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Vor fünf Jahren hat die begeisterte Kindergärtnerin Jana ihren besten Freund Liam nach Finnland ziehen lassen, ohne ihm zu verraten, dass sie heimlich in ihn verliebt ist. Nun kehrt er zusammen mit seinem kleinen Sohn Mika als Witwer nach Stockholm zurück. Schnell erkennt Jana, dass ihre alten Gefühle nicht erloschen sind. Nicht nur das, Liam scheint sie auch zu erwidern. Die beiden nähern sich vorsichtig an, doch dabei stehen sie vor einem Problem: Mika ist in Janas Kindergartengruppe und ihre Chefin hat Flirts mit Elternteilen der Kindergartenkinder streng verboten. Anstatt mit der Leiterin Klartext über ihre Beziehung zu Liam zu reden, findet Jana eine Ausrede nach der anderen, um das Gespräch zu vermeiden. Bis ihr dämmert, dass sie möglicherweise nicht dafür bereit ist, ihr Leben für Liam und Mika umzukrempeln, denn eigene Kinder standen nie auf ihrem Lebensplan. Ist das nicht nur das Ende ihrer Beziehung, sondern auch einer lebenslangen Freundschaft? Oder können Jana, Liam und Mika doch noch als Familie zusammenfinden?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
SCHWEDENLIEBESROMAN
BUCH VIER
Copyright © 2024 LinaHansson
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© Covergestaltung: PiaPrennerBA unter Verwendung von Bildmaterial von unsplash.com
Korrektorat: SandraLinke (wortnoergler.de)
Verlag: PiaPrennerBA, AmBahndamm 9, 7000 Eisenstadt
Prolog
Vor 5 Jahren
1. 26. September
2. 28. September
3. 5. Oktober
4. 9. Oktober
5. 12. Oktober
6. 17. Oktober
7. 19. Oktober
8. 22. Oktober
9. 27. Oktober
10. 31. Oktober
11. 2. November
12. 7. November
13. 10. November
14. 11. November
15. 12. November
16. 13. November
17. 16. November
18. 23. November
19. 30. November
20. 13. Dezember
21. 14. Dezember
22. 15. Dezember
23. 16. Dezember
Epilog
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Über die Autorin
»Kurz, kurz, kurz, lang, kurz – nein, Moment, ich glaube, da war eine Pause.«
Ungeduldig blickte die zwölfjährige Jana zu ihrem jüngeren Bruder auf. »Was jetzt? BeimMorsen muss man genau sein.«
Sven sah sie schuldbewusst an.
»Ach, lass mich schauen und du schreibst«, brummte Jana und drückte Sven den Block in die Hand, auf dem sie LiamsZeichen notiert hatte, damit sie seine Botschaft übersetzen konnten.
Sie kniete sich vor das Dachbodenfenster und starrte konzentriert über den Campingplatz zu einer der hinteren Hütten. Durch den Regen waren keinerlei Lichtzeichen zu erkennen. Hoffentlich schickte Liam die Nachricht nach einer Weile noch einmal, wenn er keine Antwort erhielt.
Jana seufzte. DieserUrlaub gestaltete sich ganz anders, als ihre Eltern angekündigt hatten. DieKinder wollten baden oder im Wald herumstreunen. Stattdessen saßen sie bei Dauerregen in einer winzigen Stuga, die zu allem Übel nicht direkt neben der von LiamsFamilie lag. Weil die Erwachsenen außerdem beschlossen hatten, auf ihre Handys zu verzichten, mussten sie auf andere Weise kommunizieren.
»Da!«, rief Jana aus, als sie endlich das Licht von LiamsTaschenlampe entdeckte, das zu Beginn einige Sekunden lang leuchtete, um zu signalisieren, dass er gleich morsen würde. Sven machte sich bereit und diesmal gelang es den Geschwistern, die Morsezeichen festzuhalten. Als sie fertig waren, nahm Jana ihrem Bruder den Block weg und übersetzte sie anhand einer Tabelle. Manche konnte sie auswendig, denn Liam versuchte schon seit einigen Wochen, ihr das Morsen beizubringen. IhreWangen glühten vor Eifer und nach wenigen Minuten verkündete sie: »Er fragt, ob wir rausgehen wollen.«
»Unbedingt!« Sven hüpfte begeistert von seinem Bett, wo er ungeduldig auf die Übersetzung gewartet hatte. Jana morste noch rasch ein ›Ja‹, inzwischen kletterte er die steile Leiter hinunter und bat ihre Eltern, die in der Wohn-Schlaf-Küche seit gefühlten Stunden in ihre Bücher versunken waren, um Erlaubnis.
»Zieht euch ordentlich an!«, hörte Jana ihre Mutter mahnen, während sie selbst auf dem Weg nach unten war. Und als sie den Boden erreichte, folgte: »Bleibt zusammen und passt gut aufeinander auf!«
»Machen wir«, versprachen beide und schlüpften in ihre Gummistiefel und knallgelben Regenmäntel.
Draußen kam Liam mit großen Schritten auf sie zu.
»Gehen wir in den Wald?«, fragte er ohne Begrüßung. Wie meistens stimmten sie seinem Vorschlag zu, und alle drei stapften über den durchnässten Boden zum Rand des Campingplatzes.
»Das hat ja gedauert, bis ihr meine Nachricht entschlüsselt habt«, bemerkte Liam.
»Sven war das«, verteidigte sich Jana sofort. »Er erkennt die Zeichen nicht richtig.«
Sven wollte sich gegen den Vorwurf wehren, doch Liam legte sofort beschützend seinen Arm um ihn. »Er muss eben noch ein bisschen üben.«
Janas Ärger über ihren kleinen Bruder verrauchte augenblicklich. Liam hatte ja recht, sie war manchmal einfach zu ungeduldig mit Sven. Er brauchte nur etwas Zeit, dann konnte er alles meistern, was die zwei Älteren schafften.
Außerdem war es völlig egal, wie lang sie gebraucht hatten, um LiamsZeichen zu entschlüsseln. Erstens machte auch das MorsenSpaß und zweitens waren sie ja jetzt zusammen und auf dem Weg zu einem gemeinsamen Abenteuer. Und das war das Wichtigste.
Liam
Du wolltest doch zum Hafen kommen.
Jana
Sorry, ging nicht.
Liam
Warum nicht?
Jana
Das erzähle ich dir, wenn du zurückkommst.
Liam
In 4 Monaten???
Jana
Genau. In 4 Monaten.
»Das war die beste Idee deines Lebens.«
Jana drehte den Kopf zu Sven, der mit diesen Worten neben sie getreten war.
»Ella zu engagieren«, erklärte er mit einer vagen Handbewegung in Richtung der Eventplanerin, die gerade mit ihrer Mutter die letzten Details für die heutige Firmenfeier durchging.
»Ich bin eben genial«, erwiderte Jana schmunzelnd.
»Lass dir das bloß nicht zu Kopf steigen«, brummte ihr Bruder, doch dann fügte er hinzu: »Zum ersten Mal ist sie kurz vor Beginn kein Nervenbündel. Diesmal kann sie jemandem die Schuld geben, wenn etwas nicht perfekt ist.«
»Und zum Glück bin das nicht ich«, ergänzte Jana.
Eigentlich hatte sie ja mit dem heutigen Event am wenigsten von allen in ihrer Familie zu tun, denn immerhin war sie die Einzige, die nicht für Viklund & ViklundInnenraumgestaltung arbeitete. AvaViklund hatte die Firma gegründet, SohnSven war in ihre Fußstapfen getreten und EhemannJohan war für die wirtschaftlichen Belange zuständig. ImArbeitsalltag der Tochter spielte Innenarchitektur nur insofern eine Rolle, als in schwedischen Kindergärten großer Wert auf eine sichere Umgebung gelegt wurde. Allerdings lagen Jana ihre kleinen Schützlinge wesentlich mehr am Herzen als die Räume, in denen sie sie betreute.
Das alles hinderte Ava jedoch nicht daran, Jahr für Jahr beide Kinder in die Organisation der Firmenfeier zu Herbstbeginn einzubinden. Normalerweise war Jana um diese Uhrzeit damit beschäftigt, zu verhindern, dass ihre Mutter völlig die Nerven verlor. Kurz bevor die ersten Gäste eintrafen, war sie jedes Mal überzeugt, der Abend würde in einer Katastrophe enden.
Doch diesmal blieb der Nervenzusammenbruch aus, und Jana konnte ganz entspannt mit ihrem Bruder auf den genialen Einfall anstoßen, die Planung des Abends in professionelle Hände zu legen. DieEventplanerinEllaNyström hatte im Sommer die Hochzeit der Mutter von SvensFreundin organisiert. DieBegeisterung sämtlicher Gäste über das schöne Fest hatte Jana auf die Idee gebracht, sich vor der Vorbereitung der heutigen Party zu drücken, indem sie anregte, einen Profi zu engagieren.
Sie war heilfroh, dass nicht nur Sven und ihr Vater begeistert von dem Einfall gewesen waren. Jana war sich ziemlich sicher, ihrer Mama damit einen großen Gefallen getan zu haben. Insbesondere jetzt gerade, als diese völlig unbeschwert die ersten Gäste begrüßte.
»Zum Glück musst du heute nicht Feuerwehr spielen, sondern kannst den Abend einfach genießen«, bemerkte Sven da, und Jana wandte sich ihm verwundert zu.
»Wie meinst du das mit ›zum Glück‹?«
»Na ja, normalerweise würde sie dich herumscheuchen, weil sie Angst hätte, irgendwas könnte nicht perfekt sein.«
»Schon, aber …« Sie brach ab, denn sie wusste nicht genau, was sie ausdrücken wollte. Es irritierte sie, dass ihr Bruder geklungen hatte, als wäre heute irgendetwas besonders.
»Könnte unter Umständen sein, dass dich eine kleine Überraschung erwartet«, bestätigte er ihren Verdacht. Bevor sie nachhaken konnte, fügte er hinzu: »Oder eine große. Jedenfalls ist sie größer als du, so lange du flache Schuhe trägst.«
Jana verstand nicht, was er meinte. Sie war ziemlich groß, auf ihren Bruder fehlten ihr nur wenige Zentimeter, die sie schon mit einem mittelhohen Absatz ausgleichen konnte, wenn sie wollte. Doch meistens verzichtete sie darauf, weil es ihr unangenehm war, wenn sie Männer überragte. Aber was wollte er ihr eigentlich sagen?
»Hej, Jana!«
Sie erstarrte und war nicht fähig, sich zu der Stimme umzudrehen. Das musste sie auch gar nicht, denn sie wusste ohnehin, wer sich unbemerkt hinter sie gestellt hatte.
Liam.
Wieso …? Woher …? Liam. Finnland. EineTürklingel. SeinLächeln. Seit wann …?
Bilder und Fragen schossen wirr durch ihren Kopf. FünfJahre alte Bilder, aber brandaktuelle Fragen.
Als sie seine Hand auf ihrer Schulter spürte, wich die Starre. Sie fuhr herum und sah ihn mit großen Augen an. »Seit wann bist du zurück?«
Er lächelte verschmitzt, und JanasKnie wurden sofort weich. FünfJahre und ihre Reaktion auf ihn war noch immer dieselbe.
»Seit einer Woche.«
»Seit einer …? Wieso hat mir niemand …?« DieSatzenden wollten ihren Mund nicht verlassen.
»Seine Schuld«, behauptete Liam und zeigte auf Sven. »DeinBruder hielt es für eine gute Idee, dich hier und heute zu überraschen. Freust du dich wenigstens, mich zu sehen?«
»Aber natürlich!« Jana wusste nicht wohin mit ihren Emotionen und war heilfroh, dass Liam sie ohne Umschweife an sich zog. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. SeinGeruch, seine Umarmung – alles an ihm war so vertraut, als hätten sie sich erst gestern gesehen.
»Ich freue mich auch«, flüsterte er. »Sehr sogar. Obwohl ich immer noch sauer sein sollte, weil du nicht zum Hafen gekommen bist.«
Er sprach nicht von seiner Ankunft in Stockholm, sondern von seiner Abfahrt nach Helsinki vor fünf Jahren, das war Jana nur zu bewusst. Sie erinnerte sich genau an die letzten Tage mit Liam, an die Aufregung und an den Abschiedsschmerz. Und an die Klingel an seiner Tür, die sie nicht gedrückt hatte.
Viel zu früh löste er sich von Jana und schob sie ein Stück von sich weg, aber seine Hände lagen auf ihren Oberarmen, während er sie ernst ansah und feststellte: »Du schuldest mir eine Erklärung.«
Sie spürte, dass sie rot wurde, und senkte den Blick. »Ich weiß«, erwiderte sie verlegen, hatte jedoch keine Ahnung, was sie darüber hinaus antworten sollte.
»Hast du mir meine Entscheidung für dieses Projekt wirklich so übelgenommen?«
»Ja, nein, doch, irgendwie«, stammelte Jana. Sie war überwältigt von der Situation, dem plötzlichen Wiedersehen und der Selbstverständlichkeit, mit der Liam in ihr Leben zurückgekehrt war, nachdem sie sich fünf Jahre lang nicht getroffen hatten.
Natürlich wusste sie, was sich bei ihm in dieser Zeit zugetragen hatte, denn obwohl es zwischen ihnen völlig anders gewesen war als ihr ganzes Leben davor, war der Kontakt nie vollständig abgerissen. Allerdings war sie weder zu LiamsHochzeit gereist, noch hatte sie ihn anlässlich der Geburt seines Sohnes besucht. Und sie war auch nicht bei der Beerdigung seiner Frau dabei gewesen, als diese vor einem Jahr verstorben war.
»Wie wär’s«, schlug Liam vor, »wenn wir uns irgendwo eine ruhige Ecke zum Reden suchen? Idealerweise eine, wo mein Vater mich nicht sieht, damit er nicht alle zwei Minuten den Satz sagen kann: ›Du erinnerst dich an meinen SohnLiam? Er ist ab sofort wieder als Architekt bei uns tätig.‹ Oder eine Abwandlung davon.«
»Bist du das? Ich meine, arbeitest du wieder in eurem Architekturbüro?« Trotz ihrer Überforderung fiel es Jana nicht schwer, ihm eine sinnvolle Frage zu stellen. So war es mit Liam immer schon gewesen. Egal, wie aufgebracht sie war, er war ihr Fels in der Brandung. Daran hatten auch fünf Jahre in zwei völlig unterschiedlichen Leben nichts geändert.
»Ja«, antwortete er. »Also ab nächster Woche vermutlich. In den letzten Tagen war ich mit dem Umzug beschäftigt.«
»Wo wohnst du jetzt?« Jana unterbrach sich kurz. »Ich meine, ihr.« Liam hatte damals seine Wohnung einer Cousine überlassen, aber sie wusste nicht, ob diese sie lediglich als die Übergangslösung genutzt hatte, als die sie vorgesehen gewesen war.
»In meiner alten Wohnung. ZumGlück hat Clara seit einiger Zeit einen Freund in Göteborg und hat sich entschieden, zu ihm zu ziehen. So hat sich das für alle gut ergeben. Eigentlich hätte sie die Wohnung ja nur für vier Monate bekommen sollen.«
Lächerliche vier Monate, aus denen verdammte fünf Jahre geworden waren. Allein bei dem Gedanken traf Jana die volle Wucht der Vorwürfe, die sie sich seit seiner Abreise machte. Immer noch, denn dass sie damals nicht den Mut aufgebracht hatte, ihren Plan durchzuziehen, hatte sie sich bis heute nicht verziehen. Bestimmt wäre alles anders gekommen, wenn sie sich dazu durchgerungen hätte, ihren Finger auf diese Klingel zu legen.
»Wir sollten uns wirklich ein ruhiges Plätzchen suchen.« Liam fasste sie am Arm und sah sich um. Erst jetzt bemerkte Jana, dass sich Sven diskret verdrückt hatte. »Sind die Büros offen?«
»Vermutlich nicht, es sei denn …« Jana suchte zwischen den mittlerweile recht zahlreich eingetroffenen Gästen nach ihrem Bruder. Da er dieses Wiedersehen eingefädelt hatte, konnte sie sich gut vorstellen, dass er ihnen auch einen Ort für ein ungestörtes Gespräch beschafft hatte.
Liam erriet ihren Gedanken. »Svens? Welches ist es?«
»Komm mit!«
Zum Glück waren alle Anwesenden zu beschäftigt, SmallTalk zu betreiben und auf eine gelungene Einladung anzustoßen, um zu bemerken, dass sich zwei Gestalten heimlich von der Terrasse, wo die Begrüßung an diesem milden Herbstabend stattfand, ins Innere des Bürogebäudes schlichen. Vor dem Seminarraum, in dem das Buffet aufgebaut war, das in Kürze eröffnet werden würde, stießen sie mit der Eventplanerin zusammen, die sich gerade davon überzeugte, dass alles bereit war.
»Ella, hej!«, begrüßte Jana sie verlegen. »Kennst du schon Liam, den Sohn der Partner meiner Eltern?« Sie wusste nicht genau, warum sie die beiden miteinander bekanntmachte. Ella gehörte durch ihren neuen FreundRuben seit kurzem zu JanasFreundeskreis, doch richtig eng waren sie noch nicht. Jana schloss allerdings nicht aus, dass das irgendwann werden würde. EllasBeziehung war schließlich ganz frisch, und sie hatten bisher nicht viele Gelegenheiten gehabt, sich zu beschnuppern. Trotzdem schob sie ihre Reaktion auf den Zusammenstoß hauptsächlich auf ihre Nervosität.
»Wir hatten bereits das Vergnügen«, erwiderte Ella freudig. »Ist die Begrüßungsrede so langweilig, dass ihr euch schon davonschleicht?«
»Sie hat gerade erst begonnen«, gab Jana zu und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Doch dann sagte sie sich, dass sie diese Feier ohnehin nur aus Pflichtgefühl gegenüber ihrer Familie besuchte und nicht, weil sie hier irgendeinen wichtigen Part einnahm. BeiLiam war das zwar anders, er machte jedoch nicht den Eindruck, als plagten ihn Gewissensbisse.
»Fällt es auf, wenn wir uns einen Snack klauen?«, fragte er Ella ungeniert.
»Nicht, wenn ihr nur dort was wegnehmt, wo ich es euch erlaube«, erwiderte diese zwinkernd.
Einige Minuten später schlossen sich Jana und Liam kichernd in SvensBüro ein. Sie hatten nicht nur einen Querschnitt der Speisen vom Buffet dabei, sondern auch eine FlascheWein und zwei Gläser mitgehen lassen.
»Wenn Mama das mitkriegt, bekomme ich für den Rest des JahresHausarrest«, stellte Jana fest und sank mit einem Seufzen auf die kleine Couch in der Ecke des Raumes.
Liam ließ sich neben sie fallen. »Kann sie dir nicht schon seit elf Jahren keine Strafen mehr aufbrummen?«
»Dass ich längst volljährig bin, heißt nicht, dass sie es nicht versuchen würde. Wir können also nur hoffen, dass sie zu beschäftigt ist, um mein Verschwinden zu bemerken. Und dass vor allem dich niemand sucht. Da ist die Gefahr, dass wir auffliegen, viel größer.«
»Keine Angst, Sven hat alles im Griff«, erwiderte Liam leichthin. »Wenn jemand nach mir sucht, behauptet er, dass irgendwas mit Mika ist.«
»Verstehe«, murmelte Jana. Ein vierjähriges Kind bot natürlich die perfekte Ausrede, trotzdem behagte es ihr nicht sonderlich, dass sie sofort bei diesem Thema gelandet waren. Sie fühlte sich verpflichtet zu fragen: »Wo ist er?«
»Zuhause. MeineGroßmutter ist bei ihm. Da er sich bisher weigert, woanders als in meinem Bett zu schlafen, habe ich sie für heute Nacht in seinem Zimmer untergebracht, damit er nicht allein in der Wohnung ist. Die beiden haben einen ganz guten Draht zueinander. ZumGlück. DerUmzug war aufregend genug für Mika.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Sie schwiegen einige Augenblicke. Jana war unschlüssig, ob sie diese Unterhaltung wirklich führen wollte. Sie hatte Angst vor den widersprüchlichen Gefühlen, die sie bestimmt auslösen würde. Dennoch bat sie schließlich leise: »Erzähl mir von ihm.«
Liam lachte kurz auf und seufzte. »Jeder sagt, er sei mir sehr ähnlich.«
»Also sympathisch, gutaussehend und bricht schon im zarten Alter von vier Jahren sämtliche Mädchenherzen?«, neckte Jana.
»Ha, ha«, machte er. Sie wussten beide, dass Liam alles andere als ein Herzensbrecher war. Vermutlich hatte er in seinem bisherigen Leben nur ein einziges gebrochen. Janas. Und das, ohne zu wissen, was er tat.
»Er ist ein liebes Kind«, hielt Liam fest. »Aber er ist auch schwierig.«
»Kann man ihm wohl kaum verübeln, oder?«, meinte Jana verständnisvoll.
»Ja, kaum«, gab Liam ihr Recht. »Er hatte es in seinem Leben bisher keinen Tag leicht.«
Er machte eine Pause, dann sprach er weiter: »Trotzdem ist es so, dass ich manchmal einfach die Geduld mit ihm verliere. Ich meine, ich versuche wirklich, Verständnis für ihn aufzubringen. Aber es gibt Tage, da kann ich mir noch so oft vorsagen, dass der kleine Kerl nichts dafürkann, dass er in seinem kurzen Leben zu wenig Zeit mit seiner Mutter verbringen konnte, dass viel zu oft sie im Mittelpunkt stand …«
Er brach ab, griff nach der Weinflasche, schenkte in beide Gläser ein und führte eines an den Mund, ohne Jana davor zuzuprosten. Sie nahm es ihm nicht krumm, murmelte jedoch ›Skål‹, bevor auch sie einen Schluck trank.
»Ich bin nicht einmal sicher, ob Mika seine Mama vermisst«, fuhr Liam fort, und Jana sah ihm an, dass ihm der Gedanke nicht behagte. »Womöglich kannte er sie gar nicht gut genug, um zu realisieren, welche Rolle sie eigentlich in seinem Leben spielen sollte. Sie war zuerst …« Er zögerte. »Sie war überfordert. Mit allem. Mit dem Stillen, dem Wickeln, der Verantwortung. Sie war noch so jung und wollte Partys feiern, anstatt dreimal in der Nacht ein Baby zu füttern. Manchmal frage ich mich, ob der Krebs für sie ein Ausweg aus einem Leben war, das sie gar nicht führen wollte.«
Er sah Jana an. »In deinen Ohren muss das furchtbar klingen, aber Siiri wollte eigentlich keine Kinder. Ich habe sie von einer Abtreibung abgehalten, weil es für mich unvorstellbar war, ein ungeborenes Leben zu beenden. UnsereBeziehung war alles andere als einfach. Die meiste Zeit hatte ich zu meiner Schwiegermutter ein besseres Verhältnis als zu meiner Frau.« Er grinste schief.
»Also ist entweder deine Schwiegermutter besonders liebenswert oder deine Frau war ein Drachen?«, warf Jana zwinkernd ein, in der Hoffnung, ihn ein bisschen aufzuheitern. Ihr gefiel die Schwere nicht, die Liam umgab.
»Beides«, gab er zu. »MeineSchwiegereltern sind ausgesprochen freundliche Menschen. IhreTochter war extrem eigensinnig und hat ihnen als Teenager viele Sorgen bereitet. Als ich auf der Bildfläche erschien, hatten sie die Hoffnung, Siiri könnte endlich anfangen, das Leben zu führen, das sie sich für ihr Kind gewünscht hatten. Und zu Beginn hatte es auch den Anschein.«
»Wie lang wart ihr zusammen, als sie schwanger wurde?«, fragte Jana, obwohl sie die Antwort genauer wusste, als ihr lieb war.
Liam wurde ein wenig rot. »Mika war – nun ja – ein Unfall. BisSiiri gemerkt hat, dass sie schwanger ist, waren wir auch gar nicht richtig zusammen. Es war so eine On-Off-Sache, mehr eine Affäre als eine Beziehung. Ungefähr zwei Monate nach unserer ersten gemeinsamen Nacht hat sie mir von der Schwangerschaft erzählt – und im selben Atemzug hinzugefügt, dass sie abtreiben will. Ich weiß gar nicht, warum sie überhaupt zu mir gekommen ist. Sie hätte es auch einfach durchziehen können und mir gegenüber nie etwas erwähnen.«
»Vielleicht hatte sie Zweifel.«
»Ja. Vielleicht.« SeineSeufzer wurden immer tiefer. »IhreEltern waren mir jedenfalls sehr dankbar, dass ich die Verantwortung übernommen und sie von diesem Schritt abgehalten habe. Und sie sind es bis heute, weil in Mika wenigstens ein Teil von Siiri weiterlebt. Sie hätten es gern gesehen, dass ich mit ihm in Finnland bleibe.«
»Verständlich.«
»Ja. Aber zum Glück haben sie mir keine Steine in den Weg gelegt, als ich mich zur Rückkehr entschieden habe. Abgesehen von ihnen hatte ich in Helsinki keinerlei Rückhalt. Ich hatte nie die Gelegenheit, mir ein Netzwerk aufzubauen, auf das ich jetzt zählen könnte.«
»Hast du keinen Anschluss gefunden?«, wollte Jana wissen. Das wunderte sie, denn sie hielt Liam für einen sehr umgänglichen Menschen.
»Anfangs schon. DieKollegen bei dem Projekt waren nett. Einer hat mir Siiri vorgestellt. Mit der Schwangerschaft fingen allerdings Probleme an, die niemanden so recht interessierten. Obwohl auf meine Vertragsverlängerung alle positiv reagiert haben, ist mit keinem eine richtige Freundschaft entstanden.«
Janas Herz wurde schwer, als sie Liam so reden hörte. Es klang, als lägen fünf ziemlich einsame Jahre hinter ihm.
Doch er lächelte und gab ihr einen leichten Schubs. »Dich und Sven hätte ohnehin nie jemand ersetzen können.«
Sie schmunzelte und flüsterte: »Das will ich hoffen.«
»Obwohl du mich wirklich mal hättest besuchen können.«
»Ich wollte ja«, beteuerte Jana und hoffte, dass die roten Flecken auf ihren Wangen ihm nicht verrieten, dass sie nicht hundertprozentig ehrlich war. »Es kam nur immer etwas dazwischen.«
Zu ihrer Erleichterung machte Liam keine Anstalten, mit ihr über die verschiedenen Ausreden zu diskutieren, die sie ihm in den vergangenen fünf Jahren aufgetischt hatte.
»Und was genau hat dich davon abgehalten, dich richtig von mir zu verabschieden? DieErklärung will ich jetzt endlich hören!«, forderte er.
Jana rang mit sich. Es stand ihm zu, den Grund zu erfahren, nur war sie nicht bereit für die ganze Wahrheit.
»Du wusstest doch, dass ich dich nicht gehen lassen wollte«, erinnerte sie ihn. Sie hatte sich für seine Pläne, bei dem Projekt in Finnland mitzuarbeiten, nie begeistern können, denn sie hatte von Anfang an geahnt, dass es nicht bei den vier Monaten bleiben würde.
»Und deshalb hast du mich einsam am Hafen auf dich warten lassen und dich erst gemeldet, als ich bereits auf hoher See war?«, fragte er.
Jana machte eine vage Kopfbewegung.
»Ich hätte es schöner gefunden, wenn du dich für mich gefreut hättest«, bemerkte er. BevorJana sich rechtfertigen konnte, sprach er schon weiter: »Dich nicht mehr dauernd um mich zu haben, hat mich ganz schön runtergezogen. Deshalb hat mich der Kollege mit Siiri bekanntgemacht. Um mich auf andere Gedanken zu bringen.«
Die Erkenntnis, dass JanaLiam nicht nur hatte gehenlassen, sondern ihn quasi in die Arme einer anderen Frau getrieben hatte, verursachte einen Krampf in ihrem Magen. Mühevoll zwang sie sich zu der Frage: »Wie war sie?«
»Siiri?«
»Ja.«
»Du meinst, außer, dass sie keine Mutter sein wollte?«
Jana nickte. »Sie hatte doch bestimmt gute Seiten.«
Liam lehnte sich zurück und drehte das Weinglas in seinen Händen. Mit dem Blick an die Decke gerichtet antwortete er: »Ja, sie hatte auch gute Seiten. Sie war lebenslustig und leichtfüßig. Aber sie wollte keine Verantwortung übernehmen, weder für sich, noch für andere. Nach ihrem Tod sagte ihr Vater einmal, er habe rückblickend das Gefühl, Siiri hätte gewusst, dass sie nicht alt werden würde, und habe deshalb versucht, alles Leben in sich aufzusaugen – als gäbe es kein Morgen.«
»Vielleicht war es so.«
»Ja, vielleicht. Ich bin bei dieser Vorstellung immer hin- und hergerissen zwischen der Überzeugung, ihr eine besondere Erfahrung geschenkt zu haben, und dem schlechten Gewissen, weil es eine war, die sie eigentlich gar nicht auf ihrer Bucket-List hatte.«
»Hatte sie denn so eine Liste mit Dingen, die sie noch erledigen wollte?«
Er nickte. »Ja, die war ziemlich lang. Sie hat vieles nicht mehr geschafft. Und sie hat mir und Mika die Schuld dafür gegeben.«
»Es klingt nicht, als hättet ihr eine harmonische Beziehung geführt«, stellte Jana stirnrunzelnd fest. In seinen Nachrichten hatte sich Liam nie über seine Frau beschwert. Nie war der Eindruck entstanden, seine Ehe wäre ein Fehlschlag. Doch was er nun erzählte, hörte sich nicht nach einer glücklichen Zeit an.
»Sonderlich harmonisch war es wirklich nicht«, gestand Liam. »Wir hatten gute Momente, manchmal auch gute Phasen. Aber unterm Strich war es eine schwere Zeit. Für alle Beteiligten.«
»Wolltest du nie deinen Sohn einpacken und mit ihm nach Hause fahren?« Jana fand, das hätte LiamsCharakter eigentlich entsprochen. DieVerantwortung für das Kind übernehmen, das er wollte, um Siiri das Leben zu ermöglichen, das sie wollte.
»Ich war drauf und dran«, verriet er. »AlsMika etwa ein Jahr alt war. Doch dann kam die Diagnose. Und die hat alles verändert.«
»Brustkrebs«, sagte Jana.
»Brustkrebs«, bestätigte er. »Wie aggressiv der war, hast du ja mitbekommen.«
Tatsächlich war ihr Kontakt ab diesem Zeitpunkt noch weniger geworden und selten hatte sie etwas Positives von ihm gehört. ObwohlSiiri jede Behandlung in Anspruch nahm, die man ihr anbot, verlor sie zuerst beide Brüste und schließlich den ganzen Kampf.
Jana musste an die Nachricht denken, die sie unmittelbar nach SiirisTod erhalten hatte, und schwieg betroffen. Liam trank einen großen Schluck aus seinem Glas.
»Von der Diagnose an hatte Mika praktisch keine Mama mehr«, setzte er leiser fort. »Sie war mit ihrem Überlebenskampf beschäftigt und in guten Phasen damit, Dinge zu tun, die sie unbedingt noch erleben wollte. Ich konnte ihr das nicht verübeln, aber einfacher hat es unsere Beziehung nicht gemacht. Vielleicht wäre es ihr sogar egal gewesen, wenn Mika und ich plötzlich fort gewesen wären, ich weiß es nicht. Ich konnte es jedenfalls nicht, ich meine, die wenige Zeit, die sie zusammen hatten, zusätzlich verkürzen.«
Liam war sichtlich mitgenommen, und Jana legte mitfühlend ihre Hand in seine. Er streichelte mit dem Daumen darüber und lächelte dankbar.
»Du hast mir gefehlt«, raunte er.
»Du mir auch«, erwiderte sie mit schlechtem Gewissen, weil sie ihren besten Freund in solch schweren Zeiten nur aus der Ferne unterstützt hatte.
Ein leises Klopfen gefolgt vom Klimpern eines Schlüsselbundes riss Jana aus ihren bedrückten Gedanken. Gleich darauf öffnete sich die Tür einen Spalt, und SvensKopf erschien.
»Da seid ihr ja«, sagte er auf eine Art, als hätte er es nicht eigenhändig so eingerichtet, dass sie sich hier verstecken konnten, indem er sein Büro unversperrt und den Zweitschlüssel steckengelassen hatte.
»Überraschung«, murmelte Liam grinsend.
Sven trat gefolgt von seiner FreundinMalin ein.
»Oh, hej, du bist auch da!« Jana stand auf, um sie zu begrüßen.
»Ich glaube, du solltest dich mal draußen blickenlassen«, wandte sich Sven an Liam. »Ich habe ihnen gesagt, du telefonierst, weil irgendwas mit Mika ist.«
»Okay.« Liam erhob sich sofort. »Kommst du mit oder wartest du hier auf mich?«, fragte er Jana.
»Ich würde lieber hierbleiben«, erwiderte sie. Es gab nichts, was sie aus diesem Raum lockte. DasEssen stand noch unberührt vor ihnen, und Sven hatte eine weitere FlascheWein mitgebracht.
»Ich könnte dir inzwischen Gesellschaft leisten«, schlug Malin eine Spur zu euphorisch vor. Sie schien sich auf dieser Feier ebenso zu langweilen, wie Jana das jedes Jahr tat. ZumGlück hatten die Männer keine Einwände und verließen das Büro ohne Diskussion.
Mit einem Seufzen ließ sich Malin auf den frei gewordenen Platz auf der Couch sinken.
»Versteh mich nicht falsch«, sagte sie. »Ich mag eure Familie wirklich, aber warum Ava unbedingt wollte, dass ich heute herkomme, ist mir ein Rätsel. Sven braucht mich nicht als Aufputz und mit den Gästen kann ich nichts anfangen.«
»Mama hat bei solchen Gelegenheiten gern ihre Lieben um sich«, erwiderte Jana. »Zu denen gehörst du jetzt auch, also musst du wohl oder übel mitmachen.«
Malin verzog das Gesicht und trank einen Schluck aus dem Glas, das sie mitgebracht hatte. »Ich kann mir eine angenehmere Abendgestaltung vorstellen, als nur freundlich zu lächeln, während mein Freund und seine Ex mit Kunden begeistert über irgendwelche Projekte reden«, murrte sie.
»Immer noch nicht mit ihr warm geworden?«, vermutete Jana. Sie verstand sich mit Iris nach wie vor recht gut, obwohl sich Sven schon vor Jahren von ihr getrennt hatte. Und er selbst sagte über seine Ex-Freundin, sie sei seine liebste Kollegin. Vermutlich stieß dasMalin sauer auf.
»Wenn du ihr eine Chance geben würdest, würdest du feststellen, dass sie eigentlich sehr nett ist«, behauptete Jana.
»In meinen Augen ist sie in erster Linie durchgeknallt«, widersprach Malin.
»Ist sie nicht. Ja, ihr hattet miteinander einen miesen Start. Aber sie ist nicht immer so. Lasse magst du doch auch.«
Malin sah sie verständnislos an. »Was hat denn bitte Lasse mit Iris zu tun?«
Jana wunderte sich, dass sie das gar nicht wusste. Immerhin kannte sie Svens besten Freund seit einem halben Jahr und verbrachte nicht unbeträchtlich viel Zeit mit ihm, weil er fast genauso lang mit ihrer engsten Freundin zusammen war.
»Iris ist LassesCousine«, erklärte sie, woraufhin sich Malin verschluckte und einen Hustenanfall bekam.
Jana amüsierte die Reaktion. »Das hat dir nie jemand erzählt? DieFrau mit dem Weihnachtsbaum, der dich fast erschlagen hätte, ist die gemeinsame Großmutter.«
Malin erholte sich langsam und schüttelte den Kopf. »Es hat tatsächlich nie jemand erwähnt, dass die Verrückte zur Familie gehört.«
»Du solltest aufhören, sie so zu nennen«, riet Jana lachend. »Obwohl du allen Grund dafür hast, sie für völlig durchgeknallt zu halten. Aber da sie jetzt endgültig zurück in Schweden ist und ihr quasi Nachbarn seid und sie und Sven wieder regelmäßig zusammenarbeiten, wäre eine zweite Chance vielleicht nicht schlecht.«
Malin verzog das Gesicht. »Glaubst du, Lasse kommt auf die Idee, sie einzuladen, wenn wir alle zusammen was unternehmen?«
»Nicht auszuschließen.«
Janas Gegenüber stöhnte. »Na gut, in dem Fall wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben.« Sie trank noch einen Schluck, dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Eigentlich wollte ich dich ja über Liam ausquetschen.«
Gern hätte sich Jana versteckt. Sie war sich sicher, rot anzulaufen. Falls dem so war, ging Malin nicht darauf ein. »Er ist Svens großes Vorbild, sehe ich das richtig?«
Jana entkam ein kleines, erleichtertes Seufzen. Malin wollte über die Beziehung der Männer zueinander reden, das war unverfänglich. Sie entspannte sich wieder, griff nach einem der Snacks auf den Tellern vor ihnen und erkundigte sich grinsend, ehe sie sich das Häppchen in den Mund steckte: »Was willst du wissen?«
»Eigentlich war stets die Rede davon, dass LasseSvens bester Freund ist. Aber in den letzten Wochen kam immer öfter Liam ins Spiel, und seit er in Stockholm ist, dreht sich alles nur um ihn.«
Jana nickte. »Lasse und Sven sind im Vergleich noch gar nicht so lang befreundet«, erklärte sie. »Sie haben sich erst durch Iris kennengelernt.«
»Die Cousine«, warf Malin düster ein.
»Genau. Liam kennt Sven von Geburt an. Wir sind gleich alt – also Liam und ich. Wir werden beide im Januar dreißig. UnsereEltern sind seit EwigkeitenGeschäftspartner und enge Freunde, wir sind zusammen aufgewachsen. Und, ja, Sven sieht in Liam wohl ein Vorbild. Den direkten Weg ins Familienunternehmen hat er ihm vorgezeigt. FürSven bestand nie ein Zweifel, dass er Innenarchitekt werden würde, nachdem Liam zielstrebig begonnen hatte, Architektur zu studieren, um später in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Die zwei haben schon als Jugendliche davon fantasiert, einmal die Firmen zu übernehmen und bis in alle Ewigkeit zusammenzuarbeiten.«
»Zum Glück ist Sven ihm nicht ins Ausland gefolgt«, bemerkte Malin.
»Das kannst du laut sagen.«
»Sven sagt, du warst damals nicht begeistert davon, dass Liam nach Finnland wollte, und hast ihm quasi die Freundschaft gekündigt.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Jana vehement, korrigierte sich allerdings sofort selbst: »Also das mit ›Freundschaft kündigen‹. Das andere schon. Ich habe wochenlang versucht, ihm das Projekt auszureden. Offensichtlich ohne Erfolg.«
»Warum warst du so dagegen? Ich meine, ich verstehe, dass es nicht schön ist, wenn jemand, mit dem man viel Zeit verbringt, plötzlich weg ist. Frag mich, wie gut ich damit umgehen konnte, dass Sven nicht mehr da war. Aber wir waren frisch verliebt.«
»Während Liam und ich nur Freunde waren, willst du das sagen?«, fragte Jana und hörte selbst den genervten, beinahe giftigen Unterton in ihrer Stimme.
Malin drückte sich in die Polster der Couch. »Nein, nur … ich meine … vergiss es.« Sie zog den Kopf ein.
»Tut mir leid«, murmelte Jana. »War nicht so böse gemeint, wie es rüberkam.«
Damit entlockte sie Malin ein Schmunzeln. »Nichtso böse?«, neckte sie und nahm wieder eine entspannte Haltung ein.
Jana winkte seufzend ab. »Liam und ich – das ist ein schwieriges Thema«, erklärte sie. »Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass er es mir nicht ernsthaft übel nimmt, dass ich ihn in fünf Jahren kein einziges Mal besucht habe. Er hatte es ja ungleich schwerer, mal für ein Wochenende nach Stockholm zu kommen. Darüber war ich echt froh, denn ehrlich gesagt wollte ich ihn nicht sehen. Aber nicht, weil ich sauer war oder ihm die Freundschaft kündigen wollte oder irgend so was. Es hatte mehr mit mir als mit ihm zu tun. Weilich mit mir zu tun hatte.«
»Weil man erst weiß, was man hatte, wenn man es verloren hat?«, fragte Malin vorsichtig.
Jana nickte zögernd. »So ungefähr. Ich war völlig durcheinander und wollte nur, dass die vier Monate vorbei sind und alles wieder normal wird.«
»Und dann sind sie nicht vorbeigegangen.«
»Genau.« Jana trank einen SchluckWein und bemerkte mit einem schiefen Grinsen: »Das waren die längsten vier Monate meines Lebens.«
»Wolltest du nie – ich weiß nicht – in die nächste Fähre steigen und einfach vor seiner Wohnung aufschlagen?«
»Doch«, gab Jana zögerlich zu. Sie würde sich hüten, Malin zu verraten, dass sie genau das einmal getan hatte. Und dass sie dafür den denkbar schlechtesten Zeitpunkt erwischt hatte. »Ich habe immer befürchtet, ungelegen zu kommen. Besonders, als Siiri auf der Bildfläche erschienen ist.«
»Verstehe«, erwiderte Malin und nickte. »Einer jungen Liebe will man ja nicht im Weg stehen. UndEifersuchtsdramen braucht niemand.« Sie verdrehte die Augen.
Jana war klar, an welche Szenen ihre Freundin gerade dachte und musste schmunzeln. Sie war nicht dabei gewesen, aber SvensNacherzählung hatte sie sehr amüsiert – wenngleich ihr Bruder ihre Reaktion nicht lustig empfunden hatte. Das lenkte sie für einige Augenblicke von den Erinnerungen ab, die sie gern für immer vergessen wollte.
»Darf ich mir was von eurem Essen nehmen?«, bat Malin unvermittelt. »Ich war zwar vorhin am Buffet, aber ich habe mich nicht so recht getraut, den Teller vollzuladen, obwohl ich riesigen Hunger hatte. Ich bin nicht zum Mittagessen gekommen.«
»Warst du beim Sender oder im Tonstudio?«, erkundigte sich Jana – froh, einen Themenwechsel gefunden zu haben.
»Hörbuchaufnahmen. Wir mussten heute fertig werden, deshalb haben wir auf die Mittagspause verzichtet.«
»Das war jetzt das zweite Projekt, oder?«
Svens Freundin strahlte über das ganze Gesicht. »Vor einem Jahr hätte ich mir das nicht mal träumen lassen. Ich war so auf einen Job beim Radio fixiert, dass ich es nicht in Erwägung gezogen habe, es als Hörbuchsprecherin zu versuchen. Wahnsinn, wie ein Zufall dein Leben verändern kann.«
Jana bejahte, wanderte in Gedanken aber zu Liam. Galt nicht die Zeugung eines Kindes in gewisser Weise als Zufall? Auch dieser Akt hatte mindestens ein Leben in eine völlig neue Bahn gelenkt.
»Das Hörbuch von AnnaEklund erscheint in ein paar Wochen«, berichtete Malin weiter. »Ich hoffe wirklich, dass die Kritiken okay sind. Nicht, dass meine neue Karriere gleich wieder zu Ende ist.«
»Bestimmt nicht«, konnte Jana aus absoluter Überzeugung antworten. Sie hatte in die ersten Aufnahmen hineinhören dürfen und fand, dass Malin als Sprecherin einen großartigen Job machte.
»Wie läuft es eigentlich im Kindergarten?«, wechselte ihr Gegenüber unvermittelt das Thema.
Jana brauchte einen Augenblick, um ihre Gedanken zu sortieren, dann zuckte sie mit den Schultern. »Wie immer. DieKinder sind süß, die Kolleginnen nett und manche Eltern nerven.«
Als die Männer endlich zurückkamen, waren die Teller und die erste Weinflasche leer und die Frauen ein wenig beschwipst. Malin ließ sich von Sven widerstandslos von der Couch hochziehen, auf der sofort LiamPlatz nahm. Kaum hatten die beiden anderen den Raum verlassen, wandte er sich an Jana: »Wo waren wir?«
Sie gab ihm keine Antwort, obwohl sie sich genau an ihre letzten Worte vor der Unterbrechung erinnerte. Wie sehr sie ihn vermisst hatte, wurde ihr mit jeder Sekunde, die sie in seiner Gegenwart verbracht, mehr bewusst. Möglicherweise trug auch der Alkohol dazu bei, dass sie sich gern an seine Brust geworfen hätte.
»Ich weiß nicht«, nuschelte sie verlegen in ihr Glas.
Er redete unbeirrt weiter: »Genau. Du wolltest mir erklären, warum du mich damals versetzt hast.«
»Wollte ich das?« Jana wurde rot.
Liam lachte. »Du bist immer noch süß, wenn du verlegen bist.«
Das Kompliment – es war doch eines, oder? – intensivierte den peinlichen Hautton – ebenso wie LiamsLachen. Jana war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, in einer Erdspalte zu versinken, und dem Bedürfnis, Liam fest an sich zu ziehen und nie mehr loszulassen.
Mit einem Schlag wurde er ernst und fragte: »Warum bist du nicht zum Hafen gekommen?«
Jana war überfordert und ärgerte sich darüber, wie viel Wein sie getrunken hatte. Es wäre vernünftiger gewesen, einen klaren Kopf für diese Unterhaltung zu bewahren. Sie lief Gefahr, Dinge auszuplaudern, die sie ihm eigentlich nie verraten wollte.
»Ich war verhindert«, log sie.
»Verhindert?«, wiederholte er ungläubig. »Und du meinst, mit einer so offensichtlichen Ausrede lasse ich mich nach fünf Jahren abspeisen?«
Nun, sie hatte es gehofft.
»Was ist dir denn bitte so wahnsinnig Wichtiges dazwischengekommen, dass du deinen ältesten Freund sitzenlassen musstest?«, fragte er provokant.
»Müssen wir darüber wirklich reden?«, wich sie aus.
»Ja, müssen wir«, beharrte er. Er schien auch nicht mehr ganz nüchtern zu sein, aber bei ihm wirkte sich der Wein anders aus. DerAlkohol verstärkte seine Sturheit, während Jana ihr Verhalten von damals und der Grund dafür noch unangenehmer waren als sonst.
»Ich habe mich fünf Jahre lang gefragt, was dir dazwischengekommen sein könnte, das du mir nicht einfach in einer Textnachricht oder am Telefon verraten kannst«, fuhr er fort. »Ich will endlich eine Antwort.«
»Es war eigentlich nicht so wichtig«, nuschelte Jana.
»Nicht so wichtig?«, wiederholte er ungläubig. »Trotzdem verweigerst du seit fünf Jahren die Antwort auf diese Frage? Das ergibt keinen Sinn.«
»Nein, es …« Jana warf aufgebracht die Hände in die Höhe, vergaß dabei, dass sich in dem Weinglas in ihrer Rechten noch Flüssigkeit befand und verteilte diese versehentlich auf LiamsHemd. ZumGlück hatten sie sich für den Weißwein entschieden.
Liam erschrak zwar kurz, nahm die unbeabsichtigte Attacke jedoch mit Humor. Jana dagegen wollte nun endgültig im Erdboden versinken. So hatte sie sich dieses Wiedersehen nicht vorgestellt – und sie hatte es sich wirklich in vielen Varianten ausgemalt. Dass sie eilig nach einer Serviette griff, um die nassen Stellen trocken zu tupfen, war in keiner vorgekommen. Und schon gar nicht, dass die dunkelblaue ServietteFlecken auf dem weißen Hemd hinterließ.
»Entschuldige, ach Mist, das wollte ich nicht«, stammelte sie und suchte hektisch nach einer Möglichkeit, die hellblauen Stellen wieder zu entfernen.
»Macht nichts, ich konnte das Hemd ohnehin nie leiden«, behauptete er.
Etwas in seinem Tonfall ließ Jana innehalten. Sie sah ihm kurz direkt in die Augen, dann sank sie zurück auf ihren Platz. DasGlucksen fing in ihrem Bauch an und verließ gleich darauf ihren Mund.
»Tut mir leid«, murmelte sie.
Liam war sichtlich amüsiert und sah kein bisschen böse aus. Aber seine Hartnäckigkeit hatte nicht nachgelassen.
»Warum sagst du es mir nicht einfach?«, wollte er wissen. »Warst du in Polizeigewahrsam oder so? Hast du dich bei irgendwas Peinlichem erwischen lassen? Hast du die Nacht mit einem heißen Typen verbracht und hattest am nächsten Morgen solchen Muskelkater, dass du das Bett nicht verlassen konntest?«
Bei der letzten Frage verging Jana das Lachen. Das war in etwa ihr Plan gewesen. Allerdings war nicht sie es gewesen, die idealerweise am nächsten Morgen das Bett nicht verlassen konnte. Und das Land.
»Ich konnte es nicht ertragen, dass du weggehst, okay?«, rief sie aufgebracht aus. »Dich nicht mehr fast täglich zu sehen, allein die Vorstellung so furchtbar schrecklich. Bis dahin war mir nicht klar, wie wahnsinnig wichtig du mir bist … ich meine … also … also nicht, doch …« Sie brach ab.
Liams Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, und er sah Jana bohrend an.
»Versuchst du, mir zu erklären, dass du damals in mich verliebt warst?«, fragte er vorsichtig.
Schon wieder wechselte ihre Gesichtsfarbe zu einem glühenden Rot. Sie senkte den Blick und murmelte: »Zumindest dachte ich das.«
»Warum hast du nie was gesagt?«
Die Reaktion überraschte sie. Nicht nur der Satz an sich. ZuJanasLeidwesen klang er, als hätte sich Liam damals über eine solche Offenbarung gefreut.
»Ich hab es einfach zu spät kapiert«, flüsterte sie.
»Als ich schon mit einem Fuß auf der Fähre war?«
»So ungefähr.«
Er nickte und beide schwiegen.
Janas Gedanken rasten durcheinander, doch mit der Zeit kristallisierte sich eine Frage heraus: »Hätte es etwas geändert? An deiner Entscheidung?«
Liams Kopfschütteln ging in ein Nicken über. »Nicht gleich, ich meine, nicht an der Entscheidung, nach Finnland zu fahren.«
Jana verstand, was er meinte. »Aber an der, zu bleiben.«
Diesmal bejahte er eindeutig. »Die ersten Wochen wären wahrscheinlich noch einsamer gewesen. Unter diesen Umständen hätte ich allerdings bestimmt nicht verlängert.«
Es war, als hätte er ihr in dem Moment zum zweiten Mal das Herz herausgerissen. Und es tat mindestens so weh wie beim ersten Mal. Szenen von damals erschienen vor ihrem geistigen Auge. Liam, der Siiri leidenschaftlich küsste – so, wie Jana eigentlich von ihm geküsst werden wollte. IhreÜberraschung war gründlich schiefgegangen.
Jana war verletzt und überfordert und plötzlich auch sauer auf ihren Bruder, der das heutige Treffen eingefädelt hatte. Hätte er sie nicht vorwarnen können, dass Liam zurück war? Hätte er ihr nicht die Möglichkeit geben können, sich auf dieses Wiedersehen vorzubereiten?
Der ganze Abend fühlte sich auf einmal falsch an. Warum hatte er nicht für immer in dem ersten Moment verharren können, als Liam ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte? Oder in der Umarmung, die sich angefühlt hatte, als hätte Jana ihn niemals an eine andere Frau verloren?
»Ich sollte gehen«, hörte sie sich sagen und stand auf. Dabei fiel die Serviette zu Boden, mit der sie LiamsHemd ruiniert hatte. Er beugte sich vor, und sie dachte, er wolle diese aufheben, doch stattdessen griff er nach ihrer Hand.
»Bitte nicht«, bat er. »Du kannst nicht …«
»Was?«, fragte sie und merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »DiesenSchlamassel beenden?«
»Ich will nicht, dass das zwischen uns steht«, erwiderte er mit rauer Stimme. »Ich habe mich so auf dich gefreut und jetzt … geh nicht!«
Jana rang um ihre Fassung, gewann sie langsam zurück und machte einen Vorschlag, der ihrer Meinung nach der vernünftigste Gedanke war, zu dem sie gerade fähig war: »Vielleicht sollten wir uns einfach in den nächsten Tagen mal treffen. ZumKaffee. Nüchtern. Und so tun, als hätte die Unterhaltung heute nie stattgefunden.«
»Okay.« Liam nickte und stand auf, hielt jedoch ihre Hand weiter fest. »Ich bin einverstanden. Aber bevor wir das Gespräch vergessen, muss ich noch eine Sache wissen.«
Mit einer leichten Bewegung ihres Kopfes forderte Jana ihn auf, fortzufahren. Sie erwartete, dass er ihr eine Frage stellen würde, doch ehe sie sich überlegt hatte, welche das wohl sein könnte, spürte sie seine Lippen auf ihren. Entschlossen und zärtlich zugleich küsste er sie. Jana sank automatisch gegen ihn, stützte sich an seiner Brust ab und erwiderte den Kuss.
Das hatte sie also an dem Abend verspielt, als sie zu feige gewesen war, diese Klingel zu drücken. DerSelbstvorwurf drang nur für einen kurzen Augenblick in ihr Bewusstsein, dann verschwamm in ihrem Gehirn und in ihrem Körper alles zu einem einzigen großen Gefühl. Sie war es gewohnt, dass ihre Haut zart kribbelte, wenn er sie berührte. Doch was sein Kuss mit ihr anstellte, hatte eine völlig neue Dimension.
Als sie sich voneinander lösten, hielt sie die Augen einige Momente geschlossen, dennoch spürte sie LiamsBlick. Ihm entfuhr ein Fluch, und sie hätte es ihm am liebsten gleichgetan, aber dank ihres Jobs war sie imstande, solche Ausdrücke nur in ihren Gedanken zu verwenden, um den Kindern kein schlechtes Vorbild zu sein. Sie sah Liam an und las in seinem Gesicht genau das, was sie empfand – dass sie vor fünf Jahren viel mehr verloren hatte, als ihr bisher bewusst gewesen war.
Der Kuss rückte ihre gemeinsame Vergangenheit in ein neues Licht. Zahllose kleine Momente, die anders verlaufen wären, wenn …
Ja, wenn sie schon als Teenager verstanden hätten, dass die Liebe, die sie füreinander hegten, eben nicht eine wie zwischen Bruder und Schwester war. WennJana damals kapiert hätte, dass es nicht dieselbe Ursache hatte, wenn sie nicht wollte, dass Sven oder Liam ein Mädchen küssten. IhrBruder hatte einen schrecklichen Geschmack gehabt, bei Liam dagegen war es rückblickend betrachtet schlichtweg Eifersucht gewesen. Nicht erst, als er den Plan gefasst hatte, nach Finnland zu ziehen, wo er mit der falschen Frau eine Familie gegründet hatte. Immer schon. Jana hatte immer schon nur ihn gewollt und noch nie hatte sie bei einem Kuss das gefühlt, was sie gerade eben empfunden hatte.
Er war ihr Zuhause.
Sie griff nach ihrer Handtasche und lief vor dieser Erkenntnis weg.
Janas Kater war fürchterlich und plagte sie den gesamten Sonntag. Sie blieb lang im Bett, versteckte ihren schmerzenden Kopf vor dem Tageslicht und ihr geschundenes Herz vor der Erinnerung an den Kuss mit Liam. Letzteres mit geringem Erfolg. Vermutlich machte sie sich in Wahrheit etwas vor und lag deshalb im Dunkeln, weil sie unter ihrer warmen Decke die Emotionen immer und immer wieder durchleben konnte, ohne der Tatsache ins Auge zu sehen, dass der Abend unterm Strich eine Katastrophe gewesen war. Innerhalb weniger Stunden war eine lebenslange Freundschaft, die stets klar umrissen gewesen war, zu einem undefinierbaren Gebilde verkommen. Als hätte man über die Malerei eines Kindes ein GlasWasser geschüttet und alle Farben wären ineinandergeflossen. Sie waren noch da, doch sie ergaben ein ganz neues Bild, auf dem nichts mehr deutlich zu erkennen war.
Jana liebte ihren Job in derDagis blomsteräng, die im Süden von Stockholm lag. Passend zum Namen ›Blumenwiese‹ waren die Gruppen in dem Kindergarten nach Insekten benannt. Jana war zusammen mit zwei weiteren Pädagogen für die Hummeln zuständig.
An diesem Montagmorgen freute sie sich besonders darauf, in den nächsten Stunden durch eine Horde lebhafter Kinder von ihren Gedanken abgelenkt zu werden. Obwohl sie schlecht geschlafen hatte, erschien sie voll motiviert zu der kurzen Teambesprechung, die zu Beginn jeder Arbeitswoche stattfand.
»Wie ihr wisst, bin ich ab morgen für den Rest der Woche bei einer Fortbildung«, eröffnete Kajsa, die Leiterin des Kindergartens, das Meeting. »Anna wird mich während meiner Abwesenheit vertreten. Ich erwarte allerdings keine besonderen Vorkommnisse. Bei den Bienen und Marienkäfern steht nichts Außergewöhnliches auf dem Programm. Bei den Hummeln startet heute die Eingewöhnung unseres letzten Neuzugangs für dieses Jahr. Damit haben wir einundfünfzig Kinder im Haus und alle drei Gruppen sind voll.«
»Eine neue Minihummel«, kommentierte Jana freudig.
»Wohl eher eine Maxihummel«, entgegnete ihr KollegeMats. »Er ist schon vier.«
Astrid, die die Hummelgruppe leitete, schob Jana schmunzelnd ein BlattPapier hin. »Das wüsstest du, wenn du mal einen Blick auf die Anmeldungen werfen würdest«, bemerkte sie.
Jana hatte die Angewohnheit, sich erst nach dem Kennenlernen mit dem Hintergrund ihrer Schützlinge zu befassen. Sie wollte ihnen völlig unbefangen gegenübertreten und nicht aufgrund der Herkunft oder des sozialen Status ein voreiliges Urteil fällen. IhreKolleginnen akzeptierten diese Einstellung zwar, belächelten sie allerdings auch.
»Wie viele Stunden wird er bei uns sein?«, erkundigte sich Jana, ohne den Zettel mit den Eckdaten des Jungen zu beachten.
»Die maximale Stundenzahl«, antwortete Kajsa. »DerVater ist alleinerziehend, die Mutter verstorben.«
Janas Blick schnellte zuerst zu ihrer Chefin, dann doch zu dem Datenblatt, das sie eigentlich nicht lesen wollte. Wenn ihr Verdacht stimmte, wusste sie ohnehin schon alles, was es zu wissen gab.
»Sie sind erst vor wenigen Tagen aus Finnland nach Stockholm gekommen. Daher konnte er nicht gemeinsam mit den anderen Neuen eingewöhnt werden«, fuhr Kajsa fort.
Den letzten Zweifel räumte der Name aus, der in Großbuchstaben auf dem Ausdruck stand: MikaFalk. LiamsSohn.
Ob Liam vorgehabt hatte, ihr das zu sagen? Hatte er diesen Kindergarten mit Absicht ausgewählt? War er seine erste Wahl gewesen?
»An welcher Stelle standen wir auf der Wunschliste?«, erkundigte sich Jana – wie sie hoffte – ganz beiläufig.
»An dritter«, antwortete ihre Chefin und nannte die beiden Einrichtungen, die Liam bevorzugt hätte.
Seine erste Wahl lag in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung, die zweite unweit des Büros. Vermutlich hatte er den dritten Kindergarten wegen Jana ausgewählt.
Mats verdrehte die Augen und brummte: »Also kann es sein, dass der Zwerg uns gleich wieder verlässt.«
Sämtliche Anwesenden zuckten mit den Schultern. So funktionierte das System eben. Sollte in den nächsten Wochen ein Platz in einer der beiden favorisierten Einrichtungen verfügbar sein, stand es den Eltern frei, diesen zu beanspruchen, selbst wenn sich ein Kind gerade erst an alles gewöhnt hatte.
»Die beiden kommen um neun«, ergriff nun Astrid das Wort. »DerVater hat das längere Eingewöhnungsmodell gewählt, das heißt, Mika wird ab morgen allein hier sein. Heute bleiben sie gemeinsam eine halbe Stunde. Wir müssen auch noch den ganzen Papierkram erledigen.«
»Das wird der Vater ja hoffentlich ohne Hilfe schaffen«, murmelte Mats, der es liebte, sich mit Kindern zu beschäftigen, dem es aber mitunter an Geduld und Verständnis für die Eltern mangelte.
»Um den Single-Daddy kümmert sich Jana bestimmt gern«, neckte Thore von den Bienen, woraufhin Jana ihm genervt die Zunge zeigte und Kajsa rügte: »KeineFlirts mit Elternteilen, das wisst ihr genau!«
Die Leiterin war deutlich älter als die meisten ihrer Angestellten, von denen nicht nur fast alle im heiratsfähigen Alter, sondern auch etliche alleinstehend waren. Kajsa war zwar nicht konservativ, bestand jedoch auf die Einhaltung einiger Regeln.
»Aber irgendwie müssen wir die einsame Hummel doch unter die Haube bringen«, erwiderte Thore unbeirrt. Seit er verheiratet war, hatte er es sich zum Ziel gesetzt, sämtliche Kolleginnen und Kollegen zu verkuppeln. BeiMats war ihm das erst kürzlich gelungen, nun hatte er es offenbar auf Jana abgesehen.
»Nicht«, Kajsa betonte das Wort mit ungewöhnlicher Schärfe, »mit einem Vater eines unserer Kinder.« Sie machte eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu: »Auch mit keiner Mutter.« Gleichberechtigung in allen Lebenslagen gehörte zu ihren wichtigsten Grundsätzen.
Thore tat das Ganze mit einem Grinsen ab, zwinkerte Jana aber verschwörerisch zu, als ihre Chefin nicht hinsah. Jana hätte sich am liebsten unterm Tisch versteckt. IhrGesicht fühlte sich an, als hätte es die Farbe des Apfels angenommen, der in der Obstschale in der Mitte des Tisches lag. Jetzt war absolut nicht der richtige Zeitpunkt, um Kajsa über ihre Beziehung zu Liam aufzuklären, aber sie nahm sich vor, das schnellstmöglich nachzuholen. Wenn kein Thore in der Nähe war, der dann erst recht eine Chance witterte, Jana zu verkuppeln.
»Können wir bitte wieder zum Thema zurückkehren?« DieLeiterin warf einen strengen Blick in die Runde. Jana war heilfroh, dass sie sogleich anfing, einen Überblick über die Anmeldungen zum Mittagessen für diese Woche zu geben. DieZahlen hörte sie nur mit halbem Ohr, denn plötzlich begriff ihr Kopf, was die Information, die sie soeben erhalten hatte, wirklich bedeutete.