Henry - Holly Day - E-Book

Henry E-Book

Holly Day

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Beschreibung

Die traurige Nachricht zuerst: Ich bin tot. Aber kein Grund zur Sorge, ich habe mich damit arrangiert und ich erfreue mich bester Gesundheit – bis auf Kleinigkeiten wie einen Puls. Mehr noch, ich bin verliebt. Doch hier kommt der Haken. Sie, das Mädchen meiner Träume, ist es nicht. Zumindest nicht in mich. Mein Name ist Henry, und für den Fall dass mein Verhalten im Folgenden peinlich, überzogen oder einfach nur total bescheuert erscheint, soll gesagt sein: Es ist nicht einfach 17 zu sein. Schon gar nicht für immer. Was als Parodie begann, wuchs bald zu etwas ganz Eigenem heran. Locker-flockig, kurzweilig und selbstironisch. Für Leser geeignet, die Twilight lieben, es hassen, und alle anderen, die bisher einen großen Bogen drum herum gemacht haben.

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Seitenzahl: 332

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Holly Day

Henry

Das Buch mit Biss

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Anmerkung

 

Henry

Das Buch mit Biss

 

Holly Day

 

Text Copyright © 2013 Holly Day

Alle Rechte vorbehalten.

Ausgabe 1.3

 

Anmerkung

 

Diese Geschichte begann als Parodie. Ähnlichkeiten in Bezug auf Handlung und Figuren einer bekannten amerikanischen Autorin und deren Romanze zwischen einer Sterblichen und einem Untoten sind demnach beabsichtigt. Allerdings nicht um dieses Werk herabzuwürdigen, sondern um abweichenden Vorstellungen von Liebe, Unsterblichkeit und Blutsaugern im Allgemeinen Ausdruck zu verleihen. Danke an Stephenie Meyer, dass sie so viele Menschen inspiriert hat. Ernsthaft.

 

Holly Day

Kapitel 1: Männer in Bäumen

 

Menschen. Immerzu machen sie sich Gedanken. Sorgen um ihre Familie, ihren Job, Geld. Eigentlich ein Wunder, dass ihnen dabei nicht die Schädel explodieren. Gelassenheit ist wohl etwas, das man erst im Tod erlangt. Das Exemplar vor mir war da keine Ausnahme.

 

In einem kleinen amerikanischen Örtchen, umgeben von größtenteils dunklen Nadelwäldern, und bevölkert von grimmigen Bewohnern, deren Highlight des Jahres die hiesige Monster-Truck-Show darstellt, stand ein Haus mit Baum im Vorgarten. In diesem Haus, solide gebaut und nur schick für den, der es gern rustikal mag, lebte ein Mädchen, deren Zimmer sich im ersten Stock befand.

Natürlich nicht irgendein Mädchen.

Dieses Mädchen war der Punkt, um den sich mein Leben seit einigen Monaten drehte. Die mich magnetisch anzog, wie das Licht die Motte.

Ihr Name war Kaylen und der Duft ihres Blutes war ebenso süß wie sie. Sie saß auf ihrem Bett und grübelte über einem Blatt Papier, wobei ihr langes helles Haar ihr ins Gesicht fiel.

Gott, wie gern ich ihr jetzt durch ihre Haare streichen würde! Ich weiß, dass ich so etwas gar nicht denken sollte, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich bin ein Sklave meiner Hormone, auch wenn ich mir gerne einredete, dass das Schicksal uns zusammengeführt hatte.

Kaylen sah besorgt aus, wie sie auf ihre Unterlippe biss, die Augenbrauen kritisch zusammengezogen. Sie las einen Liebesbrief von Nick aus unserem Biologiekurs. Nick ist Captain der Footballmannschaft. Strohdoof, aber mit Oberarmen wie King Kong. Ich hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht, als er ihr den Brief gegeben hatte. Aber ich ließ es bleiben. Was hätte ich auch anschließend mit seiner Leiche gemacht?

Sie war bei den Kerlen eindeutig beliebter, als ihr gut tat. Kaylen war erst vor kurzem nach Spoon gezogen, und doch es war, als hätten alle pubertierenden Jungs in der Umgebung nur auf ihr Erscheinen gelauert. Dabei sind die Mädchen von Spoon nicht mal übel, obwohl ich zugeben muss, dass Kaylen in einer anderen Liga spielt.

Und erst ihr Geruch… Am liebsten würde ich ihn einfangen, Marmelade daraus kochen und auf mein Brötchen schmieren.

Ich saß wie fast jeden Abend seit letztem Monat in den Ästen des alten Birnbaums gegenüber ihrem Fenster und schob Frust. Was, wenn sie mit Nick zusammenkam? Würde ich dann noch eine Chance bei ihr haben? Doch es schien, als hätte ich Glück, denn Kaylen zerknüllte den Brief.

Tja, Pech gehabt Nick! Ich grinste in mich rein. Anschließend warf sie einen Blick aus ihrem Fenster (Ich versuchte, so unbedeutend wie möglich auszusehen) und zog ihr Top aus. Ich rückte unwillkürlich näher heran – und verfluchte die schlechte Sicht meiner Fledermausaugen. In Schwarz-Weiß kam Kaylen längst nicht so gut zur Geltung wie in Farbe.

Ich bin kein Spanner oder so. Sie hatte mich schlicht überrumpelt. Wobei ich zugeben muss, dass es mich schlimmer hätte treffen können. Als würdet ihr in einer solchen Situation wegsehen.

Momentan wandte Kaylen mir den Rücken zu – einen ausgesprochen ansehnlichen Rücken -, aber wenn sie sich umdrehte… Ich musste es versuchen. Mit einem leisen Plopp nahm ich meine Menschengestalt an, und wedelte kurz mit dem Armen um mein Gleichgewicht zu halten. Meine Turnschuhe fanden auf dem glatten Ast nur schwer Halt. Himmel, ich hatte ganz vergessen, wie hoch der Baum war! Nach einem kurzen Panikmoment wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Kaylens Fenster zu. Und erstarrte.

Sie sah mich an, mit weit aufgerissenen Augen, obenrum mit nichts als einem, wie ich nun erkannte, lila BH bekleidet. Au weia. Kaylen riss ihr Top an sich und öffnete das Fenster.

„Du“, rief sie. „Du!“

Ich grinste unsicher. Winkte. „Hi.“

„Duuuuu!“ Scheinbar suchte sie nach einem passenden Schimpfwort, doch entweder erinnerte sie sich an ihre gute Erziehung und versuchte allzu unfeine Titulierungen zu vermeiden, oder aber mein Erscheinen hatte sie so erregt, dass sie erstmal Luftholen musste für einen passenden Konter. Ich nutzte ihre Sprachlosigkeit.

„Ich bin Henry. Nett, dich kennenzulernen“, stellte ich mich also artig vor.

„Ist mir schnuppe, wie du heißt. Was hast du auf unserem Baum zu suchen?!“ Die Schockstarre hatte sich scheinbar gelöst. Dies waren die ersten Worte, die wir mit einander wechselten.

Ich hatte es in der Vergangenheit vorgezogen, Kaylen von Weitem zu sondieren. Es hatte mir gereicht, hin und wieder einen Hauch ihres Duftes zu erhaschen, der auf mich ähnlich wirkte, wie es einem Drogenjunkie beim lang ersehnten Schuss gehen muss. Danach war mein Interesse für sie vollends entflammt. Es war nicht schwer gewesen, herauszufinden wo sie wohnte.

„Was hast du hier zu suchen?“, wiederholte sie laut und deutlich. Sie schien mich für begriffsstutzig zu halten.

In meinem Hirn arbeitete es heftig. „Frisbee!“, stieß ich hervor. Und gratulierte mir in Gedanken zu diesem rettenden Einfall.

„Was?“

„Ich… ich hab aus Versehen meine Frisbeescheibe hierher geworfen. Sie ist im Baum gelandet. Deswegen bin ich hochgeklettert.“ Gut gerettet.

„Und wo ist diese ominöse Frisbee jetzt?“

Argh, sie war eine harte Nuss. Ich schluckte. „Ähhh…“ (Ich besitze zwar Vampirkräfte, aber eine Frisbee aus dem Arsch zaubern gehört leider nicht dazu.)

„Dachte ich mir‘s doch. Du bist auf den Baum geklettert um zu spannen, du kleiner Perversling!“

Da ging sie nun dahin, die gute Erziehung.

„Nein, hör doch-“

Aber ich kam nicht mehr dazu, meine Erklärung loszuwerden, denn in dem Moment hatte sie bereits einen Schuh nach mir geworfen. Kaylen war nicht gerade ein Sportass, so viel wusste ich, doch auf die Entfernung konnte selbst sie nicht daneben werfen und so traf mich ihr Turnschuh hart am Kinn. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel drei Meter tief auf meinen Hinterkopf.

Erster Eindruck?

Erfolgreich in die Hose gegangen.

Kapitel 2: Ein Sturz mit Folgen

 

„Lebt er noch?“ Undeutlich waberte Kaylens Stimme zu mir durch.

„Der ist sicher nur bewusstlos. Kennst du ihn? Was hatte er auf unserem Baum verloren?“ Eine neue Stimme. Ein Mann, vermutlich ihr Vater. Prima. Genauso wollte man seinem zukünftigen Schwiegervater vorgestellt werden. Auf dem Boden liegend, weil man in das Zimmer seiner Tochter gespannt hatte… Ich meine natürlich zufällig zu einem schlechten Zeitpunkt einen Blick in ihr Fenster geworfen hatte.

„Er heißt Henry und er hat seine Frisbeescheibe gesucht…“ Kaylens ungläubiger Tonfall fiel wahrscheinlich nur mir auf.

„Wer kommt auf die Idee, nach zehn noch Frisbee zu spielen? Es ist stockdunkel.“

Ich öffnete die Augen. Erst dachte ich, Kaylen hätte sich von der Schönen ins Biest verwandelt, ehe ich erkannte, wen ich da vor mir hatte. John Drake, ein stämmiger Mann mit beeindruckendem Schnauzer und noch beeindruckenderem Bauchumfang, hatte sich zu mir heruntergebeugt. „Alles in Ordnung, Junge?“

Mir wurde eine große warme und recht haarige Hand entgegengestreckt und ich wurde auf meine Beine gezogen. Ich nickte verhalten, doch schon einen Moment danach verschwamm alles vor meinen Augen. Ehe ich das Gleichgewicht verlor, schnappte mich Mr. Drake am Schlafittchen. Ich wurde von einem ernsten Augenpaar gemustert. Sie waren blau wie die von Kaylen. Wenngleich Kaylen nicht solche mächtigen Augenbrauen hatte. Ein bisschen machte er mir schon Angst, dieser Koloss von einem Mann.

„Bist du da auch ganz sicher? Der Baum ist ziemlich hoch. Gut möglich, dass du eine Gehirnerschütterung hast. Es ist schon ein Wunder für sich, dass du da überhaupt raufgekommen bist.“

„Ich bin ein guter Kletterer.“ Ich lächelte tapfer, immerhin wollte ich mir vor meiner Herzensdame keine Blöße geben, doch die Augen ihres Vaters sahen mich nach wie vor düster an. Vielleicht spiegelte der Blick aber auch nur Besorgnis und Verwunderung wieder. Schwer zu sagen bei den Riesenbrauen.

„Kaylen, starte den Wagen. Wir fahren ins Krankenhaus.“

Ich rebellierte. „Mir geht es gut, ehrlich.“ Doch kaum hatte er mich losgelassen, fiel ich zu Boden wie eine kreislaufschwache Großmutter. K.O. in der ersten Runde.

Vorstellung bei Schwiegerpapi in spe?

Gekonnte Darstellung der eigenen Unmännlichkeit.

 

„Du bist ein ganz harter Brocken, was?“ Kaylen betrachtete mich spöttisch. Ich lag auf etwas Weichem, einem Bett. Wo zum Teufel…?

„Du bist im Krankenhaus“, antwortete Kaylen auf meine unausgesprochene Frage. „Mein Dad ist gerade draußen und füllt irgendwelche Formulare aus. Keine Ahnung, warum das so lange dauert…“ Sie biss sich auf die Lippe. War es ihr etwa unangenehm, mit mir allein zu sein? Ich schmunzelte.

„Was gibt es da zu lächeln?“, fuhr sie mich mit einem Mal an. Meine Güte, das Mädchen hatte Feuer. Sie gefiel mir von Minute zu Minute besser.

„Weißt du, dass du süß bist, wenn du rot anläufst?“

Sie runzelte die Stirn. Ha, darauf war sie jetzt nicht gefasst gewesen! Ich fühlte wie mein Kopf vor Glück schwirrte. Na ja, auch möglich, dass es Nachwirkungen meines weniger eleganten Kopfsprungs waren. Woher kam dieser plötzliche Mut? Ich sah mich verstohlen um und mein Blick fiel auf einen Tropf sowie eine Nadel in meinem Arm.

Ah, daher. Ich war unter Droge…

Kaylen sah mich noch immer unschlüssig an, als wäre sie nicht sicher, was sie von mir halten sollte. Vielleicht musterte sie mich aber auch so eingehend, weil ich ihr gefiel. Ich will ja nicht eitel klingen, aber Vampire umgibt seit jeher eine mysteriöse Aura, die viele Menschen magisch anzieht. In meinen Gedanken beugte sich Kaylen über mich, tupfte mir die Stirn ab und Mr. Drake kam herein um uns seinen Segen zu geben. Die Realität sah leider ganz anderes aus.

„Sag mal, verfolgst du mich? Ich hab dich schon ein paar Mal in der Schule gesehen und in der Stadt. Und dann eben auf unserem Baum.“

Ich hatte es befürchtet. Kaylen ging zum Angriff über.

Was sollte ich sagen? Du bist die Frau meines Lebens. Kaum dass ich dich gesehen habe, wusste ich es, die oder keine.

Nein, das war eindeutig zu schmalzig und ich wollte nicht, dass sie mich für oberflächlich hielt. Obwohl es stimmte. Teilweise zumindest, denn bevor ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich sie gewittert. Schon war es um mich geschehen gewesen. Sie war ein olfaktorischer Leckerbissen, ein Feuerwerk an feinen Düften. Kaylen roch nach… Es ist schwer zu beschreiben. Irgendwie nach Regen. Nein, eher nach einer Blumenwiese, kurz nachdem es geregnet hat, und die von warmen Sonnenstrahlen erwärmt wird, in denen die ersten Blüten aufblühen und…

„Henry, hörst du mir überhaupt zu?“

„Oh, äh…“

Kaylen schüttelte den Kopf. „Du bist ganz schön eigenartig, weißt du das?“

„Ich bevorzuge einzigartig, wenn es recht ist.“

Damit brachte ich sie tatsächlich zum Schmunzeln. Doch ehe ich diese traute Zweisamkeit richtig genießen konnte, hörte ich ein Quietschen und Mr. Drake stand in der Tür. Zusammen mit Doktor Pearson. Beide sahen mich mit beunruhigten Blicken an. Mir rutschte das Herz in die Hose. Was hatte das nun zu bedeuten?

 

Kapitel 3: Ein medizinisches Wunder

 

„Junge“, sagte Mr. Drake, „… den Röntgenaufnahmen zufolge hast du einen Genickbruch.“ Er schaute so, als suche er nach einer Erklärung. Auch das noch.

„Deswegen also das Ziehen im Nacken“, murmelte ich. Meine Gedanken rasten. Das Erste, was mir durch den Kopf schoss, war Scheiße, aber mit drei Ausrufezeichen. Es hatte immerhin einen Grund, warum ich Krankenhäuser die letzten Jahre gemieden hatte, so als Untoter. Meine Augen schnellten zur Tür. Wenn ich mich beeilte und an den beiden vorbeistürmen könnte… Ich musste diese Aufnahmen zerstören. Irgendwie.

„Und? Ist das… schlimm?“, fragte ich betont gelassen.

Doktor Pearson, ein faltiger Wicht mit Halbglatze, kam auf mich zu und schüttelte den Kopf. „Das ist kein Anlass für Scherze, junger Mann. Ich… ich kann es mir nicht erklären.“

Ich verkniff mir das Augenrollen. Junger Mann. Vonwegen.

Der Nachteil am Vampirdasein. Das ewige Babyface. Der Doc musterte mich, als sei ich ein Alien. Ich musste hier raus. Schnell. Aber wie? Kaylen, die zuvor auf der Bettkante gesessen hatte, stand auf und ging zu ihrem Vater, als wolle sie so schnell wie möglich Abstand zwischen sich und das medizinische Wunder im Krankenbett bringen.

Mit einem Mal fühlte ich mich höchst unwohl in meiner Haut. Widernatürlich. Mir tat es fast ein bisschen leid, nicht tot zu sein, weil ich damit alle um mich herum zu enttäuschen schien. Ich konnte wohl gar nichts richtig machen. Nicht einmal sterben, wenn es die Natur gebot.

„Du müsstest tot sein“, sagte der Doc.

Da war er. Der gefürchtete Satz. Die Worte ließen mich frösteln. Ich verfluchte die Neugier der Menschen und versuchte mich zu beruhigen.

„Na das kann dann ja wohl kaum stimmen. Ich meine, mir geht es ja gut. Sehen Sie?“ Ich lächelte unsicher, als sei dies Beweis genug, dass es Schlimmeres gab, als einen Genickbruch.

„Ich muss kurz auf die Toilette, entschuldigen Sie mich.“ Ich stand auf und verdrückte mich im angrenzenden Badezimmer. Als ich an ihm vorbei lief, starrte Doc Pearson mich mit offenem Mund an, als sei ich Jesus, der übers Wasser wandelte. Ich drückte die Tür ins Schloss und verriegelte sie.

„Denk nach, denk nach!“, feuerte ich mein Spiegelbild an.

(Dass Vampire kein Spiegelbild besitzen, ist ein weit verbreiteter Irrtum. Wie soll man denn bitte sonst kontrollieren, ob das Gesicht nach dem letzten Imbiss voller Blutspritzer ist? Und so eitel wie sich einige meiner Artgenossen aufführen, wäre der Verlust der eigenen Reflektion sicher ein herber Schlag.)

Mit einem Mal dachte ich an Kassia und was sie zu meiner Unvorsichtigkeit sagen würde. Ich hatte noch keinem von meiner Zuneigung für Kaylen erzählt. Niemand aus der Familie würde es verstehen, dass ich mich nach einem schwächlichen Pulshaber sehnte. Und das nicht nur in Form eines nahrhaften Snacks.

Ich betrachtete eingehend mein Spiegelbild. Sah doch ganz in Ordnung aus. Bleich wie üblich, noch verstärkt von meinen schwarzen wilden Haaren. Nur der Kopf, der saß tatsächlich etwas schief. Es klopfte an der Badezimmertür.

„Henry?“ Das war Kaylen. Mist. Doch selbst in dieser Situation konnte ich nichts dagegen tun, dass mein Herz einen Hüpfer machte, als ich sie meinen Namen sagen hörte.

Ja, zugegeben. Mein Herz steht still und das schon seit einer geraumen Weile. Ja, ich bin ein blutsaugendes Monster ohne Puls. Und ja, mein Genick ist gebrochen. Ich gestehe! Jagt mir doch gleich einen Pflock durchs Herz!

„Jetzt reiß dich aber zusammen!“, knurrte mich mein Spiegelbild an. Wieder klopfte es. Diesmal penetranter.

„Mach die Tür auf, Junge.“

Ich legte die Hände an meinen Kopf und atmete tief durch. Ich mag zwar tot sein, doch das heißt nicht, dass ich keinen Schmerz empfinde. Aber es musste sein. Mit einem heftigen Ruck brachte ich meinen Kopf wieder in Position. Es gab ein unschönes Knacken. In all meinen Nervenbahnen schrie es. Meine Lider flatterten und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte ich mich einer Ohnmacht nahe. Doch glücklicherweise war der Schmerz nur von kurzer Dauer. Ich spürte bereits, dass die Knochen wieder zusammenwuchsen.

Atmen, atmen nicht vergessen. Ich öffnete die Tür, und kaum dass ich wieder in meinem Bett saß, fiel der Doktor über mich her. Er betastete meinen Kopf, erst vorsichtig, dann immer forscher. Ich schnaubte, als sich sein Geruch in meiner Nase festsetzte. Doc Pearson roch nach Desinfektionsmittel und Mullbinden, sein Blut irgendwie fischig. Nicht gerade appetitlich, trotzdem fing mein Magen an zu knurren. Meine letzte Mahlzeit war schon eine Weile her. Es kostete mich all meine Überwindung, meine Reißzähne nicht auszufahren. Er machte den Folge-dem-Licht-Trick mit meinen Augen und ließ es sich nicht nehmen, meinen Körper an jeder unmöglichen Stelle mit einem kleinen Gummihammer zu bearbeiten. Am Ende dieser nervtötenden Prozedur blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als festzustellen, dass ich kerngesund war. (Ich dankte allen Göttern dieser Welt dafür, dass er meinen Puls nicht kontrollierte!)

Er entschuldigte sich vielmals für die Aufregung und brummelte etwas von einem defekten Röntgengerät. Mr. Drake schien immer noch misstrauisch, wenn auch fürs Erste besänftigt. Doch meine Augen suchten Kaylen. Sie sah beruhigt aus. In meiner Magengrube verbreitete sich ein warmes Gefühl. Ich redete mir ein, dass das etwas zu bedeuten hatte. Sie freute sich, dass es mir gut ging. Es war sicher mehr als die pure Erleichterung, dass sie nicht für meinen Tod verantwortlich war. Ja, das hatte bestimmt was zu bedeuten.

 

Noch am selben Abend, als Kaylen und ihr Vater schon lange gegangen waren (der Doc hatte darauf bestanden, dass ich mich noch eine Weile ausruhte), betrat ein bekanntes Gesicht die Notaufnahme. Von all meinen Familienmitgliedern hatten sie ihn geschickt. Ausgerechnet ihn.

Nero, der in meiner Familie meinen großen Bruder spielte.

Nero, in dessen Gegenwart ich mir immer so klein und dumm vorkam.

Nero, der vermutlich nur auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte, um mich fertig zu machen. Scheinbar war das der erste Teil meiner Bestrafung.

„Na, Mathurin…“ Ich hasste es, mit welcher Selbstgefälligkeit er im Türrahmen stand und meinen Namen sagte, als sei er ein Schimpfwort.

„Henry, du Idiot“, zischte ich.

Was, wenn uns jemand belauschte? Henry war mein Deckname. Henry Clarke. Wer ewig lebt, kann es sich eben nicht leisten, immer mit dem gleichen Namen herumzulaufen. Aber Nero interessierte das mal wieder einen Dreck.

„Du sitzt ganz schön in der Scheiße.“ Neros Grinsen wurde noch eine Spur breiter. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.

„Kassia und die anderen erwarten eine Erklärung. Ich an deiner Stelle würde mir lieber genau überlegen, was ich sage. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, würde ich, wenn ich du wäre, vielleicht besser verschwinden, bevor sie mich auseinander nehmen.“

„Das würde dir so gefallen…“

Nero legte den Kopf schief. „Du hast recht.“

Plötzlich war er sehr liebenswürdig. „Komm, kleiner Bruder, lass uns gehen. Und trödel nicht, immerhin sind wir verabredet.“

 

Kapitel 4: Biologie-Unterricht

 

Die High School von Spoon unterscheidet sich nicht groß von den meisten anderen Schulen, außer dass sie kleiner, düsterer und heruntergekommener ist. Es gibt eine muffige Sporthalle, einen abgenutzten Platz in dessen Unebenheiten das Wasser steht, eine Blaskapelle mit Uniformen von vor dreißig Jahren und den obligatorischen Schulseelsorger mit Alkoholproblem. Das kulturelle Angebot ist ein Witz und die Schule steckt seit Jahren in den Miesen.

Wer will, dass aus seinen Kindern etwas Anständiges wird, der schickt sie in den nächst größere Stadt nach Lauderdaile. Den Sprung raus aus Spoon schaffen allerdings nur wenige. Und so unbegreiflich es auch ist – die meisten wollen gar nicht weg von hier. Ihr Leben spielt sich stattdessen in diesem überschaubaren Mikro-Kosmos ab. Jeder kennt nicht nur jeden, sondern jeder mischt in den Geschäften des anderen mit herum. Alles Schwager und Cousins fünften Grades. Eine verschworene kleine Gemeinschaft voll einfacher, und teils auch recht einfältiger Individuen. Wenn man will, kann man die heutigen Einwohner auf drei, vier Hauptfamilien zurückführen.

Früher, noch bevor meine Familie und ich hier hergezogen waren, vor etwas über dreißig Jahren, waren die Wälder in der Umgebung wohl ein beliebtes Jagd-Gebiet gewesen. Touristen kamen von weit her, kauften in Harry Lloyds Laden Waffen und Munition, aßen im Dead Deer Wildsteaks und stolzierten in ihren Karo-Hemden, Stiefeln und Biebermützen fröhlich ballernd durch die Gegend. (Oder zumindest stelle ich es mir so vor. Wir haben doch alle unsere Vorurteile.) Doch irgendwann waren die Tierbestände wohl zu stark bejagt worden. Es ging das Gerücht von einem großen Bär um, der ganze Herden gerissen haben sollte. Und als es immer weniger zu jagen gab, wandten die Leute Spoon den Rücken zu. Der alte Lloyd ging pleite und sein Sohn Harry Jr. ist noch heute als schräger Kauz bekannt, der wirres Zeug brabbelt und hin und wieder das Knallen einer Schrotflinte imitiert.

Doch es hat auch Vorteile, hier zu leben. Die Leute sind zwar misstrauisch, aber zu bequem um den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Ein verkniffener, mürrischer Blick ist denen meist Antwort genug. Sowas versteht man hier unter Charme.

 

Es war ein grauer Vormittag, an dem ich wie üblich in der Schule saß und Qualen litt.

„… anschließend legen Sie die Zwiebelhaut unter das Mikroskop und fertigen eine detaillierte Zeichnung an.“

Ich lag gelangweilt auf meinem Tisch in der letzten Reihe, die Arme in Protesthaltung verschränkt, und starrte das Mikroskop an, als hätte es mir ein persönliches Leid angetan. Jahr für Jahr das gleiche. Ich war verdammt. Verdammt auf ewig im Körper eines Siebzehnjährigen leben zu müssen. Einschließlich des ständigen hormonellen Durcheinanders. Ich warf einen beiläufigen Blick nach vorne. Kaylens honigfarbenes Haar glänzte in der Sonne.

Wie konnte jemand nur so schön sein? Ihre Augen, die, wenn sie mich ansahen, so tief wirkten, wie der Ozean. Als könnte man durch sie direkt in ihre Seele blicken. Kaylens schön geschwungene Lippen, die von dem stillen Versprechen eines sanften Kusses begleitet wurden. Ihr unglaublicher Duft. Die Art, wie sie sich bewegte oder lächelte. Die außergewöhnliche Symmetrie ihrer Ohrläppchen.

Zugegeben, das mag trivial klingen im Vergleich zu ihren anderen, offensichtlicheren Attributen, doch selbst ihre Ohrläppchen waren – es gibt einfach kein passenderes Wort – perfekt. Ich habe genug Menschen in meinem Leben beobachtet, um Perfektion zu erkennen, wenn ich sie sehe. Und diesmal saß sie nur wenige Meter von mir entfernt.

Mit einem Mal überkam mich eine so starke Sehnsucht Kaylens Haar zu berühren, dass mir ganz schlecht wurde. Sie saß vorne in der zweiten Reihe. Rechts neben ihr Nick Gorilla-Arm. Nick stank. Und zwar nach Schweiß und Turnschuhsohlen. In seinem Blut nahm ich Spuren von Aufputschmitteln war. Aufgepumptes Kleinhirn! Sein Blut war das absolut letzte auf der Welt, das ich trinken wollte.

Er schob das Mikroskop zu Kaylen rüber und berührte dabei wie zufällig ihre Hand.

Meine Finger krallten sich in die Tischplatte und hinterließen tiefe Kerben. Sein Blut wollte ich vielleicht nicht, aber ich hatte in diesem Moment nicht übel Lust ihn zu zerfleischen. Kaylen lachte auf. Nick hatte soeben einen wenig originellen Witz gemacht. Ich fühlte mich wie betäubt. Noch immer spukten mir Kassias Worte durch den Kopf.

Es ist gefährlich, sich mit einem Pulshaber einzulassen. Leichtsinnig. Der Rat sieht sowas gar nicht gerne.

Meine Familie hatte darüber abgestimmt, ob ich mich um Kaylen bemühen durfte.

Drei waren dagegen. Unter ihnen Kassia, die schöne Pandora und Lysander.

Drei waren dafür. Meine Schwester Isobell, die einem ins Herz schauen kann, ihr Freund Caleb und Dimitri.

Einer hatte gezögert und gegrinst.

Nero.

Er genoss es sichtlich, mein Schicksal in Händen zu halten. Er hatte schon immer eine sadistische Ader. Seine Entscheidung stand weiterhin aus.

 

Es klingelte zur Pause. Die anderen Schüler unterhielten sich. Ich für meinen Teil saß allein in der letzten Reihe und wollte gerade das obligatorische Buch aus meinem Rucksack holen, mit dem ich mich über die Pause beschäftigte, als plötzlich Kaylen vor mir stand.

„Wie geht’s deinem Kopf?“ Ich konnte es nicht fassen. War das ein Tagtraum?

„Prima!“ Ganz tolle Antwort, Einstein. Geht es vielleicht noch kürzer?

„Prima, danke…“

Kaylen biss sich auf die Lippe. Schöne, rote Lippen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen.

„Ja, also ich hab hier was für dich.“

Meine Augen wurden groß. Ein Geschenk? Für mich? „Ist nichts besonderes… war die Idee von meinem Dad …“, murmelte sie und zog eine rote Frisbeescheibe hinter ihrem Rücken hervor.

„… weil du deine ja verloren hast… Immerhin war ich diejenige, die den Schuh nach dir geworfen hat.“

In meinem Inneren explodierte ein Feuerwerk. Erstaunlich, dass ein Stück Plastik einen so glücklich machen konnte. Ich spürte, wie sich in meinen Augen Tränen sammelten. Scheiße, doch nicht jetzt. Vor ihr! Ich drehte mich weg und wischte mir die Augen.

„Verdammte Zwiebeln…“ Ich räusperte mich und lehnte mich so cool wie möglich zurück. Warum hatte ich nur meine Jacke ausgezogen? In der wirkten meine Schultern breiter. Kaylen hielt mich bereits für tollpatschig und eigenartig. Ich wollte nicht, dass sie auch noch „Weichei“ der Liste hinzufügte. Ich versuchte tiefer zu sprechen, männlicher.

„Danke, Babe.“

Kaum hatte ich es gesagt, bereute ich meine Worte auch schon. Danke, Babe? Woher hatte ich denn den Spruch? Kaylen zog eine Augenbraue hoch. Sie schüttelte den Kopf und warf die Frisbee auf meinen Tisch.

„Anscheinend hat dein Kopf doch etwas abbekommen“, sagte sie kalt, und rauschte davon um sich eingehend mit Nick zu unterhalten. Ich hatte nicht einmal Zeit, mich zu entschuldigen.

 

Kaum war die Stunde vorbei, verdrückte ich mich hinter das Schulgebäude und schlug gegen einen Laternenpfahl, der prompt umknickte.

„Na na, sowas macht man aber nicht.“

Ich drehte mich um und sah Nero, wie er auf dem Geländer balancierte, welches das Schulgelände umfasste.

„Läuft wohl nicht sonderlich gut mit deiner Perle, was?“

„Verpiss dich!“

Nero schnalzte mit der Zunge und ging in die Hocke wie eine angreifende Raubkatze. „So ein ungezogener Lümmel. Dir müsste mal einer Manieren beibringen.“

Ich schnaubte. „Ach und du hältst dich wohl für die richtige Person, was?“

Er überging meine Frage, sprang in einem Rückwärtssalto vom Geländer (Angeber!) und landete so dicht vor meinen Füßen, dass ich zurückzuckte.

Nero lachte. „Du bist eine echte Witznummer. Gehst jeden Tag brav zur Schule, spielst dieses ganze Theater mit und bist noch nicht mal Manns genug, um eines dieser kleinen dummen Schulmädchen zu verführen.“

Das passte zu ihm. Nero ist ein Vampir der alten Schule. Einer, der in Menschen nicht mehr sieht, als Nahrungsquelle und persönliche Spielzeuge. Dass meine Motive was Kaylen anbelangte, nicht so verdorben waren wie seine, würde er wohl nie begreifen. Nero hat etwas längeres Haar, noch nicht schulterlang aber lang genug, um es wirkungsvoll mit den Fingern zu durchkämmen, wie die männlichen Models in den Zigarettenwerbungen. Diese verschwitzen Kerle mit offenem Hemd, Drei-Tage-Bart und stechendem Blick. Ich glaube er kommt ursprünglich aus Argentinien, zumindest ist er nicht ganz so blass wie ich. Wirklich gefragt hab ich ihn allerdings nie. Wenn es geht, halte ich meinen Kontakt zu Nero auf einem Minimum. In mir kochte es. Wehe wenn er Kaylen auch nur anrührte.

„Lass mich in Ruhe“, drohte ich wenig schlagfertig und rammte Nero im Vorbeigehen mit meiner Schulter. Ich war keine fünf Schritte gegangen, da stand er auch schon wieder vor mir. Ich hasse es, wenn er das tut. Nero ist ein Teleporter und nutzt seine Kräfte schon immer schamlos aus, um mir auf die Nerven zu gehen.

„Aber diese Kaylen… Die ist gar nicht so schlecht. Wer weiß, wenn sie eines Abends spät nach Hause läuft, unterhalte ich mich vielleicht mal mit ihr. Lerne sie besser kennen.“

Ich sah ihm direkt in die Augen. „Du wirst sie nicht anrühren!“

Nero schien unbeeindruckt, zog einen Mundwinkel hoch und verschwand.

 

Kapitel 5: Der Kuss

 

Ich stand vor ihrem Haus, in meiner rechten Hand die rote Frisbee. Ganz locker, du schaffst das schon! Das Klingeln schien durchs ganze Haus zu schallen. Mit einem Mal überkam mich ein unbändiger Drang, wegzulaufen, doch ich blieb stehen, als hätte man meine Turnschuhe an den Boden genagelt.

„Ah, Henry, du bist es“, begrüßte mich Mr. Drake, schrankgroß und irgendwie bedrohlich, trotz seiner Freundlichkeit. „Nett, dass du mal vorbeischaust.“ Erleichterung durchströmte mich. Scheinbar hatte Kaylen ihrem Vater nichts von unserer kleinen Auseinandersetzung erzählt.

„Ich wollte mich für die Frisbeescheibe bedanken.“

„Keine Ursache, Junge.“

So unauffällig wie möglich warf ich einen Blick ins Wohnzimmer.

„Kaylen ist nicht da“, sagte Mr. Drake.

Mist. Ich war leicht zu durchschauen. Ich tat uninteressiert. „Und… wo ist sie?“

Mr. Drake zog die buschigen Brauen hoch, ersparte mir aber glücklicherweise die Frage, weshalb ich das wissen wollte. Er war es sicher schon gewohnt, wie die Jungs aus der Umgebung seine Tochter ansahen. Die Erkenntnis, dass er genauso gut wie ich wusste, was ich hier vorhatte, ließ mich beschämt meinen Blick senken. Vielleicht war es besser, wenn ich einfach ging, anstatt ihn mit dämlichen Fragen zu löchern.

„Sie ist mit Freunden aus. Sie sind nach Arlington gefahren. Zum Einkaufen, glaube ich.“

Ich hob meinen Blick und glaubte, ein Zwinkern zu erkennen.

Womöglich hielt er mich ja für eine gute Partie. Obwohl ich mir unwillkürlich die Frage stellen musste, aufgrund welcher Fakten er zu dieser Annahme kommen könnte. Immerhin war er mir das erste Mal begegnet, als ich ohne Erlaubnis sein Grundstück betreten, auf einen Baum geklettert und hinuntergefallen war.

„Danke.“

Da standen wir nun, zwei Kerle, zwischen uns eine merkwürdige Stille.

„Also ich geh dann mal“, sagte ich und trollte mich.

 

Eine Weile lief ich ziellos durch die Gegend. Damit hatte ich nicht gerechnet. Dabei hatte ich alles genau geplant. Meine Entschuldigung, die Einladung zum gemeinsamen Frisbee-Einweihen, die Picknickdecke, die auf einer Wiese im angrenzenden Wald lag und auf der es sich jetzt wohl die Wildschweine gemütlich machten… Keine zwei Minuten später saß ich auch schon in meinem VW Polo und versuchte den Gang reinzukriegen. „Komm schon, du Schrottkiste!“

Das Auto, das einst mal grün gewesen war und nun eine Farbe hat, die ich liebevoll als „Schlamm“ bezeichne, schien das als Kränkung aufzufassen und blieb bockig.

Natürlich hätte ich laufen können (Ich bin ein Spitzenläufer), oder mich in eine Fledermaus verwandeln und fliegen, aber es würde Kaylen sicher wundern, wie ich ohne Auto nach Arlington gekommen war. Außerdem musste ich mir eine gute Begründung überlegen, was ich eigentlich in Arlington zu suchen hatte. Nicht, dass Kaylen mich für einen Stalker hielt, nur weil ich ab und zu mal durch ihr Fenster gesehen hatte und ihr unauffällig gefolgt war…

Meine Motive waren edel. Ich wollte sie beschützen. Ihre ganze Art, ihre Verletzlichkeit, brachte meinen Beschützerinstinkt zu Tage. Ich schaute auf die Frisbeescheibe, die traurig auf meinem Beifahrersitz lag.

Keine Sorge, Kumpel. Du wirst schon noch eingeweiht.

Aber vorher musste ich hier weg. Ich drehte den Zündschlüssel. „Bitte, bitte spring an.“ Vielleicht half ja gut zureden… Geschafft! Das Kätzchen schnurrte!

 

In Arlington angekommen dauerte es nicht lange, ehe ich Kaylen gewittert hatte.

Seltsamerweise roch es in ihrer Nähe nach ausgetretenen Turnschuhen. War sie in einer Sporthalle? Ich tigerte durch die Straßen, ohne Rücksicht auf die Passanten zu nehmen, die mir teilweise aus dem Weg sprangen. Wie ein Pflug bahnte ich mir meinen Weg bis zum Rande eines Parks. Als Erstes sah ich Kaylens Gesicht, kurz darauf das von Nick Gorilla-Arm. Die beiden spazierten durch den Park, händchenhaltend.

Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. Nein, das war nicht möglich. Sie hatte doch seinen Liebesbrief zerknüllt! Wie …

Ich versteckte mich hinter einer Hecke und beobachtete die beiden. Nun legte dieser Muskelprotz auch noch seine massigen Arme um sie! Ohne es zu wollen, fuhr ich meine Vampirzähne aus. Die beiden lehnten sich einander zu, die Augen geschlossen.

Mein Herz hämmerte wie wild. (Nur eine Redensart…)

Und da geschah es auch schon. Sie küssten sich. Im selben Moment wurde ich von etwas geblendet. Ein Sonnenstrahl.

Erschrocken blickte ich gen Himmel. Die Wolkendecke war aufgerissen. Verdammt! Damit hatte ich nicht gerechnet. In Spoon herrscht eine fast immer währende Dämmerung. Doch Arlington liegt weiter südlich und ausgerechnet heute musste die Sonne rauskommen. Ich rannte aus dem Gebüsch und stürzte mich in das nächste Geschäft, eine Buchhandlung. Mir war schlecht, richtig schlecht. Ich krallte mir wahllos ein Buch in Reichweite, stellte mich hinter das Schaufenster und schaute über den Buchrand nach draußen.

„Wenn Sie einen Knick in das Buch machen, müssen Sie es kaufen.“

Ich fuhr herum. Ein Mädchen mit Zöpfen und Brille sah mich misstrauisch an.

„Bin gleich wieder weg“, brummte ich.

„Was gibt es denn da zu sehen?“ Ich spürte wie sie näher kam und über meine Schulter nach draußen lugte. Der Geruch von Papier und etwas Süßem stieg mir in die Nase.

„Ein Pärchen“, sagte sie. Blitzmerker!

Eine neue Welle der Übelkeit erfasste mich. Also war es nicht nur in meinen Augen offensichtlich, dass die beiden zusammen waren. Ich grollte.

„Scheinst ja nicht so der Romantiker zu sein…“

So, wir waren also schon per du?! Ich schüttelte sie ab. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war eine Nervensäge, die mein Unheil auch noch kommentierte. Meine Zähne mahlten wie Mühlsteine aufeinander.

„Deine Freundin?“, mutmaßte sie.

„Ja! Nein,… also fast. Ist ja auch egal.“

„Ist sicher nicht schön, sie in den Armen eines anderen zu sehen.“

Ich warf ihr einen unfreundlichen Blick zu. Sie musste doch langsam gemerkt haben, dass ich nicht in Plauderstimmung war!

„Aber –“

„Könntest du für einen Moment mal die Klappe halten?“ Wenn das nicht deutlich war, wusste ich auch nicht weiter.

„Bitte“, sagte sie säuerlich, riss mir das Buch aus der Hand und ging damit zur Kasse. Sie tippte etwas ein, während ich Zeuge wurde, wie Nick Kaylen die Zunge in den Hals steckte.

Es sah aus, als wollten sie einander auffressen.

Am liebsten hätte ich losgeheult.

„Das macht 14,95.“ Schon wieder diese Stimme! Ich wandte mich von dem Fenster ab.

„Wofür?“

„Das Buch.“

Ich starrte auf das Buch, dass sie in ihren Händen hielt.

10 wirksame Methoden gegen Fußpilz.

„Ich hab keinen Fußpilz und ich will es nicht.“

„Tja, leider hast du keine Wahl. Siehst du das hier?“ Sie hielt mir das Buch vor die Nase und deutete auf einen winzigen Knick in den Seiten, als würde sie eine Leiche präsentieren. „Das ist dein Werk!“

Beruhige dich, ganz ruhig! Du wirst sie nicht fressen. Nervensägen sind in der Regel schwer verdaulich.

„Wenn ich es kaufe, kann ich dann hier im Laden bleiben, ohne dass du mich vollquatschst?!“

„Einverstanden.“

Ich zog zwei Scheine aus meiner Hosentasche und klatschte sie auf den Tresen.

„Plastik- oder Papiertüte?“ Argh, dieses Mädchen musste doch irgendwo einen Aus-Knopf haben!

„Mir egal.“

„Bitte.“ Sie reichte mir eine Plastiktüte. Eine durchsichtige Plastiktüte, durch die in roten Lettern der Titel 10 wirksame Methoden gegen Fußpilz strahlte. Ich starrte auf die Tüte.

„Ich will eine Papiertüte.“

„Sag bitte.“

„Ich sagte: Ich will eine Papiertüte. Jetzt!“

Das Mädchen legte ihren Kopf schief. „Mal überlegen… Nein, ich glaube, wir haben keine Papiertüten mehr. Tut mir leid.“ Ihre Augen glitzerten gefährlich.

„Du hast mich eben noch gefragt, ob ich eine verdammte Papiertüte will!“

„Tja, hab ich das? Mag sein, aber leider sind in genau diesem Moment die verdammten Papiertüten ausgegangen.“

In mir kochte es. Ich warf einen Blick nach draußen. Die Sonne war wieder hinter einer Wolkenfront verschwunden. Mit lauten Schritten stapfte ich hinaus und beantwortete das fröhliche „Beehren Sie uns bald wieder“ indem ich die Tür zuknallte.

Kapitel 6: Keine gute Idee

 

„Mit Freunden einkaufen gefahren, dass ich nicht lache.“ Ich schlich am Park vorbei, den Blick zu Boden gerichtet. Wenn ich noch einmal dabei zusehen musste, wie Kaylen mit diesem Hohlkörper rummachte, würde ich mit Sicherheit kotzen. Wütend kickte ich Steine bis – „‘tschuldigung“ - ich gegen jemanden knallte. Jemanden mit erstaunlich dicken Oberarmen. Fast hätte ich aufgelacht. Das Schicksal hatte es eindeutig auf mich abgesehen.

„Ey, pass auf, Kleiner“, schnauzte Nick mich an.

„Henry?“ Kaylens Stimme war wie ein Stich in meinen Magen.

„Hi.“ Ich blickte auf.

Sie und Nick starrten mich an.

„Nettes Buch“, sagte Nick und schielte auf 10 wirksame Methoden gegen Fußpilz.

Wahnsinn, der Kerl konnte lesen. Ich hatte ihn unterschätzt. Ich versteckte die Tüte hinter meinem Rücken und verfluchte das Mädchen aus der Buchhandlung. Was musste sich dieser Idiot auch über mich lustig machen… und das auch noch vor Kaylen. In meinen Gedanken zerriss ich Nick in tausend Stücke. Nur seine Arme, die würde ich aufheben, ausstopfen und zu einem Klopapierhalter umfunktionieren.

Ich sah Kaylen direkt in die Augen.

„Sorry, für das, was ich heute in der Schule zu dir gesagt hab. War nicht so gemeint.“ Nick runzelte die Stirn. Dabei sah er einem Gorilla noch ähnlicher als sonst. Die Partie über seinen Augen war stark ausgeprägt. Eine richtige Neandertalerstirn. Was fand sie nur an ihm?

Kaylen winkte ab. „Schon vergessen.“

„Ich konnte mich noch gar nicht richtig für dein Geschenk bedanken. Also… danke.“

„Schon okay.“

Es folgte eine peinliche Stille. Fast konnte man die Grillen im Park zirpen hören. Plötzlich vernahm ich einen Ruf hinter mir und sah die Nervensäge aus dem Buchladen. Sie wedelte mit einem Zettel in der Hand. „Dein Kassenbon!“ Nein, nicht jetzt. Geh weg! Behalt deinen blöden Bon!

Keuchend hielt sie vor mir an. „Hier!“, schnaufte sie und drückte mir den Zettel in die Hand.

„Sag bloß, du hast eine Freundin“, sagte Nick. Mir entging nicht, mit welcher Ungläubigkeit er das „du“ betonte.

Was für eine bescheuerte Idee. Ich und die da?

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Kaylen und überlegte es mir anders.

„Ja.“

Alle drei sahen mich verwirrt an. „Jaa, hab ich.“ Ich legte meinen Arm um die Brillenschlange, in der Hoffnung, sie würde dieses eine Mal den Mund halten. Ich konnte fühlen, wie sie unter meiner Berührung zu Stein erstarrte.

Kaylen reichte ihr die Hand. „Nett dich kennenzulernen…?“

„Hannah“, sagte die Brillenschlange perplex und schüttelte ihre Hand.

„Sooo, wir haben leider noch was vor. Ihr wisst schon, Zeit zu zweit verbringen und so.“ Ich zwinkerte. „Bis bald!“, rief ich und zog Hannah hinter mir her.

 

Als wir außer Sichtweite waren, riss sie sich von mir los.

„Ganz schlechte Idee, Bücherknicker“, sagte sie und taxierte mich mit einem wenig freundlichen Blick.

Ich zuckte mit den Schultern. „Mir ist gerade nix Besseres eingefallen…“

„Das glaub ich gern.“ Hannah verschränkte die Arme. Ihre Augen hinter den Gläsern wurden schmal.

„Damit sind wir quitt, Miss Wir-haben-keine-verdammten-Papiertüten“, sagte ich. „Ciao.“

„Warte.“ Sie schnappte mich am Kragen meiner Jacke.

„Was denn noch?“, fuhr ich sie an.

„Nur dass wir uns richtig verstehen: Du willst jetzt also allen Ernstes deiner Flamme vorspielen, ich sei deine Freundin. Und das alles in dem zum Scheitern verurteilten Versuch, sie zurückzugewinnen. Hab ich Recht?“

Ich nickte unwillig. Zum Scheitern verurteilt,… wie nett.

„Wenn das dein Plan sein soll, dann ist er nicht gerade gut durchdacht. Du denkst doch nicht wirklich, dass das eben gereicht hat. Du musst sie eifersüchtig machen.“

Mit einem Mal erinnerte mich ihr Lächeln stark an Nero. Mir schwante Böses.

„Und wie mach ich das?“, fragte ich genervt.

„Ich könnte deine Freundin spielen.“ Wäre ich eine Comic-Figur, wäre in diesem Moment mein Unterkiefer zu Boden geknallt.

„Einfach so?“ Woher diese plötzliche Freundlichkeit? Mich überkamen Zweifel.

Erstens: Ob ich das überhaupt wollte, denn ich bin eine ehrliche Haut. (Meistens zumindest.)

Zweitens: Hannah war nicht unbedingt der Typ von Mädchen, mit dem ich glaubte, irgendwen zu beeindrucken oder eifersüchtig zu machen. Ganz abgesehen davon, dass sie mich zu hassen schien und ich fürchtete, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war eine ganz schöne Zimtzicke.

Drittens: Wo war der Haken?

„Einfach so. Unter einer Bedingung.“ (Wusste ich’s doch.) „Du kaufst jeden Tag ein Buch aus meinem Laden.“

Ich runzelte die Stirn.

„Also wenn du auf diese Art deine Bücher verkaufst, steht der Laden wohl kurz vor der Pleite.“

Uh, sie machte den Todesblick.

„Danke für deine Hilfe eben, aber ich halte das für keine gute Idee. Ich brauche nicht noch mehr Bücher über Fußpilz.“

Mit diesen Worten ließ ich Hannah stehen.

Das Mädchen war eindeutig seltsam.