehlerjaegerin.de

www.engelsdorfer-verlag.de

www.tino-hemmann.de

www.rat-der-planeten.de

eISBN: 978-3-86268-391-8

Somit begann der sechzigste Tag nach unserem Erwachen. Allmählich erst würden wir begreifen müssen, dass wir uns allein und isoliert in einer abstrakten unterirdischen Welt befanden. Wir, das waren zwanzig Menschenkinder, zehn Jungen und zehn Mädchen. Nicht mehr und nicht weniger. Jemand gönnte uns das angenehme Ende nicht.

Weiß. Die Hauptfarbe war Weiß. Ein Kunststoffgemisch, das stets dasselbe kalte, weiße Licht erzeugte. In allen Fluren und Nebenräumen infiltrierte es unsere Sehnerven. Nur in den Aufenthaltsräumen ließ sich das weiße Kunstlicht an- und abschalten.

Die ersten sechzig Tage hatten wir benötigt, um uns in dieser neuen Umgebung zurechtzufinden. Vollends würde dies wohl niemals gelingen, doch davon ahnten wir noch nichts. Automaten hielten uns am Leben, gleich lebenserhaltenden Maßnahmen der medizinischen Technik. Würden die Automaten versagen, wäre es um uns geschehen. Wir waren Kinder und fühlten uns eingesperrt, nicht anders, als es in der Bildungsanstalt der Fall gewesen war. Doch hier schien alles anders. Wir vegetierten in einem programmierten Gefängnis, tief unter der Oberfläche der Erde.

Wir lebten gefangen in einem Bunker, der aus fünf Sektoren bestand. Es gab den Wohnbereich, in dem wir uns anfangs ausschließlich aufgehalten hatten, als hätten wir Angst vor den anderen Sektoren gehabt, Angst gar, die Grenzen unseres Gefangenenlagers zu finden. Die uns überwachenden, physisch nicht existenten, dreidimensionalen Hologramme des Aufsichtspersonals nannten unseren neuen Wohnbereich Sektor 1.

Jener Bereich, in dem wir nach der Schlafphase zu uns gekommen waren, glich einem vollends eingerichteten medizinischen Labor. Der strahlend weiße, große Raum trug die offizielle Bezeichnung Sektor 3.

*

Erinnerungen aus dem Kurzzeitgedächtnis verwirrten mich. Schüttelfrost ließ meine Haut gefrieren und kitzelnd wieder auftauen. Ich schlug die Augen auf, ward Minuten lang geblendet von jenem grellen, weißen Licht, blickte ungläubig um mich, erfasste, dass ich auf einer Schwerkraftliege lag, umhüllt von einem durchscheinenden, gläsernen Käfig, nahm seitlich die Armaturen unzähliger Geräte wahr, die unser wehrloses Fleisch während der langen Komaphase überwacht hatten und mein erwachendes Bewusstsein registrierten.

Gedankenflammen fraßen sich gierig durch mein Gehirn.

Ich hatte eine Stadt verschwinden sehen müssen, sie hatte nicht gebrannt, nicht gebebt, sie war verschwunden, als hätte jemand ein schrill buntes Bild mit blutroter Farbe übergossen ...

Ich starrte meine rechte Hand an, die völlig unbeteiligt neben mir lag. Im Unterarm steckten mehrere Schläuche in einem Adapter, Leitungen führten durch eine Gummimuffe aus dem Glaskasten hinaus zu den Maschinen. Mein Körper war übersät mit Pflastern, unter denen Sensoren all meine Reaktionen aufnahmen. Ich war völlig nackt, nackt wie die anderen Kinder, als würde ich das zweite Mal gezüchtet und geboren.

Die Finger meiner rechten Hand zuckten. Reizstromschläge wurden über die Sensoren zu meinen Nerven gesandt, weckten in meinem Körper ein Organ nach dem anderen.

Sechzig Tage waren vergangen? Erneut betrachtete ich meine rechte Hand. Die Einstichspuren in meinem Unterarm waren tatsächlich verschwunden. Ich blickte auf das Mädchen Lene.

»Was?«, fragte Lene.

Wie so oft schüttelte ich meinen Kopf ein wenig. »Helagonitis«, flüsterte ich und entdeckte die winzigen Erhebungen an Lenes Körper, die eines Tages Brüste werden würden.

»Du machst mich noch wahnsinnig! Und starre mich nicht so an!«

Ich starrte sie weiterhin an. Doch ich sah Lene nicht. Ich sah das Hologramm eines Lehrers in der Nördlichen Bildungsanstalt der Stadt Leipzig. Mit einem Pointerfinger zeigte er auf Details von Videosequenzen, die dreidimensional vor uns abgespielt wurden. Eine moralisch verwerfliche Unflätigkeit, angerichtetes Grauen zugleich aufzuzeichnen. Wir sahen die Stellung der Moslems in irgendeinem antiamerikanischen Land. Die Flaktürme der Langlasergeschütze standen mitten im Dorf, umgeben von einem biologischen Schild, bestehend aus lärmenden Kindern und lachenden Frauen. Alles erschien uns real und echt, als wäre unser Unterrichtsraum ein Teil des Schildes. Punktgenau traf eine winzige, zerplatzende Kugel das Geschütz. Roter Staub wirbelte auf, vermehrte sich schlagartig, wandelte das Geschütz in seinesgleichen, dann die Soldaten, die flüchtenden Kinder und Frauen, die armseligen Hütten. Roter Sumpf breitete sich aus, fraß sich durch Wüsten und Steppen. Selbst unser Raum schien im roten Staub zu versinken, angeekelt und wie ferngesteuert hoben wir Schüler unsere Füße.

*

Zurück zum Tag null: Als es mir endlich möglich war, meinen Kopf etwas anzuheben, drehte ich ihn nach rechts. Unschärfe wandelte sich in Erkennbares. Der Körper eines Mädchens, das ebenfalls gerade erwacht war, tauchte auf. Die Silhouette ihres Gesichtes schien mir vertraut. Ja, ich kannte dieses Mädchen. Doch fiel mir sein Name nicht ein, so sehr ich meine Gedanken auch bemühte. Sein Glaskasten öffnete sich mit einem Ruck, es erhob und näherte sich lächelnd meinem Platz. Aus seinem Mund lief Blut, das auf meinen gläsernen Schutz tropfte und Löcher in die Haube ätzte.

Mara! Jetzt erschien mir der Name.

Ihr Lächeln änderte sich in eine Fratze, ihre glatte, nackte Haut begann sich zu verwandeln, nahm einen roten Farbton an, zerbröselte in feinstaubiges Pulver, wirbelte durch den Sektor und schlüpfte als Staubstrahl durch die Löcher meines gläsernen Käfigs. Ich versuchte eine Bewegung, doch fesselte mich eine unbezwingbare Kraft auf der Schwerkraftliege, so dass es dem roten Staub möglich war, mein Gesicht einzunebeln, zwischen meinen Lippen hindurchzudringen, mich zu ersticken und mein Gehirn zu zersetzen.

Ich spürte die Anwesenheit der Helagonitis!

Helagonitis? Was ist das? Ich hatte nie davon gehört und doch war ihr Name mir vertraut. Ein bekannter Feind, jedoch gesichtslos. Der rote Gegenspieler der leuchtenden Farbe Weiß?

*

An diesem einundsechzigsten Tag betrat ich achtsam und zurückhaltend zum ersten Mal den Sektor 5. Der Hologrammlehrer hatte davon erzählt. Hier sollte ich angeblich meine Vergangenheit finden können. Mein kindliches Bewusstsein konnte nicht bewältigen, was genau er damit meinte, ich bildete mir gar ein, keine Vergangenheit zu besitzen.

Sektor 5 befand sich am Ende eines langen Flures, dessen Form und Stille unheimlich waren. Schritt für Schritt lief ich, langsam und lauschend. Die Röhre führte sanft hinab in die Tiefe, ganz ohne Stufen und Wendungen. Auch sie war mit weißer, selbstleuchtender Farbe überzogen, stellenweise zeigte sich darunter der gegossene, ebene Kunststoff.

Stille. Die Stille in diesem Flur schien gewaltiger als jeder Schrei. Sie lastete auf mir, verschluckte das Geräusch all meiner Schritte.

Bedächtig betrat ich diesen Sektor 5, dessen Schleusensegment lautlos zur Seite geglitten war, nachdem meine heisere Stimme um Einlass gebeten hatte. In jenem sich vor mir öffnenden Raum herrschte die gleiche Temperatur, leuchtete das gleiche homogene Licht und war die gleiche Ruhe zu spüren wie in all den anderen Sektoren des Bunkers.

Kaum stand ich im Raum, da schloss sich die Schleuse mit einem störenden Quietschen. Mich überkam das Gefühl, diese Schleuse würde sich niemals wieder öffnen lassen. Ich befürchtete, ich müsste einsam verhungern und einen qualvollen Tod sterben. Ich schaute mich um und sehnte mich nach dem elektronischen Bilderrahmen in Raum 312 im Bildungszentrum.

In diesem kalt wirkenden Raum fand ich lediglich sterile Schwerkraftliegen aus schwarzem, weichem Kunststoff vor, über deren Kopfenden Hologrammbrillen schwebten, die mit flexiblen Kabeln an der Raumdecke befestigt waren. Ich kroch auf eine der Liegen, verweilte steif und ausgestreckt, blickte abwartend hinauf zur pendelnden Holobrille und griff erst Minuten später zu.

Der erste Eindruck ließ mir die Ruhebetten etwas weicher erscheinen, als es jene im Aufwachraum der medizinischen Abteilung des Bunkers gewesen waren. Bequem jedoch waren auch diese nicht.

*

Der Tag null kehrte in mein Gedächtnis zurück. Wieder und immer wieder.

Ich war erneut eingeschlafen, hatte geträumt, die Helagonitis wären hier.

Die Reizstromschläge der Sensoren wurden stärker, ließen meinen nackten Körper zucken. Wieder schlug ich die Augen auf.

Nach dem zweiten Erwachen benötigte ich einige Zeit, bis ich begreifen konnte, wo ich mich befand. Als es mir dann endlich möglich wurde, meinen Kopf zu bewegen, blickte ich nach rechts. Auf einer Liege neben mir ruhte ein Mädchen, das ebenfalls gerade geweckt wurde. Ihr jungenhafter Körper schauderte unter den Reizstromschlägen. Ich glaubte, dieses Mädchen zu erkennen. Mara? Es hieß Mara und hatte mit mir gemeinsam die Bildungsanstalt besucht. Ich konnte keineswegs behaupten, dass wir vor dem Experiment dicke Freunde gewesen wären. Schließlich hatte ich damals absolut keine Mädchen zum Freund haben wollen. Am liebsten wollte ich überhaupt nichts mit Mädchen zu tun haben.

*

Ich verließ das Zimmer in der Nördlichen Bildungsanstalt der Stadt Leipzig im Deutschen Europäischen Distrikt. Mein bester Kumpel Viko bezeichnete seinen Unterbringungsraum stets als »Isolationshaftzelle«. Pünktlich um 21 Uhr erklang an jedem Abend die verhasste Computerstimme: »Die Sicherheitseinrichtungen für Raum 312 werden jetzt aktiviert.« Ein kurzes Zischen ertönte, dann waren wir eingesperrt, ein jeder in seinen vier Wänden. Für acht Stunden blieb ich gefangen innerhalb von sechs Quadratmetern. Glücklich schätzen konnten sich die Kinder, deren Räume ein Fenster besaßen. Raum 312 jedoch befand sich im Gebäude 9 auf der Innenseite. Für Frischluft sorgte die automatische Klimaanlage, statt eines Fensters gab es einen elektronischen Bilderrahmen, der über meinem Bett hing und mir unbekannte Landschaften zeigte – alle vierundachtzig Sekunden wechselnd.

Die Überwachung erfolgte zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ständig tauchten Hologramme auf und wiesen uns Kinder zurecht.

Ich lief über einen langen Flur. Kunststoffbeschichtungen dämpften die Akustik, Kinderstimmen waren kaum zu hören, obwohl in der Nördlichen Bildungsanstalt fast ausschließlich Kinder existierten. Erst das dritte Jahr verbrachte ich hier. Und doch kam es mir bereits wie eine Ewigkeit vor. Weitere sieben Jahre würden folgen müssen.

Im Sommer verbrachte ich vier Wochen bei meiner Familie am Rand der Stadt Leipzig. 27 von 365 Tagen, die ich in diesem Jahr nicht in der Bildungsanstalt weilte. Wir redeten kaum. Ein merkwürdiges Gefühl brach in mir auf. Ich fühlte mich fremd und nicht willkommen in meiner eigenen Familie.

*

»Tom!« Das Hologramm, das mich der Bildungserstkontrolle unterzogen hatte, hatte monoton gesprochen und meine Zukunft verkündet: »Du wirst eine unserer staatlichen Bildungsanstalten besuchen dürfen.«

Mama hatte mich angelächelt. Gerade so, als hätte sie viel lieber geweint. Damals war ich sechs Jahre alt. Und doch erinnere ich mich an jenen Moment, als wäre er allgegenwärtig.

Mit sechs Jahren teilte sich das Schicksal aller Kinder. Einige durften die Schule besuchen, andere wurden an Unternehmen zweckvermittelt, in denen sie eine praktische Tätigkeit erlernen würden. Es gab nur die Bildungswege »Produktion« und »Intelligenz«.

Mein Weg war vorausbestimmt. Zehn Jahre Schule, fünf Jahre Studium. Nach bestandenen Abschlüssen konnte man sich von einer Firma oder vom Staat kaufen lassen. Forschung, Leitung oder Politik würden das weitere Leben eines »Intelligenten« bestimmen.

*

Ich blieb an der summenden Rolltreppe stehen und blickte nach rechts in den Flur.

Augenblicklich erschien ein Hologramm und plärrte: »Schüler Tom, dein Unterricht beginnt in sieben Minuten. Begib dich sofort in den Unterrichtsraum 112.«

Ich ignorierte die durchsichtige Erscheinung und schaute hinauf zur Decke des Flurs. Dort waren die Holoprojektoren befestigt, die unsere Aufpasser erscheinen ließen.

Endlich kam Viko angerannt und lief durch das Hologramm hindurch. »Hallo Tom«, rief er, »wieder so ein beschissener Tag!«

»Schüler Viko, du musst dringend deine Kommunikationssprache überarbeiten«, sagte das Hologramm. »Außerdem ist es untersagt, durch projizierte ...«

»Halt die Klappe!«, rief Viko. Dann zog er ein kleines Teil aus der Hosentasche und richtete es hinauf zum Holoprojektor. »Schau dir das an, Tom!« Er drückte eine Taste, worauf das Hologramm verschwand.

»Wo hast du das her?«, fragte ich, während wir Stufe um Stufe die sich langsam bewegende Rolltreppe hinuntersprangen.

»Was denkst du denn? Gebaut habe ich das. Aus einer geklauten Fernbedienung. Ich musste nur die Frequenz verändern und den Code finden.« Viko grinste mich an.

Im unteren Flur kamen wir nicht weit. Nebeneinander stürmten wir gegen ein unsichtbares Kraftfeld und stürzten. Irgendetwas drückte uns auf den Boden, an der Wand neben uns blinkten rote Kontrolldioden.

Ein erwachsener Mensch aus Fleisch und Blut, ein uns verhasster Mann, der einen weißen Kittel trug, tauchte auf. Er stand breitbeinig direkt vor uns und wartete.

»Schwerkraftfeld um zehn Prozent erhöhen!«, ordnete er laut und deutlich an. Es schien, als wollte uns eine unsichtbare Kraft auf dem Boden zerquetschen. Viko und ich unterdrückten jedoch jeden Schrei. Wir hassten diesen Mann, doch wir gaben uns keine Blöße.

»Schwerkraftfeld aus!«, ordnete er endlich an und streckte gleichzeitig seine rechte Hand aus. »Ich bekomme etwas von dir, Schüler Viko. Etwas, das du gestohlen hast.«

Ich spürte Wärme, die über meine Lippen kroch, berührte den Mund mit meinem rechten Handrücken und sah Blut daran, das aus meiner Nase floss.

»Ich habe nichts!«, brüllte Viko wütend.

»Leere deine Taschen!«, befahl der Mann und schrie: »Sofort!« Dabei zuckte er nicht ein einziges Mal mit den Wimpern.

*

Zurück zu Tag 1. Die ersten Hologramme tauchten aus dem Nichts auf, es waren Doktoren des medizinischen Bereiches. Sie schwebten lautlos umher, trugen lange weiße Kittel und merkwürdige Kopfbedeckungen. Häufig zitterten ihre Abbildungen, als machten ihnen Indifferenzen zu schaffen.

Die gläserne Haube über mir verschwand, das Zwicken der Reizstromschläge ließ augenblicklich nach.

Neben jeder Liege schwebte eine der Doktoren-Gestalten und gab Anweisungen.

»Greif mit deiner linken Hand an den rechten Unterarm und trenne die Versorgungsschläuche durch Drehen entgegen dem Uhrzeigersinn von der Hauptkanüle.«

Ich blickte das Hologramm einige Sekunden lang an. Seine Stimme klang weiblich, obwohl es männliches Personal darstellte. Die Stimmen aller Hologramme in diesem Sektor blieben stets gleich, nur die Holgramme sahen unterschiedlich aus. Es gab vier verschiedene Varianten.

»Greif mit deiner linken Hand an den rechten Unterarm und trenne die Versorgungsschläuche durch Drehen entgegen dem Uhrzeigersinn von der Hauptkanüle des Adapters«, wiederholte die Stimme ebenso monoton wie beim ersten Mal.

Ich konnte meinen linken Arm bewegen. Zunächst wollte ich an meiner Nase kratzen, doch auch dort fühlte ich ein Pflaster mit einem Sensor darunter. Ich drehte vorsichtig die Schläuche ab. Flüssigkeitsreste tropften auf meinen Arm.

Neben mir öffnete sich ein Fach an einem der Überwachungsgeräte in unmittelbarer Nähe.

»Setz dich aufrecht hin und entnimm dem soeben geöffneten Fach das selbstklebende Steriltuch. Berühre es nur am äußersten Rand. Halte es in deiner rechten Hand, während die linke den Adapter entfernt, ihn im gleichen Fach ablegt und sofort das Steriltuch mit der roten Fläche auf der Haut über dem Einstich platziert. Drücke dann mit dem Daumen der linken Hand sechzig Sekunden lang fest auf das Steriltuch.«

Ich blickte zu Mara. Sie zog – ohne ihre Mimik zu ändern – den Adapter aus ihrem Unterarm, warf ihn in das Behältnis und drückte das Wundpflaster auf die Einstichstelle. Auch sie beobachtete mich. Ich änderte ein wenig meine Position, so dass sie nicht alles von mir sehen konnte, biss – gleich einem Reflex – die Zähne zusammen und zog den Adapter aus meinem Unterarm. Es floss etwas Blut, so dass mein Pflaster nicht halten wollte.

Den virtuellen Arzt interessierte das keineswegs, er folgte seinem Protokoll.

Wir mussten unter der Aufsicht der Hologramme erste Bewegungsübungen machen, knieten oder saßen dabei noch immer nackt auf den Liegebetten.

Erneut erwischte ich mich dabei, dass ich Mara beobachtete. Sie war sehr gelenkig.

*

»Was ist, weinst du etwa?« Ganz plötzlich tauchte ein Schatten über mir auf.

Ich kauerte auf dem Boden, an eine Wand gelehnt. Und ich weinte tatsächlich. Es war während der ersten Wochen meiner Schulzeit in der Nördlichen Bildungsanstalt.

»Ich weine nicht«, sagte ich. »Du kannst ruhig weitergehen!«

Das Mädchen hielt mir eine Hand hin. »Komm schon«, sagte es und half mir auf. »Du hast bestimmt Heimweh, nicht wahr?«

Ich nickte und wischte Tränen weg.

»Ich weine auch manchmal. Nachts. Heimlich«, sagte das Mädchen. »Ich heiße Mara. Wenn du willst, können wir Freunde sein.«

Ich lief neben ihr. Ich schämte mich, neben einem Mädchen laufen zu müssen.

*

Der Einstich blutete nicht mehr.

Wir erhielten einheitliche Kleidungsstücke. Es handelte sich um weiße Einteiler mit einer Verschlussleiste im vorderen Bereich und gewöhnungsbedürftiger, eingenähter Unterwäsche. Stabile Sohlen ersetzten im Fußbereich die Schuhe. Die Bekleidung wurde während unserer Schlafphasen gereinigt, wenn wir nicht vergaßen, sie in die entsprechenden Reinigungsvorrichtungen zu legen. Unsere Erziehungshologramme erinnerten uns allerdings an jedem Abend wenigstens dreimal daran, dies zu tun, so dass es fast unmöglich war, den Vorgang zu vergessen.

Erneut mussten wir uns hinlegen. In den folgenden Stunden wurde der Raum klimatisiert, wir spürten, dass es zunehmend wärmer wurde.

Dann endlich durften wir aufstehen und liefen mit wackligen Beinen durch den medizinischen Sektor. Jedes Kind wurde von einem Hologramm begleitet, das auch hier von den Decken herabprojiziert wurde.

Wir wurden genötigt, jeweils eine Handvoll Tabletten einzunehmen, erhielten dazu einen Becher mit einem geschmacksneutralen Getränk.

Eine bis dato unsichtbare Schleuse öffnete sich, dann traten wir hinaus auf den röhrenförmigen Flur. Merkwürdig schien mir, dass kein Einziger von uns Lust verspürte, sich zu artikulieren.

Unsere Namen wurden von einem Hologramm aufgerufen. Jeweils zwei Kindern wurde eine Wohneinheit zugewiesen. Das aufrufende Hologramm begleitete diese beiden, während an seiner Stelle sofort ein neues Hologramm aktiviert wurde.

Ich hatte es befürchtet: Immer ein Junge und ein Mädchen mussten zusammenleben. Ich blickte Mara, die mit einem anderen Jungen das Zimmer teilte, traurig hinterher. Sie war mir als Einzige vertraut, so, als würde ich sie seit einer Ewigkeit kennen.

Die Hologramme aus der medizinischen Abteilung wurden in den Bereitschaftsmodus versetzt und damit unsichtbar.

Kaum hatten wir unsere Wohneinheit in Sektor 1 betreten, tauchten zwei neue Hologramme auf, zwei Erwachsene: eine Frau und ein Mann. Uns wurde das Zusammenleben einer Familie suggeriert, nur waren diese Eltern gänzlich unvollkommen.

Von jenem Tag an wohnte ich gemeinsam mit diesem Mädchen in einer Wohneinheit, die aus einem Aufenthaltsraum mit zwei dicht beieinanderstehenden Betten und einem anspruchslos eingerichteten Sanitärraum bestand.

Ich stand regungslos im Zentrum des Zimmers, während das Mädchen sämtliche Fächer und Schleusen kontrollierend öffnete. Meine Blicke folgten seinen Bewegungen.

Sie hatte braune Augen, kurze, blonde Haare und war kräftiger und älter als Mara. Sie überragte mich um einen halben Kopf. Unter ihrem enganliegenden Anzug hoben sich sanfte Konturen ihrer flachen Brüste ab. Sie bewegte sich zudem bereits wie ein Mädchen.

»Was?«, fragte sie schließlich.

Ich sah sie lediglich weiter an.

»Wie heißt du?« Sie stand dicht vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Dein Mitbewohner heißt Tom«, antwortete das weibliche Hologramm, bevor ich überhaupt meinen Mund öffnen konnte.

Ich wandte mich dem Hologramm zu. »Hör zu! Ich kann selbst reden!«, rief ich wütend. »Und du solltest es nur tun, wenn du gefragt wirst!«

Beide elterlichen Hologramme verschwanden für einen Moment, dann tauchten sie wieder auf. Das weibliche lächelte mich an. »Sag ihr doch deinen Namen.« Ein Restart wie aus dem Bilderbuch.

Das Mädchen musste grinsen. »Ich heiße Lene.«

»Lene?«

»Ja, Lene.«

Ich dachte darüber nach, was ich sie fragen könnte. »Was ist? Willst du rechts oder links schlafen?« Ich stellte diese Frage, damit unser Gespräch nicht einschlafen würde.

Ihre Nasenspitze näherte sich der meinen. »Es ist mir scheißegal«, flüsterte sie. Dann sprach sie laut weiter: »Ich dachte, man hätte die Teilnehmer dieses Versuches auf den Zustand ihrer Intelligenz geprüft. Bei dir scheinen sie es vergessen zu haben. Sonst wärst du nicht hier.«

»Entschuldige bitte«, antwortete ich zynisch. »Ich habe seit fünfzig Jahren keine Frage gestellt.« Ich lief zum linken Bett und warf mich darauf. »Und das absurde Verhalten von Mädchen scheint sich im Allgemeinen während dieser Zeit auch nicht geändert zu haben.«

»Deine Abneigung uns gegenüber scheint aber nicht auf jedes Mädchen zuzutreffen«, sagte sie vorwurfsvoll.

Ich war verunsichert. »Wie meinst du das?«

»Sehe ich so blöd aus? Denkst du, ich habe nicht bemerkt, wie du diese Mara angehimmelt hast?«

Ich suchte nach passenden Worten. Jene, die ich fand, waren für den Moment wohl doch nicht so passend, denn Lene schwieg anschließend verbissen. »Damit das klar ist: Mara ist mir genauso egal, wie du es mir bist!«

*

Nun war ich zum ersten Mal in Sektor 5, lag steif auf einer Sitzliege und veränderte durch Berühren eines Knopfes meine Lage, die dadurch bequemer wurde. Ich zog die Hologrammbrille herunter und setzte sie auf.

Im gleichen Augenblick erschien vor mir ein alter Mann, dessen Hologramm ein wenig zitterte. Die Brillen bargen den großen Vorteil, dass man das Hologramm nicht im selben Raum, sondern in einer anderen dreidimensionalen Umgebung traf. Dieser Mann schien direkt neben mir auf einer Parkbank zu sitzen, ich hörte fremde, lachende Stimmen und lustiges Vogelgezwitscher.

»Guten Tag, Tom«, sagte das Hologramm des Alten.

Ich sah ihn ein Weilchen an und war von seinem Aussehen keineswegs begeistert. »Guten Tag«, flüsterte ich. »Wäre es möglich, dass du ein anderes Aussehen annimmst?«

»Aber selbstverständlich. Wie möchtest du mich vorrangig visuell wahrnehmen, Tom?«, fragte der alte Mann, der ein wenig unheimlich auf mich wirkte.

»Es wäre mir lieb, wenn du aussiehst ..., so wie ein Junge ..., so wie ich aussehe«, antwortete ich.

»Kein Problem, Tom. Soll ich die gewünschte Einstellung speichern? Ich werde dann mit dir wachsen.«

»Von mir aus. Wenn du willst, dann tu das.«

Ein kurzes Blitzen kündigte die Erscheinung eines Jungen an, der mir ebenso plötzlich gegenüber saß, wie der alte Herr verschwunden war. Die Computer hatten etwas übertrieben, denn dieser Junge sah bis ins Detail genauso aus wie ich. Er war etwa zehn Jahre alt, hatte schwarzes, kurzes Haar, dunkelbraune Augen und grinste mich künstlich an. Mir fiel auf, dass er immerzu lächelte.

»Wer bist du?«, fragte ich.

»Ich bin das Hologramm von Tom. Sag Tom zu mir«, antwortete er feixend. »Was soll ich dir erklären, Tom?« Computer konnten nichts Neues erfinden. Sie waren nur Nachahmer der schlechten Programmierer.

Trotzdem brachte ich das Gespräch in Gang. »Wie lange hat mein Komaschlaf gedauert?«

»Die Kinder des Experiments wurden für fünfzig Jahre in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt, Tom. Während dieser Zeit alterten sie jedoch lediglich einige wenige Stunden.«

Verdammt, ich wusste es doch! Und trotzdem fragte ich erneut: »Wie lange?«

»Die Kinder des Experiments wurden für fünfzig Jahre in einen künstlichen Schlaf versetzt, Tom. Während dieser Zeit alterten sie lediglich einige Stunden«, wiederholte er grinsend.

Sie hatten uns wahrhaftig ein halbes Jahrhundert verschlafen lassen! Mein Kopf musste Schwerstarbeit leisten. Erneut sah ich die verschwindende Stadt, gewahrte flüchtende Menschen, die von der roten Masse verschlungen wurden. – Was war nur geschehen, warum dieses Experiment? »Was ... was machen sie für ein Experiment mit uns?«, fragte ich mit gedämpfter Stimme.

Holo-Tom grinste nach wie vor. »Das Experiment von Leipzig. Ausgewählte Menschen sollen die Helagonitis-Viren überleben.«

Ich schwieg einige Momente, hörte nur ein sanftes Rauschen aus dem Hintergrund und das Vogelgezwitscher. Die Vogelton-Abfolge wiederholte sich ständig. Die Haare des Hologramms bewegten sich im Wind.

»Die Helagonitis-Viren?«, fragte ich schließlich. »Sind sie wirklich so schlimm?«

Erneut arbeitete mein Gehirn. Was für eine dämliche Frage. Es schien mir, als würde eine unbekannte Macht löffelweise Erinnerungen hineingeben. Der entstehende Sud brachte hässliche, unklare Gedanken zurück.

*

Es begann, kurz nachdem ich meinen zehntes Lebensjahr beendet hatte. Die holografischen Projektoren in der Nördlichen Bildungsanstalt hatten ausführlich über die Veränderungen auf unserem Heimatplaneten berichtet. An den Abenden fanden wir uns in den Gemeinschaftsräumen ein, redeten und spielten miteinander. Bald schon kam es zu keinem Spiel mehr, wir saßen nur da und starrten. Auf den Rückprojektionswänden liefen die täglichen Medien-Nachrichten, hin und wieder unterbrochen von computeranimierten Trickfilmen und simpler Werbung.

Eine Sprecherin erläuterte die schrecklichen Bilder, die wir uns ansehen mussten: »Am heutigen Tage haben die amerikanischen Streitkräfte erstmalig den Kampfstoff Helagonitis im Krieg gegen die Antiamerikanische Islamische Front im Nahen Osten eingesetzt. Nach Berichten verschiedener Menschenrechtsorganisationen wurden vor allem Zivilisten Opfer der biologischen Waffe. Das deutsche Bundesverteidigungsministerium war zu keiner Stellungsnahme bereit. Bild-online verbreitete am heutigen Tag die Meldung, dass deutsche Technologien den Einsatz der Helagonitis erst möglich gemacht hätten.«

Wir sahen Bilder von sich auflösenden und sterbenden Menschen und Tieren, von zerbröselnden Gebäuden und verschwindender Flora. Zeitraffer bewiesen, dass aus einem Dorf – mit allem was dazu gehörte – innerhalb weniger Minuten eine gleichmäßig rote Wüste wurde.

»Die amerikanische Regierung spricht von einem heldenhaften Sieg, die bakteriologischen Bomben wurden zentimetergenau in den Krisengebieten zur Explosion gebracht«, berichtete die Sprecherin weiter. »Von der AIF ginge nunmehr praktisch keine Gefahr mehr für die westliche Welt aus.«

*

»Das ist der blanke Wahnsinn!« Viko hockte auf dem Boden neben mir, an die Wand gelehnt, versteckt in einem Verschlag, in dem normalerweise Abfall aufbewahrt wurde. »Hast du eine Ahnung, wie viele Kinder die umgebracht haben?«

Ich glotzte auf meine Schuhe.

»Die machen den ganzen Nahen Osten platt«, flüsterte er. »Und sie haben keine Ahnung, was Helagonitis noch anrichten wird.«

»Was wird es wohl anrichten?«, fragte ich. »Es ist wie eine Säure, die alles frisst. Zurück bleibt nur roter Staub.«

»Staub?«, fragte Viko. »Wer sagt denn, dass dieses rote Zeug wirklich Staub ist?«

*

»Frau Doktor Hermann? – Wir haben auf Monitor 27 eine Unregelmäßigkeit.« Die fremde Stimme versteckte sich im Rauschen gewaltiger Wellen.

»Was genau ist das Problem?«

»Die Immunwerte sind rapide gefallen, die Sinnesorgane des V-Objektes beginnen bereits zu arbeiten.«

»Senken Sie sofort den Rapamycin-Delta-Komplex um zwanzig Prozent!«

»Schon geschehen. Ich ...«

*

Viko war ein Hellseher.

Nur Tage später flimmerten ganz andere Bilder über die Wände. Millionen von Menschen flüchteten aus dem Nahen Osten in entfernte Gebiete. Der rote Staub vermehrte sich mit rasender Geschwindigkeit.

»Wie am heutigen Tage bekannt wurde, gehen die deutschen Wissenschaftler mittlerweile davon aus, dass Helagonitis in der Lage ist, jedes organische und anorganische Material zu zerstören und in ein rötliches Pulver zu verwandeln. Die Helagonitis-Viren entwickeln bei der Umwandlung anderer Stoffe eine Energie, die sie zur Vermehrung ihrer eigenen Existenz nutzen«, sagte ein Nachrichtensprecher. »Ein erster Herd wurde nun auch in Europa entdeckt. In der Nähe der italienischen Stadt Nizza hat sich das Virus angesiedelt und innerhalb weniger Tage die gesamte Stadt und ihre Umgebung in einem Radius von dreißig Kilometern ausgelöscht. Auch in Asien und Afrika spitzt sich die Lage zu. Die Territorien mehrerer Nationen sind bereits unbewohnbar. Menschliche Körper werden in wenigen Sekunden vernichtet. Schwere Stürme haben das Virus bereits in die Atmosphäre der Erde getragen. Man rechnet damit, dass Helagonitis schon bald alle Kontinente der Erde erreicht haben wird. Das Bundesverteidigungsministerium spricht von einem folgenschweren Fehler, die bakteriologische Waffe sei völlig unterschätzt worden. Der Bundeskanzler gibt den amerikanischen Wissenschaftlern, die den Deutschen eine Vielzahl von Informationen vorenthalten hätten, die Hauptschuld an diesem Debakel.«

*

Dass Abend war, erfuhren wir lediglich von der digitalen Uhr, die an der Wand zwischen den beiden Betten befestigt war.

Ich lag auf meinem Bett und sinnierte. Lene verließ den Raum. Sekunden später riss mich ein Krachen aus den Gedanken.

»Dreh dich um!«, forderte das Mädchen.

Ich musste wohl eingeschlafen sein, sie war zurück und wollte zu Bett gehen. Ich drehte mich auf die Seite und schloss die Augen. »Selbst wenn ich dich ansehen würde, da ist nichts Besonderes an dir«, flüsterte ich. »Also bilde dir nichts ein.“

›Denkst du das tatsächlich?‹

Erstaunt hielt ich inne. Ich hatte die Worte vernommen, jedoch nicht gehört!

»Hast du etwas gesagt, Lene?«, vergewisserte ich mich.

Sie schwieg.

Ich wartete. Dann drehte ich mich zu ihr, doch sie war nicht da. Ich kroch verunsichert vom Bett, schaute im Sanitärtrakt nach. »Lene?«, fragte ich. Und noch einmal: »Lene?«

Ich fand sie nicht.

Das Rumoren der sich öffnenden Schleuse zu unserem Wohnbereich ließ mich zusammenzucken. Ich starrte Lene an, die den Raum betrat, als wäre nichts geschehen.

»Was glotzt du mich so merkwürdig an?«, fragte sie, schnappte ihre Nachtwäsche und verschwand im Sanitärtrakt.

Mein Blick senkte sich, ich beobachtete meine zitternden Finger.

»Sagt dir der Name Doktor Hermann etwas?«, flüsterte ich in der Nacht, als wir nebeneinander lagen. Lenes ungleichmäßiger Atem verriet mir, dass auch sie nicht schlief.

»Wenn Doktor Hermann eine Frau ist, dann meinst du vielleicht die Präsidentin der Elite-Universität Leipzig.«

»Sie ist eine Frau.«

»Kennst du sie?«

Ich flüsterte: »Ich habe ihre Stimme gehört.«

»Wann?«

»Letzte Nacht. Hier.«

»Du spinnst, Tom! Außer uns ist hier niemand.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Vorhin habe ich dich hereinkommen hören. Dann warst du plötzlich weg und bist kurz danach wieder reingekommen. Findest du das nicht auch ein bisschen merkwürdig?«

»Sollte ich das?« Sie setzte sich auf den Rand meiner Liege und legte ihre flache Hand auf meine Stirn.

»Lass das!«, forderte ich. »Wenn ich krank wäre, hätten sich längst die Scanner aus dem MedLab gemeldet.«

Sie beugte sich über mich. »Sei dir darin nicht zu sicher. In diesem Bunker funktionieren einige Dinge nicht richtig.« Ich spürte ihren Atem. »Der medizinische Bereich könnte dazugehören.«

»Meinst du wirklich?«

»Phil und Mara wurden letzte Nacht mehrmals geweckt und sollten sich im MedLab melden. Als sie dort ankamen, war niemand da. Es tauchte aber ein Hologramm auf, das sich aufregte, weil die beiden nicht in ihren Betten schlafen würden.« Lene hatte sich über mich gebeugt, lag fast auf mir.

»Ach, tatsächlich? Hör bitte auf, ich ersticke sonst!«

»Phil und Mara scheinen sich jedenfalls gut leiden zu können.«

Ich schob sie mit einem Ruck von mir runter, so dass sie zwischen die Betten fiel. Lene kicherte und sprang in ihr Bett.

»Anscheinend sind uns Mara und Phil einen Schritt voraus«, sagte sie.

»Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage. Die zwischenmenschlichen Beziehungen betreffend.«

Eine lange Pause entstand.

»Was ist, Tom. Empfindest du etwas für mich?«, fragte Lene plötzlich.

»Verzeihung. Ich bin zehn Jahre alt. Und was ist mit dir?«, fragte ich.

»Wenn ich hier für irgendjemanden etwas empfinde, dann sind es höchstens Muttergefühle.« Sie lachte laut und lange. »Schlaf gut, Kindchen«, sagte Lene schließlich und beendetet damit das längste Gespräch, das wir bis dahin geführt hatten.

*

Die aufkommende Erinnerung hielt Holo-Tom keineswegs davon ab, unablässig weiter zu grinsen. Im Grunde genommen rief er lediglich Daten aus irgendeinem Speicher ab. Ehrlich gesagt hoffte ich, dass ich nicht ebenso dämlich aussah, wenn ich lächelte. Schließlich war er ich. Und sein Grinsen war damit das meine.

»Erzähl mir mehr über das Virus.« Ich fuhr die halbe Liege hoch und lehnte mit dem Rücken an der kalten, glatten Oberfläche.

»Aber natürlich, Tom. Helagonitis stammt vom Planeten Mars. Die Viren, von einigen Wissenschaftlern werden sie als Lebensform bezeichnet, wurden von der Marskapsel Hawaii-712 auf die Erde gebracht. Im Jahre 2066 startete die amerikanische Mission zum roten Planeten, fünf Jahre später brachte sie das Virus zur Erde. Die amerikanische Militärindustrie versteckte und erforschte Helagonitis fast zehn Jahre. 2081 setzte die amerikanische Armee das Virus erstmalig in einem Krieg ein, weil die sich im Nahen Osten vereinigten Staaten einen strikten antiamerikanischen Kurs verfolgten und eine Bedrohung der westlichen Welt darstellten. Im Sommer 2083 hatte das Virus siebzig Prozent der Erde vernichtet, seine Ausbreitung konnte nicht eingedämmt werden, Tom.«

»Warum leben wir dann noch?«, flüsterte ich.

»Die zwanzig Kinder des Leipziger Experimentes halten sich im Bunker 3000 auf, einem Hochsicherheitstrakt, der das Überleben auch in extremen Krisenzeiten ermöglicht. Der Bunker befindet sich in einer Tiefe von hundertzwanzig Metern unter der Elite-Universität der Stadt Leipzig, er hat eine undurchdringbare Schwerkrafthülle. Der Bunker wurde für dieses Experiment autorisiert, ein Verlassen des Bunkers wird erst in 6.705 Tagen 12 Stunden und 42 Minuten möglich sein. Modernste Technik wacht über die Gesundheit der Menschen in diesem Bunker 3000. Das Experiment wurde von der deutschen Regierung und von namhaften Firmen unterstützt, Tom.«

Namhafte Firmen! »Wie sieht es jetzt dort oben aus?«, fragte ich. »Gibt es diese namhaften Firmen und die deutsche Regierung noch?«

Eine kurze Pause entstand. Der Computer suchte nach einer Antwort. »Darüber liegen mir keine gesicherten Informationen vor. Es besteht keine Verbindung zur Erdoberfläche. Die Schwerkrafthülle lässt keine Informationen durch. Es gibt nichts, was sie durchdringen kann, Tom.«

Ich nahm die Brille ab und Holo-Tom verschwand augenblicklich. Es ging mir nicht gut, alles in mir tat weh. Die Schmerzen waren nicht lokalisierbar. Ich konnte vieles nicht begreifen, wovon das Hologramm gesprochen hatte. Mir wurde jedoch klar, dass wir eingesperrt waren. Wir würden für eine sehr, sehr lange Zeit eingesperrt bleiben. Ohne jede Information von oben.

Ich schlich aus Sektor 5 zurück in meinen Aufenthaltsraum.

»Wo warst du?«, fragte Lene.

»Ich bin dir ganz bestimmt keine Rechenschaft schuldig«, antwortete ich und erntete böse Blicke.

*

Lene war ganz anders als Mara. Lenes Art war mir nicht vertraut. Sie war unberechenbar. Mit Mara war ich vier Jahre lang aufgewachsen, wir lebten zusammen in einer Bildungsanstalt. Wir sind uns nie besonders nahe gekommen, aber wir kannten uns. Mara hatte mein Schicksal geteilt, man hatte auch sie im Alter von sechs Jahren aus der Obhut ihren leiblichen Eltern gerissen.

Nachdem die Pisa-Studien den schlechten Bildungsstand der deutschen Kinder immer und immer wieder bemängelt hatten, setzte die deutsche Regierung ihr neues Bildungsprogramm mit aller Härte durch. Kinder, die sich als besonders intelligent erwiesen, wurden mit dem Erreichen des Schulalters von ihren Eltern getrennt, damit diese keinen schlechten Einfluss auf Erziehung und Bildung ihres Nachwuchses ausüben konnten. Der Begriff »Sozialhygiene« wurde geboren. Soweit ich das verstand, griff der Staat erstmalig aktiv in Familienstrukturen ein.

Man hatte uns Kinder in hermetisch abgeriegelte Bildungszentren gebracht. Schwerpunkt unseres Daseins war stets das organisierte Lernen. Andere Kinder lernten gleichfalls organisiert bestimmte Berufserfahrungen kennen. Spezialwissen löste das Allgemeinwissen ab.

*

Ich stieg von meinem Bett im Raum 312 im Gebäude 9 der Nördlichen Bildungsanstalt. Ich fühlte mich schlecht. Das elektronische Bild zeigte einen Wasserfall.

Augenblicklich tauchte ein Hologramm auf. »Deine Körpertemperatur entspricht nicht dem Normalwert.« Die Stimme war gleichgültig. »Leg deinen linken Arm in das Dezentrale Medizinische Versorgungssystem und warte weitere Instruktionen ab.«

Ich zog das Schlafhemd aus und schob meinen linken Arm in das DMV. Etwas Eiskaltes berührte meine Haut, dann fühlte ich einen leichten Einstich.

»Du hast eine Injektion erhalten. Bitte lege dich zurück in dein Bett. Du stehst unter Quarantäne, Schüler Tom.«

Um mich herum wurde alles unscharf. Ich legte mich zurück ins Bett und schlief sofort ein.

Irgendwann weckte mich ein rhythmischer Ton. Verschlafen blickte ich auf und berührte einen Sensor am Kopfende des Bettes.

»Wer ist da?«, fragte ich.

»Lust auf Schach?«, fragte eine fremde Stimme.

»Okay«, antwortete ich und setzte mich auf mein Bett, während sich das holografische Spiel aufbaute.

Egal, was sie mir verabreicht hatten: Es ging mir deutlich besser.

*

»Blödmann!« Lene sah auf mich herab. »Nun sag schon! Was ist in Sektor 5?«

Hatte ich ihr in der Vergangenheit etwas erzählt, so hatte sie mich meist dabei unterbrochen und dumm stehen lassen. Lene war ein merkwürdiges Mädchen. Ich beobachtete sie oft, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Manchmal, wenn sie sich umzog, dann versteckte sie sich vor mir im Sanitärraum. Obwohl wir erst zehn waren, benahm sie sich tatsächlich wie ein Mädchen. Mara war lockerer, jungenhaft, kindlicher. Lene dagegen stand bereits am Anfang der Pubertät.

»Was hast du dort getan? Was ist in diesem Sektor?«, fragte sie erneut. »Nun rede schon!«

Bevor ich antworten konnte, wurde ich von unserem weiblichen Aufsichtshologramm angemahnt: »Tom, du solltest etwas trinken, dein Flüssigkeitshaushalt ist auf ein sehr niedriges Niveau gesunken. Was möchtest du trinken?«

»Limonade«, antwortete ich wie nebenbei und lief automatisch zum Nahrungsautomaten. Dort tauchte ein Becher auf, in dem sich tatsächlich Limonade befand. Es gab natürlich nicht alles, was wir uns wünschten, die festen Nahrungsmittel waren vorgeschrieben, eine Auswahl war unmöglich. Bei den Getränken konnten wir wählen. Milchprodukte gab es jedoch nicht. Wahrscheinlich existierte irgendwo ein unglaubliches Lager tiefgefrorener Lebensmittel und Getränke, die Art der Bereitstellung mutete jedenfalls recht utopisch an.

Ich setzte mich mit meiner Limonade neben Lene auf die Bettkante und schaute sie an. »In Sektor 5 hast du über Hologrammbrillen Zugang zum gesamten Wissen der Menschheit, wenigstens scheint es so. Du kannst auf Sitzliegen mit sehr gut informierten Hologrammen kommunizieren, die von einem riesigen Informationsspeicher projiziert werden. Ich habe mich mit einem unterhalten, das mir bis aufs Haar glich.« Erneut trank ich von meiner Limonade, die nach Zitrusfrüchten schmeckte.

»Nicht auszudenken, es gäbe zwei von deiner Sorte!«, grinste Lene frech. »Und was hat dir dein Hologramm erzählt?«

»Es hat gesagt ... Wir sind hier, damit wir der Menschheit eine Chance zum Überleben lassen. Es ist gut möglich, dass es außer uns keine weiteren Menschen mehr gibt. Und es sagte, dass wir vor fünfzig Jahre eingeschläfert wurden.«

»Vor fünfzig Jahren? Und ... wir müssen für immer hierbleiben?« Lene sah mich merkwürdig an. »Hast du erfahren können, wie lange wir eingesperrt bleiben?«

»Es sagte, nicht für immer. Theoretisch öffnet sich dieser Bunker genau zwanzig Jahre nach unserem Erwachen. Dann werden oben siebzig Jahre vergangen sein.«

»Wir sind nicht viel älter geworden, während wir uns in diesem Komaschlaf befanden. Ich dachte, es wäre höchstens eine Nacht vergangen.«

»Mir ging es auch so. Sie haben unser Altern gesteuert. Ich vermute, dass der Bunker riesig sein muss. Es muss einen Wasservorrat geben, die Energie wird irgendwo gespeichert sein, es soll keine Verbindung in die Außenwelt geben. Absolut keine! Wenn das so ist, dann dürfte es unmöglich sein, dass sie die Energie über Erdwärme erzeugen. Angeblich sind wir durch ein Kraftfeld hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt, es gibt keine Verbindung, keinen Kontakt, nichts.« Ich holte tief Luft. »Wenn es aber die Leute nicht mehr gibt, die uns eingesperrt haben, dann weiß absolut niemand, dass wir hier unten sind, selbst wenn da oben doch noch jemand lebt.«

Nach einer kurzen Pause schüttelte Lene den Kopf.

»Was?«, fragte ich.

Sie blickte merkwürdig in meine Augen. »Du hast keine Ahnung«, flüsterte sie.