Helden der Wildnis - Kurt Floericke - E-Book

Helden der Wildnis E-Book

Kurt Floericke

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Beschreibung

An Abenteuern fehlt es in dem vorliegenden Buch wahrlich nicht; sie gründen sich auf wahre Vorgänge und es wurden dabei die Berichte der südamerikanischen Forschungsreisenden von Rengger und dem Prinzen Wied bis zu den Erforschern des Chaco und des Xingu sorgfältig benutzt. Bei den eingestreuten Naturschilderungen konnte der Verfasser teilweise auch aus eigener Erfahrung sprechen. Die Schilderung der Indianerstämme entspricht dem gegenwärtigen Zustande unseres ethnographischen Wissens.

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Helden der Wildnis

Erzählung aus den Urwäldern Südamerikas

Curt Floericke

Inhalt:

Helden der Wildnis

Vorwort.

Erstes Kapitel. Die Beschießung von Rio de Janeiro.

Zweites Kapitel. Die Schlacht von Nictheroy.

Drittes Kapitel. Auf einer deutschen Farm.

Viertes Kapitel. Der Überfall der Bugres.

Fünftes Kapitel. Bei den Wilden im Chaco.

Sechstes Kapitel. Im Innern Brasiliens.

Siebentes Kapitel. Ein Indianerkrieg.

Achtes Kapitel. Ein Kampf in den Stromschnellen.

Neuntes Kapitel. In den Wildnissen des Xingu.

Zehntes Kapitel. Der Opfertod des Häuptlings.

Elftes Kapitel. Ein Negeraufstand.

Zwölftes Kapitel. Heimkehr ins Vaterhaus.

Helden der Wildnis, K. Floericke

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849643133

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Helden der Wildnis

Vorwort.

Diese Jugendschrift soll in ihrer Art auch ein Beitrag zum Kampfe gegen die Schundliteratur sein. Wenn dessen Erfolg den gehegten Erwartungen bisher noch nicht ganz entsprochen hat, so liegt das meiner Überzeugung nach zum großen Teile daran, daß die betreffenden Bücher vielfach zu nüchtern und zu trocken, zu arm an Handlung und Erlebnissen, mit einem Worte zu langweilig sind. Wir sind aber alle einmal wilde Jungen gewesen und sollten daher wissen, daß die Jugend Abenteuer liebt und alles aufdringlich Moralisierende oder Belehrende flieht. Wir haben alle dereinst in unserm »Robinson« die endlosen erbaulichen Gespräche des Helden mit seinem Freitag überschlagen und dafür mit atemloser Spannung seine Kämpfe mit den Wilden verfolgt. Dem kann und muß auch der Schriftsteller bis zu einem gewissen Grade Rechnung tragen. An Abenteuern fehlt es nun in dem vorliegenden Buche wahrlich nicht, aber sie gründen sich auf wahre Vorgänge, und es wurden dabei die Berichte der südamerikanischen Forschungsreisenden, von Rengger und dem Prinzen Wied an bis zu den neuesten Erforschern des Chaco und des Xingu, sorgfältig benutzt. Bei den eingestreuten Naturschilderungen konnte der Verfasser teilweise auch aus eigener Erfahrung sprechen. Die Schilderung der Indianerstämme entspricht dem gegenwärtigen Zustande unseres ethnographischen Wissens. Auch Darstellungen der wirtschaftlichen und Handelsverhältnisse Südamerikas wurden in zwangloser Weise eingeschoben, und zugleich wird der jugendliche Leser mit dem wichtigsten Abschnitte aus der neueren Geschichte Brasiliens vertraut gemacht. So hoffe ich, daß er sich beim Verfolg der abenteuerlichen Handlung unwillkürlich manche nützliche Kenntnisse erwirbt, und gerade das ist ja meines Erachtens der Hauptzweck jugendlicher Unterhaltungslektüre.

Dr. Kurt Floericke.

Erstes Kapitel. Die Beschießung von Rio de Janeiro.

Mit vollem Rechte gilt die Bucht von Rio de Janeiro als einer der schönsten Plätze der Welt. Selbst das am Bosporus so malerisch gelegene Konstantinopel oder die Bai von Neapel mit dem rauchenden Vesuv im Hintergrunde und dem steil ins Meer vorspringenden Posilippo und der grünen Insel Capri im Vordergrunde vermögen sich an landschaftlicher Schönheit und Anmut kaum mit der Lage der Hauptstadt Brasiliens zu messen. Das sich hier dem entzückten Auge darbietende Bild hat vor allem den Vorzug größter Abwechslung und einer unendlich üppigen, tropischen Vegetation. Land und Meer, Fels und Gebirge vereinigen sich hier zu einem wunderbaren Gemisch, das fast den Eindruck macht, als habe hier in grauer Vorzeit ein Kampf zwischen felsenschleudernden Titanen stattgefunden, zwischen den Geistern sturmgepeitschten Wassers und denen starren, trotzenden Gesteins, wobei keine Partei Sieger geblieben sei. Es ist ein unnennbar reizvolles Gewirr von unzähligen großen und kleinen Eilanden im Vordergrunde, die bald nackte Felsklippen darstellen, bald üppig bewaldete Inseln; weit breitet sich die blaue Flut der bergumgürteten Bucht aus, deren Wogen sich unter dem Hauche einer erfrischenden Brise nurleise kräuseln, während der Wind vom Lande her unsere Sinne mit den berückendsten Blumendüften umschmeichelt. Fast sieht es aus, als befände man sich hier in der Mündung eines gewaltigen Stromes, wie ja auch der Entdecker dieses paradiesischen Erdenflecks, der berühmte portugiesische Admiral Amerigo Vespucci, der dem neuen Erdteil seinen Namen gab, in diesen Irrtum verfiel und, da er gerade am Neujahrstage hier landete, die Gegend Rio de Janeiro, d. h. Januarsfluß, taufte. Viele Inseln sind mit hochragenden Forts gekrönt, von denen Kanonenmündungen drohend auf die zahlreichen Schiffe, die in der Bucht liegen, herabschauen. So stark aber auch der Handelsverkehr hier ist, an dem unser deutsches Vaterland einen hervorragenden Anteil nimmt, brauchen sich doch die ankernden Schiffe nicht zu drängen, denn die sturmsichere Bucht ist so geräumig, daß sie den Flotten der ganzen Welt gleichzeitig Aufnahme gewähren könnte. Im Hintergrunde sieht man von den Schiffen aus die weiß schimmernde Stadt mit ihren zahlreichen Kirchen und Palästen, die Altstadt eng zusammengedrängt, aber nach allen Seiten lang gedehnte, in lachendes Grün eingebettete Vorstädte strahlenförmig in die tief eingeschnittenen Täler des nahen Gebirges aussendend. Dieses Gebirge, das stellenweise fast unmittelbar bis ans Meer herantritt, fesselt immer wieder durch seine unglaublich abenteuerlichen und wild zerrissenen Formen. Namentlich ist es der sogenannte Zuckerhut, – in Wirklichkeit gleicht er mehr einer steif gestärkten und etwas überhängenden Nachtmütze, – der sofort auffällt und geradezu als Wahrzeichen der brasilianischen Hauptstadt gelten kann. Besonders trotzig hebt sich der Gipfel des Corcovado heraus, auf den eine Drahtseilbahn hinaufführt, und von wo aus man einen unvergleichlich großartigen, überwältigenden Rundblick über das ganze Panorama haben kann. Die fernen Gebirgszüge, deren Flanken mit dichtenUrwäldern bedeckt sind, verschwimmen bläulich in der Weite.

Voll heiteren Friedens ist sonst dieses köstliche Tropenbild, und stille Ruhe herrscht in der freundlichen Bucht, nur unterbrochen durch das Maschinenrasseln der ein- und ausladenden Dampfer und durch die Zurufe der in ihren kleinen Booten allenthalben hin und her schießenden Hafenarbeiter. An dem Tage, an dem unsere Erzählung beginnt, nämlich im Herbste 1893, war das aber anders. Zwar lachte die heiße Sonne des Südens ebenso freundlich von einem wolkenlos blauen Himmel herunter wie sonst, denn dort sind ja die Jahreszeiten gerade umgekehrt wie bei uns, und unser Herbst entspricht dem brasilianischen Frühling. Aber dem Hafenbilde fehlten die es sonst so anmutig belebenden weißen Segel der Fischerboote, und die Handelsschiffe lagen, ängstlich zusammengedrängt wie eine Schar verschüchterter Hühner, an einer bestimmten Stelle der Bai. Dagegen gab es unverhältnismäßig viele Kriegsschiffe der verschiedenen Nationen, alle durch die aufgezogenen Flaggen kenntlich gemacht. In verhältnismäßiger Nähe der Stadt lag die brasilianische Kriegsflotte selbst, ihre Breitseiten nach dem eigenen Lande und namentlich nach den den Hafen und seine Einfahrt beherrschenden Forts gerichtet. Und das war keine leere Drohung, denn es herrschte Revolution und Aufstand im Lande, und ein furchtbarer Bürgerkrieg erschütterte das von Natur aus so reich gesegnete Brasilien in seinen Grundfesten und hatte schon seit langem Handel und Wandel, Gewerbe und Ackerbau fast vollständig lahmgelegt.

Aus dem Geschützturm des mächtigsten brasilianischen Panzerschiffes, des wie ein graues Ungetüm daliegenden Aquidaban, fuhr eine von einer dicken Rauchsäule gefolgte Flammenzunge, ein entsetzlicher Knall erdröhnte, und unheilschwanger sauste der geschleuderte eiserne Zuckerhut über die schöne Bai hinweg nach dem Lande und schien hier in die auf der andern Seite der Bucht gelegene Hafenstadt Nictheroy einzuschlagen. Dort blieb man aber die Antwort nicht schuldig. Schuß auf Schuß erdröhnte, und auch die andern brasilianischen Kriegsschiffe beteiligten sich alsbald an dem Artillerieduell. Die ganze Bucht erschien in Rauch gehüllt, aus dem ununterbrochen die flammenden Schüsse aufblitzten. Glücklicherweise schlugen fast all die unheilschwangeren Geschosse unschädlich ins Wasser, und nur wenige trafen die stark gepanzerte Wand des Aquidaban, wo sie zersplitterten wie ohnmächtiges Glas. Das ging nun schon seit vielen Wochen so, und die leichtlebigen Brasilianer hatten sich nach und nach an diese täglichen, zwar geräuschvoll, aber ziemlich harmlos verlaufenden Kanonaden vollständig gewöhnt. In den Straßen von Rio de Janeiro war man dabei ja ohnedies fast vollständig sicher, denn die Mächte, vor allem Nordamerika, hatten kategorisch erklären lassen, daß sie mit Rücksicht auf ihre Handelsbeziehungen und auf die zahlreichen europäischen Niederlassungen in Rio eine Beschießung der Stadt durch die aufständische Flotte nicht dulden würden, und sie hatten dieser Forderung durch die Entsendung zahlreicher Kriegsschiffe, die jeden Augenblick zum Eingreifen bereit waren, auch gehörigen Nachdruck verliehen. So blieb dem Führer der Aufständischen, dem tüchtigen Vizeadmiral Mello, nichts übrig, als sich in ziemlich zweckloser Weise mit den der Regierung des Marschalls Peixoto treu gebliebenen Forts herumzuschießen. Zu diesen Forts gehörten auch die, welche den Hafeneingang sperrten, so daß die aufständische Flotte eigentlich wie in einer Mausefalle saß und weder die Stadt angreifen, noch sich aus der Bai entfernen konnte.

Nicht alle Befestigungen beteiligten sich am Kampfe. Gerade auf der die Stadt und den Hafen am meisten beherrschenden Schlangeninsel rührte sich nichts. Kein Schuß dröhnte von dort, obwohl man zahlreiche Soldaten auf den Wällen auf und ab spazieren sah. Hier thronte inmitten der besten und größten brasilianischen Kanonen wie ein grollender Olympier der Vizeadmiral Gama, dem seine Marinetruppen blindlings ergeben waren. Gleich zu Beginn der Revolution hatte er sich als neutral erklärt und lauerte nun offenbar auf den geeigneten Augenblick, wo er ausschlaggebend in die Geschicke seines Vaterlandes eingreifen und seinen glühenden Ehrgeiz befriedigen könne. Beide Parteien hofften und wünschten auf das lebhafteste, daß sich der Admiral schließlich auf ihre Seite schlagen und dadurch eine Wendung zu ihren Gunsten herbeiführen möge. Einstweilen zauderte Gama aber immer noch, und die Wälle seiner starken Befestigungen blieben bei dem allgemeinen Tumulte in ein düsteres, fast unheimlich berührendes Schweigen gehüllt.

Nach und nach flaute die zur täglichen Gewohnheit gewordene Kanonade, die auf beiden Seiten mit mehr Pulververschwendung als Erfolg geführt wurde, wieder ab, und die braven Bürger Rios, die von ihren flachen Hausdächern aus mit Fernrohren den Anblick eines malerischen Seegefechtes inmitten des schönsten Rahmens der Welt genossen hatten, stiegen von ihren luftigen Beobachtungsposten herab und begaben sich auf die menschenwimmelnden Straßen, um aufgeregt die Ereignisse des Tages zu besprechen. Vorsichtig mußten sie dabei aber doch sein, nicht wegen der Kanonen der Aufständischen, sondern wegen der vielen Spitzel und Geheimpolizisten des allmächtigen Diktators Peixoto, die ihrem Herrn jedes aufgefangene verdächtige Wort hinterbrachten, worauf sich dann mit Sicherheit für den Unvorsichtigen die Tür des schmutzigen Gefängnisses öffnete. In ihrem Innern standen ja die Bewohner Rios fast ausnahmslos auf seiten der Flotte, die von jeher den ganzen Stolz Brasiliens bildete, und von deren Heldentaten man sich insgeheim die übertriebensten Verherrlichungen zuraunte. Aber laut werden lassen durfte man solche ketzerische Gedanken nicht; das war bei der eisernen Strenge, mit der Marschall Peixoto das Regiment führte, zu gefährlich.

In den Nachmittagsstunden war die Kanonade völlig verstummt, und auch auf dem Aquidaban herrschte nach der Aufregung des Kampfes wieder tiefste Ruhe, zumal die Schießerei nicht einen einzigen Verwundeten gekostet hatte. Die meisten Matrosen gaben sich der Ruhe hin, während die Offiziere in erregten Gesprächen die Aussichten ihres verzweifelten Unternehmens erörterten. Auch viele Seekadetten befanden sich auf dem Schiffe und gaben sich nun mit dem Leichtsinn der Jugend nach kaum überstandener Gefahr der lustigsten Ausgelassenheit hin. Viele spielten Karten, andere rauchten, tranken und sangen, und manche drehten sich sogar übermütig nach den Klängen eines heiseren Leierkastens im Tanze.

Nur einer hielt sich von seinen Kameraden abgesondert und beteiligte sich nicht an ihrem ausgelassenen Treiben. Auch äußerlich fiel er sofort auf, da sein blondes Haar, seine blauen Augen, seine kräftige, etwas untersetzte Gestalt und sein gutmütiger Gesichtsausdruck ihn heraushoben aus der Menge der andern mit ihrer gebräunten Haut, ihrem schwarzen Haar, ihren dunklen Augen, ihrem schlanken Körperbau und ihren lebhaften Bewegungen. Man hätte den noch blutjungen Mann, dem kaum der erste Bartflaum schüchtern auf der Oberlippe keimte, für einen Deutschen halten mögen, und das war er auch in der Tat. Zwar war Helmut Förster in Brasilien geboren, aber seine Eltern waren von Deutschland ausgewandert und hatten es in den deutschen Niederlassungen im Staate Rio Grande do Sul als Farmersleute zu Ansehen und Wohlstand gebracht, dabei aber immer ihr Deutschtum hochgehalten und ihre Kinder nach echt deutscher Sitte erzogen. Zwar beherrschte Helmut, der eine sorgfältige Ausbildung genossen hatte, die Landessprache, das Portugiesische, vollkommen, aber am liebsten sprach er doch Deutsch, das er als seine eigentliche Muttersprache betrachtete. Da er in den großen deutschen Ansiedlungen im Rio Grande do Sul während seiner Jugendjahre mit dem portugiesischen Element nur wenig in Berührung gekommen war, fühlte er sich noch immer als Deutscher und eigentlich als ein Fremdling in dem Lande, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte. Die von deutscher Auffassung oft so weit abweichende Anschauung der Eingeborenen war ihm vielfach unverständlich und reichte nicht heran an sein inneres Wesen. Er war der dritte Sohn seiner Eltern und daher darauf angewiesen, sich ein anderes Brot zu suchen, da die Farm möglichst ungeteilt dem Erstgeborenen zufallen sollte.

Von jeher hatte er große Lust zu Reisen und Abenteuern gehabt, und seine Phantasie lockte ihn hinaus auf die blaue Meeresflut, die so viel des Aufregenden und Geheimnisvollen zu bergen schien. So war es gekommen, daß er sich in die brasilianische Kriegsmarine aufnehmen ließ, um dereinst als Marineoffizier seine Sehnsucht nach fremden Ländern und weiten Fernen befriedigen zu können. Auf der Marineschule in Rio de Janeiro hatte er unter Leitung des Admirals Mello die vorgeschriebenen Studien gemacht und war dann als Seekadett an Bord des Aquidaban gekommen, um hier seine praktische Ausbildung zu erhalten. Aber von weiten Fahrten, von den erträumten Reiseabenteuern und von den stählenden Kämpfen mit Wind und Wetter hatte er noch herzlich wenig erfahren, denn bei seinem Eintritt herrschte schon die größte Gärung unter den Marineoffizieren. Nur von Politik war die Rede, und größere Seefahrten erschienen gänzlich ausgeschlossen, da die Flotte, um für alle Fälle bereit zu sein, beständig in der Bucht von Rio versammelt blieb. Der junge Mann war sofort in den Wirrwarr des politischen Strudels geraten, aus dem sein einfacher und gerader Sinn keinen rechten Ausweg fand, zumal ihn die innerpolitischen Verhältnisse Brasiliens eigentlich herzlich wenig interessierten. Aber er vertraute blindlings dem von allen Kadetten vergötterten Admiral Mello, in dem der junge Nachwuchs den schneidigsten Seemann Brasiliens und zugleich den liebenswürdigsten Lehrer verehrte. Ihm glaubte auch der Deutsche unter allen Umständen treu bleiben zu müssen, überzeugt, daß er schon den richtigen Weg führen werde. Freilich dämmerte es manchmal ahnungsvoll in ihm auf, daß Mello mit seiner Schilderhebung gegen die Regierung vielleicht doch nicht recht und mehr als Politiker, denn als Soldat und Seemann gehandelt habe. Aber was sollte er tun, allein auf dem sonst nur von Brasilianern besetzten Schiffe? Den einmal flüchtig aufgetauchten Gedanken, sich durch die Desertion allen weiteren Verwicklungen zu entziehen und heimlich auf die abgelegene Farm seiner Eltern zurückzukehren, wies er als schimpflich weit zurück, und er wußte, daß sein alter, knorriger Vater das auch niemals gebilligt, vielmehr als unmännlich empfunden haben würde. So hieß es eben aushalten und alles mitmachen, mochte es kommen und enden, wie es wollte.

Jetzt stand Helmut, in tiefe Gedanken versunken, am Reling des Panzers und schaute traumverloren bald hinab in die blauen Fluten, bald hinüber zu der weiß schimmernden Stadt, zu der seine Gedanken so oft sehnsüchtig zurückschweiften, und die er jetzt als Anhänger der Revolutionspartei mit bekämpfen mußte. Vor seinem aufgeregten Geiste zogen in dieser stillen Stunde nochmals all die unerhörten Ereignisse seiner kurzen Seemannslaufbahn vorüber. Er sah sich wieder als Marineschüler und halbwüchsiges Bürschchen durch die engen Gassen von Rio schlendern, namentlich durch die Hauptverkehrsader, die Rua do Ouvidao, in der man stets ein so buntes Menschengewimmel antraf: elegante Herren im Zylinder und Damen in den kostbarsten Pariser Toiletten, dazwischen die in der Stadt ihre Einkäufe machenden Pflanzer auf feurigen Rossen, italienische Arbeiter in zerlumpten Kleidern, Mulatten in allen Hautschattierungen, grinsende Neger und europäische Touristen und Kaufleute. Betäubender Lärm erfüllt immer diese Straßen, namentlich hervorgerufen durch die unzähligen zerlumpten Negerjungen, die mit gellender Stimme die neuesten Zeitungen ausschreien oder ihre Dienste als Stiefelputzer anbieten. Prächtige Läden locken die Kauflust, in den zahlreichen Kaffees ist kaum ein Platz zu erringen. Noch schöner war es gewesen, wenn man sich einer der unzähligen Pferde- oder richtiger Maultierbahnen anvertraut hatte und für wenige Pfennige hinausgefahren war in die waldumkränzten Vorstädte. Ja, das waren noch glückliche Tage gewesen, aber dann hatte die unheilvolle Politik den hoffnungsvollen Lebensgang des Jünglings umdüstert und ganz gegen seinen Willen unwiderstehlich in ihren Bann geschlagen. Vor seinem Geist tauchte jetzt jener unglückselige Tag auf, an dem man den verehrungswürdigen alten Kaiser Dom Pedro II. des Thrones entsetzt und rücksichtslos aus dem Lande gejagt hatte. Oft genug hatte Helmut den alten Herrn mit dem schäbigen Zylinder und seinem unvermeidlichen Regenschirm gesehen, und seine hohe Gestalt, sein ehrfurchtgebietendes Greisenantlitz, sein wallender weißer Vollbart und der unendlich gütige Ausdruck seiner klaren Augen hatten den tiefsten Eindruck gemacht auf das weiche und leicht zu begeisternde Gemüt eines Jünglings, der in deutschen Begriffen von der Monarchie erzogen worden war.

Volle neunundvierzig Jahre hatte Dom Pedro mit Klugheit und Milde die Geschicke des Landes gelenkt, als man seiner plötzlich überdrüssig wurde und ihn davonjagte. Freilich sagte sich Helmut jetzt, wo er sich schon zu reiferen Anschauungen durchgerungen hatte, daß der Sturz des Kaisers doch kein unverschuldeter gewesen sei, doch er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß man den hochverdienten Greis noch wenigstens für den kargen Rest seines Lebens hätte in Ruhe lassen sollen, um dann erst nach seinem Tode die Republik einzuführen. Die Armen und die Bedrängten, die wußten die Güte des edlen Kaiserpaares zu schätzen, und wenn man im Volke vielfach über die übertriebene Einfachheit und die schäbige Sparsamkeit am brasilianischen Hofe spottete, so wußten doch die Eingeweihten, daß der Monarch eben alle Einkünfte für Werke der Mildtätigkeit verwendete, so daß ihm für den äußeren Prunk seines Hofes schlechterdings nichts übrig blieb. Und das Volk liebte ihn ja auch in seiner Art, und niemand hätte ihm ein Haar gekrümmt oder ihn auch nur durch ein böses Wort gekränkt. Das mußten ja alle zugeben, daß der Kaiser selbst der beste und aufrichtigste Patriot war, und daß er nur das Beste wollte, wenn er sich auch manchmal in der Wahl seiner Mittel vergriff. Aber da war sein Schwiegersohn und künftiger Thronerbe, der Graf von Eu, der sich durch schmutzigen Geiz und allerlei unsaubere Geschäfte aufs tiefste verhaßt gemacht hatte, und den niemand gern auf dem Throne Brasiliens sehen wollte. Und der Kaiser selbst war so sehr weltentrückter Philosoph und sein Interesse so ausschließlich den Künsten und Wissenschaften zugewandt, daß er darüber die immer wachsende Mißstimmung im Lande nicht bemerkte. Zwar hatte es von jeher eine republikanische Partei gegeben, aber sie war unbedeutend und zu politischer Ohnmacht verurteilt. Während Helmuts Marineschuljahren hatte sie jedoch plötzlich von zwei Seiten unerwarteten Zuwachs bekommen und dadurch eine gefahrdrohende Stärke und Bedeutung erlangt. Einmal hatte nämlich des Kaisers Tochter Donna Isabel, die Gemahlin des Grafen Eu, als sie während einer schweren Erkrankung ihres Vaters für längere Zeit die Zügel der Regierung führte, die bis dahin in Brasilien noch bestehende Sklaverei aufgehoben. Das machte ihrem guten Herzen gewiß alle Ehre, aber in politischer Beziehung geschah der an sich so begrüßenswerte Schritt zur Unzeit, zu überraschend und zu übereilt, und die im Lande so einflußreichen großen Pflanzer wurden dadurch zweifellos auf das schwerste geschädigt, da sie sich plötzlich, und noch dazu unmittelbar vor der Ernte, ihrer gewohnten Arbeitskräfte beraubt sahen und natürlich nicht so rasch Ersatz dafür finden konnten. Große Teuerung und eine viele Existenzen vernichtende Wirtschaftskrise waren die Folge. Die Farmer selbst aber gingen in hellen Haufen zur republikanischen Partei über und arbeiteten insgeheim im Verein mit ihr kräftig auf den Sturz der Regierung hin. Wurden so durch das Sklavenbefreiungsgesetz, das auch der Kaiser nach seiner Rückkehr aus Europa nicht aufhob, weil auch bei ihm die angeborene Gutmütigkeit über die politische Klugheit siegte, die Pflanzer gegen das Kaisertum eingenommen, so trieb Dom Pedro selbst durch sein unkluges Verhalten auch die Armee, die doch eigentlich die festeste Stütze des Thrones hätte sein müssen, seinen Gegnern in die Arme. Von Natur aus hatte der friedliebende Kaiser ja nicht das geringste Interesse für die Soldateska, zeigte sich auch in seinem ganzen langen Leben der Öffentlichkeit niemals in Uniform. Und doch war diese Armee, die miserabel besoldet wurde und oft am Notwendigsten Mangel litt, ursprünglich der bravsten und zuverlässigsten eine. Das hatte sich namentlich in dem fünfjährigen Kriege gegen Paraguay gezeigt, der schließlich siegreich beendigt worden war. Aber unglaubliche Strapazen und Entbehrungen hatten dabei Offiziere und Soldaten ausstehen und erdulden müssen. Oft hatten sie wochenlang nur von rohen, vielleicht oberflächlich gerösteten Maiskörnern gelebt, oft, bis an die Brust im Sumpfwasser stehend, blutige Gefechte führen müssen, unerhörte Märsche durch endlose Moräste, dürre Steppen und undurchdringliche Urwälder ausgeführt, allen Unbilden der Witterung schutzlos preisgegeben, und Kämpfe und Krankheiten hatten ihre Reihen auf das furchtbarste gelichtet. Und doch hatte der Kaiser bei der Rückkehr des siegreichen Heeres kein Wort des Lobes, kein Zeichen der Anerkennung für seine Krieger übrig; ja er knauserte noch mehr als früher mit den notwendigsten Ausgaben für die Armee, und so war es kein Wunder, daß auch dort der republikanische Geist seinen Einzug hielt und nach und nach fast alle Offiziere zu Gegnern des Kaisers machte. Nur die aus besseren Elementen zusammengesetzte und sorgfältiger gepflegte Marine blieb der Dynastie treu.

Das alles sagte sich jetzt Helmut Förster, und doch konnte er ein Gefühl bitteren Abscheus nicht unterdrücken, als er des bewegten Tages gedachte, der den alten Kaiser den Thron kostete. Dunkle Gerüchte waren schon wochenlang vorher im Umlauf gewesen, daß etwas Besonderes bevorstehe, aber Bestimmtes war nicht zu erfahren gewesen. Als ein Zeichen schlimmster Befürchtungen wurde es aber aufgefaßt, als die Regierung einige Bataillone aus dem Inneren der entlegenen Provinz Matto Grosso unter Führung des beliebten Marschalls Fonseca heranzog, weil sie offenbar den in der Hauptstadt stationierten Truppen nicht mehr recht traute. Der Kaiser selbst saß auf seinem Sommerschlosse Petropolis in den Bergen und schien keine Ahnung zu haben von dem Unheil, das sich um ihn vorbereitete.

Mit Fonseca hatte man nämlich den Bock zum Gärtner gemacht, denn gerade er, der wegen seiner Siege in Paraguay beim Militär sehr beliebt war, war es, der zuerst die Fahne des Aufruhrs erhob. Er hatte vollständigen Erfolg, denn als es zum Schlagen kommen sollte, gingen die angeblich noch regierungstreuen Truppen unter General Peixoto ohne Schwertstreich zu ihm über. Einen Augenblick hatte es freilich kritisch genug ausgesehen, und fast hatte ein blutiger Zusammenstoß unvermeidlich geschienen, aber mit rascher Geistesgegenwart hatte Fonseca das Spiel durch ein paar geschickte Worte für sich gewonnen.

Die Marineschüler, und unter ihnen Helmut, waren an diesem schicksalsschweren Tage auch in ihrem Hofe versammelt und bewaffnet worden. Der Marineminister Ladoria, ein dem Kaiser treu ergebener Mann, hatte ihre Führung übernommen und gedachte, den Thron im letzten Augenblicke zu retten. Als er aber von dem Erfolg Fonsecas hörte, begab er sich schleunigst nach dem Ministerium; dort erklärte man ihn für gefangen, worauf er mit zwei Revolverschüssen antwortete, jedoch alsbald durch mehrere Kugeln niedergestreckt wurde. Er war das einzige Opfer der brasilianischen Revolution, denn der Kaiser, der nun endlich mit seiner ganzen Familie nach der Stadt geeilt war, erkannte, daß es bereits zu spät sei, und er wollte in seinem Edelmute Blutvergießen unter allen Umständen vermeiden und lieber sich selbst zum Opfer bringen. Sogar die ihm von den Republikanern angebotene Geldrente schlug er aus, obwohl er durchaus nicht mit irdischen Gütern gesegnet war. Man drängte ihn zu einer raschen Abreise, und eine unvergeßliche, aber todestraurige Erinnerung war die folgende Nacht für Helmut, wo er mit anderen Marineschülern am Hafen Spalier gebildet hatte, als der Kaiser mit den Seinen sich auf das Schiff begab, das ihn für immer aus seinem heiß geliebten Vaterlande tragen sollte. Die Abreise der kaiserlichen Familie bei Tage zu bewerkstelligen, wagten die aufständischen Generale nicht, weil sie mit Recht befürchteten, daß der Anblick des edlen, ehrfurchtgebietenden Greises die schwankende Volksstimmung zum Umschlagen bringen könne. So sah der brasilianische Deutsche seinen Kaiser zum letzten Male, und immer wieder tauchte vor seinem Geiste dieses von Siechtum und Alter gefurchte Antlitz auf mit den gütigen Augen, aus denen heiße Tränen unablässig in den silbernen Bart tropften.

Eine Zeit fortwährender Unruhe hatte nun begonnen. Marschall Fonseca war Präsident der jungen Republik geworden, zeigte sich aber seiner Aufgabe nicht gewachsen. Bald ging alles drunter und drüber, und namentlich Fonsecas Gemahlin, die ehedem von der Kaiserin regelmäßige Almosen erhalten hatte, machte sich durch Herrschsucht und Protzentum bald verhaßt, und so kam es zu einer neuen Revolution, die diesmal von der Flotte ausging und mit dem Sturze Fonsecas endete. An seine Stelle trat General Peixoto als Präsident und führte eine tyrannische Militärherrschaft herbei. Dadurch sammelte sich bald wieder so viel Unzufriedenheit an, daß der ehrgeizige Admiral Mello an der Spitze der Marine einen abermaligen Aufstand in Szene setzte. Kurz vorher war Helmut als Seekadett auf den Aquidaban gekommen, auf dem auch Admiral Mello selbst mit seinem Stabe sich befand. So saß er nun mitten im Strudel der Revolution und Bürgerkämpfe, ohne einen Ausweg zu wissen, obwohl ihn alle diese Vorgänge eigentlich im innersten Herzen anekelten. Dabei besaß er doch schon so viel militärische Kenntnis, um sich sagen zu können, daß die Lage Mellos und seiner Schiffe eigentlich eine recht bedenkliche sei, da ihnen durch die Hafenforts die Ausfahrt versperrt war, während sie anderseits infolge des Einschreitens der Großmächte die wie auf einem Präsentierteller vor ihren Kanonen ausgebreitete Stadt nicht angreifen durften. So waren die Gedanken des jungen Deutschen durchaus keine angenehmen, und mit bangen Zweifeln fragte er sich, was eigentlich aus dem allen werden, und ob er wohl überhaupt jemals Eltern und Geschwister wiedersehen würde. Wenn es wenigstens zu irgend einer Entscheidung käme! Aber dieses zwecklose Kanonieren Tag für Tag ermüdete und stumpfte ab, und solange Admiral Gama drüben auf der Schlangeninsel sich nicht für eine der beiden Parteien entschieden hatte, würde das wohl in der bisherigen Weise endlos fortdauern.

Schon neigte sich die Sonne dem Horizonte zu und umgoldete mit ihren scheidenden Strahlen die zierlichen Fächerwipfel der Palmen am Strande, als Helmut aus seinen düsteren Gedanken plötzlich dadurch aufgeschreckt wurde, daß sich von hinten eine kräftige Hand schwer auf seine Schulter legte. Rasch drehte er sich um und schaute zu seiner Überraschung in die energischen und klugen Züge seines verehrten Admirals. Schnell stellte er sich stramm. Der Admiral schien guter Laune und meinte lachend: »Nun, Kadett Förster, Sie sehen ja aus, als ob Ihnen alle Felle davongeschwommen seien. Ihnen wird es wohl auch schon langweilig mit der dummen Schießerei? Trösten Sie sich, mir geht es auch nicht anders, aber ich denke, wir sprechen nun bald ein kräftig Wörtlein mit denen da drüben. Jetzt machen Sie aber vor allem mal die kleine Barkasse klar, nehmen ein paar unserer besten Matrosen und fahren mich ohne großes Aufsehen hinüber nach der Schlangeninsel.«

Helmut mußte sich bemühen, seine Überraschung über diesen unvermuteten, aber hochwillkommenen Befehl zu unterdrücken. Wenn die Admirale Mello und Gama auf der Schlangeninsel persönlich zusammenkamen, dann mußte allerdings etwas Wichtiges im Werke sein. Unverzüglich beeilte er sich, den gegebenen Befehl auszuführen, und kaum war er damit fertig, als auch schon Admiral Mello das Fallreep herunterstieg und in Begleitung seines Adjutanten in der Barkasse Platz nahm. Pfeilschnell durchschnitt diese alsbald die Fluten und war schon nach kurzer Zeit bei den Felsklippen der Schlangeninsel angelangt.

Admiral Gama, ein Mann mit offenen und sympathischen Gesichtszügen, schien von dem bevorstehenden Besuche bereits unterrichtet zu sein, denn er erwartete ihn schon an der Landungsstelle. Beide Admirale mit einigen höheren Offizieren begaben sich dann in die Dienstwohnung Gamas, und Helmut, der derweil in der Barkasse zu warten hatte, sah seine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Seine Matrosen schlossen derweil Freundschaft mit den Marinesoldaten auf der Schlangeninsel, und es war unverkennbar, daß alle diese Seeleute von gemeinsamer Abneigung gegen das Landheer erfüllt waren. Die Sonne versank am fernen Horizonte und ließ für wenige Minuten die ganze zaubervolle Schönheit der Bucht von Rio de Janeiro in goldenem Purpur aufleuchten, aber dann brach auch fast ohne Dämmerung die Nacht herein, und es war schon vollständig finster, als Admiral Mello wieder zurückkehrte. Seine Züge erschienen ernst, aber kampfesfreudig und zuversichtlich. Er sprach kein Wort, und nur beim Aussteigen raunte er unserem Freunde zu: »Heute nacht geht's los! Halten Sie sich bereit, und zeigen Sie sich als ein braver Seemann, der seiner Schule Ehre macht.«

Darauf zog sich der Admiral mit seinen Offizieren zu einer Besprechung in die Offiziersmesse zurück, und Helmut hatte kaum Zeit, hastig ein frugales Abendessen zu verzehren, als auch schon die schrillen Bootmannspfeifen ertönten und alle Mann zur Arbeit riefen. Eine emsige Tätigkeit setzte beim Scheine der elektrischen Laternen ein. Das Verdeck wurde klar gemacht, die Geschützrohre gereinigt, Munition daneben aufgestapelt, die Mannschaft in den Panzertürmen versammelt. Stockfinster war die Nacht, und selbst der Himmel hatte sich mit düsteren Wolken umzogen. Schweigend tat jeder seine Pflicht, und der Ernst der Stunde lastete schwer selbst auf den sonst so leichtlebigen Brasilianern. Jeder fühlte und ahnte, daß sich etwas Entscheidendes vorbereite, daß aus der bisherigen Spielerei nun blutiger Ernst werden solle. So mancher zog sich in einen stillen Winkel zurück und kritzelte mit zitternden Schriftzügen letzte Grüße an seine Lieben, die er einem besonders nahestehenden Kameraden anvertraute für den Fall, daß er fallen sollte. Auch unserm Helmut war, obwohl er wahrlich ein furchtloser Bursche war, doch ganz eigentümlich zumute, und je länger das peinliche Warten dauerte, desto erregter wurde seine Stimmung, um so mehr sehnte er die endliche Entscheidung herbei.

Es war schon Mitternacht vorüber, als plötzlich eine fürchterliche Salve die Totenstille der Tropennacht zerriß. Das Gekrach der Schüsse war ungleich lauter, als man es bisher gewöhnt war, und ein Blick auf die in Flammen gehüllte Schlangeninsel genügte, um zu sehen, daß dort endlich die Riesengeschütze des Admirals Gama in Tätigkeit getreten waren. Ein Aufleuchten hoher Freude ging über all die ängstlich gespannten Gesichter an Bord des Aquidaban, als man sich überzeugte, daß die Forts auf der Schlangeninsel gegen die Landbefestigungen feuerten, daß also Gama sich den Aufständischen angeschlossen hatte. Jetzt wußte Helmut auch, warum er den Admiral Mello so unvermutet hatte zur Schlangeninsel fahren müssen. Drüben auf dem Lande entstand gleich nach den ersten Schüssen eine furchtbare Aufregung. Von allen Berggipfeln leuchteten gewaltige Scheinwerfer auf und suchten mit ihren hellen, oft sich kreuzenden Strahlenbündeln die ganze Bucht ab. Alsbald antworteten auch sämtliche Geschütze der Regierungstruppen, und bald war eine Kanonade von solcher Stärke, Heftigkeit und Erbitterung im Gange, wie man sie bisher noch nicht erlebt hatte.

Auf dem Aquidaban waren inzwischen die Anker hochgenommen worden, und in majestätischer Ruhe glitt der Riesenpanzer ln langsamer Fahrt vorwärts, dem Hafenausgange zu. Jedes Herz schlug höher, als es auch dem letzten Matrosen bewußt wurde, daß Admiral Mello offenbar die Hafenausfahrt zwischen den dräuenden Forts hindurch erzwingen und so den eisernen Gürtel sprengen wolle, der ihn bisher eingeschnürt und in seiner freien Bewegung beengt hatte. Auch die Scheinwerfer des Aquidaban spielten jetzt und in ihrem bleichen, auf und ab tanzenden Lichte konnte man die immer näher rückenden Landbefestigungen erkennen und die Geschütze nach ihnen richten. Man konnte aber auch sehen, daß der Aquidaban bei seinem kühnen Unternehmen nicht allein blieb, sondern daß rechts von ihm der Kreuzer Uranus und hinter beiden noch die Republika die gleiche Richtung eingeschlagen hatten.

Trotzdem wußte jeder, daß das verzweifelte Unternehmen des Durchbruchs nur gelingen konnte, wenn alle bis zum letzten Mann das Äußerste aufboten und überdies das unberechenbare Kriegsglück ihnen besonders hold war. Fortwährend feuernd war der Aquidaban in die enge Hafeneinfahrt gelangt, wo das gewaltige Fort Santa Cruz alle Geschütze auf den waghalsigen Gegner gerichtet hatte und im nächsten Augenblicke einem flammenden Vulkan glich. Blitz auf Blitz zuckte aus den Wällen des Forts hervor, unheimlich heulend zischte Granate auf Granate über das Deck und übersäte dieses mit Sprengstücken und den Resten zerschmetterter Masten. Dumpf grollend klatschten andere Granaten gegen die Panzerwand. Es war ein wahres Höllenkonzert, das auch das Herz des mutigsten Mannes erzittern lassen konnte. Statt sich aber in raschester Fahrt diesem Höllenfeuer zu entziehen, gab Admiral Mello im Gegenteil mit ruhiger und klarer Stimme den Befehl zum Stoppen und legte sich breit gegen das Fort, in der Absicht, die schwächeren Nachbarschiffe dadurch zu entlasten und ihnen das Entschlüpfen zu erleichtern. Wirklich kam auch der Uranus in dem allgemeinen Tumult glücklich durch, freilich nicht ohne von dem auf der anderen Seite befindlichen Fort Sao Joao noch ein paar tüchtige Treffer zu bekommen, die einen Schornstein wegrissen und eine ganze Reihe Toter und Verwundeter kosteten. Aber dann kam wie ein feuerschnaubender Drache die Republika herangedampft, schleuderte nach allen Seiten ihre eisernen Zuckerhüte und war bald ebenfalls jenseits der Hafeneinfahrt. Den schwierigsten Stand hatte der Aquidaban, der unmittelbar vor dem starken Fort Santa Cruz den Rückzug decken und deshalb am längsten ausharren mußte. Seine Geschütze spieen Tod und Verderben gegen das Fort, aber auch er selbst wurde wiederholt getroffen und geriet in eine immer kritischere Lage. Nur die außerordentlich starke Panzerung des Schiffes verhinderte noch eine Katastrophe.

Mit atemloser Spannung hatte Helmut alle diese Ereignisse verfolgt. Er befand sich als Geschützführer in demselben Panzerturm, in dem der Admiral auf der Kommandobrücke stand und mit eiserner Ruhe durch das Sprachrohr hindurch den schwimmenden Koloß leitete. Seine Haltung und Kaltblütigkeit flößten allen Vertrauen ein. Auch über Helmut war nach und nach die blinde Kampfeswut gekommen. Sobald die ersten Schüsse gewechselt waren, hatte ihn das bisherige Angstgefühl verlassen, und er tat nun mutig seine Schuldigkeit, ohne im geringsten zu beben. Als aber erst einige feindliche Geschosse in den Turm eingeschlagen und verschiedene seiner Kameraden niedergestreckt hatten, trat an die Stelle des bloßen Pflichtgefühls schnaubende Rachgier. Mit heiserer Stimme schrie er seinen Leuten die Befehle zu, das erhitzte Gesicht vom Pulverdampf geschwärzt, das blonde Lockenhaar wirr herabhängend, die Uniform mit dem Blute eines gefallenen Nebenmannes bespritzt. Schon hatten die feindlichen Geschosse gerade vor seinem Geschütz eine klaffende Lücke durch die Panzerhaut des Turmes geschlagen, und es war klar, daß der nächste Treffer von furchtbarer Wirkung sein und insbesondere auch den fast ungeschützt auf seiner Kommandobrücke stehenden Admiral aufs höchste gefährden mußte. Und da kam es auch wirklich schon mit unheimlichem Sausen heran, und gerade durch das Leck hindurch fiel eine Granate in den menschenwimmelnden Raum, wo sie liegen blieb. Man sah ein feines Rauchwölkchen vom Zünder aufsteigen, und mit Blitzesschnelle war es allen im Bruchteil einer Sekunde klar, daß die Granate im nächsten Augenblick bersten und sie alle zerschmettern, die ganze Schar todesmutiger Männer in einen zuckenden Haufen blutigen Fleisches verwandeln mußte. Unwillkürlich stieß Helmut einen unterdrückten Schrei aus, aber im nächsten Augenblick sprang er schon mit fast instinktiver Geistesgegenwart auf die Granate zu, packte das unheilschwangere Geschoß mit beiden Händen und schleuderte es mit Aufbietung aller Kraft durch das Leck des Turmes wieder hinaus auf das menschenleere, stark gepanzerte Verdeck, wo es unschädlich zerbarst. Es war ein eigentümlicher Blick, den Admiral Mello unter seinen buschigen, vom Pulverdampf versengten Augenbrauen hervor dem jungen Kadetten zuwarf. Dankbarkeit, Bewunderung und Rührung lagen darin, und Helmut fühlte sich durch diesen einzigen Blick des sonst in seinem Lobe so sparsamen Admirals mehr beglückt, als wenn ihm der höchste Orden an die Brust geheftet worden wäre. Aber es war nicht Zeit zum langen Nachdenken, denn ununterbrochen raste und brüllte der Schlachtensturm weiter, und es war, als ob die Hölle alle ihre Furien losgelassen hätte. So dicht war der Pulverdampf im Turme, daß man seinen Nebenmann kaum noch erkennen konnte und die Brust unter den giftigen Gasen schwer atmete. Auch konnte man sich gar nicht mehr umeinander bekümmern in diesem Hexensabbat, der von Minute zu Minute neue Schrecken entfesselte.

Wieder schmetterte eine feindliche Granate gegen den Panzerturm, riß ein neues Leck und streute ihre Sprengstücke mit verheerender Wirkung in dem engen Räume aus. Der Admiral selbst taumelte und griff nach der Schulter, wo ihm ein kleineres Eisenstück das Epaulett abgerissen und eine tiefe Fleischwunde geschlagen hatte. »Es ist nichts,« sagte er kaltblütig lächelnd zu Helmut, der besorgt zu ihm aufschaute, und fuhr ruhig fort, seine Befehle zu erteilen, obwohl ihm das Blut in breiten Rinnen über die Uniform floh. Auch an Helmuts Geschütz war schon die Hälfte der Leute kampfunfähig. Aber unverdrossen bediente er selbst die Kanone weiter, und als jetzt der elektrische Scheinwerfer ihm ein Ziel besonders deutlich zeigte, richtete er sorgfältig das Rohr und feuerte selbst ab. Gleich darauf ertönte ein Knall, der all den Kampfeslärm und all das Kanonengebrüll noch hundertfach übertönte. Das Pulvermagazin drüben war getroffen worden und in die Luft geflogen, alles um sich herum zerschmetternd. Auch sonst mußten die Geschütze des Aquidaban von fürchterlicher Wirkung gewesen sein. Das Feuer drüben verstummte fast augenblicklich, und in der eintretenden Stille rief der Admiral unserem jungen Freunde ob seines glücklichen Schusses ein lautes Bravo zu, in das alle die pulvergeschwärzten Mitkämpfer und selbst die am Boden liegenden Verwundeten mit einstimmten. Gleich darauf aber befahl die laute Stimme des Admirals: »Mit Volldampf vorwärts!« und willig der Maschine gehorchend, schoß der Aquidaban, fortwährend heftig feuernd, während das arg zusammengeschossene Fort nur noch matt antwortete, der Hafenausfahrt zu, und bald war man außerhalb des Schußbereichs der feindlichen Kanonen. Aller Mienen strahlten in stolzer Freude: das kühne Wagstück war gelungen, der eiserne Ring durchbrochen!

Als der Morgen graute, fand er die erschöpfte Mannschaft schon weit von Rio entfernt bei den Aufräumungsarbeiten, der Bestattung der Toten, der Bergung der Verwundeten und der Ausbesserung der erlittenen Schäden. Auch Helmut mußte tüchtig Hand anlegen, aber er hatte dabei noch eine besondere Genugtuung, als Admiral Mello an ihn herantrat und ihm sagte: »Meinen besonderen Dank noch für Ihre Bravheit! Ihr Deutsche seid doch verteufelte Kerls. Wenn wir, wie ich nach dem glücklichen Ausgang dieser Nacht mehr als je hoffe, endgültig Sieger bleiben, so werden Sie der erste Kadett sein, der zum Leutnant befördert werden soll, obwohl Sie nach dem Dienstalter fast der Jüngste sind.«

Die drei Kriegsschiffe landeten schließlich in Porto Alegre, wo sie von der Bevölkerung freudig willkommen geheißen wurden. Man erfuhr, daß selbst die Einwohner Rio de Janeiros insgeheim furchtbar stolz seien auf den gelungenen Durchbruch ihrer geliebten Flotte, die damit schlagend ihre Kampftüchtigkeit bewiesen habe. Arbeit gab's in dem fieberschwangeren Hafenorte in Hülle und Fülle. Mehrere große Handelsschiffe wurden mit Lebensmitteln und Munition beladen, denn an beiden sollte auf der Schlangeninsel schon empfindlicher Mangel herrschen. Helmut hatte im stillen gehofft, daß er hier vielleicht Urlaub erhalten könne, um die Farm seiner Eltern zu besuchen, aber er war klug genug, selbst einzusehen, daß bei diesem Hasten und Treiben kein Mann entbehrt werden konnte, zumal ja offensichtlich jede Stunde kostbar war. Deshalb wagte er es gar nicht, eine diesbezügliche Bitte an den Admiral zu stellen, obwohl dieser ihm seit der Schreckensnacht von Rio sehr gewogen war und es nicht verschmähte, sich in seinen wenigen Mußestunden leutselig mit dem Kadetten zu unterhalten. Er hatte es sogar gern, wenn Helmut offen seine Gedanken aussprach, und hörte ihm stets wohlwollend zu, auch wenn er als eingefleischter Brasilianer, dem die deutsche Denkungsart vollkommen fremd sein mußte, nicht mit ihm übereinstimmen konnte. Aber als Militär mußte er den gesunden Anschauungen des jungen Deutschen doch öfters beipflichten. So war Helmut, der durch die gemeinsam bestandene Gefahr jetzt inniger mit der Sache der Revolution verknüpft war, kühn genug, eines Tages zu sagen: »Eigentlich begreife ich nicht, warum wir uns nicht gleich zu Anfang des Hafenplatzes Nictheroy mit seinen großen Magazinen und Arsenalen bemächtigt haben. Damals, in den ersten Tagen nach der Schilderhebung der Flotte, wäre das doch leicht gewesen, da Peixoto viel zu wenig zuverlässige Truppen hatte, als daß er uns nachdrücklichen Widerstand hätte leisten können. So aber haben wir ihm Zeit gelassen, große Verstärkungen heranzuziehen und Nictheroy durch Schanzen und Batterien furchtbar zu befestigen. Hätten wir es gleich genommen, so hätten wir nicht so lange in der Mausefalle zu sitzen brauchen, sondern wir hätten uns leicht die Verbindung auf dem Festlande mit den Aufständischen in den Südprovinzen verschaffen und allmählich Rio auch von der Landseite abschließen und so aushungern können. Jetzt müssen wir mühsam auf dem Seewege die nötigen Streitkräfte und Nahrungsmittel heranziehen, müssen jedesmal die Einfahrt in die Bai von Rio neu erkämpfen, und wer weiß, ob es nicht überhaupt schon zu spät ist.«

Der Admiral blickte überrascht auf. »Sie haben recht, tausendmal recht, junger Freund. Wir waren eben damals alle mehr Politiker als Soldaten. Aber das Versäumte muß und wird nachgeholt werden, sobald wir erst wieder in der Bucht von Rio sind. Auf den Heldenmut meiner blauen Jungens darf ich mich ja fest verlassen.«

Auch seinen Kameraden gegenüber war Helmuts Stellung seit der großen Seeschlacht eine andere geworden. Hatten sie sich früher dem Deutschen gegenüber kühl und zurückhaltend gezeigt, so fühlten sie sich jetzt zu ihm hingezogen und suchten sich ihm offensichtlich näher anzuschließen. Der Krieg schweißt eben die Menschen fester zusammen. Helmut seinerseits schloß namentlich mit einem andern Seekadetten, namens Manuel, engere Freundschaft, und bald waren die beiden jungen Leute unzertrennlich. Manuel war der Sprößling einer alten, angesehenen Advokatenfamilie, deren Mitglieder schon oft in der Geschichte des Landes eine wichtige Rolle gespielt hatten und zu den höchsten Ämtern berufen worden waren. Manuels Vater, Doktor Manuel Ferraz de Campos Salles, lebte noch in Rio und mochte wohl bange seines Sohnes gedenken, der irgendwo auf dem Aquidaban schwamm, um den die in Brasilien jederzeit geschäftige Fama schon einen ganzen Kranz von Märchen und Sagen gesponnen hatte.

Endlich war die Flotte wieder zur Abfahrt bereit und nahm ihren Kurs nordwärts zur Bai von Rio. Wieder mußte hier in finsterer Nacht die Einfahrt erzwungen werden, aber es ging diesmal ohne schweren Kampf ab; so überraschend und plötzlich war der Aquidaban mit seinen Begleitschiffen erschienen, und die durch die fortwährenden Kanonaden mit Gama ermüdeten Regierungstruppen hatten auch wohl nicht genügend scharfe Wacht gehalten. Gleich am nächsten Morgen mußte Helmut seinen Admiral wieder mit der Barkasse nach der Schlangeninsel fahren, wo eine erneute Besprechung zwischen den beiden Führern stattfand. Währenddem erfuhr Helmut von den Marinesoldaten auf der Schlangeninsel, daß Peixoto bald nach dem glücklichen Durchbruch Mellos die Schlangeninsel mit stürmender Hand zu nehmen versucht hatte. Die Regierungstruppen waren nachts auf Kähnen übergesetzt, waren aber nach erbittertem Kampfe mit schweren Verlusten zurückgeschlagen worden.

Im übrigen hatte sich der Krieg in der ganzen Zwischenzeit wieder auf die übliche tägliche Kanonade beschränkt und war für beide Teile ziemlich harmlos verlaufen. Und jetzt war, wie sich Helmut mit bangen Zweifeln sagen mußte, eigentlich die alte Sachlage wieder vollkommen hergestellt. Wieder saßen die Schiffe der Insurgenten in der alten Mausefalle, und noch immer befand sich Nictheroy in den Händen der Regierung und sperrte den Admiralen jede Verbindung mit dem Lande. Ihre Hilfsmittel mußten sich in absehbarer Zeit erschöpfen, wenn es nicht gelang, noch nachträglich Nictheroy wegzunehmen. Unser Freund war deshalb freudig überrascht, als ihm Mello auf der Rückfahrt nach dem Panzerschiffe sagte: »Nun, junger Freund, Ihre Vorstellung wegen Nictheroy hat doch gefruchtet, und ich denke, bald haben wir's.«

Einige Nächte später wurde die Besatzung des Aquidaban alarmiert, und jeder merkte sofort, daß wieder etwas Besonderes im Werke sei. Die tüchtigsten Mannschaften und Offiziere wurden zu einem Landungskorps formiert und in Kähne verladen. Das alles geschah so still als möglich, und die Boote fuhren dann mit umwickelten Rudern geräuschlos über die dunkle Flut. Auch Helmut befand sich nebst seinem Freunde Manuel bei dieser waghalsigen Expedition, während der Admiral selbst auf dem Aquidaban zurückblieb, um dessen Feuer gegen die Landbefestigungen zu leiten. Man war erst eine kurze Strecke gefahren, als man auf ein ganzes Geschwader anderer Boote stieß, alle mit kampflustigen Marinesoldaten gefüllt und von Admiral Gama persönlich geführt. Dieser teilte sein Geschwader in drei Teile, und die Dunkelheit ermöglichte es, unbemerkt an der Küste zu landen. Erst als die Boote knirschend auf den Uferrand aufstießen, wurden die feindlichen Wachposten aufmerksam und feuerten ihre Alarmschüsse ab. Signalhörner erschollen, und ein unendlicher Tumult erhob sich. Rasch drangen die Marinetruppen von drei Seiten konzentrisch in die Stadt vor, um sich vor allem des wichtigen Arsenals zu bemächtigen. Die Regierungstruppen waren größtenteils noch im Schlafe überrascht worden und stürzten halb bekleidet aus ihren Quartieren hervor, leisteten aber doch noch hartnäckigen Widerstand. Wildes Kampfgetümmel erfüllte die Straßen, unregelmäßige Schüsse fielen, und an vielen Stellen kam es zu erbittertem Handgemenge. In diesem Augenblicke ging die Sonne blutigrot auf und beleuchtete mit erbarmungsloser Klarheit das schauerliche Schauspiel.

Besonders wild tobte der Kampf am Eingange des Arsenals, wo auch Helmut und Manuel mit ihrer Schar zum Dreinhauen kamen. Ersterer hatte gerade seinen Revolver abgeschossen, als er sich plötzlich einem riesenhaften Neger gegenüber sah, der mit wütendem Schrei ein scharf geschliffenes Beil schwang, das im nächsten Augenblick auf den Kopf des jungen Deutschen niedersausen mußte. Aber im gleichen Augenblicke ertönte ein Schuß, der Neger warf die Hände hoch und stürzte mit einem gurgelnden Laut hintenüber, während ein dunkelroter Blutstrom zwischen seinen wulstigen Lippen hervordrang. Mit freudiger Dankbarkeit sah Helmut sich um, und da erblickte er hinter sich seinen Freund Manuel, den schmächtigen, zierlichen, fast schüchternen Manuel, der, wie er einmal gestanden hatte, kein Blut sehen konnte, und den jetzt doch die Angst um das bedrohte Leben des Freundes zur Vernichtung eines Menschen fortgerissen hatte. Stumm drückte ihm Helmut die Hand. Aber zu langen Auseinandersetzungen war keine Zeit, denn unaufhaltsam raste der Kampf weiter, wirbelte Freund und Feind durcheinander und forderte immer neue Opfer, denen sofort blutdürstige Rächer entstanden. Nach kurzer Zeit war jedoch das Arsenal erobert, die Besatzung niedergehauen oder gefangen genommen und bald darauf die ganze Stadt in den Händen der Aufständischen.

Der Jubel darüber war groß, und mit echt südländischer Lebhaftigkeit gab man ihm Ausdruck. Man umarmte und küßte sich, jubelte und sang, sprang und tanzte und gab sich der wildesten Ausgelassenheit hin, während die Straßen noch von dem vergossenen Menschenblut dampften. Die Szene wurde immer wilder und wüster, und besorgt sahen die Offiziere dem tollen Treiben zu. Vergeblich bemühten sie sich, ihre Mannschaften wieder zu sammeln und zu ordnen. Es schien, als seien die Leute rein vom Teufel besessen und alle bösen Instinkte der Menschenbrust entfesselt. Ein paar verwegene Kerle in zerrissener, blutbespritzter Uniform und mit verwüsteten, pulvergeschwärzten Gesichtern, deren natürliche Wildheit durch den bestandenen Nahkampf bis zur Siedehitze gesteigert war, machten den Anfang mit dem Plündern. Dröhnend schlugen sie mit den Gewehrkolben die verschlossenen Haustüren ein, mißhandelten die Bewohner und stürzten sich mit tierischer Gier auf die Schätze der Kaufläden, wahllos sich alles aneignend. Nur zu schnell fand das böse Beispiel Nachahmung. Diese Seeleute, die seit Monaten die schwersten Entbehrungen erlitten hatten und ausschließlich auf die einförmige Schiffskost angewiesen gewesen waren, konnten der Versuchung nicht widerstehen, als sie jetzt die nach ihren Begriffen köstlichsten Leckerbissen massenhaft vor sich ausgebreitet sahen. Man stopfte sich in den Mund, was nur immer hineingehen wollte, man schlug die Weinfässer auf und trank gierig das in die Gossen strömende Naß. Alle Bande der Zucht und Ordnung waren gelöst, die lästigen Gewehre stellte man irgendwo in einen Winkel, und zwischen den noch auf den Straßen liegenden und schmerzlich stöhnenden Verwundeten wälzten sich in den Gossen sinnlos Betrunkene. Admiral Gama eilte zwar fluchend und schreiend von Trupp zu Trupp und suchte der Plünderung Einhalt zu tun, aber die betrunkenen Mannschaften hörten nicht mehr auf den sonst so verehrten Führer. Vergeblich mühten sich auch alle andern Offiziere ab, ja manche beteiligten sich sogar selbst nach Kräften an der Plünderung, und bald gaben auch aufsteigende Flammenzeichen zu erkennen, wie barbarisch in dem unglücklichen Nictheroy gehaust wurde.

Nur wenigen Offizieren gelang es, wenigstens einen Teil ihrer Leute noch leidlich zusammen und unter Waffen zu halten. Unter ihnen waren auch Helmut und Manuel, und beide schäumten vor Wut und bitterer Verzweiflung. Der Brasilianer beklagte laut jammernd sein unglückliches Vaterland, dessen Kinder sich gegenseitig zerfleischten, und der Deutsche suchte seinen ganzen Vorrat an brasilianischen Schimpfwörtern hervor – und die portugiesische Sprache ist an solchen, wie alle romanischen Sprachen, überaus reich, – um seiner flammenden Entrüstung über diese wüsten Szenen Ausdruck zu geben, die nach seiner Auffassung mit dem Begriffe soldatischer Ehre völlig unvereinbar waren. Wo sie es konnten, beschützten sie wenigstens die arme, der Vernichtung ihres Eigentums jammernd zusehende Bevölkerung vor den ärgsten Ausschreitungen. Einmal kam Helmut dazu, wie ein paar betrunkene Marinesoldaten in einem vornehmen Hause den Hausherrn mit dem Kolben niedergeschlagen hatten und nun mit drohend vorgehaltenen Bajonetten von seiner halb ohnmächtigen Gattin die Auslieferung des vorhandenen Bargeldes verlangten. Wütend schlug er den unflätigen Kerlen seinen Säbel über den Schädel, ließ dann das ganze Haus mit Hilfe Manuels von dem plündernden Gesindel säubern und stellte schließlich einen nüchtern gebliebenen Wachtposten mit geladenem Gewehr zum Schutz davor. Wie in allen Hafenstädten, war auch in Nictheroy viel zweifelhaftes Gesindel vorhanden, das jetzt aus seinen schmutzigen Schlupfwinkeln hervorkroch und sich mit wilder Lust an der Plünderung beteiligte.

Mitten in diesen grauenhaften Wirrwarr hinein erschollen plötzlich die schmetternden Töne von Signalhörnern. Helmut kannte die Signale der brasilianischen Armee gut genug, um zu wissen, daß das das Angriffszeichen der Infanterie sei. Das von allen einsichtigen Offizieren heimlich Befürchtete war also zur Tatsache geworden: Peixoto selbst rückte mit seinen Kerntruppen heran, um das wichtige Nictheroy zurückzuerobern, koste es, was es wolle. Er fand leichte Arbeit. Die meisten der Plünderer waren nur noch mit ihren Enterbeilen bewaffnet und wurden, ehe sie von diesen Gebrauch machen konnten, niedergeschossen. Die zahlreichen Betrunkenen aber durchbohrte das Bajonett, bevor sie noch Zeit fanden, aus ihrem Rausche zu erwachen und sich zu vergegenwärtigen, was eigentlich um sie herum geschehe.

In wilder Verzweiflung hatte Admiral Gama zusammengerafft, was von seinen Truppen noch kampffähig war, und leistete an ihrer Spitze heldenmütigen Widerstand. Rings umtobte ihn von allen Seiten die Woge der übermächtigen Feinde, aber immer wieder mußte sie zurückfluten, als sei sie gegen granitenen Fels angebrandet. Hoffnungslos war der wilde Kampf geworden, aber man wollte sich wenigstens noch bis zu den Booten durchschlagen oder mit Ehren untergehen. Ein Schuß traf den Admiral in die Hüfte, und ächzend sank er zu Boden. Seine Getreuen ergriffen ihn, trugen ihn aus dem Getümmel in die Mitte der Heldenschar, und diese brach sich nun unter Führung eines eisgrauen alten Kapitäns Bahn durch die sie umringenden, mit Siegesjauchzen andrängenden Feinde. So heftig war der unerwartete Stoß, daß bald eine freie Gasse zum Strande geöffnet wurde. Die noch am wenigsten erschütterte Besatzung des Aquidaban bildete die Nachhut und hatte deshalb den schwersten Stand. Immer wieder mußte sie Kehrt machen, um durch Salven oder mit dem blanken Bajonett die verfolgenden Regierungstruppen zurückzuhalten, und immer mehr lichteten sich dabei ihre ohnedies schon so dünnen Reihen. Helmut hatte schon mehrere Schrammen erhalten, auf die er in der Hitze des Gefechtes kaum achtete, aber tiefer Schmerz erfüllte ihn, als er jetzt auch seinen Freund Manuel