Helle Nächte - Fjodor M. Dostojewski - E-Book

Helle Nächte E-Book

Fjodor M. Dostojewski

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Beschreibung

Eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur. "Es war eine wundervolle Nacht, eine solche Nacht, wie sie vielleicht nur vorkommen kann, wenn wir jung sind, liebe Leser." Ein junger Mann trifft eines Nachts in Sankt Petersburg ein weinendes junges Mädchen namens Nastenka, die verzweifelt die Rückkehr ihres Geliebten erwartet. Er spricht sie an, woraus eine Freundschaft und im Lauf der folgenden Nächte eine zarte Liebe entsteht. Sie treffen sich jede Nacht am selben Ort zur gleichen Zeit und sprechen über ihr bisheriges Leben. Der junge Mann und Nastenka lernen sich in der Zwischenzeit immer besser kennen und schließlich lieben. Doch während seine Liebe immer stärker wird, muss sie sich entscheiden zwischen ihm und ihrer großen Liebe.

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Seitenzahl: 145

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Fjodor M. Dostojewski

Helle Nächte

Eine Liebesgeschichte

Reese Verlag

Inhaltsverzeichnis
Helle Nächte
Die erste Nacht
Die zweite Nacht
Nastenkas Lebensgeschichte
Die dritte Nacht
Die vierte Nacht
Der Morgen
Über den Autor
Impressum
Hinweise und Rechtliches
E-Books im Reese Verlag (Auswahl):

Helle Nächte

Vielleicht erschuf ihn die Natur,

Damit, ob auch ein Weilchen nur,

Er deinem Herzen nahe stände? ...

Die erste Nacht

Es war eine wundervolle Nacht, eine solche Nacht, wie sie vielleicht nur Vorkommen kann, wenn wir jung sind, lieber Leser. Der Himmel war so voller Sterne und Helligkeit, daß man sich bei seinem Anblicke unwillkürlich fragen mußte: können denn wirklich unter einem solchen Himmel allerlei ärgerliche, launische Menschen leben? Das ist nun ebenfalls eine jugendliche Frage, lieber Leser, eine sehr jugendliche Frage; aber möge Gott sie recht oft Ihrer Seele eingeben! ... Da ich soeben von allerlei launischen, ärgerlichen Menschen sprach, konnte ich nicht umhin, mich auch an das wohlgesittete Benehmen zu erinnern, das ich diesen ganzen Tag über bewiesen habe. Vom frühen Morgen an quälte mich eine eigentümliche Art von Schwermut. Es kam mir auf einmal so vor, als ob alle mich einsam dastehenden Menschen verließen und sich von mir lossagten. Natürlich ist jedermann berechtigt zu fragen: wer sind denn diese alle? Denn es sind schon acht Jahre, daß ich in Petersburg wohne, und doch habe ich es nicht verstanden, auch nur eine einzige Bekanntschaft anzuknüpfen. Aber wozu brauche ich auch Bekanntschaften? Auch ohne das ist mir ganz Petersburg bekannt; und das ist auch der Grund, weswegen es mir so vorkam, als ob mich alle verließen, da ganz Petersburg sich plötzlich aufmachte und in die Sommerfrische fuhr. Es war mir eine schreckliche Empfindung, so allein zurückzubleiben, und ganze drei Tage lang irrte ich in tiefer Schwermut durch die Stadt und begriff absolut nicht, was mit mir vorging. Mag ich auf den Newski-Prospekt oder in den Sommergarten gehen oder auf der Uferstraße hin und her wandern: nirgends auch nur eine einzige von den Personen, die ich das ganze Jahr über an ein und derselben Stelle zu bestimmter Stunde zu treffen gewohnt gewesen bin. Sie kennen mich natürlich nicht; aber ich meinerseits kenne sie. Ich kenne sie genau; ich habe beinahe ihre Physiognomien studiert und blicke sie mit Freuden an, wenn sie vergnügt sind, und werde mißmutig, wenn sie trübe aussehen. Ich habe beinahe Freundschaft geschlossen mit einem alten Manne, dem ich tagtäglich zu bestimmter Stunde an der Fontanka begegne. Er hat ein so würdevolles, nachdenkliches Gesicht; immer flüstert er etwas vor sich hin und gestikuliert mit der linken Hand, während er in der rechten einen langen, knotigen Stock mit goldenem Knopfe hält. Er ist sogar schon auf mich aufmerksam geworden und nimmt an mir inneren Anteil. Wenn es sich so trifft, daß ich zu der bestimmten Stunde nicht an eben derselben Stelle der Fontanka bin, so bin ich überzeugt, daß er mißmutig wird. Aus diesem Grunde grüßen wir einander manchmal beinahe, namentlich wenn wir uns beide in guter Stimmung befinden. Neulich, als wir uns ganze zwei Tage lang nicht gesehen hatten und uns am dritten begegneten, waren wir nahe daran, an die Hüte zu greifen; aber zum Glück besannen wir uns noch rechtzeitig, ließen die Hände wieder sinken und gingen mit lebhaft interessierter Miene aneinander vorüber. Auch die Häuser sind mir bekannt. Wenn ich so einhergehe, kommt gleichsam jedes auf der Straße auf mich zugelaufen, sieht mich mit allen seinen Fenstern wie mit Augen an und sagt ordentlich: »Guten Tag; wie befinden Sie sich? Ich meinerseits bin, Gott sei Dank, gesund, und im Mai bekomme ich noch eine neue Etage aufgesetzt.« Oder: »Wie geht es Ihnen? Mich fängt man morgen an zu reparieren.« Oder: »Ich wäre beinah abgebrannt und habe dabei einen gewaltigen Schreck bekommen« und so weiter. Ich habe unter ihnen meine Lieblinge und nahen Freunde; eines von ihnen beabsichtigt, in diesem Sommer eine Kur bei einem Baumeister durchzumachen. Ich werde absichtlich alle Tage herangehen, damit man mir das Häuschen nicht etwa gar versehentlich zu Tode kuriert; Gott beschütze es!... Aber nie werde ich die Geschichte vergessen, die mit einem allerliebsten, hellrosa Häuschen passierte. Das war ein so nettes steinernes Häuschen, und es blickte nach mir so freundlich und nach seinen plumpen Nachbarn mit einem solchen Stolze hin, daß mein Herz sich freute, sooft ich daran vorbeikam. Da ging ich in der vorigen Woche auf der Straße vorbei, und als ich meinen Freund ansah, hörte ich den kläglichen Ausruf: »Sie haben mich gelb angestrichen!« Die Bösewichter! Die Barbaren! Nichts hatten sie verschont, weder die Säulen noch die Gesimse, und mein Freund war so gelb geworden wie ein Kanarienvogel. Ich bekam bei diesem Anblick beinah einen Gallenerguß, und noch bis heute habe ich es nicht über mich gewinnen können, mein entstelltes armes Häuschen wieder anzusehen, das man mit der Farbe des Himmlischen Reiches angestrichen hat.

Nun werden Sie also verstehen, verehrter Leser, auf welche Weise ich mit ganz Petersburg bekannt bin.

Ich habe schon gesagt, daß mich ganze drei Tage lang eine Unruhe quälte, bis ich endlich die Ursache derselben erriet. Auf der Straße war mir nicht wohl (dieser war nicht da, und jener war nicht da; wo mochte der und der geblieben sein?), und auch zu Hause fühlte ich mich unbehaglich. Zwei Abende quälte ich mich ab mit der Frage: Was fehlt mir in meinem Kämmerchen? Warum ist mir der Aufenthalt in ihm so unangenehm? Und mit verständnisloser Verwunderung betrachtete ich meine grünen, verräucherten Wände und die mit Spinnweben behangene Decke (diese Spinnweben hat Matrjona mit großem Erfolge kultiviert); ich musterte mein ganzes Meublement und besah jeden Stuhl in dem Gedanken, ob da vielleicht der Schaden stecke (denn sowie bei mir auch nur ein Stuhl nicht so steht, wie er gestern gestanden hat, fühle ich mich unbehaglich); ich blickte nach dem Fenster - aber alles war vergebens; es wurde mir nicht leichter zumute! Ich ließ mir sogar beikommen, Matrjona zu rufen und ihr in väterlichem Tone Vorhaltungen zu machen wegen der Spinnweben und überhaupt wegen der Unordnung; aber sie sah mich nur erstaunt an und ging, ohne ein Wort zu antworten, hinaus, so daß die Spinnweben noch heute wohlbehalten an ihrem Platze hängen. Endlich, erst heute morgen, bin ich auf den wahren Grund meiner Mißstimmung verfallen: sie reißen mir alle aus nach ihren Landhäusern! Der Leser verzeihe den vulgären Ausdruck; aber es ist mir nicht danach zumute, Wendungen des höheren Stils zu suchen. Denn alles, was nur in Petersburg war, war entweder schon aufs Land gefahren oder war im Begriff, es zu tun; und jeder respektable Herr von solidem Äußern, der sich eine Droschke nahm, verwandelte sich in meinen Augen sogleich in einen achtbaren Familienvater, der nach Erledigung seiner täglichen dienstlichen Obliegenheiten sich ohne Gepäck in den Schoß seiner Familie auf das Land begibt; und jeder Passant machte jetzt schon eine ganz besondere Miene, die jedem Begegnenden zu sagen schien: »Ich bin nur noch ein kleines Weilchen hier, meine Herren; in zwei Stunden fahre ich aufs Land.« Wenn sich ein Fenster öffnete, an welchem vorher feine Fingerchen, weiß wie Zucker, herumgetrommelt hatten, und ein hübsches Mädchen ihr Köpfchen herausstreckte und einen Hausierer mit Topfblumen anrief, dann bildete sich bei mir sofort die Vorstellung, diese Blumen würden nicht gekauft, damit man ihre blühende Frühlingspracht in der stickigen Stadtwohnung genösse, sondern die ganze betreffende Familie werde baldigst nach einem Landhause übersiedeln und die Blumen mit hinausnehmen. Ja, ich hatte schon solche Fortschritte in meiner neuen Spezialität von Entdeckungen gemacht, daß ich bereits irrtumslos nach dem bloßen Ansehen bestimmen konnte, in was für einer Sommerfrische ein jeder wohne. Die Bewohner der Kamenny-Insel und der Aptekarski-Insel oder der Orta am Wege nach Peterhof zeichneten sich durch studierte, elegante Manieren, durch stutzerhafte Sommeranzüge und durch die schönen Equipagen aus, in denen sie nach der Stadt fuhren. Die Bewohner Pargolowos und der dort weiterhin gelegenen Ortschaften imponierten gleich auf den ersten Blick durch ihr verständiges, gesetztes Wesen; die Bewohner der Krestowski-Insel zeichneten sich durch ihre ruhige, heitere Miene aus. Manchmal begegnete ich einer langen Prozession von Fuhrleuten, die mit den Zügeln in der Hand lässig neben ihren Wagen dahingingen; diese waren mit ganzen Bergen von allerlei Möbeln, Tischen, Stühlen, türkischen und nicht-türkischen Sofas und sonstigen Sachen beladen, und ganz oben, auf dem Gipfel der Ladung, saß oft eine kränkliche Köchin, die die Habe ihrer Herrschaft wie ihren Augapfel hütete; oder ich betrachtete auch die schwer mit Hausrat beladenen Kähne, die auf der Newa oder der Fontanka nach dem Schwarzen Flüßchen oder den Inseln hinabglitten: dann verzehnfachten und verhundertfachten sich die Fuhren und Kähne in meinen Augen; es schien mir, als hätte sich die ganze Bevölkerung aufgemacht und wäre in ganzen Karawanen auf der Wanderung nach den Landhäusern; es schien mir, als drohe ganz Petersburg sich in eine Einöde zu verwandeln, so daß mich schließlich ein Gefühl der Scham, der Kränkung und der Trauer überkam; denn ich hatte schlechterdings keine Möglichkeit, irgendwohin in die Sommerfrische zu fahren. Ich wäre ohne weiteres bereit gewesen, mit jeder Fuhre mitzufahren, oder auch mit jedem Herrn von respektablem Äußern, der sich eine Droschke nahm; aber keiner, kein einziger lud mich ein; es war, als hätten mich alle vergessen, als wäre ich ihnen tatsächlich ein Fremder!

Ich wanderte viel und lange umher, so daß ich meiner Gewohnheit nach schon vergessen hatte, wo ich war, als ich mich auf einmal bei einem Schlagbaum wiederfand. Plötzlich wurde mir fröhlich zumute; ich passierte den Schlagbaum, ging zwischen besäten Feldern und Wiesen dahin, verspürte keine Müdigkeit, sondern hatte nur in meinem ganzen Wesen die Empfindung, daß mir gleichsam eine Last von der Seele fiel. Alle Vorüberfahrenden sahen mich so freundlich an, beinah als ob sie mich grüßen wollten; alle waren über irgend etwas erfreut; alle ohne Ausnahme rauchten Zigarren. Und ich war so froh, wie ich es noch in meinem ganzen Leben nicht gewesen war. Gerade wie wenn ich plötzlich nach Italien versetzt wäre, so stark wirkte die Natur auf mich, den halbkranken Städter, der in den Mauern der Stadt beinah erstickt war.

Es liegt etwas unaussprechlich Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn sie beim Herannahen des Frühlings auf einmal ihre ganze Macht, alle ihr vom Himmel gegebenen Kräfte an den Tag legt, sich belaubt und sich mit bunten Blumen schmückt... Sie erinnert mich unwillkürlich an ein sieches, kränkliches Mädchen, das man manchmal voller Mitleid, manchmal mit einer Art von bedauernder Liebe ansieht, manchmal auch einfach nicht beachtet, das aber plötzlich, in einem Augenblick, ganz unerwarteterweise unaussprechlich, wundervoll schön wird, so daß man sich, überrascht und entzückt, unwillkürlich fragt: Welche Macht hat diese traurigen, melancholischen Augen dazu gebracht, mit solchem Feuer zu leuchten? Was hat das Blut in diese blassen, hageren Wangen getrieben? Was hat diese zarten Gesichtszüge mit dem Ausdrucke der Leidenschaft übergossen? Wovon hebt sich diese Brust so? Woher kommt es, daß das Gesicht des armen Mädchens sich auf einmal mit Kraft und Leben und Schönheit erfüllt hat und von einem solchen Lächeln strahlt und von einem so prächtigen, funkensprühenden Lachen belebt ist? Man schaut sich ringsum und sucht den Zauberer und stellt Vermutungen auf ... Aber der Augenblick geht vorüber, und vielleicht begegnet man schon morgen wieder demselben melancholischen, zerstreuten Blicke wie früher, demselben blassen Gesichte, derselben Ergebung und Schüchternheit in den Bewegungen; ja, man entdeckt in diesem Gesichte sogar einen Ausdruck von Reue, die Spuren eines tödlichen Grames und Verdrusses über die kurzwährende Schwärmerei ... Und man bedauert, daß die momentane Schönheit so schnell, so unwiederbringlich dahingewelkt ist und ihren Glanz vergebens entfaltet hat; man bedauert es schon deswegen, weil man nicht einmal Zeit gehabt hat, sie liebzugewinnen ... Und doch war meine Nacht noch besser als der Tag! Das ging folgendermaßen zu:

Ich kehrte erst sehr spät in die Stadt zurück, und es schlug bereits zehn, als ich mich meiner Wohnung näherte. Mein Weg führte mich am Kai des Kanals entlang, wo man um diese Stunde keiner Menschenseele begegnet. Es ist wahr, ich wohne in einem weit abgelegenen Stadtteile. Ich ging und sang; denn wenn ich glücklich bin, summe ich unbedingt etwas vor mich hin, wie das jeder glückliche Mensch tut, der keine Freunde und keine guten Bekannten besitzt und in Augenblicken der Freude niemanden hat, mit dem er seine Freude teilen könnte. Auf einmal stieß mir ein ganz unerwartetes Abenteuer zu.

Zur Seite, an das Geländer des Kanals gelehnt, stand eine weibliche Gestalt; mit den Ellbogen auf das Gitter gestützt, blickte sie anscheinend sehr aufmerksam auf das trübe Wasser. Sie trug ein allerliebstes gelbes Hütchen und eine kokette schwarze Mantille. »Das ist ein junges Mädchen, und gewiß eine Brünette«, dachte ich. Sie schien meine Schritte nicht zu hören und rührte sich nicht einmal, als ich mit angehaltenem Atem und stark pochendem Herzen vorbeiging. »Seltsam!« dachte ich; »gewiß ist sie tief in irgendwelche Gedanken versunken«; aber plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich hörte ein dumpfes Schluchzen. Ja! Ich hatte mich nicht geirrt: das junge Mädchen weinte, und einen Augenblick darauf wiederholte sich das Schluchzen mehrmals. Mein Gott! Das Herz zog sich mir krampfhaft zusammen. Und wie schüchtern ich auch sonst dem weiblichen Geschlechte gegenüber bin, so war dies doch ein derartiger Augenblick, daß mich meine Schüchternheit verließ. Ich wandte mich um, trat zu ihr hin und hätte zweifellos mit den Worten »Meine Gnädige!« begonnen, wenn ich nicht gewußt hätte, daß diese Anrede schon tausendmal in allen russischen Romanen vorgekommen ist, die in der vornehmen Welt spielen. Dies allein war’s, was mir die Zunge lähmte. Aber während ich nach einem Worte suchte, kam das Mädchen aus ihrer Versunkenheit wieder zu sich, blickte um sich, wurde sich ihrer Lage bewußt, schlug die Augen nieder, schlüpfte an mir vorbei und eilte am Gitter entlang. Ich ging sogleich hinter ihr her; aber sie merkte es, verließ die Uferseite, ging quer über die Straße und setzt dort ihren Weg auf dem Trottoir fort. Ich wagte nicht, ebenfalls die Straße zu überschreiten. Mein Herz schlug so heftig wie das eines gefangenen Vögelchens. Auf einmal kam mir ein Zufall zu Hilfe.

Gegenüber auf dem Trottoir erschien plötzlich nicht weit von meiner Unbekannten ein Herr im Frack, schon in gesetzten Jahren, aber mit unsicherem Gange. Er ging schwankend und stützte sich vorsichtig gegen die Häuser. Das junge Mädchen aber schritt, so schnell sie nur irgend konnte, eilig und ängstlich dahin, wie eben alle jungen Mädchen zu gehen pflegen, die nicht wünschen, daß sich jemand erbiete, sie in der Nacht nach Hause zu begleiten, und der schwankende Herr hätte sie sicherlich nicht eingeholt, wenn mein Schicksal ihm nicht den Gedanken eingegeben hätte, zu einem künstlichen Mittel zu greifen. Auf einmal, ohne ein Wort zu sagen, setzte mein Herr sich in Galopp und rannte spornstreichs meiner Unbekannten nach. Sie lief wie der Wind; aber der taumelnde Herr kam ihr immer näher, erreichte sie, das junge Mädchen schrie auf - und ... ich segne das Schicksal für den vortrefflichen Knotenstock, der sich diesmal zufällig in meiner rechten Hand befand. Im Nu war ich auf dem gegenüberliegenden Trottoir; im Nu begriff der ungebetene Kavalier, wie die Sache stand, würdigte das unwiderlegliche, in meinem Stocke verkörperte Argument, verstummte und blieb zurück; und erst als wir schon sehr weit von ihm entfernt waren, protestierte er in ziemlich kräftigen Ausdrücken gegen meine Einmischung. Aber seine Worte drangen kaum mehr zu uns.

»Geben Sie mir Ihren Arm«, sagte ich zu meiner Unbekannten; »dann wird er nicht mehr wagen, Sie zu belästigen.«

Sie reichte mir schweigend ihren Arm, der noch vor Aufregung und Angst zitterte. Oh, du ungebetener Kavalier! wie segnete ich dich in diesem Augenblicke! Ich richtete einen flüchtigen Blick auf sie; sie war sehr hübsch und brünett; das hatte ich richtig erraten. An ihren schwarzen Wimpern glänzten noch ein paar Tränchen, ob von der soeben durchgemachten Angst oder von dem vorhergehenden Kummer, das weiß ich nicht. Aber auf ihren Lippen schimmerte schon ein Lächeln. Sie blickte ebenfalls verstohlen nach mir hin, errötete ein wenig und schlug die Augen nieder.

»Sehen Sie wohl, warum haben Sie vorhin nichts von mir wissen wollen? Wenn ich bei Ihnen gewesen wäre, so würde nichts passiert sein.«

»Aber ich kannte Sie ja nicht; ich dachte, daß Sie ebenfalls ...«

»Kennen Sie mich denn etwa jetzt?«

»Doch ein wenig. Sehen Sie, zum Beispiel, warum zittern Sie?«

»Oh, Sie haben es gleich von vornherein erraten!« antwortete ich, ganz entzückt darüber, daß meine Begleiterin einen so klugen Kopf hatte; das ist neben der Schönheit kein Schaden. »Ja, Sie haben es auf den ersten Blick erraten, mit wem Sie es zu tun haben. Es ist ganz richtig, ich bin Frauen gegenüber schüchtern und befinde mich, das leugne ich nicht, in ebenso großer Aufregung wie Sie selbst vor einem Augenblick, als dieser Herr Sie erschreckte. Ich bin jetzt ordentlich erschrocken. Es ist mir wie ein Traum; aber nicht einmal im Traume hätte ich geglaubt, daß ich jemals mit einem weiblichen Wesen sprechen würde.«

»Wie? Wirklich?«

»Ja, wenn mein Arm zittert, so kommt das daher, daß noch nie ein so hübsches kleines Ärmchen auf ihm geruht hat wie das Ihrige. Ich bin des Umganges mit Frauen ganz entwöhnt; das heißt, ich bin nie daran gewöhnt gewesen; ich stehe eben ganz allein da ... Ich weiß nicht einmal, wie man mit Frauen sprechen muß. Sehen Sie, auch jetzt weiß ich nicht, ob ich nicht zu Ihnen irgendeine Dummheit gesagt habe. Sagen Sie es mir geradeheraus; ich versichere Sie, ich bin nicht empfindlich ...«