Help Me! - Marianne Power - E-Book

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Marianne Power

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  • Herausgeber: Kailash
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

12 Wege zu sich selbst

Marianne Power ist auf der Suche: nach persönlicher Erfüllung und dem wahren Sinn des Lebens. Das bringt sie auf die Idee, ein Jahr lang jeden Monat einen Lebenshilfe-Klassiker zu lesen und in die Praxis umzusetzen. Wie würde sich ihr Leben dann verändern? Könnte sie reich werden? Schlank? Sich verlieben? Produktiver und kreativer sein? Aus dem spielerischen Experiment einer Journalistin wird schnell Ernst, und eine unglaubliche Achterbahn der Selbstfindung beginnt. Was Marianne Power dabei alles erlebt und wie diese Erfahrungen sie verändern, schildert sie hinreißend ehrlich, mit viel Selbstironie und dem typisch englischen Humor. Eine wahre Geschichte, zutiefst bewegend und inspirierend.

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MARIANNE POWER

HELP ME!

12 WEGE ZUR ERLEUCHTUNG

Aus dem Englischen von Ursula Held

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Help me! One woman’s quest to find out if self-help really can change her life.« bei Picador.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

© 2018 Kailash Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

© 2018 by Marianne Power

First published by Picador, by arrangement with Furniss Lawton

Umschlaggestaltung: ki 36, Sabine Krohberger Editorial Design, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-22969-6V001

www.kailash-verlag.de

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Für G. meine Lieblingsperson

Meine Mutter: Sag mal, in diesem Buch …

Ich: Ja?

Meine Mutter: Du sprichst da doch nicht etwa von einer »Reise« zu dir selbst, oder?

Ich: Nein, mach ich nicht.

Meine Mutter: Gut.

Ich: Mir gefällt »spiritueller Pfad« viel besser.

Meine Mutter: Ach, Marianne …

Inhaltsverzeichnis

Der alles entscheidende Kater

1 Selbstvertrauen gewinnen: Die Angst vor der Angst verlieren

2 Das liebe Geld

3 The Secret – Das Geheimnis

4 Ablehnungstherapie

5 Ablehnungstherapie, die zweite

6 Fuck It!: Loslassen – Entspannen – Glücklich sein

7 Fuck It!-Nachspiel

8 Die inneren Kräfte freilassen

9 Pleite

10 Engel

11 Krank

12 Die 7 Wege zur Effektivität

13 Depressionen

14 Jetzt! Die Kraft der Gegenwart

15 Get the Guy

16 Ein Mann zum Heiraten?

17 Verletzlichkeit macht stark

18 Gesundheit für Körper und Seele

Und? Hilft die Selbsthilfe denn nun?

Dank

Anmerkung

Literaturhinweise

Der Bürostuhl hat einen kratzigen grauen Stoffüberzug mit Flecken. Ich versuche nicht darüber nachzudenken, woher der dunkle Klecks stammen mag, lasse meinen Frottee-Bademantel fallen und setze mich. Ich bin nackt.

Kühle Luft weht durch den Raum und streift meine Haut. Mein Herz pocht.

Ich bin nackt. Umgeben von Menschen. Nackt. Im Scheinwerferlicht. Splitternackt.

Ein Gedanke jagt den nächsten. Und wenn jetzt einer hereinkommt? Jemand von der Arbeit? Ein Lehrer von meiner alten Schule?

»Suchen Sie sich einfach eine bequeme Position und entspannen Sie sich«, rät mir der Kursleiter von der anderen Seite des Raumes. »Hier achtet niemand darauf, dass Sie nackt sind. Wir sind alle viel zu sehr mit dem Zeichnen beschäftigt.«

Wie lieb von dir, du kleines Arschloch. Hast leicht reden in Jeans und Jackett. Du bist zu hundert Prozent mehr angezogen als ich.

Ich kreuze die Beine und lege die Hände in den Schoß, so kann ich mich wenigstens etwas bedecken. Meine Augen wandern nach unten zu meinem Mozzarella-Bauch und den blonden Haaren auf meinen grell beleuchteten weißen Beinen. Nur die übers Papier kratzenden Bleistifte lenken mich von der Stimme in meinem Kopf ab. Diese Stimme fährt mich an: »Was machst du hier eigentlich? Warum sitzt du nicht zuhause vor der Glotze wie jeder normale Mensch? Und warum hast du dir die Beine nicht rasiert? Das macht man ja wohl als Erstes, bevor man sich nackt in der Öffentlichkeit zeigt, oder? Man kümmert sich um eine halbwegs ordentliche Haarentfernung.«

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Da kommt noch jemand. Ein Mann. Ein großer Typ. Mit dunklen Locken. Ich hebe leicht den Kopf. Er trägt einen dunkelblauen Kaschmirpullover. Ich habe eine Schwäche für schöne Pullis. Und langsam dämmert es mir. Da ist eben ein superheißer Kerl hereinspaziert und ich sitze splitterfasernackt im Volkshochschulkurs.

Ein Alptraum.

Ich versuche mich auf einen Staubknäuel am Boden zu konzentrieren, als hinge mein Leben davon ab. Tief hole ich Luft und habe Angst, dass mich das dick aussehen lässt. Dicker als ich ohnehin schon bin.

Hör auf damit, Marianne. Denk an was anderes. Was gibt es heute Abend eigentlich zu essen? Hühnchencurry, das wär doch was, oder einfach Toast mit Käse …

»Marianne, warum versuchen wir es nicht mal mit einer stehenden Pose? Vielleicht mit dem Rücken zu uns? Und erhobenen Armen?«

Ich drehe mich um, mir zittern die Beine.

Wie die angehenden Michelangelos wohl meine Cellulite abbilden? Gibt es dafür besondere Techniken? So wie für die richtige Perspektive und die Weite des Himmels? Was der Pullityp wohl von meinem Hintern hält? Sicher fällt er ihm auf. Seine Freundinnen haben bestimmt alle Idealmaße und Pfirsichpopos …

Also Käsetoast. Ich frage mich, ob wir noch Brot haben.

Meine Arme schmerzen schon vom ewigen Hochhalten. Aus meinen Achselhöhlen rinnen zwei Schweißtropfen abwärts. Da meldet sich wieder der Zeichenlehrer.

»Sie können sich gerne eine bessere Perspektive suchen«, ermuntert er seine Schüler. »Rücken Sie meinetwegen näher an das Modell heran. Finden Sie eine Perspektive, aus der Sie gut arbeiten können.«

Stühle kratzen über den Holzboden. Der Pullityp sitzt jetzt einen knappen Meter von mir entfernt. Er ist ganz nah. Ich kann sein Aftershave riechen. Es riecht frisch, nach Meer.

Bestimmt denkt er, du bist total bescheuert. Hast nichts Besseres zu tun, als sonntagabends nackt vor Leuten zu posieren. Bestimmt findet er deine haarigen Schenkel fett und hässlich. Bestimmt … Hör jetzt damit auf, Marianne!

Ich konzentriere mich wieder auf den Staubfussel. Und frage mich, warum es in öffentlichen Gebäuden immer so dreckig sein muss und ob ich mich vor dem Wäschewaschen drücken kann, wenn ich wieder zuhause bin. Da gibt der Lehrer das Signal zum Anziehen und ich fühle ich mich nur noch nackter. Als er meinte, ich solle einen Morgenmantel mitbringen, hatte ich gleich Pariser Mansarden und mit einem seidigen Nichts bekleidete Schönheiten vor Augen. Doch ich habe nur diesen Frotteemantel. Ich ziehe ihn mir über, atme tief durch und gehe auf den Pullitypen zu.

»Tut mir leid, ich bin etwas aus der Übung«, murmelt er mit Blick auf seine Staffelei. »Die Nase habe ich nicht richtig hinbekommen, und die Stirn ist etwas zu hoch …«

Ich starre auf die mit Kohle dahingeworfenen Umrisse meiner Nacktheit. »Die Stirn? Die ist mir so was von egal!«, will ich rufen. »Mein Arsch ist so groß wie Australien!«

Ich verschwinde auf die Toilette und ziehe mich schnell an. Die kaputten Fliesen unter meinen Füßen sind eiskalt. Die Strumpfhose bekomme ich in der kleinen Kabine nur mit Mühe an. Ich setze mich auf den Klodeckel und bin eher beschämt als bestärkt.

Warum mache ich das hier alles?

Der alles entscheidende Kater

Es kommt der Tag im Leben einer Frau, an dem sie begreift, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Bei mir fiel dieser Tag auf einen Katersonntag.

Keine Ahnung, was ich am Abend vorher getrieben hatte, aber offenbar hatte ich zu viel getrunken und war mit Make-up und Klamotten in eine Art Koma gefallen. Als ich aufwachte, waren meine Augen mit Mascara verkrustet und meine Haut bedeckte eine Schmierschicht aus Foundation und Nachtschweiß. Der Bund meiner Jeans schnitt mir in den Bauch. Ich musste aufs Klo, war aber unfähig, mich zu bewegen, also öffnete ich nur den Reißverschluss und blieb mit geschlossenen Augen liegen.

Es tat einfach alles weh.

Manchmal kommt man ja um so einen Kater einigermaßen herum. Man wacht zwar übernächtigt auf, ist aber trotzdem gutgelaunt und sogar etwas aufgekratzt. So stolpert man durch den Tag, bis sich am Nachmittag ein leichter Hangover meldet. An diesem Sonntag aber kam er im Frontalangriff. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre darin eine Bombe geplatzt. Mein Magen rumorte wie eine Waschmaschine voller Giftmüll, und in meinem Mund hatte ich die berüchtigte tote Maus.

Ich drehte mich zur Seite und griff nach dem Glas auf meinem Nachttisch. Meine Hand zitterte so heftig, dass ich mir das Wasser vor den Latz und aufs Laken goss.

Der Lichtstreifen, der zwischen den Vorhängen ins Zimmer fiel, blendete mich. Ich kniff die Augen wieder zu und wartete. Und kurz darauf schlug sie auch schon über mir zusammen, diese Welle aus Angst und Selbstekel, die einen nach einer Partynacht überrollt. Dieses untrügliche Gefühl, dass man etwas Schlimmes verbrochen hat und ein von Grund auf schlechter Mensch ist, dem für den Rest seines nichtsnutzigen Lebens nur noch Böses widerfahren wird, weil man es eben nicht besser verdient hat.

Mich hatte die große Flatter gepackt, aber das lag nicht nur an dem Kater. Die Angst und die Zweifel brummten schon seit längerem im Hintergrund, der Kater hatte nur die Lautstärke aufgedreht.

Dabei war mein Leben gar nicht so schlecht. Im Gegenteil.

Mit Anfang zwanzig war ich die Journalisten-Karriereleiter emporgekraxelt, inzwischen arbeitete ich erfolgreich als freiberufliche Autorin und konnte mir ein Leben in London leisten. Ich wurde doch tatsächlich dafür bezahlt, verschiedene Mascara-Marken einem Härtetest zu unterziehen. Etwa einen Monat vor dem alles entscheidenden Kater hatte man mich in einen österreichischen Kurort geschickt, wo ich mit reichen Ehegattinnen abhing, die ein Vermögen dafür bezahlten, Brühe und trockenes Brot zu essen. Ich reiste für lau, nahm fünf Pfund ab und kam mit einer hübschen Sammlung Minishampoos nach Hause.

Für eine Reportage hatte mir Dita Von Teese in ihrer Suite im Nobelhotel Claridge’s einen Intensivkurs in Sachen Verführung gegeben. Und ich hatte sogar mal ein Interview mit James Bond geführt und mir noch Wochen danach die Sprachnachricht vom großen Roger Moore angehört, in der er mir für den »verdammt guten« Artikel dankte.

Im Job lief es also traumhaft.

Und auch an meinem Privatleben gab es wenig auszusetzen. Ich hatte Freunde und eine Familie, denen ich wichtig war. Ich kaufte mir sündhaft teuere Jeans und trank überteuerte Cocktails. Ich verreiste. Nach außen hin wirkte ich wie eine Frau, die Spaß am Leben hat.

Aber dem war nicht so. Ich stand total auf dem Schlauch.

Während meine Freunde Badezimmer renovierten und Urlaube auf dem Land planten, verbrachte ich meine Wochenenden alkoholisiert oder vor der Glotze.

Wenn ich eingeladen war, dann zu Verlobungsfeiern, Hochzeiten, Hauseinweihungen und Kindstaufen. Lächelnd stand ich daneben und überreichte Geschenke. Ich schrieb Glückwunschkarten und erhob mein Glas auf das junge Glück. Aber mit jeder Feier, die andere eine Stufe weiterbrachte, verstärkte sich bei mir das Gefühl, abgehängt, einsam und belanglos zu sein. Ich war sechsunddreißig, meine Freunde hakten eine Etappe nach der anderen ab, während ich in dem Leben stecken geblieben war, das ich schon mit Mitte zwanzig geführt hatte.

Ich hatte keinen Mann, kein Eigenheim und keinen Plan.

Wenn man mich fragte, ob es mir gutgehe, antwortete ich ja. Dabei war klar, dass ich unglücklich war. Aber warum? Ich hatte doch unglaublich viel Glück! Ich fing an, darüber zu jammern, dass ich immer noch allein war, dabei wusste ich gar nicht, ob das der wirkliche Grund für meine Traurigkeit war. Würde ein Mann meine Probleme lösen? Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Wollte ich heiraten und Kinder kriegen? So sicher war ich mir da gar nicht. Ohnehin war das alles eine theoretische Frage. Die Männer lagen mir nicht gerade zu Füßen.

Tatsächlich war es so, dass ich eine Heidenangst vor Männern hatte und deswegen ständig eingeschüchtert war. Warum gelang mir nicht, was alle anderen fertigbrachten, warum konnte ich nicht einfach jemanden kennenlernen, mich verlieben und heiraten?

Es kam mir vor, als stimmte etwas nicht mit mir.

Aber das sagte ich niemandem. Stattdessen nickte ich, wenn man mir versicherte, ich würde schon noch jemanden kennenlernen. Daraufhin wurde schnell das Thema gewechselt und am Ende ging ich wieder allein nach Hause. In dramatischen Momenten sah ich mich in die komplette Bedeutungslosigkeit abdriften. Dieser Katersonntag war so ein Moment.

Ich schaute mich im Chaos-Schlafzimmer meiner unverschämt teuren Souterrainwohnung um: Auf dem Boden waren Unterhosen und Strumpfhosen verteilt, dazwischen lag ein nasses Handtuch. Aus dem Abfalleimer quollen Abschminktücher und leere Plastikflaschen. Ich zählte drei halbleere Kaffeebecher.

Beim Anblick dieser Szene fragte mich eine innere Stimme:

Was machst du hier eigentlich?

Und gleich nochmal, dieses Mal lauter und bestimmter:

Was machst du?

Genau so etwas passiert auch immer in Romanen, wenn ein absoluter Tiefpunkt erreicht ist. Da meldet sich auf einmal eine Stimme aus dem Nichts und flüstert der Hauptfigur ein, dass sich etwas ändern muss. Diese Stimme kann Gott gehören, einem Verstorbenen oder meinetwegen irgendwelchen Geistern oder Engeln, aber immer ist da eine Stimme.

Ich habe das nie für bare Münze genommen, sondern für ein Stilmittel gehalten, das für erhöhte Aufmerksamkeit sorgen soll. Aber es ist wahr. Manchmal gerät man tatsächlich an einen Punkt, an dem man Stimmen hört.

Meine innere Stimme hatte es seit Monaten auf mich abgesehen, sie weckte mich schon morgens um drei. Ich saß dann kerzengerade, mit klopfendem Herzen im Bett, und sie fragte:

Was tust du? Was tust du?

Ich bemühte mich, diese Stimme zu ignorieren. Ich schlief wieder ein, ging wieder zur Arbeit und stand wieder in der Kneipe. Doch im Laufe der Monate ließ sich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, immer schwerer unterdrücken. Denn ich hatte absolut keine Ahnung, was ich da tat. Es kamen immer mehr Risse zum Vorschein. Nur mit Mühe konnte ich ein Lächeln aufsetzen und die Tränen, die sonst nur in meinem Schlafzimmer flossen, nahmen auf einmal öffentlich – im Pub, im Büro, auf Partys – ihren Lauf. Bis ich diese Frau auf Hochzeitsfeiern war, die erst besoffen zu Single Ladies von Beyoncé über die Tanzfläche taumelt und dann heulend auf dem Klo hockt.

Diese Person wollte ich nie sein. Doch es war auf einmal passiert.

Nach vier Stunden postalkoholischen Dämmerzustands mit den Kardashians klingelte das Telefon. Ich hatte nicht einmal geduscht.

Meine Schwester war dran, Sheila.

»Was machst du gerade?«, fragte sie. Sie klang fröhlich und war voller Elan. Sie telefonierte im Gehen.

»Nichts. Ich habe einen Kater. Und du?«

»Ich komme gerade vom Fitness, und jetzt geh ich mit Jo brunchen.«

»Schön.«

»Du klingst so niedergeschlagen.«

»Bin ich nicht. Nur verkatert.«

»Geh doch eine Runde spazieren, das hilft.«

»Es regnet«, log ich. Sheila konnte das nicht überprüfen, sie wohnte in New York. In einem superschicken Apartment, mit einem superschicken Job und superschicken Freunden, mit denen sie superschick brunchte. Ich stellte mir vor, wie sie in Manhattan über die Straße hüpfte, ganz frisch und rosig vom Sport, mit leuchtenden superteuren Strähnchen im Haar.

»Hast du heute gar nichts vor?«, fragte sie. Diese unterschwellige Kritik, wie ich sie hasste.

»Keine Ahnung. Der Tag ist bald vorbei, hier ist es vier Uhr nachmittags.«

»Bist du sicher, dass es dir gutgeht?«

»Ja, doch. Ich bin nur müde.«

»Okay. Dann lass ich dich mal in Ruhe.«

Ich wollte schon auflegen, damit sie ihr supertolles Leben weiterführen und ich weiter ins Selbstmitleid abdriften konnte, aber dann kamen wieder diese Tränen.

»Was ist denn? Ist gestern Abend etwas passiert?«, fragte Sheila.

»Nein, das ist es nicht.«

»Was denn dann?«

»Ich weiß nicht …«, begann ich, und dann brach mir die Stimme weg. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«

»Was meinst du damit?«

»Ich bin immer nur traurig und ich weiß nicht warum.«

»Aber Marianne …« Ihre Stimme klang jetzt weniger forsch.

»Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Ich tue doch schon alles, ich arbeite hart, versuche freundlich zu sein, ich bezahle eine horrende Miete für diese bescheuerte Wohnung. Und wozu das alles? Wo liegt da der tiefere Sinn?«

Sheila konnte mir darauf auch keine Antwort geben. Um drei Uhr morgens, als ich nicht mehr schlafen konnte und endgültig genug von den Kardashians hatte, nahm ich also etwas zur Hand, was mir helfen sollte.

Mein erstes Selbsthilfebuch habe ich mit vierundzwanzig gelesen. Wir saßen in der All Bar One am Oxford Circus, tranken billigen Weißwein, und ich jammerte über meinen fürchterlichen Aushilfsjob, als mir meine Freundin ein zerlesenes Buch reichte. Selbstvertrauen gewinnen: Die Angst vor der Angst verlieren von Susan Jeffers.

Laut las ich den Untertitel vor: »Wie Sie Angst und Unentschlossenheit hinter sich lassen und Selbstvertrauen und Tatendrang entwickeln …«

Ich verdrehte die Augen und las auch noch den Klappentext: »Was hält Sie davon ab, eine starke Persönlichkeit zu sein und Ihr Leben nach eigenem Willen zu gestalten? Haben Sie Angst vor Konfrontation? Vor Veränderungen? Vor Verantwortung?« Ich musste nochmals die Augen verdrehen. »Ich habe keine Angst, ich habe einen Scheißjob.«

»Ich weiß, es klingt abgedroschen. Aber lies das mal«, drängte meine Freundin. »Danach hast du das Gefühl, dass du unbedingt was machen musst!«

Ich hatte keine Ahnung, was meine Freundin nun unbedingt tun musste außer sich mit mir zu betrinken, aber egal. Ich fing noch abends im Weinnebel an zu lesen und schaffte die Hälfte. Am nächsten Abend las ich das Buch aus.

Ich hatte ein Literaturstudium absolviert und hegte schriftstellerische Ambitionen, und doch war da etwas an diesen Großbuchstaben und Ausrufezeichen, das mich gefangen nahm. Ich bewunderte dieses amerikanische »Ich pack das!«. Diese Einstellung war das genaue Gegenteil von meinem englisch-irischen Pessimismus. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass mir alle Türen offenstanden.

Nach der Lektüre kündigte ich meinen Job, ohne eine Alternative in Aussicht zu haben. Eine Woche später erzählte mir eine Bekannte von einer ellenweit entfernten Bekannten, die bei einer Zeitung arbeitete. Ich rief sie an. Immer wieder. Es nahm einfach nie jemand ab, aber ich rief weiter an. Dabei legte ich eine Hartnäckigkeit an den Tag, die ich von mir überhaupt nicht kannte. Und dann meldete sie sich irgendwann zurück und meinte, ich könnte ein Praktikum machen. Zwei Wochen später bot man mir eine Stelle an.

Und so begann meine Karriere im Journalismus. Das Risiko hat sich also gelohnt.

Von da an war ich süchtig nach Selbsthilfe. Wenn so ein Buch versprach, innerhalb einer Mittagspause mein Leben umzukrempeln oder mir in fünf einfachen Schritten zu mehr Selbstvertrauen / einem Mann / viel Geld zu verhelfen, und wenn es dann auch noch Oprah Winfreys Segen hatte, dann kaufte ich nicht nur das Buch, sondern auch das T-Shirt und noch den Audio-Ratgeber dazu.

Ich verschlang Bücher mit den Titeln wie Die sieben Wege zur Effektivität, Das kleine Buch der Ruhe, Die Regeln des Lebens, Das Glücksprinzip und Die Kraft positiven Denkens. Ich unterstrich ganze Passagen und machte eifrig Randnotizen. Jedes dieser Bücher lockte mit einem glücklicheren, gesünderen, bewussteren Leben. Und? Ging die Rechnung auf?

Von wegen!

Keines hatte denselben Effekt wie Die Angst vor der Angst verlieren.

Ich las dieses Buch vom Reichwerden von Paul McKenna, einem ehemaligen Radio-DJ und Hypnotiseur, der mit seiner Ratgeberreihe tatsächlich ordentlich verdient hat, und trotzdem blieb mein Umgang mit Geld katastrophal. Ich gab die Scheinchen schneller aus als man hinschauen konnte.

Natürlich las ich auch Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus und Warum die nettesten Männer die schrecklichsten Frauen haben, aber blieb allein.

Die Angst vor der Angst gab meiner Karriere zwar einen Schubs, aber mein berufliches Fortkommen habe ich nicht etwa den Erfolgsprinzipien eines Jack Canfield zu verdanken, sondern ganz allein meiner schrecklichen Versagensangst, die mich ackern ließ wie eine Wilde.

Bei einem meiner zahlreichen Umzüge half mir meine Freundin Sarah beim Packen und amüsierte sich köstlich, als sie in jedem Zimmer einen Stapel Ratgeber vorfand. Sie lagen einfach überall herum.

»Ich brauche die für meine Arbeit«, erklärte ich. Was teils auch stimmte. Ab und an schrieb ich eine Rezension. Aber die meisten dieser Bücher hatte ich aus einem anderen Grund gekauft: Ich hoffte, sie würden mein Leben verändern.

»Steht da nicht überall dasselbe drin?«, fragte Sarah. »Positiv denken, Schweinehund überwinden und so weiter? Ich kapiere nicht, warum man zweihundert Seiten braucht, um etwas mitzuteilen, das hinten in einem Absatz zusammengefasst wird.«

»Manchmal muss man die Message eben mehrfach wiederholen, damit es richtig einsickert«, erwiderte ich.

Sarah nahm ein Buch in die Hand, das zwischen zwei Ladekabeln und zahllosen Lieferservicezetteln auf dem Kühlschrank lag.

»Sorge dich nicht – lebe!«, las sie den Titel des Exemplars vor.

»Ein tolles Buch!«, meinte ich.

Sie lachte.

»Nein, jetzt echt, das ist ein Klassiker, Dale Carnegie hat es während der Weltwirtschaftskrise geschrieben. Ich habe dieses Buch schon drei Mal gelesen.«

»Drei Mal?«, wiederholte Sarah.

»Ja!«

»Und du glaubst, es hat dir geholfen.«

»Ja!«

»Du lebst also sorgenfrei.«

»Na ja …«

Sarah lachte sich scheckig, sie hatte schon Tränen in den Augen.

Ich wollte wütend werden, aber es gelang mir nicht. Tatsächlich machte ich mir massenhaft Sorgen. Für all die Ratgeber in meinen Regalen – beziehungsweise unter meinem Bett – war ich kein Erfolgsbeispiel. Ich war der beste Beweis dafür, dass Selbsthilfe nicht funktionierte, denn sonst hätte ich mich ja längst neu sortiert. Mindestens zehn Ratgeber kaufte ich pro Jahr und trotzdem lag ich verkatert, depressiv, neurotisch und allein in meinem Bett.

Warum las ich diese Bücher, wenn sie mir doch offensichtlich nicht weiterhalfen?

Es war wie bei Schokokuchen oder den alten Friends-Folgen: Ich tröstete mich damit. Denn sie sprachen Ängste und Unsicherheiten an, die ich nur zu gut kannte, anderen gegenüber aber nicht zugeben wollte. Meine seltsamen Zustände wirkten ganz normal und menschlich. Ich fühlte mich beim Lesen weniger allein.

Und ich konnte mir dabei wer weiß was einbilden. Diese Bücher waren wie Märchen für Erwachsene, ich berauschte mich an ihren Versprechungen und stellte mir vor, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich selbstbewusster und effizienter wäre. Wenn ich mir über nichts Sorgen machen müsste und morgens um fünf voller Elan aus dem Bett springen würde …

Das Problem an der Sache war: Ich wachte jeden Morgen (lange nach fünf!) auf und lebte mein Leben weiter wie gehabt. Es änderte sich nichts, weil ich die Ratschläge in den Büchern gar nicht befolgte. Ich führte kein Tagebuch, ich sprach nicht mit meinem Spiegelbild.

Nach Die Angst vor der Angst hatte ich zwar meinen Job gekündigt, aber das blieb die einzige Ausnahme, ansonsten verließ ich meine Komfortzone nicht. Ich verließ nicht einmal mein Bett.

Während der Sonntagskater langsam verschwand und ich zum fünften Mal Die Angst vor der Angst las, kam mir eine Idee. Eine Idee, die aus einer verkaterten, depressiven Chaosbraut eine glückliche Erfolgsfrau machen würde.

Ich würde fortan nicht mehr über Selbsthilfe lesen, sondern Selbsthilfe praktizieren.

Ich wollte wirklich jeden Ratschlag dieser selbsternannten Gurus beherzigen und herausfinden, was passierte, wenn ich Die 7 Wege zur Effektivität tatsächlich einschlug. Wenn ich Die Kraft der Gegenwart wirklich spürte. Könnte ich mein Leben komplett ändern? Würde ich reich werden? Schlank? Würde ich mich verlieben?

Mein Vorhaben stand: Ein Ratgeber pro Monat, den ich Wort für Wort befolgen würde, um das Selbstoptimierungsversprechen auf die Probe zu stellen. Das Ganze sollte ein Jahr dauern, also würde ich insgesamt zwölf Bücher testen. Systematisch würde ich mir sämtliche Baustellen meines Lebens vornehmen: zu wenig Geld, zu viele Sorgen, zu viele Kilos … Am Ende des Jahres wäre ich dann perfekt.

»Okay, aber dann musst du tatsächlich aktiv werden«, bemerkte Sheila, als ich ihr ein paar Tage später am Telefon von meiner Idee erzählte. »Du kannst nicht einfach nur Bücher lesen, die deine Seelenlage analysieren.« Sie befürchtete offenbar, ich wollte nur Nabelschau betreiben und mich noch mehr mit mir selbst beschäftigen als ich es ohnehin schon tat.

»Na klar muss ich das alles machen!«, fuhr ich dazwischen. »Darum geht es ja.«

»Und welche Ratgeber willst du befolgen? Hast du einen Plan?«

Ein erneuter Seitenhieb. Sheila weiß, dass ich nie einen Plan habe.

»Ich fang mit Die Angst vor der Angst an, weil mich das beim ersten Mal echt vorangebracht hat, und dann suche ich mir ein Buch, in dem es um Geld geht. Welches als nächstes kommt, weiß ich noch nicht. In der Psychoszene heißt es, das richtige Buch kommt zum richtigen Zeitpunkt zu einem«, erklärte ich.

Mir war klar, dass das alles etwas ungeordnet klang.

»Und nimmst du nur Bücher, die du schon kennst, oder kommen auch neue dazu?«, erkundigte sich meine Schwester.

»Das wird eine Mischung«, antwortete ich.

»Mit einem Dating-Ratgeber?«

»Ja.«

»Welchem?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Und wann kommt der dran?«

»Keine Ahnung, Sheila! Zum Ende des Jahres. Ich muss erst an mir selbst arbeiten und dann kann ich an einen Mann denken.«

Ich hasste mich für diesen Ausdruck: »an mir arbeiten«.

»Und was soll das alles bringen?«, fragte Sheila. Genau dafür zahlt man ihr so viel Schotter. Dafür, dass sie in jedem Plan die Schwachstellen entdeckt.

»Keine Ahnung. Ich will einfach glücklicher und selbstbewusster sein und keine Schulden mehr haben. Ich will gesünder leben und nicht so viel trinken …«

»Dafür brauchst du doch kein Buch«, unterbrach mich Sheila.

»Das weiß ich auch!« Und ich nippte an meinem Wein.

»Also gut. Aber dann mach was. Rede nicht nur darüber.«

»Alles klar, Sheila. Das werde ich.«

Selbst Sheilas nüchterner Realismus konnte mich nicht von meiner Idee abbringen. Ich legte auf, schloss die Augen und stellte mir vor, wie perfekt ich zum Jahresende sein würde.

Mein perfektes Ich würde sich nicht mehr sorgen, nichts auf morgen verschieben und alles im Griff haben. Es würde für die besten Zeitungen und Zeitschriften schreiben und damit Unmengen Geld verdienen – genug Geld, um sich die schiefen Zähne richten zu lassen. Mein perfektes Ich würde ein traumhaftes Apartment mit extragroßen Fenstern bewohnen. Die Regale in dieser Wohnung wären gefüllt mit anspruchsvoller Literatur, die mein perfektes Ich auch noch lesen würde. Abends würde es in schlichten und superteuren Klamotten auf tollen Hipster-Partys erscheinen. Und ansonsten andauernd zum Fitness rennen. Und an seiner Seite hätte es natürlich einen schnuckeligen Typen im Kaschmirpulli. Klaro.

Ich würde diese Vollkommenheit haben, die man aus Zeitschriften kennt, in denen perfekte Menschen in ihrem perfekten Zuhause und ihren perfekten Klamotten über ihr perfektes Leben plauderten. Ich würde dazugehören!

Es war November, im Januar ginge es dann los. Neues Jahr, neues Ich.

Ich war schon ganz aufgekratzt. Endlich. Jetzt würde sich mein Leben ganz bestimmt ändern.

Ich hatte ja keine Ahnung, dass mein feiner Zwölfmonatsplan in einen sechzehnmonatigen Ausnahmezustand ausarten würde, der alles komplett auf den Kopf stellte.

Ja, Selbsthilfebücher haben mein Leben verändert. Fragt sich nur, ob zum Besseren.

1

Selbstvertrauen gewinnen: Die Angst vor der Angst verlieren

von Susan Jeffers

»Gehen Sie jeden Tag ein Risiko ein – jeden Tag eine große oder kleine Leistung, nach der Sie sich großartig fühlen.«

Es ist Mittwoch, der 1. Januar, ich stehe auf einem Holzsteg und schaue in einen schlammig braunen Teich. Meine Beine umweht eisige Luft, es beginnt zu regnen.

Hinter mir eine Tafel, die die Wassertemperatur anzeigt: 5 Grad, also knapp über null. Ich merke, wie auf jedem Quadratzentimeter meines Körpers Gänsehaut in Stellung geht.

»Bist du schon einmal in den Ladies’ Ponds geschwommen?«, erkundigt sich die Matriarchin, die neben dem Wasser Wache hält. Ihre Worte sind beinahe so ermutigend wie das Wetter und ihr Akzent lässt ahnen, dass ihr halb Hampshire gehört.

»Nein«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»In dieser Jahreszeit ist das nicht ungefährlich. Das Wasser ist extrem kalt.«

»Aha«, sage ich.

»Beim Eintauchen muss man lang ausatmen.«

»Aha.«

»Dann hyperventiliert man nicht so leicht.«

Ah!

Ich schaue zu den haarfeuchten Damen mittleren Alters, die sich mit dampfenden Teebechern zusammenrotten. Wenn die das schaffen, schaffe ich das auch. Oder?

Ich setze einen Fuß auf die eiskalte Leiter und ziehe den anderen nach. Dann geht es eine Sprosse tiefer. Mein rechter Fuß trifft auf Wasser, mich durchzuckt der Schmerz.

»Scheiße!«, schreie ich.

Mein zweiter Fuß taucht ein und ich kreische auf.

Ich will nicht weiter. So eine bekloppte Idee. Ich bin nicht der Mensch, der mitten im Winter schwimmen geht. Mich fröstelt schon vor dem offenen Kühlschrank.

Hinter mir stehen weitere Frauen an. Ich kann doch jetzt nicht wieder rausklettern, wo mich alle anschauen.

Also weiter, bis ich irgendwann bis zur Hüfte drin bin. Ich schnappe nach Luft und habe das Gefühl, von Millionen kleiner Eiszapfen gestochen zu werden.

Das mit dem Eisbaden war Sarahs Idee gewesen. Sie war zwar kein Fan von Selbsthilfe, aber sie machte mir einfach immer Mut – bei allem, was ich tat. Ich hätte ihr auch sagen können, dass ich mich den Scientologen anschließe, und sie hätte immer noch erwidert: »Super, dann triffst du Tom Cruise!«

»Ich habe darüber nachgedacht, was man im Januar Schreckliches tun könnte«, hatte sie mir bei unserem Treffen vor Weihnachten gesagt, als wir in einem Pub abseits der Charlotte Street saßen.

»Ich habe gestern In Teufels Küche gesehen und mir überlegt, du könntest mit Gordon Ramsay in so einem versifften Restaurant arbeiten und dich anschnauzen lassen«, schrie sie, während Merry Christmas Everybody von Slade aus den Boxen dröhnte.

»Das wäre in der Tat furchtbar«, stimmte ich zu, um ihr einen Gefallen zu tun. Dazu würde sie mich niemals bekommen.

»Steve meint, du könntest den Flitzer bei einem Fußballspiel machen …«

»Na klar.«

»Oder dir die Haare abrasieren.«

»Ich will mir nicht die Haare abrasieren!«, entgegnete ich. Langsam hatte ich wirklich genug.

Sarah sah auf ihr Handy und las weitere Vorschläge vor: »Du könntest auch eine Freundin abservieren und ihr alles aufzählen, was du an ihr hasst. Mach das aber bloß nicht mit mir. Ach, und das hier ist das Beste: Schreibe ein erotisches Abenteuer und schicke es deiner Mutter!«

»Oh, Mann. Warum sollte ich das tun?«

»Weil es schrecklich und furchterregend ist.«

»Ist es nicht. Es ist einfach nur ekelhaft.«

»Ja. Schrecklich ekelhaft.«

»Wie kommst du auf so etwas?«

»Keine Ahnung. Als ich gestern Abend im Bett lag, kam mir eine Idee nach der anderen!«, antwortete Sarah.

»Es geht doch darum, Alltagsängste zu überwinden, und nicht darum, irgendeinen Unsinn zu begehen, bei dem ich noch verhaftet werde. Wie soll ich überhaupt in Gordon Ramsays Restaurantretter-Sendung kommen?«, fragte ich.

»Das kriegst du schon noch raus. Du bist schließlich Journalistin«, erwiderte Sarah.

»Ich schreibe über Mascara.«

»Was hast du denn dann vor?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht schaue ich mal in meine Kontoauszüge oder gehe ans Telefon oder mache meine Steuererklärung. Das sind die Dinge, vor denen ich Angst habe.«

»Du nimmst dir also für den Januar vor, das Telefon abzuheben?«, hakte Sarah nach. Ihr Tonfall stellte klar, dass sie das nicht zulassen würde.

»Ich schlage vor, du springst am Neujahrstag in die Hampstead Ponds und stellst dich deiner Kälte-Angst.«

Das war tatsächlich mal eine gute Idee. Ich fürchtete mich entsetzlich vor Kälte. Sarah und ich hatten letzten Februar meine beste Freundin Gemma in Irland besucht. Ich fror dort so schrecklich, dass ich vor dem Zubettgehen meinen gesamten Kofferinhalt anzog, sogar meinen Mantel. Einen Großteil der Woche verbrachte ich in unmittelbarer Nähe zur Heizung.

Nun ging ich am 1. Januar, an einem der kältesten Tage des Jahres, draußen schwimmen.

Sarah war nicht dabei. Sie hatte bis vier Uhr morgens gefeiert und lag nun in einem abgedunkelten Raum, aus dem sie mir planschende Emojis schickte. Gemma feuerte mich aus Dublin an, wo sie sich um ihren neugeborenen Sohn James kümmerte.

Begleitet wurde ich von meiner Freundin und brandneuen Mitbewohnerin Rachel. Kurz vor Weihnachten hatte sie mir aus Mitleid ihr Gästezimmer überlassen, damit ich aus meinem geldfressenden Souterrain herauskam.

Sie hatte das Eisschwimmen ohne Zögern zugesagt. Ich nahm an, sie meinte es nicht ernst. Sie würde am Neujahrsmorgen aufwachen, in den grauen Himmel schauen und vorschlagen, dass wir etwas essen gehen. Ich wäre dann aus der Sache raus und könnte ihr die Schuld geben. Aber es kam anders. Rachel klopfte um zehn bei mir an, das Handtuch über der Schulter.

»Fertig?«, fragte sie.

»Machen wir das jetzt echt?«

»Na klar. Wird sicher lustig.«

»Aber es regnet doch. Sieht furchtbar aus draußen.«

»Wir werden doch sowieso nass.«

»Lieber gehen wir irgendwo was essen …«, schlug ich vor.

»Sei kein Frosch. Das war deine Idee.«

Genau da lag das Problem. Ideen hatte ich viele, und über Ideen reden konnte ich auch prima. Aber Ideen in die Tat umsetzen, das war eben nicht so mein Ding.

Wir gingen über einen dicht bewaldeten Pfad zu den Teichen. Man hörte Stimmen, das Geplapper wurde immer lauter. Schließlich trafen wir auf mindestens dreißig Frauen in Wollmützen und gefütterten Anoraks, die um einen provisorischen Tisch mit Pasteten, Mince Pies und einem Riesenbottich Glühwein standen.

Das alles wirkte sehr nett. Wenn wir nur den Teil mit dem Wasser auslassen könnten.

»Ist es sehr kalt?«, fragte ich eine ältere Dame in der Umkleide.

»Es ist schnell vorbei«, antwortete sie und lächelte mich mit blauen Lippen an.

Das war es tatsächlich.

Zuerst fühlte sich das Wasser so eiskalt an, dass ich dachte, ich müsste sterben.

Ich paddelte und strampelte hindurch wie ein verzweifelter Welpe.

Schon nach wenigen Sekunden hatte ich einen Krampf im Nacken und einen zweiten im rechten Fuß.

Es tat weh. Das Wasser tat weh. Jeder Teil meines Körpers tat weh.

Ich bewegte mich trotzdem weiter und langsam fühlte es sich wärmer an. Oder meine Glieder waren inzwischen taub, aber mir war es recht so.

Ich beruhigte mich etwas.

Es war absolut still, nur mein Herz pochte mir in den Ohren.

Ich sah auf die Trauerweiden, die sich über mich neigten, und zog die Arme durch das seidige Wasser.

So fühlt sich Leben an, dachte ich.

Ich schwamm weiter.

Es war schön.

Und dann war es vorbei. Ich ergriff das metallene Geländer und zog mich die Stufen hoch.

Eine Frau mit orangefarbener Badekappe rubbelte sich mit einem Handtuch ab. Sie war mindestens siebzig, trug pinkfarbene Gummihandschuhe und strahlte mich an:

»Kannst du dir einen besseren Start ins Jahr vorstellen?«

Mein Körper wurde von Wärme durchflutet. Alles kribbelte, ich grinste über beide Ohren. Jeder Zentimeter meines Körpers fühlte sich lebendig an.

»Nein, kann ich nicht«, sagte ich.

Und das meinte ich ernst. Mit diesem fünfminütigen Eisbad hatte ich eine Grenze überschritten. Die Grenze zwischen jemandem, der über Dinge redet, und jemandem, der Dinge tut. Es schien alles möglich. Mein Jahr hatte begonnen.

Selbstvertrauen gewinnen: Die Angst vor der Angst verlieren von Susan Jeffers ist 1987 erschienen – in der Zeit von Schulterpolstern, Margaret Thatcher und der Cosmopolitan.

Damals wurden die meisten Selbsthilfebücher von Männern geschrieben, die Frauen erklärten, wie man Liebe findet und sich bindet. In Die Angst vor der Angst aber rät eine Frau anderen Frauen, rauszugehen und etwas zu wagen. Irgendetwas zu tun, und zwar für sich selbst und nicht für andere. Der Ton des Buches ist beschwingt, aber seriös. Als ich es während der Leerlaufphase zwischen Weihnachten und Neujahr noch einmal las, spürte ich wieder diesen Motivationsschub. Der Trick dabei ist, diesen auch in die Tat umzusetzen, so wie damals mit meiner Kündigung.

Susan Jeffers stellt nämlich von Anfang an klar: Wenn wir nur rumsitzen und auf den Tag warten, an dem wir uns mutig genug fühlen, unsere Vorsätze umzusetzen, wird nie etwas passieren.

Das Geheimnis glücklicher und erfolgreicher Menschen besteht laut Jeffers nicht darin, dass sie weniger Angst haben, sondern dass sie Angst haben und sich trotzdem trauen.

Die Autorin meint sogar, wir sollten am besten jeden Tag Angst haben, denn das wäre ein Zeichen dafür, dass wir uns herausfordern und weiterbewegen. Wer keine Angst hat, kann auch nicht über sich selbst hinauswachsen.

»Ich muss also jeden Tag etwas tun, wovor ich Angst habe«, erklärte ich Rachel, als wir nach dem Schwimmen zuhause Bolognese kochten.

»Und an was denkst du da?«, erkundigte sich Rachel.

»Stand-up-Comedy. Allein bei dem Gedanken wird mir schlecht.«

»Warte mal.« Sie lief ins Wohnzimmer und kam mit einem Notizblock zurück. »Schreib das auf.«

»Wieso? Ich mache keine Stand-up-Comedy.«

»Oh doch.«

»Ne, jetzt echt nicht. So weit muss ich doch nicht gehen.«

Aber es hatte keinen Zweck, Rachel hatte es schon notiert, und zwar in Großbuchstaben.

»Was noch?« Sie hielt den Stift gezückt.

Panik stieg in mir hoch.

»Äh. Einen Typen ansprechen oder mich mit einem Typen verabreden, irgendwas in der Art.«

»Am besten du quatscht einen Kerl in der U-Bahn an.«

»Wie?«

»Nur so wird es interessant.«

»Niemals. Hör auf.«

Sie hob die Augenbrauen.

»Na schön.«

Am Ende des Abends hatten wir eine Liste mit schrecklichen Dingen zusammengestellt, die ich mir im Januar vornehmen sollte.

Stand-up-ComedyEinen Typen in der U-Bahn ansprechenSich mit einem Fremden verabredenVor Publikum singenEine Rede haltenNackt Modell stehenEinen Horrorfilm schauen (mein letzter war Misery, mit 13: ein Trauma)Einen Spinning-Kurs belegenJemanden darauf ansprechen, warum er oder sie mich gekränkt hatIn einem Laden nach Rabatt fragen oder feilschen (grausig!)Endlich die vier Zahnfüllungen machen lassenDas Muttermal auf meinem Rücken untersuchen lassenInnereien essen (Ich habe extreme Panik vor stückigen oder weichen Fleischgerichten)Fallschirmspringen oder etwas anderes Waghalsiges tunIn London Fahrrad fahrenHerausfinden, was andere über mich denken (die schlechten Sachen)Rückwärts einparkenAutobahn fahrenWütend werden (was ich nie tue, weil ich zu gehemmt bin und Angst habe, dass ich andere vergrätze)Jeden Tag telefonieren (Ich hasse das!)

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Meine tolle Idee kam mir auf einmal sehr real vor, und das gefiel mir nicht. Ich wollte aus keinem Flugzeug springen und auf keinen Fall wollte ich Sketche vortragen. Das sollten andere machen. Verrückte, Überdrehte, Masochisten. Menschen, die einen an der Waffel hatten.

Hatte ich etwa einen an der Waffel?

Am 2. Januar versuchte ich mich am rückwärts Einparken. Kein großes Ding eigentlich, aber das letzte Mal hatte ich als Siebzehnjährige während der Fahrprüfung in Reihe geparkt. Wenn ich mal Auto fuhr, stellte ich es lieber drei Kilometer entfernt ab, anstatt mich in eine Lücke manövrieren zu müssen, während sich hinter mir eine Schlange bildete. Es kam mir bescheuert vor, eine solche Kleinigkeit, die andere täglich und selbstverständlich hinbekamen, zu einem Hindernis anwachsen zu lassen, das ich komplett vermied.

Laut Susan Jeffers gibt es drei Ebenen der Angst: Die erste Ebene ist die »oberflächliche Geschichte« – in diesem Fall also meine Parkphobie. Darunter liegt eine »Angst der zweiten Ebene« – das ist die am Ego knabbernde Befürchtung, wie eine Idiotin dazustehen. Jeffers schreibt: »Die Ängste der zweiten Ebene haben mehr mit der inneren Einstellung zu tun als mit äußeren Situationen. Sie spiegeln Ihr Selbstgefühl und Ihre Fähigkeit, mit dieser Welt umzugehen.« Unter der zweiten Ebene aber lauert die größte Angst von allen, nämlich die Angst, dass man nicht damit fertigwird, wie eine zum Parken unfähige Idiotin dazustehen. Dieser Angst begegnet Susan Jeffers mit der Versicherung: »Du wirst damit fertig.«

Ich hatte bei meiner Mutter ein paar Sachen abgeholt, und bei der Gelegenheit lieh ich mir ihren zerbeulten Peugeot 205 und fuhr nach Ascot, meine alte Heimat.

Der kleine Ort ist berühmt für das Pferderennen, und das ist auch so ziemlich alles. Als Teenagerin jobbte ich in dem einzigen Café. Ich hatte immer Mitleid mit den armen Touristen, die sich bei uns nach dem Weg nach »Royal Ascot« erkundigten. Ich musste ihnen dann sagen, dass sie längst da waren. Eine Tankstelle, ein Café und der Zeitungsladen von Mr Martin. Mehr Glamour hatte der Ort nicht zu bieten.

Man kann also nicht gerade von einer Metropole sprechen, aber an diesem 2. Januar war doch einiges los. Ich kurvte zwei Mal ums Eck, bis ich eine Lücke entdeckte. Eine arg kleine Lücke, und ich bekam schon wieder zu viel, als ein weißer Lieferwagen hinter mir stehenblieb. Ich schlug zu steil ein und stieß an den Bordstein.

Mein Herz begann zu klopfen, meine verschwitzten Hände rutschten vom Lenkrad.

Ich versuchte nachzubessern, stand am Ende aber nur noch schräger da. Meine Sorge war, dass der weiße Lieferwagen hupen würde. Ich stellte mir vor, wie die beiden Männer hinter der Windschutzscheibe über mich lachten. Der von mir empfundene Stress war der Situation vollkommen unangemessen. In einem Anfall von Panik fuhr ich einfach die Bordsteinkante hoch. Der weiße Transporter konnte passieren.

Jetzt störte mich niemand mehr. Ich lenkte das Auto aus der Lücke und versuchte es noch ein paar Mal, doch es haute nie hin. Immer landete ich an der Kante.

Aber komischerweise störte mich das nicht.

Am Ende kam noch so etwas wie Reihenparken zustande, und nach Susan Jeffers reichte das vollkommen, denn es ist kein Scheitern, wenn man etwas nicht schafft, sondern ein Erfolg, wenn man es versucht.

Und es fühlte sich auch wie ein Erfolg an, Bordsteinkante hin oder her.

Jeffers meint, das Vermeiden von kleinen Dingen habe große Auswirkungen. Wer Angst hat, auf der Autobahn zu fahren oder seine Kontoauszüge zu lesen oder ans Telefon zu gehen, bestätigt damit die Annahme, dass die Welt grausam und gefährlich ist und wir darin nicht zurechtkommen. Jedes Mal, wenn wir vor etwas zurückschrecken, kommen wir uns noch schwächer und hilfloser vor, aber wenn wir unsere Angst überwinden, und sei es auch im Kleinen, fühlen wir uns stark und dem Leben gewachsen. Genau so wollte ich mich fühlen. Als hätte ich alles im Griff. Und zwar nicht nur beim Autofahren, sondern bei allem.

Zuhause wurde mein mutiger Schritt in Richtung Angstbekämpfung mit wenig Begeisterung aufgenommen.

»Ich hab eben rückwärts eingeparkt!«, verkündete ich meiner Mutter und ließ dabei die Schlüssel um den Finger kreisen wie ein Straßencowboy. Sie sah vom Spülbecken auf.

»Steht das in deinem Buch, dass du einparken sollst?«

»Nein. Es geht darum, schlimme Dinge zu tun. Deine Angst zu überwinden. Und Einparken ist schrecklich.«

Meine Mutter blickte mich verdutzt an. Sie findet Einparken ganz normal. Sie könnte einen LKW auf eine Briefmarke manövrieren und fände nichts daran.

Als sie so alt war wie ich, hatte sie drei Kinder und einen Riesenhaushalt, um den sie sich kümmerte. Sie musste sich keinen künstlichen Herausforderungen stellen und etwa in eiskalte Teiche springen oder in Reihe parken.

Sie hatte keine Zeit zur Selbstfindung. »Mir hat man was anderes beigebracht, als meine Zehennägel zu betrachten«, hieß es bei ihr. Lebenshilfe war kein Thema auf dem irischen Bauernhof, wo sie mit sieben Geschwistern aufwuchs.

Als ich ihr während der Weihnachtstage von meinem Vorhaben erzählte, öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen. Und schloss ihn wieder. Sie machte ihn nochmal auf. Und wieder zu.

»Die meisten Leute würden sagen, dass du es ganz schön gut hast, Marianne.«

»Das stimmt ja. Aber man darf sich doch wünschen, noch etwas glücklicher zu sein, oder?«

»Man kann nicht ständig glücklich sein. So geht es eben nicht im Leben.«

»Das ist mir zu trübsinnig.«

»Nein, das ist es nicht. Nur realistisch. Vielleicht wärst du zufriedener, wenn du nicht immer noch mehr wolltest, sondern einfach dankbar wärst für das, was du hast.«

Das altbekannte katholische Schuldgefühl packte mich.

ENDE DER LESEPROBE