Hella - Ralf Prost - E-Book

Hella E-Book

Ralf Prost

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Beschreibung

Eine ambitionierte Malerin auf der Suche nach Anerkennung und einem freien Leben am Meer. Hellas Alltag besteht aus ihrer Kunst, Missgeschicken und einer lieblosen Beziehung. Als ihr Freund sie und ihre Tochter aus seiner Villa wirft, hat sie weder eine Wohnung noch einen Job und kaum Geld. Trotzdem ist sie fest entschlossen, alles zu tun, um ihrer Liebe zum Malen nachzugehen und eine erfolgreiche Künstlerin zu werden. So zieht es Hella an die malerischen Strände der Ostsee. Doch ein leeres Bankkonto und fehlende Käufer ihrer Gemälde sind nicht die einzigen Probleme, mit denen sie sich konfrontiert sieht.

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Seitenzahl: 337

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

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Die Rechte für die Ausgabe liegen allein beim Autor.

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung oder Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Alle Rechte sind vorbehalten.

Ohne ausdrückliche, schriftliche Erlaubnis des Autors darf das Werk, auch Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadensersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie.

Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Es besteht keine Absicht, diverse Orte, Firmen oder Markennamen sowie Personen des öffentlichen Lebens in irgendeiner Art und Weise zu schädigen oder negativ darzustellen.

Hella

Irrwege einer Malerin

von

Ralf Prost

Impressum

Text: © Ralf Prost
Überarbeitung: Elvira Senger
Cover: © Hera N. Hunter
Lektorat: Wendy Nikolaizik
Korrektorat:
Christine Asmussen
Satz:
Katharina Georgi
Verlag:
Neopubli GmbH
Köpenicker Straße 154a
10997 Berlin
Druck:
epubli ist ein Service der neopubli GmbH Berlin

Meiner geliebten Frau Meike,

die mir die Kraft und die Liebe zum Schreiben schenkt.

1

»Oh, nee. Das darf nicht wahr sein! Schon wieder ist nichts Gescheites im Kühlschrank. Das nervt total«, polterte Alice. »Du hast doch genau gewusst, dass ich heute gleich nach der Schule nach Hause komme.« Wenige Sekunden später schlug sie die Kühlschranktür schwungvoll zu – so heftig, dass sie durch den Aufprall scheppernd erneut aufsprang. »Ich habe einen Bärenhunger! Du hast nicht einmal etwas eingekauft. Was machst du eigentlich den ganzen Tag?«

»Tolle Begrüßung. Ich habe mich so darauf gefreut, dich zu sehen«, rief Hella aus dem Wohnzimmer. Sie gähnte und rappelte sich vom Sofa auf, um in die Küche zu eilen. »Heute Morgen hatte ich leider keine Zeit zum Einkaufen.«

»Dass ich nicht lache. Du hast doch gar keine Verpflichtungen«, keifte ihre achtzehnjährige Tochter. Sie sah Hella nicht an, sondern schaute mit verschränkten Armen aus dem Küchenfenster.

Hella ließ die Schultern hängen. »Ich bin gerade erst heimgekommen. Das Auto ist stehengeblieben«, versuchte sie, sich zu rechtfertigen.

Augenrollend wandte Alice sich um und schaute ihre Mutter skeptisch an. »Na toll, irgendwas kommt bei dir immer dazwischen. Nichts als Ausreden. Was war los?«

»Der Tank war leer«, antwortete Hella kleinlaut.

»Typisch! Bekommst du eigentlich gar nichts auf die Kette? Ich habe keine Lust auf diesen Mist«, blaffte die Teenagerin ihre Mutter an und ließ Hella stehen. Wenige Sekunden später knallte die Zimmertür im ersten Stock.

Hella blieb fassungslos zurück. Womit habe ich das verdient? Sicherlich hätte sich der leere Tank vermeiden lassen. Warum schaue ich nicht wie normale Menschen auf die Tankanzeige?

Missgeschicke waren bei ihr an der Tagesordnung. Verträumt, in ihrer Welt versunken, agierte sie im Alltag oft schusselig. Künstlerisch veranlagt, wie sie war, kreisten ihre Gedanken ständig um Farben und Motive.

Hella ließ die letzte Nacht und den heutigen Morgen vor ihrem geistigen Auge vorbeiziehen.

Sie hatte wie so oft in der alten Gartenlaube, die sie als Atelier nutzte, gearbeitet. Diese stand am Fuße des Anwesens, in dem sie zusammen mit ihrem Freund Robert und ihrer Tochter Alice in Bodman am Bodenseeufer lebte. Vor sechs Jahren waren sie gemeinsam in seine Jugendstilvilla eingezogen. In den nüchtern eingerichteten Räumen gelang es ihr nicht, kreativ zu sein – ihre innere Ruhe fand sie nur in der Laube, in die sie sich gerne und oft zurückzog.

Bis in die frühen Morgenstunden hatte sie gemalt. Wie im Rausch hatte sie eine riesige Leinwand bearbeitet. Ihre krampfhaften Versuche, die letzten Tropfen aus der Farbtube zu pressen, um ihr Werk einer schwarzen Katze zu vollenden, waren gescheitert. Hella war gezwungen, ihr Schaffen zu unterbrechen, bis sie Nachschub hatte. Zur Untätigkeit verdammt, versuchte sie vergeblich auf dem alten Sofa neben ihrer Staffelei in den Schlaf zu finden. Durch die intensive Arbeit war sie aufgewühlt und hellwach. Im Mondschein sah sie in die leuchtenden Augen der Katze ihres fast vollendeten Bildes. Andächtig lauschte sie dabei dem Zirpen der Grillen. Berauscht von der mit Farben getränkten Luft, hätte sie ihrem Werk gerne den letzten Schliff gegeben. Dieser Duft wirkte für sie wie eine Droge. Gleich am frühen Morgen beabsichtigte sie, die fehlenden Farbtöne im zehn Kilometer entfernten Konstanz bei einem kleinen Händler für Künstlerbedarf zu erstehen.

Nach einem kurzen Schlaf wurde Hella von ihrer inneren Uhr geweckt. Schläfrig linste sie auf ihr Handy und erschrak. Oje, neun Uhr! So spät schon. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Schnell zog sie sich die an den Oberschenkeln zerrissenen Jeans an. Ihre langen schwarzen Haare bändigte sie notdürftig zu einem Pferdeschwanz und erfrischte ihr Gesicht mit etwas kaltem Wasser aus dem Brunnen neben der Laube. Sie eilte die Gartentreppe hinauf zu ihrem alten Van.

In rasanter Fahrt steuerte sie ihren klapprigen Wagen von Bodman Richtung Konstanz. Sie war angetrieben von dem Wunsch, ihr Bild zu vollenden, ehe ihre Tochter um die Mittagszeit nach Hause kommen würde. Bis dahin hatte sie Zeit für ihre Kunst.

Zur Fertigstellung fehlten nur wenige Pinselstriche. Sie sah das vollendete Werk in seiner ganzen Pracht vor sich. Es war perfekt. Gedankenverloren übersah sie die blinkende Tankanzeige und blieb prompt auf halber Strecke stehen.

Typisch, urteilte sie über sich selbst. Sie atmete tief durch, als sie im Kofferraum den Reservekanister entdeckte – der leider genau so leer war wie ihr Tank. Ihr blieb keine Wahl: Sie war gezwungen, in Flip-Flops zurück in Richtung Bodman zur Tankstelle zu marschieren.

In der warmen Morgensonne verflog ihr Ärger und sie schmunzelte über sich selbst. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie endlich die Tankstation und füllte ihren Kanister. Sie freute sich auf einen kleinen Plausch mit dem Besitzer.

»Hi, Hella. Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?«

»Hi, Claudio. Ich Schussel habe vergessen zu tanken. Plötzlich blieb mein Schluckspecht auf dem Weg nach Konstanz stehen.«

»Du Arme. Du bist und bleibst halt eine Chaotin. Das macht dann dreißig Euro und sechzig Cent. Leider bin ich hier nicht abkömmlich, sonst würde ich meine Bella natürlich liebend gerne zurück zum Auto fahren.«

»Du alter Charmeur, das hätte ich ohnehin abgelehnt. Aber trotzdem danke.« Hella kramte in allen Taschen ihrer Jeans. »O nee, so ein Mist. Ich habe mein Geld vergessen.«

»Ich schreibe es dir an«, erwiderte Claudio mit einem Augenzwinkern.

»Das ist echt nett von dir.«

»Ach, Hella. Für dich würde ich fast alles tun. Das weißt du doch! Wie schade, dass ich mit meinen siebzig Jahren knapp zwanzig Jahre zu alt für dich bin.«

»Ja, wer weiß, was aus uns geworden wäre. Du bist echt ein lieber Kerl«, erwiderte Hella kokett undschenkte Claudio ein Lächeln. Sie hatte den älteren Mann ins Herz geschlossen. Notgedrungen lieh sie sich weitere dreißig Euro für den Einkauf der Farben. Zum Dank würde sie ihm eines ihrer postkartengroßen Aquarelle mit einem Oldtimer schenken. Hella war kein Mensch, der die Gutmütigkeit anderer ausnutzte. Im Gegenteil. Beschwingt lief sie zu ihrem liegengebliebenen Van zurück.

Nachdem sie ihre Farben erstanden hatte, war sie in die Villa zurückgekehrt, hatte geduscht und Claudio das geliehene Geld sowie das Bild gebracht. Die Freude des Autofreaks über das kleine Gemälde erhellte ihr Herz.

Für ihr unvollendetes Kunstwerk der Katze nahm sie sich keine Zeit mehr. Ihr war wichtiger, Alice in der Villa abzupassen. Bis dahin beabsichtigte sie, sich kurz auf dem Sofa auszuruhen.

Die Begegnung mit Alice war nicht abgelaufen wie erhofft. Die häufigen Wutausbrüche ihrer geliebten Tochter belasteten sie. Hella löste sich von den Geschehnissen des Morgens. Sie fasste sich an die Stirn und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.

Ihre Tochter war eigentlich alt genug, sich selbst einmal ums Essen zu kümmern. Aber sei’s drum. Sie hatte ihr Bestes gegeben, um sie zur Selbstständigkeit zu erziehen. In Kürze würde sie ohnehin das Haus verlassen und flügge werden. Hella graute es davor. Dann würde sie mit ihren erst knapp zweiundvierzig Jahren allein mit ihrem Freund Robert in der riesigen Villa leben. Keine verlockende Vorstellung. Ihr Partner und sie hatten sich auseinandergelebt. Es kriselte gewaltig in ihrer Beziehung.

Alice hatte sich von Anfang an nicht mit Robert verstanden. Sie mied ihn und war deshalb selten zuhause.

Hella bedauerte, ihre Tochter bald gar nicht mehr zu sehen. Die Abiturientin hatte sich für ein Studium in München beworben. Mit ihren guten Noten war ihr ein Platz fast sicher. Damit war ihr Auszug spätestens Ende des Jahres vorprogrammiert. Hella wünschte sich, die letzten Monate mit ihr möglichst harmonisch verbringen zu können.

Sie lief nach oben und klopfte an die Tür des Jugendzimmers.

»Ja, was ist?«, giftete ihre Tochter. Hella trat ein. Alice lag im Bett und schaute mit hochgezogenen Augenbrauen über den Rand ihres Mathematikbuchs.

Warmherzig lächelte Hella ihr Mädchen an. Dieses wich ihrem Blick aus und schüttelte, auf sein Schulbuch starrend, den Kopf.

»Lass mich in Ruhe. Warum nervst du? Du weißt doch, dass ich Megastress habe.« Alice schnaubte vorwurfsvoll. Kurz linste sie erneut über das Buch. In den sich verengenden katzenähnlichen Augen ihrer Mutter spiegelte sich deren aufkeimende Enttäuschung. Es gelang Alice nicht, sich zu zügeln. »Du hättest mir ruhig auch einmal was kochen können. Meine Freundin Sandra bekommt immer was vorbereitet und ihre Mama arbeitet sogar ganz normal.«

Warum ist Alice in letzter Zeit nur so abweisend? Hängt das mit ihren Prüfungen zusammen?Weshalb gelingt es uns nicht, vernünftig miteinander umzugehen?

Hella hatte ihre Tochter seit drei Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen und hatte das Wiedersehen herbeigesehnt. Wie so oft hatte Alice bei einer Freundin geschlafen, um mit ihr für die mündliche Abiturprüfung zu lernen. Die häufigen Konflikte zwischen ihr und Hellas Freund Robert trieben sie aus dem Haus. Ihren Möchtegern-Stiefvater hatte sie nie akzeptiert.

»Wir können uns doch was Leckeres besorgen und dann gemeinsam kochen«, versuchte Hella ihre Tochter zu beschwichtigen.

»Sag mal? Abgesehen davon, dass du eh nicht kochen kannst, blickst du es anscheinend echt nicht.« Alice schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Das Kochprojekt kannst du vergessen, ich muss gleich wieder weg. Mit Fabian für Mathe lernen. Ich habe es nicht so gemütlich wie du.«

Hella zupfte an ihrem linken Ohrläppchen. Eine alte Marotte von ihr. Sie kochte innerlich, zwang sich aber, gelassen zu bleiben.

»Du hast dein Abi doch schon so gut wie in der Tasche. Mach dir doch nicht so einen Druck.«

»Das geht dich nichts an. Ich will schließlich Pharmazie studieren, da kommt es auf jedes Zehntel an. Ich will nicht so enden wie du.« Alice war erschrocken über sich selbst. Sie fasste sich an die Stirn und senkte ihren schwarzen Lockenkopf. Sie verabscheute es, ihre Mutter so abfällig zu behandeln. Tief im Herzen bemitleidete sie sie.

Vor drei Wochen hatte Alice ein Telefongespräch von Robert mit dessen Freund Stefan belauscht. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihrer Mutter erst nach ihrem Abiturstress von dem Telefonat zu berichten. Robert und Mama waren seit sechs Jahren ein Paar. Aus Alice’ Sicht hatte dieser eingebildete Schnösel nie zu ihrer Mutter gepasst. Das Geheimnis lag tagelang wie ein dunkler Schleier auf ihrem Gemüt. Ihrer beider Leben würde bald wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Es war fürchterlich. Ich muss es ihr endlich sagen. Aber nicht heute. Die junge Frau liebte ihre Mama, selbst wenn es oft nicht danach aussah.

Sie war mit ihren Vorwürfen zu weit gegangen. Insgeheim bewunderte sie Hella sogar für ihre künstlerische Gabe. Sie kannte niemanden, der in der Lage war, so perfekt zu malen. Ihre Acryl- und Ölbilder bestachen durch ihren Ausdruck. Sie hatte ihren eigenen, unverwechselbaren Stil. Dennoch war es eine brotlose Kunst. Ihre Mutter verstand es nicht, sich zu vermarkten. In der Folge war sie finanziell vollkommen von diesem Egoisten und Angeber Robert abhängig. Warum war sie nur auf ihn hereingefallen?

Alice sann über ihre frühe Kindheit nach. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr hatte sie mit ihrer Mutter allein gelebt. Sie erinnerte sich an die permanenten Geldsorgen. Durch die Beziehung mit dem erfolgreichen Architekten Robert war es ihnen in den letzten Jahren finanziell besser ergangen. Alice vergegenwärtigte sich das belauschte Telefonat. Von einer Sekunde auf die andere bekam sie feuchte Augen und schluchzte.

»Ach Mama, ich war gemein zu dir.« Alice sprang vom Bett auf, schlang die Arme um ihre Mutter und drückte sie fest. »Bitte verzeihe mir. Ich bin manchmal eine Kuh.«

Hella war verletzt, haderte aber vorrangig mit sich selbst. Es existierte wahrlich kein Grund, sie zu bewundern. Alice’ Anschuldigungen fühlten sich an wie Peitschenhiebe. Die Umarmung ihrer Tochter linderte den Schmerz. So von ihr gedrückt, verflog der Impuls, ihrem Kind die Leviten zu lesen. Vielmehr genoss sie den selten gewährten Körperkontakt.

»Ich habe dich lieb«, hauchte Hella leise ins linke Ohr ihres Mädchens. Wieder drückten sie einander.

»Ich dich auch«, flüsterte Alice. Das hatte sie ihrer Mutter seit einer halben Ewigkeit nicht gesagt. Ihr Herz trommelte gegen ihre Brust. So nah war sie Hella lange nicht mehr gekommen. Es war ein wohltuender Moment, der durch Hellas Duft nach Vanille verstärkt wurde. Alice nahm sich fest vor, ihrer Mutter bald reinen Wein über das belauschte Telefonat einzuschenken. Beide kämpften mit den Tränen. Sie verharrten eine gefühlte Ewigkeit eng umschlungen.

Hella genoss die seltene Nähe zu ihrer Tochter. Das genügte ihr.

»Mama, sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt echt los.« Alice löste sich aus der innigen Umarmung und realisierte die feuchten Augen ihrer Mutter. »Bis nachher, Mama.«

»Bis später … Viel Erfolg beim Lernen«, verabschiedete Hella Alice gerührt.

Beschwingt lief Hella die steile, mit alten Birken gesäumte Sandsteintreppe zu ihrem Atelier in der Gartenlaube hinunter. Sie war voller Vorfreude, ihr Bild endlich zu vollenden. Die Abendsonne schien durch die winzigen Scheiben des Sprossenfensters und zauberte ein herrliches Licht auf ihre Leinwand. Hier, umgeben von Farben und Pinseln, war sie in ihrem Reich. Sie liebte alles an ihrem kleinen Refugium. Die Unordnung passte zu ihrem freien, künstlerischen Geist, während diesterile Villa ihre Kreativität bremste. Robert hatte in seinem Haus über fast das gesamte Interieur selbst entschieden. Alle ihre Versuche, am Einrichtungsstil etwas zu verändern, hatte er im Keim erstickt. Im Kern war sie immer eine Fremde in seiner Welt geblieben.

Im Atelier fühlte sie sich sicher. An diesem Ort konnte sie sich entfalten und war nicht die tollpatschige, lebensunfähige Hella ohne Qualifikationen für die reale harte Geschäftswelt, sondern handelte im Einklang mit sich selbst.

Sie rückte ihren Hocker vor der Leinwand zurecht. Der alte Holzboden knarzte vertraut. Eine gefühlte Ewigkeit ließ sie das nahezu vollendete Bild einer in die Ferne blickenden schwarzen Katze auf sich wirken.

Hella hatte sich eingehend mit der Mythologie der Tiere befasst. Katzen waren Einzelgänger. Sie hatte gelesen, dass sie nur in der kurzen intensiven Paarungszeit die Männchen an ihrer Seite duldeten. Beim Gedanken an dieses Verhalten lächelte sie. Hella benötigte selbst in einer intakten Beziehung Freiraum und Rückzugsmöglichkeiten. Die Gemeinsamkeiten waren verblüffend.

Im letzten Jahr hatte sie Annäherungsversuche von Robert fast immer abgelehnt. Das lag vor allem an der emotionalen Kälte zwischen ihnen. Sie war nicht der Typ Frau, der Liebe und Sex trennte. Hella lebte für sich und ihre Kunst. Mit ihrer Beziehung ohne Leidenschaft und Mitgefühl hatte sie sich abgefunden. Sie hatten nichts mehr gemeinsam. Ihr Leben plätscherte dahin.

Seit Jahren empfand sie eine Art Seelenverwandtschaft zu den nachtaktiven Katzen, die sich gerne tarnten und mit scharfen Sinnen beobachteten. Die Geschmeidigkeit der Tiere beim Laufen faszinierte sie. Hella war ebenfalls sportlich. Der Laufsport war eine weitere große Leidenschaft und Energiequelle für ihre Kunst. Bis zu ihrer Schwangerschaft war sie auf Landesebene auf der Vierhundertmeter-Strecke erfolgreich gewesen. Ihr Vater hatte sie trainiert und Hella schon in der deutschen Elite gesehen. Leider hatte sie seine ehrgeizigen Ambitionen nie befriedigen können. Seine Enttäuschung darüber hatte sie oft zu spüren bekommen.

Nach der Geburt ihrer Tochter hatte sie keine Zeit mehr für den Sport gehabt. Andere Sorgen hatten sie geplagt. Erst in den letzten Jahren hatte sie dank ihrer Freundin Eva die Freude am Laufen wiederentdeckt.

Katzen überlebten in einem permanenten Spannungsfeld zwischen Geduld und Schnelligkeit. Sie entschieden tagtäglich blitzschnell, wann sie zuschlugen und ihre Beute erlegten. Hella neigte zu Kurzschlusshandlungen, daher fiel es ihr an dieser Stelle schwer, einen Bogen zu ihrem Leben zu spannen. Sie erkannte aber, dass sie in der Kunst ähnlich einer Katze auf Beutezug geduldig sein konnte. Hella war ebenfalls nachtaktiv und malte oft stundenlang mit voller Hingabe.

In drei Nächten hatte sie im Kerzenschein mit großer Sorgfalt den ausdrucksvollen Blick der Katze aufs Papier gezaubert. Ein Foto ihres eigenen Lieblings, Black Velvet, hatte ihr als Vorlage gedient. Hella liebte ihre dreijährige Katze abgöttisch, aber Robert verabscheute Haustiere. Deshalb war Black Velvet aus der Villa verbannt worden. Die Laube und der Park waren ihr Revier. Gelegentlich tauchte ihr Liebling in der Nacht am linken Fenster des Ateliers auf und suchte Hellas Nähe. Das Tier saß dann auf dem Fenstersims und die beiden Seelenverwandten schauten einander eine Weile tief in die Augen. Diese Momente, in denen ihre grünen Augenpaare geheimnisvoll funkelten wie Smaragde, waren magisch.

Liebevoll betrachtete Hella die Fotografie und malte den grazilen Katzenköper fertig. Die hauchzart erkennbare Musterung des Fells zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Die Abendsonne schmeichelte dem Kunstwerk. Jedes Detail ihres Lieblings hatte sie genau getroffen. Hella tauchte einen dicken Pinsel in ein mit Wasser gefülltes Glas und tupfte nur minimal dunkelblaue Acrylfarbe auf. Mit schnellen Handbewegungen gestaltete sie den bis dahin komplett unbearbeiteten Hintergrund des Bildes mit angedeuteten Wellen des Meeres sowie mit großen und kleinen Wasserflecken. Ins Blau sprenkelte sie weiße Flecken. Diese wirkten wie die aufschäumende Gischt der tosenden See.

Sie liebte diese kreative Phase des Malens. Alles gelang ihr schnell. Das Wasser suchte sich scheinbar unvorhersehbar seinen Weg, aber Hella agierte erfahren. Sie reagierte instinktiv auf den Lauf der Farbe. Durch die ungleichmäßig verteilten Kleckse in den Wellenfronten erwachte das Kunstwerk zum Leben. Die an der Küste aufbrandende See der Leinwand wurde real und entführte sie ans Meer. Sie roch förmlich die salzige Luft.

Hellas Herz schlug bis zum Hals. Sie betrachtete das Bild, vor der Staffelei tänzelnd, aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Abständen. Es war perfekt. Die Signatur HeFa für Hella Fantana platzierte sie unten rechts.

Wie immer, wenn sie ein Bild vollendet hatte, fotografierte sie ihre Kunst mehrmals und postete die Aufnahmen auf verschiedenen Plattformen. Einen Wimpernschlag später erfreute sie der erste Like ihrer großen Fangemeinde. Leider waren die zahlreichen Freundinnen und Freunde im Netzwerk nicht gleichbedeutend mit vielen Käuferinnen und Käufern. Ihr letztes Kunstwerk hatte sie vor neun Wochen für zweihundertneunundneunzig Euro verkauft. Mit diesem Erlös war sie sehr zufrieden.

2

»Alice, was ist heute eigentlich los mit dir?«, fragte Alice’ Schulkamerad Fabian, nachdem sie sich zum wiederholten Male bei einem simplen Integral verrechnet hatte. »So macht es echt keinen Sinn. Ich habe das Gefühl, du bist mit deinem Kopf komplett woanders. Was ist los?«

»Du hast ja recht«, erwiderte Alice beschämt. Sollte sie sich ausgerechnet Fabian gegenüber öffnen? Sie kannte ihn kaum, er galt als Mathematikgenie und Computerfreak. Alice’ Mitschülerinnen hatten ihm den Stempel sozial inkompetenter Nerd aufgedrückt, aber sie sah das anders. Bei ihren schulischen Problemen war er immer hilfsbereit. Die Abiturientin fuhr mit ihren schlanken Fingern mehrmals durch ihr langes Haar. Das Bedürfnis, über die verfahrene Situation zuhause zu reden, war groß.

»Jetzt erzähl schon. Du kannst mir vertrauen«, ermunterte Fabian sie. Er stellte demonstrativ das Mathematikbuch in das klapprige Holzregal neben sich und schaute sie erwartungsvoll an.

Alice wandte sich ab, strich sich abermals zögernd durchs Haar.

»Robert, der Freund meiner Mutter, ist ein Spieler und hoch verschuldet. Seine Villa soll nächsten Monat zwangsversteigert werden.«

»Woher weißt du das?«

»Er hat seinem Freund Stefan am Telefon gebeichtet, dass er Mama verlassen wird. Er liebt sie nicht mehr. Ich habe das Gespräch belauscht und bin aus allen Wolken gefallen. Robert ist spielsüchtig. So hat er sich selbst bezeichnet.« Alice versagte die Stimme. Sie schaffte es nur langsam, sich wieder zu sammeln. »Zwei Jahre lang hat er eine Scheinwelt aufrecht gehalten und permanent gelogen. Statt zu arbeiten, hat er sich in Spielhallen und Casinos herumgetrieben. Nun ist er am Ende. Hat keine Chance mehr, an Geld zu kommen. Das Schlimme ist, Mama weiß das noch gar nicht«, schluchzte Alice. »Sie wird zusammenbrechen.«

»Meinst du, deine Mutter liebt Robert noch?«, fragte Fabian mit sanfter Stimme nach.

»Ich glaube nicht. Die beiden streiten immer nur, wenn sie überhaupt miteinander reden. Es wäre eh besser ohne Robert, aber … wir haben sonst nichts. Kein Zuhause. Mama hat keine Ausbildung und keine Arbeit, sie lebt völlig in ihrer eigenen Welt. Hängt die ganze Nacht im Atelier und malt, aber einbringen tun ihre Bilder auch nichts.« Alice schüttelte den Kopf und schaute auf ihre Knie, zupfte einen Fussel von ihrer dunklen Jeans. »Mein Studium in München werde ich komplett selbst finanzieren müssen und Mama … keine Ahnung, wo sie unterkommen soll. Oder ich.«

Fabian legte seine Hand auf ihren Rücken und fing an, sie zu streicheln. Ein solches Einfühlungsvermögen hätte Alice ihm nicht zugetraut. Seine zärtliche Berührung bescherte ihr unter dem dünnen Stoff ihrer Seidenbluse eine Gänsehaut. Sie genoss den wohligen Schauer. Als er seine Hand zurückzog, war Alice enttäuscht.

»Du musst mit deiner Mutter reden«, sagte Fabian ernst.

»Das sehe ich auch so. Ich finde es übrigens super, dass du dir meine Sorgen angehört hast.« Mit einem Lächeln auf den Lippen boxte sie ihm gegen die Hüfte.

Fabian errötete.

Wenig später verabschiedete Alice sich und lief den halben Kilometer zurück zur Villa. Als sie im Flur stand, hörte sie die aufgebrachten Stimmen ihrer Mutter und Roberts.

Robert baute sich vor der großen Glasfront seines Wohnzimmers auf. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Bodensee und an diesem Frühlingstag sogar auf das Panorama der Schweizer Alpen. Er kaute auf seiner Unterlippe herum und stürmte zum Wohnzimmerschrank. Hektisch riss er alle Schubladen auf und durchwühlte wortlos deren Inhalt.

»Was suchst du eigentlich wie ein Wahnsinniger?«, fragte Hella, nachdem sie sein Treiben vom Fernsehsessel aus beobachtet hatte. Nervös spielte sie an ihrem linken Ohrläppchen.

»Was wohl? Geld. Aber da kann ich wahrscheinlich lange suchen. Kein Wunder. Ihr lebt hier ja auch wie die Maden im Speck und gebt mein Geld aus.« Robert blitzte sie zornig an. Es war sein Haus. Das hatte er immer betont. Hella und Alice duldete er nur. »Wann hast du eigentlich dein letztes Bild verkauft?«

Sie hasste diese Frage. Er teilte ihr Interesse für die Kunst nicht im Geringsten, aber überhäufte sie in letzter Zeit ständig mit Vorwürfen, kein Geld einzunehmen. Vor sechs Jahren hatte Robert sie darin bestärkt, den Arbeitsplatz als Kassiererin im Supermarkt um die Ecke aufzugeben. »Das hat meine Prinzessin doch nicht nötig. Ich verdiene als Architekt mehr als genug.« So hatte er die Situation damals beschrieben.

»Was ist nur aus unserer Liebe geworden?«, erwiderte sie. Robert hatte sich im letzten Jahr kaum zuhause aufgehalten, da er angeblich geschäftlich wahnsinnig viel um die Ohren hatte. Sie hatte sich damit arrangiert und gemalt. Mit dem Alleinsein kam sie zurecht. Mittlerweile behandelten sie sich wie Fremde. Es war keine wohltuende Balance mehr zwischen Nähe und Freiheit für die eigenen Bedürfnisse. Hella fröstelte. In ihrer Beziehung war Kälte eingezogen. Sie zupfte an den Ärmeln ihres Strickpullovers und kaute auf ihren Fingernägeln herum. In Momenten wie diesem fühlte sie sich nicht wie eine Katze, weder erhaben noch unabhängig. »Du weißt genau, dass ich schon lange nichts mehr verkauft habe. Früher warst du ganz anders …«

»Früher«, unterbrach er sie harsch und lachte verächtlich. »Jetzt, wo ich dich einmal bräuchte, bekomme ich null Unterstützung.« Robert goss sich zittrig einen Whiskey ein und kippte, die Flasche in der Hand, die Hälfte des Glases hinunter. Demonstrativ vermied er den Blickkontakt und starrte durch die große Glasfront in Richtung Garten.

Zögerlich erhob Hella sich vom Sessel, stellte sich neben Robert und legte ihm ihre Hand auf den Unterarm.

Er rückte kopfschüttelnd von ihr ab.

»Rede endlich mit mir. Was ist los? Seit Wochen bist du kaum daheim.«

»Zwischen uns läuft doch sowieso nichts mehr, da muss ich auch nicht heimkommen. Du hockst ja eh nur im Atelier und vergnügst dich mit deinen bescheuerten Bildern.« Er kniff die Augen zusammen, starrte mit eiserner Miene in die Ferne und trank seinen Whiskey leer. »Du willst wissen, was los ist? Das kann ich dir sagen: Ich bin pleite.« Er knallte das dickwandige Glas auf das Fensterbrett.

Der dumpfe Ton ließ Hella zusammenzucken.

»Das Haus wird versteigert«, schrie er mit hochrotem Kopf. Eine Ader pulsierte sichtbar an seiner Schläfe.

Hella verschlug es die Sprache. Roberts Geständnis traf sie wie ein unerwarteter Donnerschlag. Sein Blick bereitete ihr Angst. Schwer atmend ließ er die Schultern hängen und sackte regelrecht in sich zusammen. Eine gefühlte Ewigkeit herrschte eisige Stille. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören.

»Du hattest doch immer extrem viel Arbeit«, brach Hella das Schweigen. »Ich dachte, du verdienst als Architekt so gut.«

»Von wegen. Ich habe seit einem halben Jahr keine Aufträge mehr bekommen, aber meine hübsche Madame hat ja keine Ahnung, was es heißt, ernsthaft zu arbeiten. Eine Künstlerin hat das ja nicht nötig.« In seiner Stimme schwang Verbitterung mit. Er sprang vom Sofa auf und schritt wutschnaubend in Richtung Wohnzimmertür. Dort prallte er fast mit Alice zusammen. Wütend blitzte er sie an. Er schubste sie mit beiden Händen energisch von sich weg. »Ihr könnt eure Koffer packen! Ich bin mit euch durch!« Mit diesen Worten stürmte er aus dem Raum. Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss. Theatralische Abgänge waren bei Robert in letzter Zeit keine Seltenheit.

Er war bankrott. In Hellas Kopf blitzte es wild durcheinander. Ihr Puls raste. Einem Zwang folgend, rannte sie an Alice vorbei ins Bad, gab fünf Spritzer Flüssigseife auf ihre Handfläche und schrubbte hektisch ihre Hände mit einer Bürste. Die harten Borsten gruben sich tief in ihre Haut. Sie biss die Zähne zusammen und zählte innerlich bis zwanzig. Langsam beruhigte sie sich und spülte die Seifenreste ab.

Nach der Durchführung ihres Waschrituals war Hella in der Lage, ihre Gedanken zu sortieren. Ihre Situation war aussichtslos. Sie schleppte sich ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. Schluchzend schlug sie sich die Hände vors Gesicht.

Alice hatte geduldig gewartet, bis das Wasserrauschen im Bad verstummt war. Sie setzte sich neben ihre Mutter und streichelte ihr beruhigend über die Haare.

»Mama, wir schaffen das schon.«

»Ja, bestimmt. Irgendwie werden wir klarkommen. Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen.«

»Sei froh, dass du diesen Vollpfosten los bist. Den kannst du doch unmöglich noch gernhaben.«

Ein leichtes Lächeln huschte über Hellas Gesicht. »Nein, nicht wirklich. Er hat sich zu einem Idioten entwickelt. Ich denke, ich habe ihn schon lange nicht mehr richtig geliebt.«

»Warum hast du dich dann nicht schon lange von ihm getrennt?«, fragte Alice mit einem Hauch Erleichterung in der Stimme.

Ihre grünen Augenpaare tauschten einen vielsagenden Blick.

»Wenn ich das so genau wüsste.« Hella fasste sich an die hohe Stirn. »Ich denke, es war Bequemlichkeit.« In diesem Moment realisierte sie, was sie bis dahin erfolgreich verdrängt hatte. Der Grund, bei ihm zu bleiben, war nicht die Angst vor dem Alleinsein gewesen, sondern die Furcht vor der Verpflichtung, allein für ihre Tochter und sich selbst zu sorgen.»Ein bisschen hat Robert schon recht. Wir haben auf seine Kosten gelebt.«

»Mama, versuch dir wegen Robert keinen Kopf zu machen. Er ist ein Ekel und hat dich nicht verdient. Hat er dir wenigstens gestanden, dass er spielsüchtig ist?«

Hella richtete sich schlagartig auf. »Er ist was?«

»Du hast schon richtig gehört. Er ist pleite, weil er mit seiner Spielsucht sein ganzes Vermögen verzockt hat.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich habe zufällig ein Telefongespräch mitgehört, in dem er es seinem Kumpel Stefan gebeichtet hat. Er hatte schon lange vor, sich von dir zu trennen.«

Hella kräuselte ihre Stirn. »Was? Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?«

Alice errötete. »Ich … ich wollte es dir sagen, aber ich habe mich einfach nicht getraut«, antwortete sie kleinlaut. »Ich weiß doch, was das für uns bedeutet. Wir müssen neu anfangen.«

»Ja. Das müssen wir«, stimmte Hella ihrer Tochter zu.

»Was soll aus uns werden? Von irgendwas müssen wir doch leben.«

»Du gehst doch studieren und ziehst aus. Das ist doch dein Wunsch und da spricht doch nichts gegen. Sicherlich bekommst du BAföG.«

»Das stimmt. Ich werde mir für mein Pharmazie-Studium ein kleines Zimmer in einer WG suchen. Mit BAföG und Aushilfsjobs werde ich das Zimmer in München schon bezahlen können. Ich mache mir ehrlich gesagt mehr Sorgen um dich als um mich.«

Hella lächelte gequält. »Das ist lieb von dir, aber mach dir wegen mir keine Gedanken. Ich werde schon irgendwie zurechtkommen, aber du wirst mir fehlen.«

»Du mir auch. Du wirst sicherlich irgendwo eine kleine Wohnung finden.«

Melancholisch starrte Hella, auf dem Sofa liegend, durch die große Glasscheibe in Richtung See. Sie hatte ein Faible für das Wasser und liebte den Bodensee normalerweise in allen Wetterlagen. Heute empfand sie den strahlenden Himmel und die geruhsame See als unpassend zu ihrem aufgewühlten Seelenzustand. Am liebsten würde sie bei ihrer Tochter bleiben, aber sie verbot sich, sie einzuengen, war ihr die Freiheit selbst doch ihr höchstes Gut.

Alice’ Augen verfolgten den Blick ihrer Mutter. »Mama, den Ausblick auf den Bodensee kannst du dir in Zukunft abschminken. Du bist über vierzig und hast keinen Beruf.« Ihr gelang es erneut nicht, sich zu bändigen. »Hättest du etwas Gescheites gelernt …«, schob sie hinterher.

Hella richtete sich auf. »Immer die gleichen Vorwürfe. Du hast keine Ahnung von meinen Talenten. Ich werde dir schon beweisen, dass ich mein eigenes Geld verdienen kann«, konterte sie scharf.

»Da bin ich gespannt«, erwiderte Alice giftig.

Hella sprang wütend vom Sofa auf. »Mach mich nur auch noch fertig. Ich ziehe mich heute Nacht ins Atelier zurück.« Mit großen Schritten verließ sie das Wohnzimmer.

Alice blieb eine Weile wie gelähmt sitzen. Mama ist allein aufgeschmissen. Was wird aus ihr? Ich bin bald weit weg. Und alles wegen ihrer Spinnerei mit ihrer Kunst.

3

Hella verkroch sich in ihrem Reich, dem Atelier. Sie öffnete die quietschende Holztür der Gartenlaube und in diesem Moment steifte ihre Katze, Black Velvet, an ihren Waden entlang. Das sensible Tier folgte ihr hinein.

Die Sonne stand tief. Durch die kleinen Sprossenfenster drang nur wenig Tageslicht herein. Hella zündete eine Kerze an. Mehr Licht hätte sie an diesem Tag nicht ertragen. Sie legte sich auf das alte azurblaue Biedermeier-Sofa, ein Überbleibsel des Vorbesitzers. Es hatte ihr schon in so manchen Nächten nach stundenlangem, leidenschaftlichen, künstlerischen Schaffen als Schlafstätte gedient. Auf dem Rücken liegend, entdeckte sie eine kleine Spinne im Dachgebälk. Das Tier hatte einen Plan. Emsig spann es weiter sein Netz. Die Falle schimmerte im Kerzenschein.

Black Velvet sprang auf Hellas Bauch und scharrte eine Weile ihren Pullover an, ehe sie sich maunzend auf sie legte. Den Kopf schmiegte das Tier an Hellas Busen. Hella kraulte ihre Katze am Hals, bevor sie dazu überging, das weiche Fell an ihrem Rücken zu streicheln. Mit jedem gleichmäßigen Schnurren entspannte Hella und fing an, über die Geschehnisse des Nachmittags nachzudenken.

Die Neuigkeiten überforderten sie. Robert hatte riesige finanzielle Probleme und beabsichtigte, sich zu trennen. Sie rügte sich, nicht mit seinem Schicksal mitzufühlen und zu versuchen, ihm aus der Spielsucht zu helfen, obwohl sie seit sechs Jahren ein Paar waren. Hella versuchte, tief in sich hineinzuhören. Es stellten sich aber weder Mitgefühl noch das Bedürfnis ein, ihn zu unterstützen.

Robert hatte sie oft herablassend behandelt. Er hatte ihr immer wieder ihre Abhängigkeit von ihm verdeutlicht. Es verletzte sie, dass er ihr Talent fürs Malen ins Lächerliche zog. Hella liebte auch den Laufsport, aber er hasste Sport. Sie hatten nichts gemeinsam. Selbst der Sex mit ihm bereitete ihr keine Freude mehr. Die anfängliche Leidenschaft war einer Routine gewichen, ihre Liebe erloschen.

Vor sechs Jahren hatten sie sich in einer Bar kennengelernt. Robert hatte den reichen Prinzen gespielt, während sie dem liebreizenden Aschenputtel ähnelte. Hella war dankbar, dass er sie ermunterte, die gleichzeitig ausgeübten Aushilfsjobs als Putzfrau, Kassiererin und Zeitungsausträgerin aufzugeben. Sie arbeitete vormittags und nachts, um nachmittags Zeit für ihre Tochter zu haben. Ständig litt sie unter Schlafmangel und war seelisch und körperlich am Ende ihrer Kräfte. Der Lohn reichte gerade so, um Alice und sich über Wasser zu halten.

Robert bestand darauf, dass sie ihre Arbeitsstellen kündigte, um Zeit für ihn, das Haus und ihr Mädchen zu haben. Sie war dankbar für diese Lösung und nahm die Rolle als Mutter, Geliebte und Hausfrau voll an. Nachdem Robert in den letzten Jahren kaum zuhause gewesen war, hatte sie sich verstärkt ihrer Kunst gewidmet. In den seltenen Stunden des Beisammenseins hatten sie sich immer weniger zu sagen gehabt und keine gemeinsamen Interessen gepflegt. Erschwerend kam hinzu, dass sich Robert und Alice von Anfang nicht verstanden hatten. Oft hatte Hella zwischen den Stühlen gestanden und versucht zu vermitteln. Zuletzt hatten Robert und sie sich zunehmend entfremdet. Sie waren sich, wann immer es möglich war, aus dem Weg gegangen. Die Trennung von ihm war somit längst überfällig gewesen. Hella schämte sich, nicht rechtzeitig selbst den Schlussstrich gezogen zu haben. Sie hatte sich zu passiv verhalten.

Das Ende ihrer Partnerschaft führte zu einer essentiellen Frage: Wie war es möglich, ihr weiteres Leben selbst zu gestalten?

Alice hatte recht. Hella hatte keine Berufsausbildung vorzuweisen und war mittellos. Nicht dass sie eine Villa für ihr Glück benötigen würde, aber ihre persönliche Bilanz fiel ernüchternd aus: Sie hatte weder Einkünfte noch eine Bleibe. Keine Perspektive.

Black Velvet unterbrach ihre düsteren Gedanken. Die Katze erhob sich von ihrem Bauch und nahm die Spinne über ihnen ins Visier. Das emsige Treiben des Tierchens hatte zum Erfolg geführt und es hatte das Netz fertiggestellt. Hella betrachtete staunend das Werk des faszinierenden Tiers, das ihm das Überleben sichern würde. Sie zog die Parallele zu ihrem Leben. Sie war ebenfalls gezwungen, sich aus eigener Kraft ein Netz zu erschaffen, das sie vor dem Abstürzen bewahren würde.

Entschlossen richtete sie den Blick nach vorn: Ihr gesamtes Hab und Gut war locker in ihrem Van unterzubringen. Den meisten Platz würde sie dabei für ihre Bilder und Farben benötigen. Sie besaß wenige Kleidungsstücke, die in einen Reisekoffer passten.

»Velvet, wir werden unsere Sachen in meinen alten Wagen packen und ans Meer ziehen. Gemeinsam werden wir uns schon durchschlagen.«

Ihr geliebtes Tier schnurrte wohlig und ließ sich voller Vertrauen am Bauch streicheln. Niemals könnte ich Velvet bei Robert zurücklassen.

Gedankenverloren betrachtete Hella ihr Werk auf der Staffelei. Die Katze am Meer thronte majestätisch auf einem Felsvorsprung. Das Tier wirkte erhaben und frei. Hella ließ sich von dem Bild in die Ferne entführen und begann von der Schönheit der Natur zu träumen.

Sie läuft einen endlos langen Strand an der Ostsee entlang. Einzelne, wiederkehrende Wellen umspielen ihre nackten Füße. Mit jedem Schritt bewegt sie sich leichter. Sie genießt versonnen den weichen Sand und lauscht dem Kreischen der Möwen.

Die Aussicht auf ein Künstlerleben in Freiheit beseelte sie. Sie schöpfte neuen Mut und Zuversicht. Ihr Traum nahm Gestalt an und drängte die Sorgen in den Hintergrund. Tief atmete sie durch, als wolle sie die frische, salzige Luft des Meeres in sich aufsaugen.

»Jetzt versuchen wir zu schlafen«, wandte sie sich an ihre schnurrende Katze. »Morgen planen wir unser Abenteuer. Wir werden es Alice schon zeigen, dass wir es auch alleine schaffen.«

Sie löschte die Kerze und verkroch sich unter ihrer Wolldecke. Im Halbschlaf drehte sich ihr Gedankenkarussell unaufhörlich um die Zukunft.

Ich verbiete mir, je wieder abhängig von einem Mann zu werden. Mein Talent für das Malen ist eine von Gott geschenkte Gabe. Ich werde es nutzen. Die Welt ist so kompliziert. Viele sind immer so hektisch. Meine Bilder sollen den Menschen Freude bringen. Sie entschleunigen. Am Meer werde ich frei sein. Ich werde von meiner Kunst leben. Dem Erfolg alles unterordnen. Verdammt, warum denke ich an meinen Vater? Alice und er sollen stolz auf mich sein. Ich darf nicht scheitern.

Erst in den frühen Morgenstunden fand Hella in den Schlaf. Wenige Stunden später erwachte sie wieder. Gerädert von der Nacht, schielte sie um zehn nach acht auf ihre Uhr. Verdammt.Jetzt aber Tempo. Sie war mit ihrer besten Freundin Eva verabredet. Sie hatten ausgemacht, sich wie jeden Samstag um neun Uhr am historischen Gebäude des Konstanzer Konzils zu treffen. Hella faszinierte dieser Ort, an dem Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts um die Zukunft der christlichen Welt gerungen worden war.

Eva und Hella kannten sich aus ihrer Schulzeit. Der Zufall hatte es gewollt, dass sie das Leben unabhängig voneinander in die Bodenseeregion geführt hatte. Seit Jahren joggten sie miteinander und erzählten sich ihre Neuigkeiten. Keinen anderen Menschen ließ Hella so an ihrem Seelenleben teilhaben, deshalb waren ihr die Vormittage mit Eva heilig. Sie rannte ins Haus und linste ins Schlafzimmer. Zu ihrer Erleichterung war Robert nicht zuhause. Im Stehen stürzte sie einen Kaffee hinunter und zog sich um. Keine halbe Stunde später parkte sie ihren Van in Konstanz.

Eva, ihres Zeichens erfolgreiche Anwältin, wartete seit zehn Minuten vor dem Konstanzer Konzil. Der Platz vor dem Gebäude war mit bunten lilienblütigen Tulpen umsäumt. Im modisch knallroten Sportoutfit trippelte Eva grazil auf der Stelle, als sie Hella völlig außer Atem auf sich zu spurten sah.

Die Freundinnen begrüßten sich mit einem flüchtigen Küsschen auf beide Wangen.

»Hi, Hella. Schön, dass du da bist. Du bist ja ganz abgehetzt.«

»Ja, ich wollte dich nicht noch länger warten lassen. Ich muss dir ganz viel erzählen.«

»Was ist passiert?«

»Das ist eine lange Geschichte. Lass uns langsam laufen, dann erzähle ich alles.«

Sie liefen am Bodenseeufer entlang, in Richtung Überlinger See. Schnell hatten beide ein gemeinsames Tempo gefunden und bewegten sich leicht und beschwingt.

Der See zeigte sich an diesem Frühlingsmorgen von seiner schönsten Seite. Die ersten Segelboote glitten gemächlich über das Wasser. Den kleinen Stadtpark hatten sie bereits hinter sich gelassen.

»Nun fang schon an und spann mich nicht weiter auf die Folter«, forderte Eva ihre Freundin auf.

»Robert und ich werden uns trennen«, fiel Hella gleich mit der Tür ins Haus und schilderte ausführlich die Geschehnisse des letzten Tages.

»Du Arme. Der hat dich nicht verdient. Sei froh, dass du ihn los bist. Was hast du jetzt vor?«

»Lach nicht, aber mein Plan ist es, mir an der Ostsee ein Leben als Künstlerin aufzubauen.«

»Was? Soll das ein Witz sein? Warum denn ausgerechnet an der Ostsee?«

»Das wollte ich doch schon immer … Außer meiner Tochter und dir hält mich hier nichts. Alice wird ohnehin bald in München studieren.«

»Aber muss es denn wirklich so weit weg sein? Du kennst da oben doch niemanden. Und Geld hast du auch keins.«

»Ich muss einfach weg. Versteh das doch. Je weiter, desto besser und die Ostsee war schon immer mein Traum.«

Eva war wie vor den Kopf gestoßen. Schweigend liefen sie weiter.

»Du wirst mir fehlen. Hast du dir das gut überlegt? Die Ostsee ist halt so verdammt weit weg von hier und natürlich auch von München und deiner Tochter.«

»Mach mir bitte kein schlechtes Gewissen. Ich habe bei Alice sowieso schon genug falsch gemacht.«

»Jetzt komm mir nicht damit! Du hast deine Tochter zwölf Jahre alleine aufgezogen und viel für sie geopfert.«

Eva hatte recht. Hella erinnerte sich an die Zeit voller Entbehrungen mit den gleichzeitig ausgeübten Jobs. All das hatte sie auf sich genommen, um ein besseres Leben für Alice und sich zu ermöglichen.

Nach ihrem gemächlichen Lauf aßen die beiden einen Salat in einem Biergarten direkt am Konstanzer Hafen. In der warmen Frühlingssonne beratschlagten die Freundinnen, wie das Leben als Camperin am besten zu bewältigen war. Eva gab Hella den Tipp, sich im Internet über die Ausbaumöglichkeiten ihres Vans zu informieren. Ihr Caddy war nicht der erste Kastenwagen, der zur fahrbaren Kleinstwohnung umfunktioniert worden war.

Zuhause angekommen, stürzte Hella sich aufgeregt in die Recherche. Sie hatte feuchte Hände, als sie den Laptop aufklappte und in die Suchmaschine die Begriffe Video, Ausbau und Caddy eingab. Hektisch klickte sie sich durch die zahlreichen Suchergebnisse. Beeindruckt war sie von einem Handwerker, der zunächst seinen Wagen vermaß, mit scheinbarer Leichtigkeit in Windeseile passende Bretter zurechtsägte, verleimte und schließlich als Möbelelemente passgenau einbaute. Neugierig rief sie das nächste Video auf. Eine rothaarige junge Frau stellte sich als Weltenbummlerin vor. Sie präsentierte stolz ihr ausgebautes Gefährt, mit dem sie bereits halb Europa bereist hatte.