Herbst in Moor - Julia von Rein-Hrubesch - E-Book

Herbst in Moor E-Book

Julia von Rein-Hrubesch

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Beschreibung

Woher 200 Kürbisse nehmen, wenn nicht stehlen? Dann lieber die ortseigene Hexe um Hilfe bitten, oder? Was soll schon schiefgehen? Vermutlich gar nichts. Oder eben ... alles. Amari und Nian sind die größten Fans des Herbstfestes. In diesem Jahr ist es besonders wichtig, denn die Zukunft von Moor hängt davon ab! Doch das Fest steht unter keinem guten Stern und ist bedroht. Zeit für die Kinder, sich einzumischen. Auch in der jungen Frau Luise tobt ein Sturm. Um ihr Nachbarhaus macht sie einen Bogen, als wäre es verflucht. Gleichzeitig versucht sie, der Stadträtin aus dem Weg zu gehen, die ihr unbedingt eines der alten Gebäude von Moor andrehen will, um daraus ein Büchercafé zu machen. Es ist Herbst in Moor, nichts ist, wie es war. Nichts ist, wie es scheint.

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Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ich bin die Dämmerung

Ich komme am Abend und am Morgen

Ich bin deine Freundin

Wenn du willst

Nimm meine Hand

Ich bin die Dämmerung

Aurelia Bischoff

Inhaltsverzeichnis

Eins

Drei Birken

Zwei Würfel

Einundsiebzig Kürbisse

Vier Stufen, ein Wusch

Ein Streuselkuchen

Siebzig Kürbisse und eine Schwalbe

Zwei Hügel

Viel Heimliches und eine Karte

Zwei

Da, wo es flimmert

Da wo es flackert

Da, wo es brennt

Da, wo es summt

Drei

Geh nach Norden

Geh nach Osten

Geh zum Übergang

Geh dahin, wo es wehtut

Geh dahin, wo es dunkel ist

Geh dahin, wo es tobt

Geh tanzen

Eins

Drei Birken

Als der Wind auffrischte und die Birken sich andächtig hin und her wogen, rannte Amari am Ufer der Tenne entlang. Sie atmete die frische Luft, die bereits Versprechen des nahenden Herbstes mit sich brachte. Süß und herb und warm und kalt und blumig und erdig. Der Fluss nahm eine Biegung und entfernte sich von Amari, genauso wie er sich vom Ort entfernte. Nur ein kleines Stück begleitete der Wasserlauf das Städtchen Moor, in dem sie wohnte. Amari steuerte die hohen weißen Bäume an, die zusammen mit der Tenne die Stadtgrenze bildeten. Hinter den drei Birken begann das Wäldchen, und am Fuße der Stämme sammelte sich das Laub von Eichen und Buchen und Kastanien auf moosigem Boden. Immer, wenn Amari es betrat, kostete sie vom modrigen Geruch, den sie so liebte.

Doch heute stattete sie dem Wald keinen Besuch ab, atmete nicht seinen frischen Duft, sagte Eichhörnchen und Füchsen nicht Guten Tag.

Amari war auf dem Weg in die Werkstatt, in der Nian auf sie wartete.

Unmöglich, dass sie und ihr bester Freund an gegensätzlichen Enden von Moor wohnten, und noch viel unmöglicher, dass Nian seinem Onkel heute helfen musste.

Heute, ausgerechnet heute, wo es so viel zu besprechen und zu planen gab!

Amari machte einen Satz, als sie auf einen verbliebenen Heuwürfel traf. Er war niedrig genug, dass sie über ihn springen konnte, immerhin hatte sie den gesamten Sommer mit Hobby Horsing verbracht. Obwohl Nian die hübscheren Pferde besaß, hatte sie ihn in der 1,10-Meter-Hürde locker geschlagen.

»Uff«, machte sie, als sie aufkam. Sie war nicht mehr in Form. Das Ende des Sommers hatte neue Dinge mit sich gebracht und andere zum Abschluss. Bye Bye, tägliches Training. Hallo Schule. Und Hallo Herbstfest.

Amari spürte ein Ruckeln in ihrem Herzen. Das Herbstfest war ihr absolutes Lieblingsfest. Und als ihr Herz das zweite Mal ruckelte, versuchte sie den Gedanken zu verdrängen, dass es dieses Jahr vielleicht nicht stattfinden konnte.

Das Herbstfest, größtes Fest in Moor und Veranstaltung ihrer Begierde, war bedroht. Und das war der Grund, aus dem sie den kürzesten Weg über die Felder wählte, rannte und sprang, um sich mit Nian zu beraten. Und natürlich um später gemeinsam zur Stadtversammlung gehen zu können.

Amari hatte ihre Hausaufgaben im Expresstempo hinter sich gebracht, eine Tatsache, die ihren Vater dazu veranlasste, eine Braue zu heben (eine war okay, bei beiden wurde es brenzlig), doch er hatte nichts gesagt und sie ziehen lassen.

»Herbstfest, ich werde dich retten«, sagte Amari und keuchte. Bevor sie das Tempo erhöhte, drehte sie sich zu den Birken um. »Ciao, oh ihr Mächtigen, ich besuche euch sehr bald wieder, keine Zeit heute!«

Die drei Mächtigen wogen sich im Wind und ließen nicht erkennen, ob sie den Gruß erwiderten.

~

Nian saß vor der Werkstatt und putzte an einem rostigen gitterförmigen Ding herum.

Bei dem zweistöckigen Gebäude handelte es sich im Grunde um keine Werkstatt, sondern um eine alte Pension. Sie wieder auf Vordermann zu bringen und in Betrieb zu nehmen, war der Traum von Nians Familie, und sie gaben sich ihm vollständig und unbedingt hin. Inzwischen hatten sich Tische, Werkzeuge und Geräte in solchen Massen angesammelt, dass das Gebäude von seiner ursprünglichen Bezeichnung Abschied nehmen musste. Ob es sich je wieder zu einer Pension verwandeln würde, war fraglich.

Das Grundstück befand sich angrenzend zu dem, auf dem Nians Wohnhaus stand, und so hielten sich sämtliche Mitglieder der Kwan-Familie in ihrer Freizeit hier auf.

Nians Eltern nannten es einen Segen, direkt neben der Werkstatt zu wohnen, und Amari einen Fluch, da sie ihren besten Freund mit dieser Bruchbude teilen musste.

Wie immer glitt ihr Blick über die Giebel und Erker, die die Barockzeit wieder auferstehen lassen wollten. Es wäre ein Jammer, das Haus nicht zu restaurieren, doch Nians Familie hatte ihr gesamtes Vermögen für das Grundstück samt Pension hergegeben und jetzt war kein Cent mehr da, um sie zu ihrem ursprünglichen Glanz aufzupolieren. Oder die Löcher zu stopfen. Den Keller zu entwässern. Das Dach zu flicken.

Amari kannte die Liste der Dinge, die zu tun waren, bevor überhaupt jemand daran denken konnte, ein Zimmer zu vermieten, und sie reichte von hier bis an die Nordsee und zurück. Was ein weiter Weg war, da Moor sich gut mittig in Deutschland befand.

»Wo bleibst du denn? Ich dachte, du wolltest um vier da sein?«

»Ja ja.« Sie setzte sich neben ihn auf die Bank. Hier hockten sie oft, im Rücken einen langen Tisch mit Putzutensilien und irgendwelchen Kleingeräten, die die Kwans aus dem Haus zutage gefördert hatten.

»Was ist das?«, fragte Amari.

»Ein Topfträger. Vom alten Gasherd, da stellst du den Topf drauf. So.« Er hielt das Gitter waagerecht, um seine Funktion zu präsentieren.

Amari betrachtete es, dann ihren Freund, dann wandte sie sich um und inspizierte die alte Pension aufs Neue.

Nein, es war und blieb eine löchrige Bretteransammlung.

»Der Putzlappen sieht wertvoller aus als das rostige Ding, an dem du da rumwischst.«

Nian hob lediglich die Brauen, um dem Gespräch aus dem Weg zu gehen, das sie so oder ähnlich schon eintausend Mal geführt hatten.

Ganz Moor bewunderte die Kwans für ihr Vorhaben und ihren stoischen Ehrgeiz. Doch niemand verstand, warum sie sich diesen Klotz ans Bein gebunden hatten. So hatte es die Stadträtin Isabella Hornisch ausgedrückt, aber den Kauf bezuschusst, damit das Grundstück in Ortsbesitz blieb.

Niemand verstand den Lebenswunsch der Kwans, doch immer wieder kamen die Menschen und halfen, wo sie konnten.

»So, also das Herbstfest«, begann Amari.

Nian schüttelte unwirsch den Kopf und legte das viereckige Gitter auf den Tisch hinter sich. »Wir können auf gar keinen Fall zulassen, dass es ausfällt. Ich meine, mal abgesehen von dem leckersten Essen überhaupt! Der Zuckerwatte, den Karamelläpfeln, den Pancakes und dem Pumpkin Spice Sirup.«

»Jaja, ich weiß, du liebst den Sirup –«

»Diese wundervolle Süße mit der Schärfe und dem Säuerlichen … mhhhh«, hörte Nian nicht auf zu schwärmen.

»Boah, ich kann‘s nicht mehr hören. Außerdem weiß ich nicht, ob ich dieses Jahr mehr als eine Stunde mit dir an den Ständen verbringen kann, du hast dir den Sirup sogar über deinen Hot Dog gekippt.«

Nian riss die Augen auf. »Oh mein Gott, das war der Hammer! Das mach ich dieses Jahr aber sowas von noch mal!«

»Das wird nur möglich sein, wenn das Fest stattfindet, wenn ich dich erinnern darf. Und in einer Stunde beginnt die Stadtversammlung.«

»Ich muss das hier erst fertig machen, sonst darf ich nicht hin. Also entweder du hilfst mir oder du gehst alleine.«

Amari überlegte, wie sinnvoll es war, sich zu weigern, zu winden und zu jammern und errechnete die Chancen auf null. Also fügte sie sich und griff nach einem der Lappen, um die übrigen Ofengitter zu wienern.

~

Ihr Marsch führte sie in die Stadtmitte. Das Herz von Moor mit seiner Stadthalle, dem Stadtplatz mit der Linde, der Bibliothek und all den alten und teils verfallenen Gebäuden lag tatsächlich genau mittig zwischen den Elternhäusern von Amari und Nian. Das eine im Norden, das andere im Süden. Und während Moor sich an diesen Stellen mit Baumgrenzen von den nächsten Orten abgrenzte, waren es im Westen und Osten zwei Flüsse, die diese Aufgabe übernahmen. Die Tenne floss an der Grenze zu Grauthal, die Sindrach an der zu Sandis. Wobei es sich bei der Sindrach um einen eher kläglichen Fluss handelte. Seit der Entwässerung war dieser einstige Arm der Tenne nur noch ein Bächlein.

Moor lag eingebettet in einer Senke, gut geschützt und vielleicht beschützt, von Wasser und Bäumen.

Amari war gut darin, gleichzeitig zu gehen und zu sprechen. Ihr trainingsreiches Hobby hatte ihr Hirn den Sommer über ausreichend geschult, motorische und kognitive Prozesse zu kombinieren. Nur der gleichzeitigen Berechnung von Hürde und Beinbewegung war es zu verdanken, dass sie das größte Hindernis übersprungen hatte. Nian stand ihr inzwischen kaum noch nach, doch das Wort ergriff sie.

»Okay, das größte Hindernis sind die Kürbisse.«

»Hindernis? Wohl eher Fehlnis.«

»Denkst du dir wieder Wörter aus, Pumpkin-Spice-Sirup-Boy?«

»Ein cooler Name für einen Superhelden. Und ja.«

»Also gut, es fehlen uns wie viele Kürbisse?«

»Das weiß ja niemand so genau. Ich hoffe, dass sie es gleich sagen werden. Es sollen auf jeden Fall über fünfzig sein.«

Amari blieb stehen. »Fünfzig? Uns fehlen fünfzig Kürbisse? Das Fest ist schon nächste Woche!« Nur noch achtmal schlafen, wisperte eine Kleinkindstimme und ließ ihr Herz erneut ruckeln.

Nian verzog das Gesicht, als müsse er sich bei seiner Freundin entschuldigen.

»Das hat Tommy Kater gesagt.«

Amari ging weiter. »Und woher will Tommy das wissen?«

»Na ja, immerhin leitet er die Tankstelle. Bei ihm findet sich das gesamte Dorf zusammen.«

»Lass das bloß keinen hören. Letztes Jahr wurde Moor zur Kleinstadt ernannt!«

»Pfff, Kleinstadt. Und die hat nicht mal fünfzig Kürbisse übrig.«

Sie bogen in die Lavendelstraße ein und Amari hob eine Braue. »Noch nicht.«

Die Lavendelstraße war ein kleiner befestigter Weg, der in die Buchenallee überging. Diese führte direkt zum Stadtplatz und war neben der Birkenstraße beliebter Touri-Hotspot. In der Lavendelstraße schmückten nicht nur die namengebenden buschigen lila Sträuße Vorgärten und Gehwege, auch säumten riesige Buchen den Weg.

Nach einer weiteren Kurve offenbarte sich die Buchenallee in ihrer gewohnten Pracht. Das rote Laub der Bäume vermischte sich mit dem üppigen Violett des Lavendels und malte eine Kulisse, die bisweilen an die Kunstwerke von Van Gogh erinnerte.

Neben dem Herbstfest war es diese Allee in Moor, die im Herbst Menschen aus ganz Deutschland anzog und den Tourismus ordentlich ankurbelte. Die Gier nach social-media-tauglichen Fotos ging so weit, dass die Stadträtin sich seit Oktober vor zwei Jahren überlegen musste, wie man die kamera- und smartphoneschwingende Masse bändigen oder organisieren könnte. Während sich die Einen für Eintritt und die Anderen für eine Maut aussprachen, wurde die Frage, wem so eine Straße mit bunter Natur gehören möge, zum Politikum, das bis heute andauerte.

»Wenigstens ist auf die Buchen und den Lavendel Verlass, wenn schon die Kürbisse rar sind«, sagte Amari, während sie zwischen fotografierenden Menschen entlanggingen. »Obwohl das Laub sich dieses Jahr echt Zeit lässt mit der Verfärbung.«

»Stimmt«, sagte Nian. »Und so richtig viel liegt auch noch nicht unten. Meist sind um diese Zeit doch die gesamte Straße und Gärten schon mit Blättern geschmückt.«

»Das liegt an der Klimakrise«, meinte Amari. »So wie der Kürbis zu viel Regen und zu späte Hitze hatte, sind auch die Bäume verwirrt. Nur dem Lavendel scheint es nichts auszumachen. Und dem Salbei.« Letzterer wurde nach und nach zwischen den Lavendel gepflanzt, um einheimischen Pflanzen den Vorrang zu geben und wieder zu etablieren. Sie betrachteten die mächtigen Büsche, die einen unglaublich aromatischen Duft ausströmten, je näher man ihnen kam.

»Hey!«, rief Amari, als sie mit einem jungen Mann zusammenstieß, der rückwärts lief, während er eine Aufnahme einer besonders stattlichen Buche machte, deren rotes Blätterkleid sich erst in einigen Metern Höhe offenbarte.

»Sorry!« Er hob die Arme zur Beschwichtigung, änderte jedoch nicht seine Richtung.

»Wenigstens entschuldigt er sich«, meinte Nian. »Meinst du, er hat Maut gezahlt?«

Sie grinsten sich an.

Beide erinnerten sich an den Artikel der Moor-Zeitung (ja, es handelte sich um eine Schülerzeitung, doch Moor war wohl gemerkt eine Kleinstadt), in der philosophiert wurde, wie denn die Idee einer Maut umgesetzt werden könne. Der Text gewann den Preis der Jungen Schreibenden, der ihm einen angemessenen, wenn auch ironisch und sarkastischen Blick auf die verworrenen Gedanken der Erwachsenen sowie der politischen Ausmaße eines solchen Gedankens‘ bescheinigte.

»Haben Sie Maut gezahlt?«, fragte Amari, die fand, dass ihr eine Aufmunterung zustand, immerhin handelte es sich um über fünfzig fehlende Kürbisse.

»Hä?«, fragte der Mann zurück.

Und wie immer erwiderte Nian: »Wie bitte!«, er und Amari stießen sich an und kicherten, und auch, wenn diese Szene enorm kindisch war, zogen sie das Spiel seit zwei Jahren durch und kringelten sich vor Lachen.

Wenn man bedachte, dass die nächste Autobahnzufahrt über eine Stunde entfernt lag und es sich bei der einzigen Straße, die nach Moor führte, um einen schmalen Betonweg ohne Fahrbahnmarkierung handelte, war der Gedanke an eine Maut einfach belustigend.

Schon am Ende der Allee war es vorbei mit der Freude. Jeder Schritt, der sie näher zur erhabenen Stadthalle brachte, zog ihre Mundwinkel einen halben Millimeter nach unten.

Nach der Allee eröffnete sich der Stadtplatz vor ihnen, gesäumt von Läden und Cafés. Wobei es sich nicht um jene schmucke Geschäfte handelte, in denen man auf hübschen Stühlen saß und auf ansehnlich dekorierte Tische schaute, geschweige denn guten Kaffee serviert bekam. Vielmehr handelte es sich um die Überbleibsel eines Ortes, der durch Holzwirtschaft groß wurde, in den Siebzigern florierte und in den späten Neunzigern unter dem Ressourcenschwund zusammenbrach.

Klimawandel, kranke Bäume: Das Fordern nach dem Erhalt von Flora und Fauna wurde so laut, dass die Regierenden es nicht mehr überhören konnten. Moor war einer der ersten Orte, die schlau genug waren, sich umzuorientieren. Genau genommen war es Isabella Hornisch, Aktivistin, später Politikerin und jetzt Stadträtin. Ohne sie wäre der Ort nicht zur Kleinstadt gewachsen. Manche Stimmen behaupteten sogar, ohne sie gäbe es Moor nicht mehr.

Wobei einigen dieser Gedanke nicht ganz unliebsam war. Die Stadt, zurückerobert von der Natur, eine gezwungene Renaturierung, vielleicht würde sich sogar das ehemalige, dem Ort seinen Namen gebenden Moor erheben und sich für die Trockenlegung in den späten Sechzigern rächen. Tatsächlich befand sich Moor nicht direkt auf entwässertem Boden, das Umland schon. Die Renaturierung war geplant, jedoch bedeutete sie auch unzählige Evakuierungen vieler angrenzenden Orte. Verständlicherweise weigerten sich die Menschen, umzusiedeln und ihren Heimatort zu verlassen.

Andererseits häuften sich auch die Stimmen nach dieser nötigen Veränderung. Die Entwässerung der Moore bedeutete ein Abfall des Geländes, was eine erneute Entwässerung erzwang. Dieser Teufelskreislauf machte ein Leben auf erzwungen trockenem Boden nicht einfach.

Die Menschen mussten sich immer wieder mit Maßnahmen auseinandersetzen, um das Land, auf dem sie lebten, trocken zu halten.

Die frühere Moorlandschaft hatte viele Wasserzweige, die sich wie ein Labyrinth durch Inseln, trockene Stellen und schwimmende Moore zog. Nach der Entwässerung blieb nur noch die Tenne übrig, die in einen großen Strom und schließlich in die Ostsee mündete.

Mit all diesen Fakten mussten sich die Menschen auseinandersetzen, die in Moor etwas zu sagen hatten. Isabella Hornisch hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Sie verstand und handelte, weil sie sich an Wissenschaft hielt, und die lieferte Tatsachen, keine Diskussionsgrundlage. Und die Stadträtin hatte ebenfalls verstanden, was es brauchte, um Moor weiter aufzubauen. Mehr noch - um es zu erhalten.

Es brauchte Veränderung.

Nur, weil man in Jahren, die lange zurücklagen, Entscheidungen traf, hieß das nicht, dass diese jetzt noch Bestand hatten. Nicht jede Entscheidung konnte zurückgenommen werden.

Doch es konnten neue getroffen werden.

Jedenfalls wurde Isabella Hornisch zur Ikone, und ihr Werdegang sowie ihre Rettung der Stadt mochten dazu führen, dass all ihr Gebaren, welches das Erwachsenwerden und die Gier nach mehr mit sich brachten, durchgewunken wurden. Isabella Hornisch genoss Narrenfreiheit.

Amari beschäftigte sich seit einiger Zeit mit der Laufbahn derer, die in ihrer Stadt etwas zu sagen hatten – ein weiterer Grund, warum sie so begeistert mit Nian befreundet war, er tat es ebenfalls – und sie fragte sich, was das Mehr sein könnte. Geld? Macht? Kontrolle? Vielleicht alles davon? Oder steckte etwas ganz anderes dahinter? Denn es war unbestreitbar, dass die Stadträtin in letzter Zeit ihren Kurs änderte. Oder ihr Verhalten. Sie wurde fordernder. Gieriger.

Vielleicht entstand diese Annahme auch nur der üblichen Schlussfolgerungen zweier dreizehnjähriger Hobbyermittelnden, die unbedingt dazu führte, dass etwas nicht stimmte.

In jedem kindlichen Entdeckertum steckt Argwohn.

Amari war sich dessen bewusst, doch sie beschloss, wachsam zu sein.

Die Cafés waren also nichts weiter als nüchterne oder altertümliche Räumlichkeiten mit der sturen Aufgabe zur Nahrungsaufnahme.

In der Mitte des Stadtplatzes erhob sich eine üppige Linde, die 1987 gepflanzt wurde als Mahnmal an die Natur als auch des Kurswechsels von Moor.

Amari trat manchmal über den gepflasterten Steinkreis, der ihren Stamm umgab, um die Rinde zu ertasten. Und manchmal flüsterte sie Grüße von der Stadtgrenze. »Die drei Birken senden die Grüße, oh du Mächtige.«

Einmal hatte Nian sie belauscht, doch nichts gesagt. Sein Blick deutete eher darauf hin, dass er selbst über ein Baumgespräch nachdachte.

Flankiert wurde der Stadtplatz von Ahornbäumen, deren bestechende Herbstfärbung das Lockmittel schlechthin war. Im aufkommenden Wind wirbelten die ästhetisch gezackten gelben und roten Blätter über den Stadtplatz, landeten auf Tischen, bedeckten Bänke und luden zum Herbstlaubrascheln ein. Canadian Summer mitten in Deutschland, hatte eine Influencerin letztes Jahr gepostet und damit einen wahren Run auf Moor ausgelöst.

An der Nordseite des quadratischen Stadtplatzes stand die Stadthalle. Zusammenkunft aller Behörden, Belange und vermeintlich wichtiger Personen. Zwei Flachbauten, die neben dem imposanten Gebäude aussahen, als würden sie sich ihrer Schlichtheit schämen, boten zudem Platz für Treffen, Vereine und Kurse.

Punkt sechs startete die Stadtversammlung.

Isabella Hornisch hatte sie ins Leben gerufen und als monatliche Veranstaltung festgelegt. Nicht etwa, um Transparenz zu schaffen, was die Handlungen der Oberen anging, nein, sie nannte es »Notwendiges Übel, damit mir nachher niemand ans Bein pisst«.

Zur Versammlung durften alle teilnehmen, die in Moor wohnten, egal wie alt sie waren. Aufgrund dieser Entscheidung hatte die Stadträtin bei Amari einen Stein im Brett, wenn auch nur einen kleinen.

»Fünfzig Kürbisse also«, sagte Amari, als die Gedanken an das Herbstfest sich erneut in ihr Bewusstsein drängten. Die Menschen, die sich an ihnen vorbeischoben, um einen guten Platz in der Stadthalle zu ergattern, trugen wohl auch dazu bei.

»Das ist eine Menge. Es ist viel zu viel. Wo sollen wir nur so viele herbekommen?«

»Ich wünschte, wir könnten zaubern«, sagte Nian und linste unschuldig zu Amari rüber. »Oder zumindest ein wenig, du weißt schon. Hexen.«

Amari imitierte ihren Vater mit einer perfekt gehobenen Braue.

»Was soll ich denn dazu sagen, Pumpkin-Spice-Boy?«

»Mh, vielleicht so etwas, ach, wenn wir nur eine Hexe kennen würden. Wenn Moor nur eine Hexe hätte!«

Amari erhöhte das Tempo, als die Stadthalle in ihr Blickfeld kam und die Schubser der Heraneilenden zunahmen.

»Wenn es hart auf hart kommt, fragen wir sie halt.«

Nian schien mit dieser Zustimmung seiner Freundin zufrieden, lächelnd stieg er neben Amari zusammen die von zwei Betonsäulen flankierten Stufen hoch. Diese waren einst von einer Kirchenmalerin so raffiniert verziert worden, dass sie aussahen, als wären sie aus Marmor gehauen und nicht aus weitaus günstigerem Material gegossen.

Bevor sie eintraten, blickte Amari Nian an. »Zum Glück hat Moor eine Hexe. Sogar zwei.«

Nians Zufriedenheit wuchs zu einer außerordentlichen Begeisterung.

»Ruhe bitte, ich bitte um Ruhe!« Die Stadträtin stand am Pult und stemmte die Hände in die Seiten.

Der Saal war brechend voll. Amari und Nian hatten zwei Plätze in der Mitte ausgemacht und waren recht angetan von ihrer Ausbeute. Mitte bedeutete halb so laut, dennoch genug Sicht nach vorn und einen nicht allzu langen Fluchtweg, wenn es den Beiden zu bunt wurde. Was hin und wieder vorkam.

Manchmal.

Oft.

Ziemlich oft sogar.

Stadträtin Isabella Hornisch klatschte in die Hände. »Ich würde sagen, wir kommen gleich zur Sache. Mehrere Faktoren geben aktuell Grund zur Sorge, dass unser Herbstfest dieses Jahr nicht stattfinden kann.«

Ein Raunen ging durch die Menge.

Nian und Amari blickten sich an.

»Sie meinen wohl die zweiundsiebzig Kürbisse?«, rief Martin Koll. Ihm gehörte ein kleiner Laden, in dem er Brot und Brötchen verkaufte, den er aber lieber als Konditorei sehen würde.

»Zweiundsiebzig?«, plärrte Tommy Kater, der Tankstellenpächter. »Ich dachte, es wären nur fünfzig.«

»Deine Tankstelle ist nun mal nicht der Nabel der Welt, auch wenn du das immer denkst!«

»Immerhin hat Daniel Graig letzte Woche bei mir getankt. War er bei dir im Brotladen? Hm, sag schon!«

Martin stand auf. »Es ist eine Konditorei!«

»Ach, halt die Klappe!«

Ein schrilles Pfeifen unterbrach die beiden Streithähne.

Amari zuckte zusammen, wie der Rest der Anwesenden. Sie legte die Hände auf die Ohren und blickte zu Nian. »Was war denn das?«

Ihr Freund sah bei weitem nicht so erschrocken aus wie sie selbst, die Aussicht auf ein Gespräch mit einer Hexe hockte ihm noch immer als ein fettes Grinsen im Gesicht.

Die Stadträtin nahm eine leuchtend rote Trillerpfeife von ihrem Mund und hob sie in die Luft. »Ich spreche noch!«

Amari knetete ihre Hände. Sie war es gewohnt, dass diese Versammlungen lange dauerten, bis sie zu etwas Konstruktivem führten, wenn überhaupt. Doch heute hatte sie gedacht, dass sich die Menschen gleich zu Anfang konzentrieren, und mal alle Streitigkeiten hintan stellen würden. Sie hatte es erwartet. Schließlich ging es heute um das Herbstfest!

»Seit wann hat sie eine Pfeife?«, fragte Nian hinter vorgehaltener Hand.

»Also, es fehlen uns zweiundsiebzig Kürbisse«, fuhr die Stadträtin fort. »Weder Kleinbuchsheim noch Tannenquell wollen uns welche abgeben. Das gesamte Umland hockt auf seinem Gemüse, als wäre es Gold.«

Ein gemeinschaftliches Räuspern erklang. Für Isabella Hornisch waren Kürbisse Gold, zumindest, wenn es ums Herbstfest ging. Denn das Herbstfest bedeutete ein Tourismusanstieg von über achtzig Prozent, und Amari hätte schwören können, dass sie die Stadträtin letzten Oktober mit Eurozeichen in den Augen die Buchenallee entlangschlendern hatte sehen. Auf die geldgesteuerten Pläne von Isabella Hornisch war genauso Verlass wie auf die Fähigkeit von Tommy Kater, mindestens einmal wöchentlich eine prominente Person in seiner Laufkundschaft auszumachen.

»Dann wird das Fest eben mit weniger Kürbissen stattfinden«, rief der Tankstellenpächter nun, und wieder erfüllte ein Raunen das Gebäude.

Wenn es etwas gab, was diese ohnehin zähe Prozedur noch mehr verlangsamen würde, war es die immer wiederkehrende Frage, warum denn genau zweihundert Kürbisse notwendig waren, um das Herbstfest feiern zu können.

Na ja, mindestens zweihundert, doch davon schien Moor aktuell weit entfernt.

»Nicht schon wieder, Tommy«, plärrte irgendwer aus der letzten Reihe.

»Ich hätte es zwar anders ausgedrückt, aber ja. vielen Dank dafür«, erwiderte Isabella Hornisch. Sie stützte sich auf ihr Pult und schloss kurz die Augen, aus müsse sie sich sammeln.

»Wie schon einhundert Mal erwähnt: Das Fest gründet auf der Tradition von 1999, die erste Ernte von zweihundert Kürbissen gebührend feiern zu wollen. Ich werde nicht Diejenige sein, die mit dieser Tradition bricht.«

Die Menge schwieg. Moor war ein Ort voller kluger Menschen, und ein Ort voller bisweilen seltsamer Geschichten, wenn nicht Legenden. Allen war klar, dass Unglück sich auch nähern kann, wenn man nicht daran glaubt.

Es hieß, Moor hatte eine Hexe, und es hieß ebenfalls, ein Unwetter würde Moor heimsuchen, würde man eine Tradition brechen – egal welche.

»Zudem haben wir noch ein anderes Problem«, fuhr die Stadträtin fort, und ihr Ton suggerierte, dass ein neues Thema angeschnitten und das alte nicht weiter erwähnt wurde. Für einen Moment schien es, als hätte sie Freude, ihre Mitmenschen zu quälen, indem sie ein weiteres Hindernis offenbarte. Zumindest bis ihr einfiel, dass sie selbst der höchsten Qual unterlag, nämlich ihrer brachliegenden Geldmaschine.

»Thorben muss gefällt werden.«

Amari schrie auf. Und sie war nicht die Einzige.

Eine Frau in der ersten Reihe sprang auf. »Wieso?«

Tommy Kater sprang ebenfalls auf.

»Sie wollen uns unser Stadtmaskottchen nehmen? Wie um Himmels Willen kommen Sie darauf?«

Amari spürte den Blick von Nian auf sich ruhen, und als sie den Kopf wandte, sah sie seine aufgerissenen Augen. »Was ist da los?«, fragte er.

Sie zuckte nur mit den Schultern. Eine allumfassende Hilflosigkeit kroch über ihre Schultern und machte sich auf den Weg, ihren Brustkorb einzunehmen.

Bei Thorben handelte es sich um den Plastik – Riesenkürbis, der nicht weit von der Linde in der Stadtmitte entfernt auf einem Heuballen thronte und Moor zur selbsternannten Kürbis-Stadt machte. Kleinstadt zwar, aber immerhin. Bei Thorben handelte es sich quasi um das Maskottchen von Moor und war zudem beliebtes Fotomotiv.

»Was ist mit Thorben?«, flüsterte Amari, und als hätte die Stadträtin sie gehört, ließ sie vernehmen:

»Er ist von Bienen befallen.«

Weitere Schreie ertönten. Mehrere Anwesende schlugen die Hände vor den Mund.

Amari starrte nach vorn.

»Es handelt sich um Mauerbienen, die sich in den Rissen des porös gewordenen Materials pudelwohl fühlen und sich ein Nest bauten, das mehr als die Hälfte von Thorben ausfüllt. Sie sind zwar nicht aggressiv, doch viel zu nahe an den Menschenmengen, um einen ausreichenden Schutz für die Tiere und Menschen zu gewährleisten, sagt die Naturschutzbeauftragte. Ach ja, die Bienen stehen außerdem unter Naturschutz. Wir können kein Fest feiern, solange sie dort leben.«

Nian schürzte die Lippen. Nicht, dass ihm die neusten Hiobsbotschaften gefielen, doch vielleicht wurde er tatsächlich endlich Zeuge eines Zauberspruches.

Seit er als kleiner Junge erfahren hatte, dass in Moor eine Hexe lebte, vielleicht sogar zwei (wobei die Existenz der ersten schon mehr als fragwürdig war, wusste doch jeder einigermaßen intelligente Mensch, dass es keine Hexen gab), träumte er von gemurmelten Worten, die Unglaubliches auslösten. Was genau das sein konnte, hatte er noch nicht überlegt, obwohl er sich mindestens einmal wöchentlich Träumen mit übernatürlichen Inhalten hingab. Eine niemals endende Flut an Pumpkin-Spice-Sirup vielleicht. Ein Sirup-Fluss, ähnlich wie beim Märchen des süßen Breis. Dass er endlich die 1,10-Meter-Hürde überspringen würde. Oder die Verbannung jeglicher Verschmutzung der Erde, was ein weniger selbstloser Gedanken war.

Vielleicht sollte er an diesem festhalten. Nach der Rettung des Herbstfestes natürlich. Doch wie sollte eine Hexe, oder zwei, Thorben retten? Vielleicht mit Ausräucherung?

»Wir werden die Bienen nicht ausräuchern«, sagte in dem Moment Isabella Hornisch, und Nian, der sich ertappt fühlte, biss sich auf die Lippe. Doch die Stadträtin hatte auf einen Vorschlag aus der Menge geantwortet. »Wir müssen sie umsiedeln. Das bedeutet Extrakosten, was den Etat des Herbstfestes schmälert. Zudem müssen wir einen Ort finden, um die Bienen neu anzusiedeln.«

»Tommys Tankstelle eignet sich sicher hervorragend«, rief Martin Koll. Tommy Kater riss Augen und Mund auf und begann zu brüllen.

Amari glotzte von einem Menschen zum anderen, verfolgte den Tumult, der entstand und lehnte sich seufzend zurück.

Die Hoffnungslosigkeit umschloss ihren Brustkorb wie ein unnachgiebiges Drahtgestell.

~

»Na das ist ja fantastisch gelaufen.« Amari stieg die drei Stufen hinab und hielt sich am gedrechselten Geländer fest, als müsste sie sich stützen. »Ich hasse Erwachsene.«

»Dito«, sagte Nian. »Irgendwie kriegen die nie was auf die Reihe. Aber von uns verlangen oder was.«

Amari seufzte und sah auf ihre Armbanduhr. »Wenigstens bleibt uns jetzt mehr Zeit, da die Versammlung ein sehr abruptes Ende gefunden hat.« Sie beide mussten vor der Dunkelheit zu Hause sein, was in dieser ersten Septemberwoche zwanzig Uhr bedeutete.

Sie drehten sich um, hinter ihnen klangen laute Stimmen aus der offen stehenden Tür. Im Moment wurde darüber diskutiert, woher das Geld stammen sollte für den stadteigenen Bagger, der kurz vor dem Zusammenbruch stand. Unnötig zu erwähnen, dass dieser Austausch ähnlich erfolglos verlief.

Amari sah ihren Freund an.

»Also, was schlägst du vor?«

Nian grinste sie an. »Als ob du das nicht wüsstest.«

Mit einem Seufzen ging Amari los. »Wie lange wartest du schon darauf, Aurelia Bischoff einen Besuch abzustatten?«

Nian holte sie ein. »Lang genug. Und hätte ich gewusst, dass es zweiundsiebzig fehlende Kürbisse und ein Bienenvolk braucht, wäre ich wohl sehr viel ungeduldiger gewesen.«

Zwei Würfel

Aurelia Bischoff lebte nicht weit von der Stadthalle entfernt.

Während Amari an der nördlichen und Nian an der südlichen Grenze wohnte, befand sich das Haus der Hexe noch mitten im Stadtkern. Im Grunde konnte man sagen, dass es so ziemlich die Mitte der Luftlinie bildete, die sich zwischen den Häusern der Kinder spannte.

Amari und Nian überquerten den Stadtplatz, blickten herabwehenden Ahornblättern nach und versuchten, ein paar von ihnen zu fangen.

Sie betraten die Birkenstraße. Und auf ihrem Weg zur Kastanienallee, die am Ende abzweigte, kamen sie am Haus von Luise vorbei, die früher ihrer beider Babysitterin war und nun gute Freundin der Familien.

Amari und Nian reckten den Hals, doch nichts an dem niedrigen Haus im Bungalow-Stil ließ erkennen, ob Luise zu Hause war.

»Vielleicht können wir auf dem Rückweg mal Hallo sagen«, schlug Amari vor.

Die Birkenstraße erstreckte sich über einen ganzen Kilometer durch Moor und war so die längste Straße des Ortes. Nach der Buchenallee war sie die beliebteste Straße der Touris, da sie ihren Anfang am Stadtplatz nahm und so eine gute Führung durch Moor versprach. Zudem verfärbten sich die hohen, schlanken Bäume im Herbst zu einem majestätischen Gelb und winkten damit hoch über den Dächern.

Nian, der Jahre darauf gewartet hatte, endlich mit einer Hexe zu sprechen, schien jetzt, wo es so weit war, der Enthusiasmus zu verlassen. Zumindest drosselte er das Tempo und hatte das Gefühl, dass seine Lunge plötzlich weniger Sauerstoff produzierte als bisher.

Amari ließ sich davon nicht abbringen, sie stiefelte weiter voller Elan die Straße entlang, bog schließlich in die Kastanienallee ab und stiefelte weiter, bis sie vor dem Haus, das größtenteils aus Holz bestand, stehen blieb.

Nian hatte Schritt gehalten und japste neben ihr.

Sie betrachteten das rustikale Gebäude, das gemütlich wirkte, wenn man außer Acht ließ, wer in ihm hauste.

Das Hexenhaus war ein Flachbau mit Veranda, auf der eine Hollywoodschaukel thronte. Hinter ihm erhob sich eine große Kastanie. Ihre üppige Krone breitete sich über das Dach aus, als würde sie es streicheln. Unzählige von den braunen Früchten, manche noch in ihrer stachligen Schale, bedeckten Dach, Vorgarten und Gehweg. Amari bekam Lust, sie aufzusammeln und ihre glatte Oberfläche zu fühlen.

Die Veranda umrandete zwei Seiten des Hauses und wirkte einladend.

Dunkelgrüne Ranken mit Riesenblüten in verschiedenen Farben schmückten das dicke Sitzpolster der Hollywoodschaukel. Das florale Muster zog sich über die gesamte Veranda: sowohl die Tischdecke als auch die Kissen der Rattanstühle zierten sich mit den exotisch wirkenden Blüten. Das Muster wirkte alt, aber nicht rustikal. Tatsächlich machte es einen mystischen Eindruck auf Amari, die weder an Hexen noch Hexenhäuser noch mystische Dinge glaubte. Vor der Schaukel standen ein kleiner runder Tisch und ein paar geflochtene Sessel.

»Warst du schon mal drinnen?«, fragte sie Nian.

»Nein.« Nian fand die Frage einigermaßen belustigend, wenn er daran dachte, wie er normalerweise einen Bogen um dieses Haus machte. Nicht, dass er sich oft in dieser Gegend aufhielt, das letzte Mal war er zur Einweihung der komplett erneuten Häuser der Birkenstraße hier gewesen. Es gab ein kleines hübsches Fest, bei dem die weißen Stämme der namensgebenden Bäume mit bunten Bändern geschmückt wurden.

Sie traten durch das kleine Tor in der niedrigen Steinmauer und schritten bedächtig durch den mit wilder Möhre, Felsenbirne und Dost überwucherten Vorgarten. Eine ausgewucherte Hainbuche breitete ihre üppige Krone bis über den Zaun aus.

Als sie die Veranda aus geöltem Walnussholz betraten, reckten sie die Köpfe, um zur Eingangstür zu schauen. Sie erkannten keine, nur einen Durchgang ins Haus, der mit einem prächtigen Perlenvorhang versehen war.

»Sieht nicht so aus, als gäbe es eine Klingel«, sagte Nian. »Hab auch keine am Briefkasten gesehen, draußen an der Mauer.«

Ein Klirren ließ die beiden Kinder zusammenfahren.

Der Perlenvorhang hatte sich geteilt und inmitten der Kristalle, die in einem durchscheinenden Weiß aneinanderstießen, stand Aurelia Bischoff.

Moors Hexe.

»Ich bekomme nicht oft Besuch«, sagte sie und trat auf die Veranda.

»Ihr seid doch zu Besuch, oder habt ihr euch nur verirrt?«

Amari wehrte sich gegen jede Klischee-Gedanken wie Kristallkugeln und einer Katze auf der Schulter, doch Aurelia Bischoff machte es ihr nicht einfach. Sie stand vor ihr in einem langen bordeauxfarbenem Kleid und einhunderttausend Ketten um den Hals, Armreifen und Ohrringe, die sicher dem Klang des Perlenvorhangs alle Konkurrenz machen könnten, würde die Hexe tanzen.

Ihre langen braunen Haare mit einzelnen schwarzen und grauen Strähnen lagen ihr gewellt über den Schultern. Sie waren so dick, dass sich bestimmt eine Katze darunter verbergen könnte. Amari war es unmöglich, Aurelias Alter zu schätzen.

»Nein, wir wollten zu Ihnen«, antwortete Nian mit fester Stimme.

Die Hexe nickte und deutete auf die Hollywoodschaukel. »Nehmt doch Platz. Das Wetter ist so wundervoll heute. Wollt ihr Kekse?«

Amari und Nian, denen gleichzeitig irgendetwas mit Hänsel und Gretel einfiel, blickten sich an. Schließlich gaben sie sich einen Ruck und gingen zum angewiesenen Platz.

Die Hollywoodschaukel ächzte nicht, als sie sich darin niederließen, und die Polster waren so weich, dass Amari dem Drang widerstehen musste, sich genussvoll hineinzulümmeln.

»Ich glaube nicht, dass ich euch kenne«, sagte die Hexe und setzte sich in einen der Rattanstühle.

»Ich bin Nian, meine Familie hat die alte Pension gekauft. Und das ist Amari.«

Aurelia Bischoff lehnte sich mit zusammengezogenen Brauen nach vorn, und die Kinder leicht zurück.

»Du wohnst also in der Werkstatt«, stellte sie fest.

»Na ja. Nicht direkt in der Werkstatt.«

»Und du?«

Amari hob eine Braue. »Ich wohne in der Nähe vom Fluss. Keine Baustelle.« Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.

Aurelia lehnte sich zurück. »Gehst du oft am Flussufer entlang?«

Die Kinder blickten sich fragend an.

Aurelia Bischoff schien keine Antwort zu erwarten. Sie lehnte sich zurück. »Ich war oft dort oben. Die Tenne scheint friedvoll, doch sie birgt einige Schnellen.«

»Ähm ja« meinte Nian. Einerseits fürchtete er einen Fluch, da er die Gedanken einer Hexe unterbrach, andererseits wurde es bald dunkel, und wer wusste, wann er den Mut aufbringen würde, noch mal hier zu erscheinen. Oder Amari dazu bringen konnte, mitzukommen. Seine Freundin stellte für jeden Weg eine Rechnung auf, in der sie Aufwand und Nutzen abwog. Bisher war ein Ausflug zu einer Hexe immer mit einer Negativrechnung ausgefallen.

»Wir brauchen Ihre Hilfe«, fügte er eilig hinzu. Erst heute Morgen hatte er gelesen, dass man sicher auftreten und langsam sprechen sollte, wenn man um einen Gefallen bat oder etwas forderte, doch jetzt schien die Praxis sehr weit von der Theorie entfernt.

Die Hexe betrachtete ihn. »So so.«

Sie blieb erstaunlich ruhig, und sowohl Amari als auch Nian fragten sich, ob Aurelia Bischoff bereits Hilfsgesuche dieser Art erreicht hatten.

Das wäre verwunderlich, denn sie hatten nie dergleichen gehört. Andererseits - wer würde schon davon berichten, wussten doch alle, dass es keine Hexen gibt.

Die Hexe lehnte sich ins Polster zurück und blickte beide Kinder abwechselnd an. Ihre geweiteten Augen zeugten von Neugierde. Mit einem Mal waren sie so groß, dass Amari ihre Farbe erkennen konnte. Bernstein mit grünen Sprenkeln. Und diese sahen aus wie Glitzer.

Funkelten sie?

»Das Herbstfest kann vermutlich nicht stattfinden«, sprang Amari für ihren Freund ein. »Wir brauchen zweiundsiebzig Kürbisse und ein neues Zuhause für einen Bienenstock.«

Aurelia Bischoff setzte sich aufrecht und schürzte die Lippen. »Nun, eine derartige Anfrage hab ich noch in der Tat noch nie bekommen.«

»Dann kommen die Menschen öfter zu Ihnen?«, fragte Amari, deren Neugierde nicht so groß war wie Nians, doch dafür überwog ihr Mut. Und bisweilen Übermut. Ihr Lehrer nannte es Impulsivität, was für Amari nicht zählte, denn was sollte je an Impulsen schlecht gewesen sein?

»Ihr seid hier«, antwortete die Hexe.

Die Kinder blickten sich an. Aurelia Bischoff hatte Recht. Wenn sie beide hier waren, um nach Hilfe zu bitten, warum sollten es andere nicht auch tun?

»Ich habe hier keinen Platz für Bienen«, sagte die Hexe.

»Und was ist mit den Kürbissen?« Nian bemerkte, dass sich das Licht veränderte. Wenn er nicht aufbrechen würde, wenn die Dämmerung einsetzte, würde er zu spät nach Hause kommen. Und das hieß weniger Freizeit und mehr Putzen von unnützen Dingen, die kein Mensch mehr brauchen konnte. Das war seine Aufgabe, seit die Kwans diese uralte Pension gekauft hatten.

Die Hexe schürzte erneut die Lippen und wog den Kopf hin und her.

»Hm. Lass uns nachdenken.«

Nians Bein begann zu zucken, untrügliches Zeichen von Ungeduld.

»Warum liegt euch das Fest so am Herzen?«

»Was?«, fragte Nian zurück. »Ich meine, wie bitte?«

Aurelia zuckte mit den Schultern, was nur eine verwaschene Bewegung unter dem dicken Haar war. »Ich meine, es ist nur eines von vielen.«

»Aber der Sirup!«, rief Nian.

Amari gab ihm einen Stoß. Dann sagte sie: »Das Fest ist eine Tradition von Moor. Es existiert, seit wir auf der Welt sind. Schon vorher wurde es gefeiert. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es in Moor ohne das Herbstfest sein soll. Ohne dass die Menschen zusammenkommen und fröhlich sind. Ohne die Lichter, die in den Bäumen hängen. Ohne die Lieder und die Tänze. Und ohne den Geruch von Kürbis und Sirup und Schokolade in den Straßen.«

Die Hexe rückte ein wenig auf ihrem Stuhl nach vorn. »Ich erinnere mich an diese Zeit.«

Nian nickte heftig. »Es ist unsere Aufgabe, die Tradition zu erhalten! Wir sind es Moor schuldig. Ich bin äußerst loyal!«

Amari betrachtete ihren Freund. Sie wusste, dass er die Wahrheit sprach, nur war sie sich im Moment nicht sicher, ob seine Loyalität den Belangen der Stadt oder dem Sirup galt.

Die Hexe nickte ebenfalls, und es war nicht ersichtlich, ob sie zustimmte oder einfach das Gewicht ihrer Haare neu verlagerte.

»Außerdem«, fuhr Nian fort, »wurde Moor letztes Jahr zur Kleinstadt ernannt, was bedeutet, dass meine Loyalität sich verdoppelt hat. Quasi.«

Nach einem prüfenden Blick der Hexe setzte er hinzu: »Ich werde alles tun, was nötig ist, um das Herbstfest zu retten. Ich meine, es sind ja nur zweiundsiebzig Kürbisse und ein Bienenvolk.« Der letzte Satz verlor etwas an Fahrt, woraufhin ein Moment der Stille entstand.

Amari sah zur Hexe. »Ich hab Sie noch nie auf dem Fest gesehen.«

»Nun ich mache mir nicht viel aus Menschen. Ich höre und rieche sie ausreichend, besonders an diesem vermaledeiten Herbstfest.«

Amari und Nian versteiften augenblicklich. Sie hatten keinen Schimmer, was vermaledeit bedeutete, doch sie spürten die Stimmung, die eindeutig umschlug. Die Hexe von Moor war kein Fan von Festen. Und wenn sie keine Feierlaune verspürte, warum sollte sie ihnen dann helfen?

»Und«, begann Nian, und Amari nahm wahr, wie ängstlich er klang. »Und wenn die Menschen zu Ihnen kommen, sind Sie dann ... genervt?«

Aurelia Bischoff starrte ihn an, dann lachte sie. »Du meinst, ob ich sie verfluche?«

Nian zog die Mundwinkel nach unten. »Äh.«

»Ich verfluche sie nicht. Meistens.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass die Menschen Sie aufsuchen«, sagte Amari. Im Grunde dachte sie nur laut, doch das tat sie öfter als ihr lieb war. Das war ebenfalls eine Angewohnheit, die ihr Lehrer zu missbilligen schien.

»Und weswegen denkst du das?«

Amari zögerte. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Ihr nicht, und Nian ebenfalls nicht. Beide mussten pünktlich zu Hause sein, und die Dämmerung färbte die Umgebung bereits in einer Nuance dunkler. Der Perlenvorhang fing die letzten Strahlen der Sonne ein und mahnte den Tag, dass er der Nacht allmählich Platz zu machen hatte.

»Weil sie Sie meiden? Weil man ...« Sie überlegte, Halt bei Nian zu suchen, doch sie sprach über ihre These, und sie sollte auch dafür einstehen.

»Weil man Hexen meidet.«

Aurelia Bischoff ließ nicht erkennen, was oder ob überhaupt diese Bezeichnung eines übernatürlichen, meist nicht gemochten Wesens, in ihr auslöste.

»Das ist ein Trugschluss. Hexen werden nicht gemieden. Im Gegenteil, man sucht ihre Gesellschaft.«

Amari und Nian warfen sich unsichere Blicke zu.

»Vor Hexen hat man Angst«, sagte Nian, der in voller Absicht alle Menschen und sich selbst ganz besonders damit meinte.

Aurelia Bischoff erhob sich schwerfällig. »Das eine muss das andere nicht ausschließen. Und Neugierde und Angst gehen oft Hand in Hand.« Der letzte Satz verklang im Klimpern des Glitzervorhanges. Zwei Sekunden später war Aurelia im Haus verschwunden.

Nian dachte stirnrunzelnd nach. Amari schien genauso überlegen, sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Na ja, was dich betrifft, stimmt das.«

»Was?«

»Willst du nicht jeden Tag herkommen, seitdem du weißt, dass sie eine Hexe ist?«

Nian verzog den Mund zu einem schmalen Strich, ein weiteres Indiz, dass ein neuer Gedanke sein Hirn kaperte.

»Und hast du nicht auch Angst?«, fragte Amari weiter.

Eine Antwort bekam sie nicht, da Aurelia wiederkam und ein Tablett auf dem Tisch abstellte, auf dem ein Teller duftender Kekse thronte.

Nian beugte sich nach vorn und schnupperte. Er würde sich als einen Menschen beschreiben, der Pumpkin-Spice-Sirup von allen am meisten liebste, doch an zweiter Stelle kamen Kekse. Da er im Sommer vor zwei Jahren alle probiert hatte, die man kaufen konnte, buk er inzwischen selbst. Zurzeit kreierte er das beste Rezept für Pistazienkekse.

Die von Aurelia Bischoff waren gekaufte, doch es handelte sich um welche von den Guten.

»Greift zu.«

Amari und Nian ließen sich nicht lange bitten. Der Mürbeteig zerfiel noch auf den Lippen und krümelte sie, die Polster sowie das Holz der Veranda voll.

Nian schmeckte zu viel Zitrone, doch der besonders mürbe Teig machte das wieder wett.

Er war erleichtert, als auch Aurelia einen der Kekse nahm. Zu sehr saßen die Bilder und Geschichten in ihm, mit denen er sich in den letzten Monaten – ach was, Jahren – beschäftigt hatte. Die Angst vor einer Hexe war bei weitem nicht so groß wie die Begierde, eine zu treffen, doch groß genug, um sich von Aurelia Bischoff fernzuhalten. Und so hatte er alle Geschichten rund um Hexen, die er gefunden hatte, heimgesucht. Oder sie ihn.

Unter jenen Geschichten gab es auch welche, in denen es nicht gut ausging, wenn Hexen und Kinder aufeinandertrafen.

Nian war klar, dass Geschichten Fiktion waren, und dass es vor allem keine Hexen gab. All das änderte nichts an der Tatsache, dass ihn der Gedanke an Aurelia Bischoff seit Jahren hinterherjagte wie ein Fuchs einem Hasen.

Amari sah zum Himmel.

Nicht einmal die besten Kekse der Welt konnten sie davon ablenken, das Tageslicht aus dem Blick zu verlieren. Sie wollte Nian anstupsen, als die Hexe das Wort ergriff.

»Nun, dann werde ich mal holen, was für die Beschwörung brauchen.«

Nian glotzte sie an. »Echt?«

»Was meinst du mit echt? Kommst hier her und hältst Vorträge über Loyalität und denkst, dass ich da noch ruhig auf meinem Hintern sitzen kann? Ich fühle vielleicht keine Loyalität mit diesem Ort hier, doch ich weiß diesen Charakterzug durchaus zu schätzen. Also, dachtest du, du traust dich her, und forderst meine Unterstützung ein, obwohl du keinerlei Reaktion von mir erwartest?«

Nian sank in das Sitzpolster. »Nein, aber ...«

Die Hexe erhob sich erneut. »Fang keinen Satz mit Aber an, wenn das Aber kein Gewicht hat.«

Amari betrachtete den Glitzervorhang aufs Neue. Sie überlegte, sich auch so einen anzuschaffen. Sie mochte es, wenn die Perlen auseinanderdrifteten, Licht einfingen und mit einem Klirren zusammenstießen.

»Welches Aber hat je Gewicht?«, überlegte sie laut.

Nian tat es ihr gleich, wenn auch seine Gedanken eine andere Richtung einschlugen. »Was sie wohl holt? Ich hoffe, keine Froschbeine oder so was.«

Amari hob fragend die Brauen.

Nian hob die Hände. »Was denn? Ich hab jeden Hexenfilm geschaut, der für mein Alter zugelassen, legal oder zumindest legal zu bekommen ist. Da geht es immer um ekliges Zeug, das man für Beschwörungen braucht.«