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Helle und die kalte Hand E-Book

Judith Arendt

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Beschreibung

Der zweite Fall von Dänemarks sympathischster Ermittlerin  Der Herbst hält EInzug in Skagen und vertreibt die letzten Sommergäste. Helle Jespers, Leiterin der örtlichen Polizeistation, sehnt sich nach mehr Zeit und weniger Trubel. Doch die Ruhe währt nur kurz, denn in der Nähe der beliebten Wanderdüne Rabjerg Mile wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Laut Obduktion stammt sie offenbar aus dem südostasiatischen Raum. Doch niemand scheint sie zu vermissen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie sich illegal in Dänemark aufhielt. Helle Jespers ist fest entschlossen, den ersten Mordfall in ihrer Gemeinde aufzuklären, und stößt dabei auf die Saschattenseiten der scheinbar so offenen dänischen Gesellschaft. 

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Seitenzahl: 373

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Judith Arendt

Helle und die kalte Hand

Der zweite Fall für Helle Jespers

Kriminalroman

Atlantik

For Ayuna og Oliver, tak

Der Flugsand hat die mächtigen Gewölbe überdeckt,

Dünenweißdorn und wilde Rosen wachsen über die Kirche hin,

über die der Wanderer jetzt zum Turm hinschreitet, der,

ein riesiger Leichenstein auf dem Grabe,

aus dem Sande emporragend, meilenweit zu sehen ist;

keinem Könige setzte man einen prächtigeren Stein.

Niemand stört die Ruhe der Toten;

niemand wusste es, und auch niemand weiß es,

erst jetzt kennen wir sein Grab – der Sturm hat mir in den Sanddünen davon gesungen.

Hans Christian Andersen,

Eine Geschichte aus den Sanddünen, 1859

Råbjerg Mile

Im März, Außentemperatur 12 Grad

»Steig ein!«

Das Auto bremste neben ihr, der junge Mann hielt die Beifahrertür auf.

Sie kannte ihn. Es war keine schöne Erinnerung. Der Fahrer beugte sich nun ebenfalls hinüber, und auch ihn erkannte sie. Er sagte etwas, sie verstand ihn nicht. Sie schüttelte den Kopf und ging weiter.

Das Auto rollte langsam neben ihr die Straße entlang. Die Männer redeten auf sie ein. Schließlich bremste der Wagen, der junge Mann stieg aus und lief hinter ihr her. Er packte sie am Arm, aber sie riss sich los. Lief schneller. Gerade noch hatte ein anderes Auto sie überholt, aber nun war es weg und weit und breit kein anderes in Sicht.

Weil sie den Bus verpasst hatte, musste sie nach Skagen laufen. Es war kein schöner Weg, und er war weit, führte an der Straße entlang und durch die Dünen, in denen lediglich ein paar versprengte Kiefern standen.

Die Jacke war zu dünn, sie fror. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass dieses Land so schrecklich kalt sein würde. Seit ihrer Ankunft fror sie. Ständig blies ein Wind. Wie hielten die Menschen das nur aus?

Der junge Mann lief hinter ihr her und hatte sie rasch eingeholt. Er packte sie an beiden Armen, nicht besonders fest, aber sie spürte doch, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Er redete auf sie ein, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht zurückgebracht werden. Sie hatte sich entschlossen, zur Polizei zu gehen, und wollte sich nicht davon abbringen lassen. Aber sie wusste, dass sie gegen die Männer keine Chance hatte, und sie wusste, dass sie hier waren, um sie zurückzubringen.

Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein, hielt schließlich neben ihr mit laufendem Motor, und der junge Mann schubste sie auf den Rücksitz. Er nahm neben ihr Platz, und kaum hatte er die Autotür zugezogen, gab der Fahrer Gas.

Die Männer lachten, aber es war kein Lachen, das ihr die Angst nahm.

Fröstelnd schlang sie die Arme um den Oberkörper und presste die Beine zusammen.

»Home!«, sagte der Mann am Steuer nun zu ihr. Sie sah seine Augen im Rückspiegel. Er versuchte zu lächeln.

»We drive you home«, versuchte er noch einmal, sich ihr auf Englisch verständlich zu machen.

Sie nickte stumm. Was sollte sie auch sagen? Dass sie auf dem Weg zur Polizei war, um alles auffliegen zu lassen? Das wäre ihr nicht gut bekommen. Also schwieg sie. Sie würde es wieder versuchen. Wieder und wieder.

Die Männer fuhren mit ihr die Straße entlang, die zum Haus führte. Aber sie wusste, dass diese Männer nicht dafür bekannt waren, besonders hilfsbereit zu sein. Nicht zu ihresgleichen jedenfalls. Sie hatte Geschichten gehört.

Filipe konnte nichts dafür. Ihr Schwager hatte sicherstellen wollen, dass sie in Sicherheit war. Er wollte ihr helfen. Hätte er gewusst, was hier geschah, er hätte sie angefleht, zu Hause zu bleiben. Zu Hause in Luzon.

Warum musste sie nach Europa fliehen? Warum hätte sie nicht nach Indonesien gehen können? China, Malaysia, ganz egal, einfach nur weg aus ihrem Heimatland? Im Nachhinein wusste man es immer besser. Jetzt wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, nach Europa zu gehen. Alle zurückzulassen.

Besonders ihre geliebte Schwester.

Und so, wie die Dinge lagen, war es ihr besser ergangen als manch anderer. Das Kind war ein Schutz. Das war es schon auf der Überfahrt gewesen. Manche Männer hatten Respekt vor einer Mutter.

Aber nicht alle, dachte sie müde und beobachtete aus den Augenwinkeln ihre zwei Begleiter. Was waren sie? Entführer? Bewacher?

Sie hielt sich an dem Gedanken fest, dass die beiden es nicht wagen würden, sich an ihr zu vergreifen. Dafür war die Blonde zu mächtig. Die Blonde hatte ihre schützende Hand über sie und den Kleinen gebreitet, das glaubte sie zu wissen. Deshalb war sie zu dem Ehepaar gekommen. Am Anfang hatte sie sich glücklich geschätzt, die anderen Mädchen hatten es weitaus schlechter getroffen als sie. Aber dann …

Plötzlich setzte der Mann den Blinker. Sie hatten die große Kreuzung erreicht, und der Weg zum Haus führte nach links, nicht nach rechts.

Panik stieg in ihr hoch. Der junge Mann neben ihr bemerkte ihre Nervosität, er legte eine Hand auf ihr Knie und sagte etwas, das sie nicht verstand. Diese verfluchte Sprache.

Sie hasste die Sprache, sie hasste das Land, sie hasste die Kälte, den Wind und die Menschen.

Was in aller Welt hatte sie hierhergetrieben? Warum hatte niemand ihr gesagt, wie es in Wirklichkeit war, warum hatte sie sich das Falsche in den Kopf gesetzt?

Sie kannte die Antwort.

Ein Reh lief plötzlich aus dem Wäldchen am Straßenrand auf die Fahrbahn. Es war weit genug weg, dass der Fahrer es noch rechtzeitig sah und heftig bremste. Der Wagen schlingerte, sie wurden nach vorn geschleudert, der Mann neben ihr nahm seine Hand von ihrem Knie und stützte sich am Vordersitz ab.

Der Fahrer fluchte, der Wagen stand nun quer auf der Straße, das Reh war mit einem großen Satz davongesprungen.

Ohne nachzudenken, öffnete sie die Autotür, rollte aus dem Wagen und lief über die andere Straßenseite in den lichten Kiefernwald. Dahinter konnte sie die langgestreckte Düne erkennen.

Sie rannte, wie von Dämonen gejagt, womit hatte sie das verdient? Sie hatte Sicherheit gewollt, für sich und ihr Kind, aber es war alles noch schlimmer geworden, und jetzt waren sie hinter ihr her.

Dämonen.

Sie wagte einen Blick zurück über die Schulter. Die Männer schienen sich uneins zu sein, ob sie ihr folgen sollten oder nicht, jedenfalls konnte sie sehen, dass die beiden noch auf der Straße am Auto standen und stritten.

Sie blickte wieder nach vorne, versuchte, sich zu orientieren. Hier war sie schon einmal gewesen, das wusste sie, sie hatten einen Ausflug gemacht. Weit dort hinten war das Meer und davor die Kirche.

Es war kein guter Ort, das hatte sie gespürt, als sie hier gewesen waren. Es herrschten Erdgeister tief im Sand. Sie hatte es unter ihren Füßen gespürt, damals, der Sand war tückisch, er vibrierte, und sie wusste, dass hier Geister und Dämonen lebten, die älter und mächtiger waren als die Menschheit. Sie wusste es, weil sie diese Wesen von zu Hause kannte.

Die Geister, die im Wasser lebten und die die Fischer zu besänftigten suchten, indem sie ihnen einen Teil des Fangs opferten.

Die Geister, die im Wald lebten, auf den Bäumen, sie sprangen herab und verbissen sich in die Kehlen der Menschen.

Oder die Dämonen der Luft, die sich durch schlechten Atem bemerkbar machten, sie drangen durch die Poren in die Menschen ein und nahmen von ihnen Besitz. So jedenfalls hatte es ihre Mutter erzählt und ihre Großmutter, und sie glaubte es.

Sie hatte Menschen gesehen, die von Dämonen besessen waren, auch hier in Dänemark.

Einer der Männer brüllte ihr etwas hinterher, und die Stimme war nah. Sie folgten ihr.

Jetzt wagte sie es nicht mehr zurückzublicken.

Stattdessen rannte sie noch schneller.

Die Kirche kam immer näher, sie sah den gestuften Turm, der sich wie ein düsterer Schatten gegen den Himmel abhob. Aber sie wollte keinen Schutz in der Kirche suchen, die Kirche war kein Haus Gottes mehr, Gott hatte diese Kirche verlassen, weil die Dämonen ihn besiegt hatten.

Stattdessen überließ er die Mauern der Kirche dem Sand. Das war kein Zufluchtsort für sie, sie musste weiter, immer weiter. Sie bog ab von dem Weg, der zur Kirche führte. Sie wollte die breite Düne überqueren und zum Meer.

In ihrem Rücken spürte sie die Gegenwart der Männer. Sie konnte sie nicht hören, sie hörte nur das Pulsieren des Blutes in ihren Ohren, ihren Atem, der schwer und stoßweise aus ihr hervorbrach, ein ängstliches Wimmern dann und wann.

Sie verlor ihren Schuh, einen flachen Ballerina, doch davon ließ sie sich nicht aufhalten, sie musste schneller sein.

Der Sand war eiskalt, im ersten Moment glaubte sie, die Füße frören ihr ab. Sie dachte an den warmen, trockenen und weichen Sand ihrer Heimat, die weiße Decke, die jemand in der gleißenden Sonne ausgebreitet hatte wie ein feines Tuch.

Es war mühsam, im tiefen Sand zu laufen. Warum bloß war sie hierhergeflüchtet?

Es war das Meer, dachte sie jetzt, während sie rannte, rannte, rannte. Die Lungen stachen, ihre Beine wurden schwer, aber sie wollte leben. Wollte überleben, sie hatte es so weit geschafft, es durfte nicht enden. Nicht so.

Sie flüchtete zum Meer, weil es ihr vertraut war, sie hätte sonst nicht gewusst wohin. Das Meer war ihr vertraut, es verband sie mit ihrer Heimat, wenn sie am Meer stand und in die endlose Weite blickte. Irgendwo dort, hinter dem Horizont, am anderen Ende der Welt, war ihr Zuhause. Ihre Schwester. Ihr toter Mann.

Sie wagte nicht zurückzublicken, richtete ihren Blick starr nach vorne. Das Dach der Kirche sah sie nicht mehr, dafür in der Ferne das dunkle fremde Wasser, das düstere kalte Meer, das so ganz anders war als das Meer ihrer Heimat. Und ihr trotzdem die Hoffnung gab, sie könnte es nach Hause schaffen. Irgendwann zurückkehren dürfen. Übers Meer war sie gekommen, übers Meer würde sie nach Hause fahren.

Ach, Luzon. Ach, Pilita.

Dann fiel sie. Plötzlich, unvorhergesehen, sie hatte die Abbruchkante nicht rechtzeitig gesehen.

Die Luft blieb ihr weg, sie wollte schreien, biss sich aber fest in den Arm, um sich nicht zu verraten.

Der Fall war weder tief noch schmerzhaft, sie kullerte lediglich im tiefen Sand ein Stück abwärts. Über ihr wölbte sich die Kante.

Sie warf einen Blick nach oben. Vielleicht sollte sie hierbleiben. Sich noch tiefer in die Sandmauer drücken, von oben konnte man sie nicht sofort entdecken. Wenn sie Glück hatte, blieb sie für die Blicke ihrer Verfolger verborgen. Sie war so zart und schmal.

Verzweifelt schaufelte sie mit ihren Händen, klein und starr vor Kälte, eine Kuhle in die Sandmauer. Sie schabte und riss immer mehr Sand aus der Düne, sie war wie von Sinnen, wollte sich im Sand verkriechen, sie dachte nicht mehr an die Erdgeister, nur an die Männer, die ihr auf den Fersen waren.

Ihr Atem ging schwer, sie stöhnte, dann presste sie die Lippen aufeinander, damit man sie nicht hören konnte. Drückte sich mit dem Rücken in die Mauer aus Sand, schloss die Augen, fest, kniff sie zu, wie sie es als Kind getan hatte, wenn ihr Vater den Hühnern die Köpfe abhackte.

Nichts geschah, wenn man es nicht sah.

Sie hörte die Stimmen der Männer nun ganz nah.

Und dann war da plötzlich dieser Druck. Er kam von oben, drückte ihren schmalen Körper nieder, der keine Kraft hatte, sich zu wehren, ihr schoss noch der Gedanke durch den Kopf, dass sie hier rausmüsste, der Unterschlupf war eine Falle.

Aber da war es bereits zu spät.

Acht Monate später

Skagen

Außentemperatur 8 Grad

Die Feuchtigkeit drang bis auf die Knochen. Der dicke Wollpulli unter dem Parka, ihre Füße in den Red-Wing-Boots, die Hosenbeine ihrer Jeans – alles fühlte sich feucht, klamm und kalt an. Helles Haare klebten am Kopf, nass vom Regen und schmierig von der salzigen Gischt des Meeres. Ein vollgesogener Schwamm, das war sie, und es wunderte Helle, dass ihre Haut mittlerweile nicht aussah wie die einer Wasserleiche – wellig, grün und aufgeschwemmt.

Seit Wochen und Monaten regnete es. Ende August hatte es angefangen, nun war Mitte November, und wenn es einmal für wenige Stunden trocken blieb, dann schien es, als wolle der Wettergott nur Atem holen, um einen weiteren, noch schlimmeren Regen auf Jütland niedergehen zu lassen. Im vergangenen Jahr hatte der Sommer gefühlte acht Monate angedauert, die Äcker verdorrten, im Fluss trieben tote Fische, und im Oktober hatte Helle sich geweigert, auch nur einmal noch auf der Terrasse zu grillen, sie hatte sich stattdessen nach dem Herbst gesehnt, der einfach nicht gekommen war.

Und nun das.

Sogar der Hund hatte den Regen satt. Emil wollte nicht mehr mit ihr am Strand spazieren gehen. Wenn es an der Zeit war, trat er hinter Helle durch die große Panoramascheibe, durch die man vom Wohnzimmer direkt in die Dünen gelangte, hob sein Bein am allerersten Sandhaufen und setzte sich anschließend trotzig daneben. Er beobachtete sein irres Frauchen dabei, wie diese in ihrem Regenzeug in Richtung Meer stapfte, ihn abwechselnd zu locken versuchte oder autoritär mit dem Fuß aufstampfte, um ihm einen Gehorsam abzuverlangen, den er sein Lebtag nicht besessen hatte.

Jetzt lag der große alte Mischling unter der Wartebank in der Bahnhofshalle von Fredrikshavn, war schlafend zur Seite gekippt, sein helles Fell auf dem pfützennassen Betonboden. Helle vermied es, zu ihm hinunterzublicken, es schmerzte sie, dass ihr alter Geselle diesen feuchten Pelz mit sich herumtragen musste und sich nicht am Kaminfeuer zu Hause wärmen konnte. Sie befürchtete, er würde sich eine Lungenentzündung holen.

Ihre klammen Finger umfassten den Thermosbecher fester, als könne sie sich daran wärmen, aber die Hitze des Kaffees drang nicht nach außen durch. Hoffentlich würde Bengt es noch vor ihnen nach Hause schaffen, den Kamin anheizen und indisches Curry aufwärmen.

Endlich lief der Zug aus Kopenhagen ein. Die blecherne Stimme der Ansagerin schepperte unverständlich aus den Lautsprechern, in der Ferne zeigten sich die gelben Lichter, wie Augen eines Drachen, der sich durch Dunkelheit und strömenden Regen seinen Weg bahnte.

Kurz überlegte Helle, ob sie aufstehen und Amira, ihre ehemalige Polizeianwärterin, auf dem Bahnsteig abfangen sollte, aber dann blieb sie doch sitzen. Sie wollte nicht, dass Emil sich bemüßigt fühlte, ihr zu folgen. Jedes Aufstehen war mit Anstrengung und Schmerzen für den arthrosegeplagten Hundekörper verbunden.

Beinahe lautlos glitt der Zug in den Bahnhof, ein leises metallisches Geräusch zeigte an, dass er zum Stehen gekommen war. Die Türen gingen auf, einige wenige Reisende sprangen aus den Wagen und hasteten den nassen Bahnsteig entlang, die Köpfe tief zwischen die Schultern gezogen. Dunkle Regenjacken, dicke Schuhe, wenige Wollmützen, Schirme, Schals – eine dampfende, feuchte und deprimierte Schar Reisender.

Fünf Uhr am Nachmittag und schon stockfinster im kalten Regen.

»Hej Fredrikshavn«, sagte Amira und grinste.

Mit einer routinierten Armbewegung schob Amira kurz darauf die leeren Tüten von Knabberkram, Wasserflaschen, eine Dose mit Emils Leckerli, die Hundeleine und zwei leere CD-Hüllen (Helle konnte sich verflixt noch eins nicht daran erinnern, wem sie die Patti Smith ausgeliehen hatte und warum die Hülle, nicht aber die CD da war) vom Beifahrersitz.

»Hat sich nichts verändert«, bemerkte die junge Frau und schickte einen strengen Blick zu Helle.

Die nickte und schämte sich kurz ihrer rollenden Müllkippe, während sie die sperrige Rampe aus Hartplastik für Emil aufklappte. Anders schaffte er es nicht mehr in den Kofferraum. Während der Hund mürrisch über die Rampe hochtrottete, schob Helle Amiras Rucksack auf den Rücksitz ihres Volvos. Direkt neben die große Kiste mit der Fritteuse, die Bengt von Kollegen zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte und die seitdem – ein halbes Jahr immerhin – von Helle durch die Gegend gefahren wurde in der Absicht, sie bei nächster Gelegenheit irgendwo zu verkaufen. Wahrscheinlicher war, dass das ungeliebte Ding im Lauf des nächsten halben Jahres im Keller bei all dem anderen Lebensmüll landete, der Helles Energiekanäle verstopfte.

»Eine Fritteuse, ernsthaft?« Amira hatte sich zu ihrer ehemaligen Chefin nach hinten gedreht und beobachtete, was diese mit dem Rucksack anstellte, der auf der Rückbank ebenso wenig Platz hatte wie der Karton und die Hunderampe.

»Frag nicht«, antwortete Helle mit zusammengebissenen Zähnen. Sie schichtete mühsam um, kleiner Müll wurde in den Fußraum verbannt, die Kiste rutschte hinter den Beifahrersitz, der Rucksack wurde aufrecht danebengepresst und die Rampe – Emil hatte sich bereits stöhnend im Kofferraum zusammengerollt – zusammengeklappt hinter den Fahrersitz geklemmt.

»Ich finde, du solltest rauchen.« Jetzt lachte Amira.

Helle ließ sich hinters Lenkrad plumpsen, schickte ein stummes Stoßgebet an den Anlasser und drehte schließlich wagemutig den Zündschlüssel. Ihr Gebet wurde erhört, der Volvo räusperte sich und zeigte durch sonores Tuckern an, dass er bereit zum Start war.

»Warum das denn?«

»In dieser Dreckskarre fehlt der übervolle Aschenbecher.«

Helle warf Amira einen gutmütigen Seitenblick zu, legte den ersten Gang ein und freute sich. Sie hatte die junge Afghanin wirklich vermisst.

Auf der Fahrt nach Skagen tauschten sie ein bisschen Klatsch aus, und Helle erzählte von Amiras früheren Kollegen aus der Skagener Polizeistation – Marianne, Jan-Cristofer und natürlich Ole.

»Habt ihr immer noch keinen Nachfolger für mich gefunden?«, erkundigte sich Amira.

Helle schüttelte den Kopf. »Ingvar hat die Stelle einfach gestrichen. Er würde Skagen sowieso am liebsten dichtmachen. Und wenn es seine letzte Amtshandlung ist.«

»Das ist doch …« Amira musste den Satz nicht vollenden, sie war mit Helle einer Meinung, dass es höchste Zeit für den sturköpfigen Chef aus Fredrikshavn war, in Rente zu gehen. Sonst würde er noch mehr Unheil anrichten.

»Wenn Ingvar weg ist, beantrage ich die Stelle einfach noch mal, was soll’s.« Helle zuckte mit den Schultern. »Oder ich warte, bis du zurückkommst.« Sie traute sich nicht, zu Amira hinüberzuschauen, sie hatte Angst davor, sie würde den Kopf schütteln.

Aber die antwortete erst gar nicht. »Seit wann ist Leif weg?«, fragte sie.

»Vier Wochen.« Helle seufzte. »In den ersten Tagen hat er noch Fotos geschickt oder mal eine Sprachnachricht. Jetzt höre ich gar nichts mehr.« Sie lachte. »Aber dank Instagram weiß ich, dass es ihn noch gibt. Irgendwo da draußen.«

Leif war der Sohn von Helle Jespers, Polizeihauptkommissarin von Skagen, und ihrem Ehemann Bengt. Sie hatten noch eine ältere Tochter, Sina, die in Kopenhagen studierte. Hoffentlich noch studierte, Helle war sich da nicht immer so sicher. Leif dagegen hatte im Sommer tatsächlich sein Abitur bestanden, mit Hängen und Würgen, eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als würde es nicht klappen. Im Sommer hatte er im örtlichen Kvickly-Markt gejobbt und war Anfang Oktober mit seinem Freund David, einer vollen Mastercard und absolut keinem Plan nach Thailand geflogen. Auf Instagram konnte Helle den strahlenden Leif in Bangkok verfolgen, mit David vor einer Tempelanlage, weiße Strände – alles wirklich bestens, nur seine Eltern zu Hause im fernen Jütland schien der Junge vergessen zu haben.

Helle vermisste ihren Sohn. Das leere Zimmer, das leere Haus, nur Bengt und Helle. Und der alte Hund.

Sie war deprimiert.

Seit vier Wochen übernahm Helle häufig die Nachtschichten, machte Überstunden, auch wenn es gar nichts zu arbeiten gab. Aber sie scheute sich, nach Hause zu kommen. Sie hielt es nicht aus ohne ihre Kinder. Bengt versuchte, dafür Verständnis aufzubringen, vor allem weil Helle immer beteuerte, es läge nicht an ihm, dass sie so viel Zeit in der Wache verbrachte – und das stimmte! –, aber langsam war auch seine Geduld am Ende.

Da war Helle auf die Idee mit Amira verfallen.

Die junge Frau aus Afghanistan hatte im vergangenen Winter bei der Aufklärung eines Falles die Attacke eines Mörders nur knapp überlebt. Sören Gudmund, Leiter der Kopenhagener Mordkommission, hatte sich anschließend dafür eingesetzt, dass Amira nach ihrer Genesung und Therapie nach Kopenhagen kommen solle. Weg von Skagen, vom Ort des Geschehens. Und weg von der Arbeit auf der Straße, sie sollte eine Zeitlang im Innendienst arbeiten. Inga, die die IT-Abteilung der MK leitete, nahm Amira unter ihre Fittiche, und nach allem, was Helle berichtet wurde, lag Amira der Job. Sie war gut darin, mehr als gut, und es machte ihr Spaß.

Helle musterte die junge Frau auf dem Beifahrersitz verstohlen. Amira sah gut aus. Erwachsener. Sie war Anfang zwanzig, aber sie wirkte reifer. Vor allem im Vergleich zu Helles Tochter, die sich immer noch wie ein Hundewelpe benahm.

»Wie geht’s dir mit dem Stadtleben?«

Jetzt wandte Amira sich direkt Helle zu. »Es ist toll. Wirklich. Ich habe immer gedacht, ich kann auf das hier nicht verzichten. Die Dünen, der Strand, aber …«

Sie lächelte und sah wieder aus dem Fenster ins dunkle Nichts.

Helle fragt sich augenblicklich, ob es richtig war, Amira wieder hierherzuholen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Sie hatte es sich so schön ausgemalt. Nachdem Ingvar alle ihre Anträge auf Digitalisierung und Neuausstattung ihrer Polizeistation mit leistungsfähigen PCs und Tablets rundheraus abgeschmettert hatte, war ihr Sören Gudmund zu Hilfe gekommen. Er hatte sich dafür eingesetzt, dass Skagen den Anschluss an das digitale Zeitalter bekommen würde und vor allem: ins System eingegliedert wurde, sodass Helle und ihre Kollegen Zugriff auf zentrale Ermittlungsergebnisse hatten. Bislang waren sie ein Wurmfortsatz des Polizeiapparates in the middle of nowhere. Helle war auf die Idee gekommen, dafür ihre ehemalige Polizeianwärtern anzufordern – zum einen, weil sie Amira wirklich vermisste, zum anderen, weil ihre eigenen Kinder ihr fehlten und sie es sich schön vorstellte, wieder jemand Junges im Haus zu haben. Darüber, dass es für Amira vielleicht noch nicht Zeit war, an den Ort ihres Traumas zurückzukehren, hatte sich Helle nicht allzu viele Gedanken gemacht. Es hatte ihr genügt, dass sie eingewilligt hatte.

Amira drehte die Musik lauter. »Was ist das?«

»Tim Buckley. Kennt heute keiner mehr. Nur den Sohn.«

»Schön.« Amira rieb sich über die Oberschenkel, eine Geste, die Helle so gut von ihr kannte.

»Mach dir keine Gedanken, Helle. Ich freu mich, euch alle wiederzusehen.«

Anscheinend konnte Amira Gedanken lesen.

»Marianne kocht und backt seit Tagen. Sie denkt wohl, du bekommst in Kopenhagen nichts zu essen.«

Marianne, die gute Seele der Wache. Sie war seit mehr als dreißig Jahren dort als Sekretärin und Empfangsdame angestellt. Aber sie war so viel mehr als das. Sie fühlte sich verantwortlich für das körperliche und seelische Wohl der Polizisten, besonders für Amira hatte sie mütterliche Gefühle entwickelt.

Nun bog Helle in die schmale Anliegerstraße ein, die zu ihrem Haus führte. Die Familie Jespers wohnte am Rand von Skagen, in einem Haus in den Dünen. Hier war das Ende der Welt, eine Sackgasse am Ende eines Landes, danach kam nur noch das Meer. Oder eher: die Meere, denn nur wenige Kilometer nördlich von hier gelangte man nach Grenen, dem Strandabschnitt, an dem sich Kattegat und Skagerrak begegneten.

Zu Helles großer Enttäuschung lag das große Holzhaus dunkel da. Bengt war also noch nicht zu Hause. All ihre Hoffnung auf einen warmen Empfang zerschlugen sich, und Helle hatte Mühe, ihren Frust darüber hinunterzuschlucken.

Während Helle die Rampe ausklappte und den muffeligen Hund aus dem Kofferraum entließ, zerrte Amira ihren Rucksack von der Rückbank.

»Zum Glück hast du Bengt«, sagte sie.

»Wie meinst du das?«

Amira richtete sich auf und sah Helle verwundert an. »Na, wie ich es sage. Zum Glück hast du Bengt.«

Helle lachte verlegen. »Jaja, das stimmt schon, aber ich meine, wie kommst du jetzt darauf?«

»Weil es sonst bei dir zu Hause genauso aussehen würde wie in diesem Schrotthaufen.«

Amira stellte sich unter das schützende Vordach, während Helle die vermaledeite Rampe wieder ins Auto bugsierte. Dreißig Sekunden ohne Kapuze, und schon war ihr Kopf tropfnass. Das Wasser lief ihr von den Haaren in den Kragen, und Helle wünschte sich jetzt nichts sehnlicher als eine heiße Badewanne und danach ein Glas Wein am Kamin, eingemummelt in viele Decken und dicke Socken. Emil würde heute Nacht jedenfalls keinen Spaziergang mehr bekommen. Wenn er dringend musste, würde sie lieber nachts kurz aufstehen und ihn rauslassen.

Das Haus war über den Tag ausgekühlt. Sie heizten noch nicht, aber der große Raum mit der offenen Küche und der Sofalandschaft wurde schnell warm, wenn der Kamin erst ordentlich loderte und jemand kochte.

Helle machte alle Lampen an, stapelte Holz im Kamin und entzündete es. Die nassen Jacken und Schuhe hatten sie im Windfang gelassen, Amira verstaute ihren Rucksack in Leifs Zimmer, in dem sie während der vier Wochen in Skagen wohnen sollte.

Helle verschwand im Schlafzimmer, um sich die klammen Sachen vom Körper zu reißen und in einen Hoodie sowie mollige Jogginghosen zu schlüpfen. Dabei streifte ihr Blick den Spiegel. Eine fremde Frau sah sie gehetzt an. Ein trauriger Blick aus verschatteten Augen, triefnasse dünne Haarsträhnen klebten an Wangen und Stirn. Unter dem Sport-BH wölbte sich ein weißer Bauch in mehreren Rollen, der zu kleine Baumwollschlüpfer verschwand fast darunter.

Helle hielt inne und richtete sich auf. Sie zwang sich, der Frau im Spiegel in die Augen zu blicken. Wer war das? Und warum zum Teufel ging es der so schlecht?

War sie krank? Nein.

Jemand gestorben? Auch nicht.

Musste sie auf der Straße leben? Helle schüttelte den Kopf und sah weg. Stell dich nicht so an, Helle Jespers, dachte sie. Was ist denn verdammt noch mal mit dir los?

Dabei wusste sie ganz genau, was los war. Sie hatte sich gehenlassen. Der fürchterliche Fall vor einem Dreivierteljahr, die Anspannung wegen Leifs Abitur, die Abwesenheit gleich zweier Kollegen – Amira und Jan-Cristofer – und, last but not least, die Erkenntnis, dass Leif nun auch erwachsen war und sie verlassen würde, hatten dazu geführt, dass sie in ihrem eigenen Leben keine Rolle mehr gespielt hatte.

Sie war müde und fühlte sich ausgelaugt. Helle setzte sich aufs Bett und starrte die Frau im Spiegel an.

So nicht, dachte sie.

Morgen würde sie Unterwäsche kaufen. Immerhin ein Anfang. Sie rubbelte sich die Haare halbtrocken und kramte aus der Schminkschublade ein altes Cremerouge hervor. Es roch ranzig, aber Helle schmierte sich trotzdem ein paar Tupfer auf die Wangenknochen. Sie sah gleich frischer aus. Was fand Bengt nur immer noch attraktiv an ihr? Nach zwanzig Jahren Ehe. Sie nahm sich vor, sich ein bisschen mehr Mühe zu geben. Mit sich, aber auch mit ihrem Mann. Er war – neben Emil – einer der wenigen, die sie noch aushielten.

Sie hatten ein Abendessen improvisieren müssen, denn Helle hatte nichts eingekauft – in der irrigen Annahme, das würde wie immer Bengt übernehmen. Als der schließlich nach Hause kam, hatten sie fast alles aufgegessen: geröstete Roggenbrote mit Sardinen aus der Dose, stinkigen Käse, selbst gemachte Hagebuttenmarmelade und Ziegenfrischkäse mit gegrillter Paprika. Ein Kopf Salat hatte sich noch in der Gemüseschublade versteckt, Helle peppte ihn mit geriebener Karotte, dem Rest Gurke, einer Handvoll Kerne, hart gekochtem Ei und leckerem Dressing auf. Ein wahres Festmahl – der Kühlschrank war nun wirklich ratzekahl –, zu dem der schwere Bordeaux wunderbar schmeckte. Amira blieb wie üblich bei Tee.

»Ich musste noch zu Papa.« Bengt kam aus dem Windfang herein, rotbäckig, dampfend vor Wärme in dem kalten Regen, in seinem Bart glitzernde Feuchtigkeit. Er brachte zwei große Tüten aus dem Bioladen mit hinein, stellte sie ab und begrüßte seine Frau mit einer liebevollen Umarmung und einem Kuss. Bevor er sie losließ, kniff er die Augen zusammen und musterte sie.

»Du siehst gut aus.«

Helle grinste. Ranziges Rouge vermochte Wunder zu vollbringen.

Amira freute sich sehr, Helles Mann wiederzusehen, und ließ sich bereitwillig von dem gut gelaunten Wikinger drücken.

»Und dir tut die Großstadt auch gut, wie ich sehe.«

Bengt zwinkerte Amira zu, während er sich mit der einen Hand ein Brot in den Mund stopfte und mit der anderen sein Weinglas füllte.

»Kopenhagen ist super, wirklich.« Amira rieb sich wieder die Oberschenkel. »Und ich habe wahnsinnig nette Kollegen.«

»Pah!« Helle machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ricky und Sören, hör mir bloß auf!«

Sie lachten. Ricky Olsen war ein grobschlächtiger Hauptkommissar in Sören Gudmunds Truppe, und die Skagener hatten weder ihn noch den Leiter der Mordkommission ausstehen können, als die beiden damals im Fall Gunnar Larsen bei ihnen aufschlugen. Allerdings war die durchaus gegenseitige Antipathie im Lauf der Ermittlungen in Sympathie und Respekt umgeschlagen.

»Wie geht es deinem Vater?«, erkundigte sich Amira bei Bengt, der gerade antworten wollte, als Helles Handy den Eingang einer Nachricht vermeldete. Seit Leif auf Reisen war, hatte Helle den Apparat stets in greifbarer Nähe, sie wartete sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen von ihrem Sohn.

Aber die Nachricht war von Ole. Er hatte ein Foto geschickt. Helle begriff nicht gleich, was darauf abgebildet war, ein Gegenstand im grellen Blitzlicht, außen herum schwarze Nacht.

Dann erkannte sie es. Eine Hand. Die Finger, absurd gekrümmt, ragten mahnend in die Nacht. Das war die Hand eines Toten, und so, wie es aussah, war er oder sie schon lange tot.

Ole hatte nur zwei Worte daruntergeschrieben.

»Råbjerg Mile.«

Aalborg

Innentemperatur 18 Grad

Während Pilita im Zimmer stand und sich für die Arbeit zurechtmachte, den dicken Anorak anzog, eine Mütze, Handschuhe und drei Paar Socken in den dünnen Schuhen gegen die Kälte da draußen, zogen dieselben Bilder vor ihrem geistigen Auge vorbei. Es war ein Mantra, sie musste sich ständig daran erinnern, warum sie nicht mehr in Luzon war, sondern hier, in Aalborg.

Ich habe tief geschlafen. So tief und traumlos wie noch nie. Als ich aufwache, dröhnt mein Kopf, ich blinzle mühsam gegen die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der Hütte fallen. Wieso ist es so hell? Instinktiv taste ich nach Imelda, nach meiner Schwester. Aber meine Finger greifen ins Leere, ich finde sie nicht. Auch nicht den kleinen Jomel.

Wo ist Imelda? Ist sie draußen, Arbeit suchen? Wasser holen? Ist sie am Strand? Und der Kleine, hat sie ihn mitgenommen? Er sollte immer zwischen uns liegen, geschützt. So ist es, seit er auf der Welt ist.

Pilita, Imelda und Jomel.

Imelda hat sich noch nie weggeschlichen. Sie sagt mir immer, wohin sie geht. Weil sie Angst hat. Die Angst, die uns alle begleitet, seit sie Imeldas Mann Brillante abgeholt haben. Jomels Vater. Seitdem sind wir nur noch zu dritt.

Pilita, Imelda und Jomel.

Wir passen aufeinander auf. Wer weiß, ob sie uns nicht auch holen. Imelda und Jomel. Oder sogar mich.

Ich setze mich auf. Er sollte hier liegen, neben mir, sein kleiner heißer Körper an mich geschmiegt, die Fingerchen umklammern eine meiner Haarsträhnen. Auf seiner anderen Seite der Körper von Imelda. Er soll immer in Sicherheit sein, beschützt.

Mein Herz trommelt gegen die Brust, ich höre mein Blut im Ohr rauschen, weil ich kurz, ganz kurz daran denke, ob sie sie geholt haben. Alle beide, im Schutz der Nacht. Und ich habe geschlafen, habe meine Pflicht verletzt, habe mein Versprechen gebrochen.

Aber dann sehe ich, dass Imeldas Sachen verschwunden sind. Und die Sachen des Kleinen.

Die große Plastiktasche.

Imelda hat mich verlassen.

Jetzt erst sehe ich den Zettel, den meine Schwester am Spiegel befestigt hat.

Ich stehe auf und will es nicht glauben.

Sie hat Angst, schreibt sie, Angst, dass sie sie holen wie Brillante. Und sie hat Angst, uns alle damit zu gefährden, ihre Familie. Mutter und Vater, ihren Sohn, mich und auch meinen Mann Filipe. Deshalb hat sie das Land verlassen. Heimlich, in der Nacht.

Ich lese den Brief, aber ich verstehe nicht, warum sie alleine gegangen ist. Warum sie mir nichts gesagt hat, warum wir nicht zusammen gegangen sind, Jomel in unserer Mitte, so, wie es sein soll.

Pilita, Imelda und Jomel.

Ich fühle mich betrogen, aber das hält mich nicht davon ab, ihr zu folgen. Ich kann sie nicht alleinlassen. Ich werde ihr folgen und sie finden. Gemeinsam werden wir es schaffen, vielleicht in einem anderen Land.

Unsere Zukunft ist Europa. So sagte es Filipe, der in der Welt herumkommt. So steht es in Imeldas Brief geschrieben, und so glaubte auch ich es.

Draußen vor der Tür ertönte das Hupen. Dreimal kurz. Pilita öffnete die Zimmertür, im Gang warteten schon die anderen, und so gingen sie, acht Frauen, gemeinsam die Treppe hinunter und verließen das Haus. Öffneten die Tür des Kleinbusses und setzten sich stumm auf ihre Plätze.

Råbjerg Mile

Außentemperatur 2 Grad

Helle brauchte keine fünf Minuten, um den Parkplatz in der Nähe der Wanderdüne zu erreichen. Amira hatte sich ihr angeschlossen, sie waren, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, im höchsten Tempo, zu dem Helles Volvo imstande war, dorthin gerast.

Das Blaulicht strahlte ihnen schon von weitem entgegen.

Jan-Cristofer stieg aus seinem Wagen, als Helle neben ihm parkte. Er war ebenfalls in Zivil. Sofort nahm er Amira in den Arm und drückte sie fest.

»Ole ist am Fundort.«

Helle beschloss, schon einmal vorzugehen, sie wusste, dass die beiden gerne ein paar Worte alleine sprechen wollten. Auch Jan-Cristofer hatte bei dem Fall um den Toten im Tivoli Schaden an Körper und Seele erlitten, auch er hatte erst einmal eine Auszeit nehmen müssen. Aber nicht nur das verband die beiden miteinander. Amira hatte im selben Haus gelebt wie Jan-Cristofer, der ihr die Wohnung dort besorgt hatte. Er war doppelt so alt wie sie, geschieden und hatte einen Sohn, Markus. Um Amira hatte er sich immer wie ein Vater gekümmert, sie war wie Familie für den alleinstehenden Kollegen.

Helle stapfte los. Sie hatte ihre Stablampe mitgenommen, die einen Strahl gleißenden Lichts in die Regennacht schickte. Zur Kirche, die Jahr für Jahr ein Stück mehr vom Sand verschluckt wurde, führte ein Weg quer durch die Dünenlandschaft. Im Sommer waren hier viele Touristen unterwegs, im Herbst und Winter trafen sich lediglich ein paar Hundebesitzer und Jogger.

Aber mitten in der Nacht? Bei strömendem Regen?

Kurz vor der Kirche sah Helle in Richtung des Meeres helles Licht.

Sie wollte den Weg verlassen und direkt darauf zulaufen, aber dann hielt sie inne. Sie würde Spuren hinterlassen und damit der Spurensicherung ihre bei diesen Bedingungen ohnehin fast unmögliche Arbeit noch erschweren. Sie griff zum Handy und rief Ole an, der nur ein paar Meter entfernt stand.

»Sag mal, wo seid ihr langgegangen? Ich will nicht auch noch …«

»Vergiss es«, fiel Ole ihr ins Wort. »Das ist ne alte Leiche, die liegt schon lange hier, Spuren gibt’s nicht mehr.«

Helle seufzte, schob das Handy in die Tasche ihres Ölzeugs und stapfte los. Als die Nachricht von Ole gekommen war, hatte sie sich gottlob nicht wieder irgendetwas übergeschmissen, sondern ausnahmsweise auf Bengt gehört, der ihr seine Fahrradregenhose, den gelben Friesennerz und Gummistiefel aufgedrängt hatte. Ihre Jogginghose und den Hoodie hatte sie darunter anbehalten, sie sah aus wie ein Hochseefischer im Sturm, aber immerhin blieb sie trocken und einigermaßen warm.

Sie erreichte den Strand und lief entlang der Abbruchkante einer Düne auf die Fundstelle zu. Ole stand mit hochgezogenen Schultern inmitten eines abgesperrten Quadrats, drei Halogenlampen erhellten die gespenstische Szenerie.

Helle stieg über das Flatterband. Sofort fiel ihr Blick auf das Corpus Delicti: Eine Hand ragte aus dem Sand. In etwa einem Meter Höhe. Sie hing dort zusammenhanglos in der Luft und wirkte wie ein makabrer Garderobenhaken.

Ole folgte ihrem Blick.

»Krass, oder?«

Helle nickte. »Wer hat das gemeldet?«

Sie sah sich um. Keine Zeugen. Sie hoffte auf einen anonymen Anrufer. Das wäre schon ein erster Hinweis, denn das würde bedeuten, dass jemand gewusst hatte, dass sich hier eine Leiche befand.

»Ansgar.«

»Norborg?«

Ole nickte, und Wasser schwappte von seiner Uniformmütze.

»Was zum Teufel macht der hier? Um die Zeit, bei dem Wetter?«

»Als er die Leiche gefunden hat, war es gerade erst dunkel, aber bis er auf der Wache war und ich mit ihm hier rausgefahren bin …«

»Moment! Nur, dass ich das verstehe.« Helle war ungehalten. »Ansgar treibt sich also hier herum und sieht mal eben zufällig eine Hand. Dann geht er in aller Ruhe zurück und denkt sich …«

»Er hat trainiert«, unterbrach Ole wieder. »Er ist gelaufen. Ohne Handy. Er trainiert für den Ironman. Und deshalb läuft er hier um die Nordspitze.«

Helle nickte nur, war aber in Gedanken schon woanders. Obwohl es eine Menge Sachen gab, die besser waren, als hier im eiskalten Novemberregen an der jütländischen Küste herumzustehen und sich mit einer Leiche zu befassen, durchströmte sie Energie. Denn war es nicht das, nach was sie sich so dringend gesehnt hatte? Ein Fall. Ein echter Fall, hier in Skagen, dort, wo man sich mit Ladendieben und Falschparkern herumschlug.

Seit dem Mord an Gunnar Larsen Anfang des Jahres hatte Helle immer wieder darüber nachgedacht, ob Bengt nicht recht hatte. Er glaubte, dass sie unterfordert war mit ihrer kleinen Skagener Polizeiwache. Sie war erst fünfzig, im besten Alter, um Verantwortung zu übernehmen. Wenn du es noch mal wissen willst, hatte er mehr als einmal zu ihr gesagt, dann jetzt. Aber Helle war unsicher. Mehr zu wollen hätte bedeutet, aus Skagen wegzugehen. Ein Angebot der Mordkommission Kopenhagen lag auf dem Tisch. Aber sie wollte eigentlich nicht weg. Nicht von Bengt und Emil, ihrem Haus, dem Meer und den Dünen. Ihrer Comfort Zone.

Helle starrte auf die Hand. Das war ein Fall. Ihr Fall.

»Wo ist Ansgar jetzt?«

»Ich habe seine Aussage aufgenommen und ihn nach Hause geschickt.« Ole fröstelte.

Helle zog aus ihrer Manteltasche eine kleine Thermosflasche. Die hatte Bengt ihr zugesteckt, und nun gab sie sie Ole.

»Nimm. Heiße Brühe.«

Ole nahm dankbar die Flasche entgegen. Seine Hände waren rotgefroren, und er zitterte.

»Du hast das toll gemacht, Ole«, lobte Helle ihn endlich. Besser spät als nie. »Wie im Lehrbuch.«

Ole schüttelte den Kopf, während er versuchte, das heiße Getränk in den kleinen Becher zu gießen, ohne etwas zu verschütten.

»Doch, doch. Es ist dein erster Tatort.« Helle zeigte um sich herum. »Gut gesichert, alles organisiert, die Richtigen benachrichtigt …«

Ole schlürfte vorsichtig die Brühe, guckte Helle über den Becherrand an und schüttelte vorsichtig den Kopf.

»Ich habe mir etwas Zeit gelassen, bevor ich Ingvar informiert habe.«

Sie sahen sich an. Helle verstand sofort, was Ole ihr damit sagen wollte. Er wusste genau, dass niemand mehr etwas zu melden hatte, wenn Ingvar erst hier aufkreuzte. Er war ihr Vorgesetzter und würde die Ermittlungsarbeit sofort an sich reißen, sobald er witterte, dass aus diesem Fall etwas Größeres werden könnte.

Und das würde es, ganz ohne Zweifel.

Helle warf erneut einen Blick auf die Hand.

»Wann hast du es gemeldet?«

»Du hast eine Viertelstunde Vorsprung. Sie müssten gleich hier sein.«

Helle nickte und beschloss, keine Zeit zu verlieren. Ole hätte sofort in Fredrikshavn anrufen müssen. Bei einem Kapitalverbrechen war es seine Dienstpflicht, die übergeordnete Stelle zu benachrichtigen. Stattdessen hatte er sie informiert. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und machte Fotos von der Hand und der Umgebung, die sie mit ihrer Stablampe ausleuchtete.

Die Hand war in erstaunlich gutem Zustand, entweder war der dazugehörige Mensch noch nicht lange tot, oder aber Sand konservierte ausgezeichnet.

Jetzt hörten sie die Polizeisirenen. Ingvar kam also mit Getöse und Aufgebot. Die Kollegen kamen näher, das Licht ihrer Stablampen zuckte über den nachtschwarzen Strand, Helle und Ole hörten ihre Rufe.

Da ragte auch schon Ingvars großer Oberkörper über die Dünenkante.

»Das eiskalte Händchen«, er lachte laut. »Na, so was haben wir hier auch noch nicht gehabt.«

Er stapfte zu ihnen hinunter und tauchte in dem abgesperrten Bereich auf, nickte Ole zu und klopfte Helle auf die Schulter. »Na, mein Mädchen, was habt ihr da aufgetan?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte er sich nah zu der Hand und nahm sie in Augenschein. Er pfiff durch die Zähne.

»Donnerwetter. Wie es aussieht, hängt da noch mehr dran.«

Er wandte sich wieder an Helle, während hinter ihm nach und nach Kollegen aus Fredrikshavn auftauchten, die sich nun alle neugierig um den makabren Fund drängten.

Helle referierte, was sie von Ole wusste. Dass Ansgar Norborg, der Apotheker, der für den Ironman trainiert hatte, die Entdeckung gemeldet hatte.

»Offensichtlich hat der Dauerregen der letzten Woche dazu geführt, dass hier ein Stück von der Dünenkante abgewaschen wurde.« Helle zeigte auf den langgestreckten Sandhaufen, der sich am Fuß der Düne über ein paar Meter erstreckte.

»Dadurch wurde die Hand freigelegt. Sonst hätte man die Leiche vermutlich nie gefunden.«

Ingvar nickte und nahm die Gesamtsituation in Augenschein.

Ein Kollege hatte inzwischen eine Kamera hervorgeholt und machte Fotos.

»Als Erstes brauchen wir ein Zelt, um den Fundort vor dem Regen zu schützen. Habt ihr eins?«

Helle nickte, und Ingvar schien zufrieden.

»Pia, du rufst in Aalborg an. Die Spurensicherung soll ihren Arsch hierherbewegen, und zwar schnell. Und Dr. Holt benachrichtigen, der soll auch sofort kommen. Vielleicht kann er schon etwas darüber sagen, wie lange der Körper sich hier befindet.«

»Wie lange der Mensch tot ist«, fiel Helle ihm ins Wort. »Vielleicht wurde er oder sie woanders getötet und dann hier versteckt. Und Dr. Holt ist vielleicht nicht der Richtige, er …«

»Willst du mir meinen Job erklären?« Ingvar knurrte verärgert. Auf Dr. Holt, Allgemeinmediziner aus Fredrikshavn, mittlerweile in Rente, ließ er nichts kommen, es war einer seiner Weggefährten von Anfang an. Er spielte Rechtsmediziner und leistete die ersten Begutachtungen bei Unfällen und kleineren Gewaltdelikten. Bei Mord war er hoffnungslos überfordert.

»Aber schön, dass du so viel von mir gelernt hast«, schickte Ingvar hinterher.

Einer der Fredrikshavner Kollegen feixte. Helle streckte ihm die Zunge raus.

»Skagen, schaut euch an, wer als vermisst gemeldet wurde. Vielleicht passt etwas zu unserem Fund hier.« Ingvar richtete sich auf und blickte streng wie ein Herbergsvater in die Runde. »Sagen wir mal die letzten zwei Jahre.«

»In Skagen und Fredrikshavn?«, erkundigte sich Ole. »Ich glaube nicht …«

»In Dänemark! Herrgott noch mal, Halstrup! Wie beschränkt bist du?« Ingvar schüttelte genervt den Kopf.

Ole sah beschämt zu Boden.

»Ole ist nicht …«, wollte Helle sich vor ihren jungen Kollegen stellen, aber Ingvar sprach einfach weiter, als existierte sie nicht.

»Am besten wird es sein, wenn du das selbst machst, Helle. Die Vermissten durchgehen. Du bleibst hier am Tatort, Halstrup. Mit Amira, wenn sie schon mal da ist.«

Den Seitenhieb konnte Ingvar sich nicht verkneifen. Er sah seine Autorität untergraben – schließlich hatte er die Digitalisierung der Skagener Wache abgelehnt, und dass Sören Gudmund sie beim Polizeipräsidenten doch für Helle durchgedrückt hatte, erregte sein Missfallen. Und das ließ er Helle bei jeder Gelegenheit spüren. Allerdings hatte sie beschlossen, auf Durchzug zu schalten.

»Linn, du gibst eine Pressemitteilung raus. Vielleicht kommt das noch morgen in die Blätter, und es melden sich Zeugen.«

Helle konnte förmlich sehen, wie Ingvar zu Höchstform auflief. Er schien regelrecht ein paar Zentimeter zu wachsen. Sie verzichtete auf den Einwand, dass es nicht besonders klug war, die Presse zu benachrichtigen, bevor irgendetwas über die Leiche in der Düne bekannt war. Ein Zeitungsbericht würde nämlich vor allem Neugierige und Gaffer auf den Plan rufen. Und ein paar Spinner, die irgendeine Nebensächlichkeit beobachtet hatten und sich wichtigmachen wollten.

»Da wir die Ergebnisse der Spurensicherer und des Rechtsmediziners abwarten müssen, treffen wir uns erst morgen um elf. In meinem Büro.«

Er drehte sich zu Helle und Ole um. »Es reicht, wenn einer von euch kommt. Am besten du, Helle. Dann kannst du uns die Ergebnisse deiner Recherche mitteilen.«

»Übernimmst du den Fall?« Helle kannte die Antwort, aber sie musste trotzdem fragen.

»Natürlich. Es ist ja meine Zuständigkeit.« Ingvar sah sie milde lächelnd an. »Ich weiß gar nicht, warum du fragst.«

Damit wandte er sich ab und machte seinen Leuten ein Zeichen, den Tatort zu verlassen. Helle und Ole blieben im strömenden Regen in der Dunkelheit zurück.

»Du gehst nach Hause, nimmst eine heiße Dusche und legst dich aufs Ohr«, wies Helle Ole an.

»Aber …«

»Ist mir scheißegal. Ich brauch dich lebendig und nicht mit einer Lungenentzündung. Hol dir eine Mütze Schlaf, dann treffen wir uns in der Wache. Sagen wir um sieben. Ich halte hier die Stellung.«

Ingvar würde gar nicht merken, dass sie seiner Anweisung nicht Folge leisteten, dachte Helle. Hauptsache, es wartete hier jemand auf die Leute aus Aalborg und sorgte dafür, dass der Tatort gesichert blieb. Sie gab Ole noch ein paar weitere Instruktionen, dann verließ der junge Mann sichtlich erleichtert den Strand.

Helle kauerte sich in die Hocke, zog den Südwester noch tiefer in die Stirn, goss sich einen Becher heiße Brühe ein und starrte auf die gespenstisch erleuchtete Hand.

Sie hörte durch den Regen, der ihr auf Kopf und Schultern prasselte, die Wellen an den Strand branden. Roch den nassen Sand, frisch und sauber, den salzigen Tang, muffiges Treibholz.

Helle spürte, wie sie ruhig wurde. Und fokussiert. Es war gerade gut, so wie es war. Allein hier in der Nacht in der Düne. Mit einer Hand. Niemand quatschte, keiner lenkte sie von ihren Gedanken ab.

Unter dem Regenzeug war Helle trocken und warm, die depressive Stimmung, die sie in den letzten Tagen und Wochen umklammert gehalten hatte, war verflogen, ihr Herz schlug kräftig und gleichmäßig, sie fühlte sich lebendig und energiegeladen.

Je länger sie die Hand betrachtete, desto sicherer war sie sich, dass sie die Ermittlungsarbeit nicht allein Ingvar und seinem Team in Fredrikshavn überlassen wollte. Ingvar war kein schlechter Polizist, aber er stand kurz vor der Pensionierung, war starrköpfig und seine Methoden von gestern. Sicher stellte er sich vor, wie er den spektakulären Fall brillant lösen und mit einer Auszeichnung vom Polizeipräsidenten in den Ruhestand verabschiedet werden würde.

Helle zog ihr Handy aus der Tasche. Ohne nachzudenken leitete sie die Nachricht von Ole – das Foto mit dem Text »Råbjerg Mile« – weiter.

Sekunden später kam der Anruf.

Skagen

Innentemperatur 19 Grad

»Achthundert Stück.« Mit einem Ächzen stellte der Praktikant den großen Karton neben Kierans Schreibtisch ab. Der warf nur einen kurzen Seitenblick darauf.

»Zähl nach.«

»Was?« Der Praktikant starrte ihn ungläubig an. »Aber …«

»Wenn ich sage, zähl nach, dann zählst du nach.«