Here we are Elrea - Sofia Tabery - E-Book

Here we are Elrea E-Book

Sofia Tabery

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Beschreibung

Linnea erleidet Schiffbruch und strandet auf einer ihr unbekannten Insel. Magische Fähigkeiten und seltsame Tiere sind für ihre neuen Freunde völlig normal, aber Linnea muss sich an ein Leben auf Elrea erst gewöhnen. Mitsamt der Magie macht sie sich auf den Weg, das Rätsel ihrer Vergangenheit zu lösen und findet dabei mehr heraus, als ihr lieb ist. Denn ganz in ihrer Nähe befindet sich jemand, der sie eigentlich tot sehen möchte.

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Seitenzahl: 400

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für meinen ersten Leser, Fan und besten Freund. Und für meine Kinder, die Geschichten genau so sehr lieben wie ich.

Inhaltsverzeichnis

Erwachen

Lux Aeterna

Kamor

Spuren der Vergangenheit

Azamat

Samrit

Ungleiches Team

Exitium

Starkes Erbe

Die Reise beginnt

Pech ist nicht gleich Pech

Ars Necandi

Moret

Peditum Mortiferum

Heimkehr

Nachricht aus dem Jenseits

Königin der Nacht

Darauf ein Brötchen mit Schinken!

Finalrunde

Manche Träume muss man ändern

Schlaflos

Schneeglöckchen

Erwachen

Linnea

„Aaron!“

Aneinander schlagende Klingen und Gebrüll erfüllten die Umgebung. Er sollte doch in meiner Nähe bleiben. Linnea durchbohrte den Brustkorb eines Feindes mit ihrem Dolch, als dieser versuchte, einen ihrer Freunde mit seinem Schwert zu erschlagen. Sein warmes Blut rann über ihre Hand. Es ekelte sie zu wissen, dass sie jemanden verletzte oder eher tötete. Normalerweise war es ihre Aufgabe, Wunden zu versorgen und nicht sie zu verursachen. Sie bahnte sich einen Weg durch das Gelände und der Regen tropfte ihr von der Nasenspitze. Die Pfützen auf dem lehmigen Boden vermischt mit Blut spritzen ihr bei jedem Schritt die Beine hinauf. Ihr Magen fühlte sich an, als hätte sie seit Tagen nichts gegessen. Für einen Moment stieg ihr die Galle auf.

Sie presste ihre Hand auf den Mund und summte, um dieses Gefühl im Keim zu ersticken. Keine Zeit für so etwas. Wo ist er nur? Der Geschmack an ihren Lippen war widerlich, als sie sich darüber leckte. Sie versuchte, den Sand und Dreck wieder auszuspucken, während sie sich ein Stück weiter durch den Schlamm kämpfte. Unachtsam bemerkte sie die Klinge des Gegners fast zu spät. Keuchend duckte sie sich unter dem Schwerthieb weg und sah eine feine Locke ihres roten Haares zu Boden schweben, fast wie in Zeitlupe. Dieser Anblick hatte eine Absurdität inne. Rasend schnell und gleichzeitig in Zeitlupe spielte sich die Szene vor ihr ab.

In diesem Moment kam Cain schnaufend zu ihr geeilt und drängte den Gegner mit seinem Schwert zurück.

„Linnea! Was tust du da?“ Sein Schwert drang tief in den Arm seines Gegners ein.

„Du solltest doch bei Caellach sein und dich um die Verletzten kümmern.“

„Ich soll Aaron und Kilian finden. Caellach wird das erst mal ohne mich schaffen müssen“, antwortete Linnea ihm und drängte weiter vor. Verdammt. Wohin waren die Dummköpfe verschwunden?

„Aaron! Kilian!“ Ein Pfeil sauste an ihrem linken Ohr vorbei und sie zuckte zusammen. Die Beine, schwer vom Matsch, der an ihren Schuhen klebte, bewegten sich langsam vorwärts. Mit ihrem Ärmel wischte sie sich über das Gesicht. Früher hatte sie Regen geliebt, aber nun fühlte er sich an, als würde all der Hass der Menschen auf sie niederprasseln. Liam kam auf sie zu, umgeben von Verbündeten, umarmte sie ihn kurz. Es tat gut, Freunde zu sehen, die wohlauf waren.

„Sie sind eben an mir vorbei gerannt, Richtung Anhöhe. Einige sagen, Syd kämpft dort oben gegen Iduna, aber ich kam nicht durch. Wir müssen uns zuerst etwas Platz schaffen. Ich glaube, sie versuchen, uns alle voneinander zu trennen.“

Linnea musterte ihn von Kopf bis Fuß. Sein Gesicht war dreckig und mit Blut beschmiert. Seine Augen waren von einem dunklen Schatten umgeben, die Wangenknochen standen weit hervor. Noch nie hatte sie ihren besten Freund so sehen müssen. Seit Wochen schon sah sie ihm die Sorgen an, aber in dieser düsteren Umgebung wirkte es gleich viel dramatischer.

Mit der linken Hand umklammerte Liam seinen Dolch, in der rechten Hand hielt er ein fremdes Schwert.

Die einst glänzende Klinge war mit einer Mischung aus Blut und Schlamm überzogen. Linnea gab ihm kurz einen aufmunternden Klaps auf die Schulter und nickte ihm dankbar zu. Mir bleibt keine Zeit, um mich nun darum zu sorgen. Sie bahnte sich einen Weg in Richtung Anhöhe. Mit dem Ziel vor Augen blendete sie alles Umliegende aus. Lediglich der metallene Geruch von Blut lag in ihrer Nase, als wären all die Geschehnisse um sie herum nicht mehr als ein Traum. Ihre Füße spürte sie schon lange nicht mehr wirklich, die Nässe hatte ihre Lederschuhe komplett durchzogen.

Langsam änderte sich die Situation um sie herum. Feinde ließen die Waffen sinken, Verbündete halfen den Verletzten ins Lager und regungslose Körper waren über das Schlachtfeld verteilt. Immer weiter drängte sie den Hang hinauf, weiter ins Zentrum der Schlacht.

Abrupt blieb sie stehen. Unmittelbar neben ihr wurde jemandem eine Axt in den Schädel gerammt. Blut besudelte ihr Gesicht und der leblose Körper sackte in sich zusammen. Linnea stockte der Atem, ihr Herz raste. Ihre Augen wanderten gehetzt durch die Umgebung. Ihr Körper stand still. Zu still. Er wehrte sich voranzugehen, als würden ihre Füße festgebunden sein. Würden ihre Freunde diesen Kampf überstehen? Mussten sie dafür alle selbst zu Mördern werden? Dieser Gedanke missfiel Linnea. Es waren bereits so viele vor ihren Augen gestorben, ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wie sollte man eine Schlacht wie diese aufhalten? Sie konnte das beklemmende Gefühl in ihrer Magengegend nicht mehr zurückhalten und erbrach sich. Der Geschmack von Galle widerte sie an.

Jemand schubste sie unsanft zur Seite. Ein stechender Schmerz durchzog ihren linken Arm. Endlich konnte sie sich wieder bewegen, als hätte der Stoß ihren Verstand klar werden lassen.

„Linnea, du gehörst nicht hierher, verschwinde!“, hörte sie noch, doch sie war längst weiter geeilt.

Während der untere Bereich der weitläufigen Arena weitestgehend gesichert schien, herrschte hier das Chaos. Es gab keine klaren Abgrenzungen, ein Pulk aus Kämpfenden. Immer wieder wich Linnea aus, stolperte und stürzte in den Schlamm. Es dauerte eine Weile, bis sie Aaron fand. Sein Schwert ragte in den Himmel empor. Die Zeit schien still zu stehen. Ihr wurde schwindelig und die Beine zitterten vor Anstrengung. Alles an ihr fühlte sich an wie Pudding, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.

Dieser Kampf war kein Traum. Menschen rannten drängend an ihr vorbei, um ihren Freunden zu helfen. Stießen sie hin und her. Ein gellender Schrei hallte über das Schlachtfeld. Das Zischen eines Feuerballs ließ sie herumschnellen. Er schlug mit Wucht in den Boden ein und verbrannte jeden, der mit ihm in Berührung kam.

Sie spürte die Hitze zuerst im Gesicht, dann bald am ganzen Körper. Wieder wurde sie gestoßen, doch nicht so beschützend, wie es ihre Freunde taten. Ihre langen roten Haare tanzten um ihren Körper wie züngelnde Flammen, als sie durch die Luft geschleudert wurde.

Linnea schlug hart auf dem Boden auf. Sie schlitterte durch den Matsch, bis sie mit der Stirn auf einen Stein prallte. Blut rann, wie warme, dicke Regentropfen über ihre Wange. Ihre Hand rutschte auf dem aufgeweichten Erdboden immer wieder weg, so dass sie mehrere Anläufe brauchte, um wieder auf die Beine zu kommen. Nebelschwaden stiegen um sie herum auf und ihre Augenlider wurden schwer.

Linnea wälzte sich umher. Die Geräusche der Schlacht dröhnten in ihren Ohren wie ein Sturm. Schweißgebadet wachte sie auf. Ihre Hände zitterten und Gänsehaut zierte ihre Arme. Schon seit Jahren plagten sie solche Alpträume, doch mit jedem Traum kam ihr das Geschehene realistischer vor. Ein kalter Windzug zog an ihren Beinen hinauf, heulte durch die Kajüte und schaukelte ihre Hängematte hin und her.

Als ihre nackten Füße die Bodendielen berührten, schwankte das Schiff erneut.

Schnell griff sie nach der Decke, die am Boden lag und wickelte sich darin ein, bevor sie ihr Gleichgewicht verlor und gegen einen Balken prallte. Vorbei an leeren Hängematten, torkelte sie über den feuchten Holzboden. Das Schiff schien gefährlich zu schaukeln. Linnea umklammerte das Treppengeländer und stieg die Stufen hinauf. Auf der obersten angekommen, drehte sie den Knauf und die Tür schwang mit Wucht nach außen auf. Das gesamte Schiff wog sich im Sturm wie ein Schaukelpferd in den Händen eines groben Kleinkindes.

Aus der Ferne hörte sie die Stimme ihres Vaters, der seiner Crew Befehle zurief. Eine weitere Welle stieg empor und schlug hart auf dem Deck auf. Erschrocken riss Linnea die Augen auf, ihr Herz trommelte gegen ihre Brust. Erneut schaukelte das Schiff bedrohlich. Sie verlor das Gleichgewicht und rutschte über den Boden, bis sie sich an der Reling festhalten konnte.

Ihre Decke wehte den Fluten entgegen. Die Wogen spritzten hoch bis über die Segel und setzten das Deck unter Wasser.

Eine der kleineren Wellen streifte sie und instinktiv zog sie sich zusammen. Lähmende Kälte ließ ihr den Atem stocken und ihr Blick streifte angsterfüllt umher.

Die Crew lief hektisch über das Deck. Jeder versuchte, sein eigenes Leben zu retten und sich festzuhalten. Manche banden sich aus Verzweiflung mit einem Seil am Mast oder der Reling fest. Inmitten des Chaos stand Linneas Vater. Er ließ ein Tau los und kam auf sie zu. Seine Lippen bewegten sich, doch im Tosen des Sturms konnte sie nichts verstehen. Eine Welle stieg hinauf, größer als jede der Wogen, die sie bisher gesehen hatte. Linnea riss die Augen auf. Sie wollte ihren Vater warnen, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Eben sah sie diese gigantische Sturzwelle, grau wie der dichte Wolkenteppich und im nächsten Moment war ihr Vater verschwunden. Hektisch blickte sie umher. Ihr Blick blieb an einer undurchdringlichen Wasserwand direkt neben ihr hängen.

Schwarz wie die Nacht und klar glänzend, wie ein Sternenhimmel an warmen Sommertagen, stand sie imposant da. Sekunden nur und doch lange genug, um dieses faszinierende Schauspiel zu betrachten und in ihr eigenes Gesicht zu blicken, wie in einem Spiegel. Ihr eigener Schrei wurde vom Rauschen des herunter brechenden Wassers verschluckt.

Die Welle schlug auf das Handelsschiff nieder. Auf den wenigen Reisen, die sie ihren Vater begleiten durfte, fühlte sie sich frei. Frei von den Erwartungen und Pflichten, die sie als Kammerzofe zu erfüllen hatte. Frei von der Unterdrückung ihrer geldgierigen Tante und dem stichelnden Verhalten ihrer Cousinen. Den Tod vor ihrem Auge, erinnerte sie sich an all die vielen glücklichen Momente auf See mit ihrem Vater. Wie Pete, der Smutje, ihr das Kartenspiel beibrachte oder wie Dragon der Navigator ihr gezeigt hatte, sich an den Sternen zu orientieren.

Linnea kämpfte mit dem Sturm. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich über Wasser zu halten. Ihre Arme ruderten hilflos gegen die Wellen an, die immer und immer wieder über sie hereinbrachen. In einem kurzen Augenblick sah sie, wie eine der Wogen auf das Schiff schlug.

Der Rumpf zerbarst, der Mast brach und kippte in Linneas Richtung. Er verfehlte sie nur knapp und eine weitere Welle rollte über ihren Körper hinweg. Der Wind hatte die Segel schon längst abgerissen und über das Meer verteilt. Linnea hatte Glück und konnte sich an ein paar Brettern festklammern. Sie ruderte mit den Beinen, um sich auf die nassen Dielen zu ziehen. Immer wieder wurde sie dabei von den Wellen herunter geworfen und weiter vom Schiff weggetragen. Mit letzter Kraft kämpfte sie sich erneut auf ihr rettendes Floß. Verzweifelt hielt sie sich an den Brettern fest, bis sie völlig erschöpft das Bewusstsein verlor.

Der Sturm hatte sich beruhigt. Linnea blinzelte heftig, um das Salzwasser aus ihren Augen zu vertreiben. Müde blickte sie umher, doch nichts in ihrer Umgebung erinnerte an den Sturm. Keine Wellen, kein Schiff war zu sehen. Sie war ganz allein und um sie herum sah sie lediglich das Meer. Leise lauernd. Panik stieg in ihr auf, sie hatte das Gefühl zu ersticken. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Bilder des Sturms wie in einem Film. Ihr Körper zitterte heftig, ob durch Kälte oder Verzweiflung wusste sie nicht. Tränen liefen über ihre Wangen, sie schluchzte und schrie, bis sie schließlich am Ende ihrer Kräfte in einen unruhigen Schlaf schlief.

„Da ist jemand im Wasser!“

Die aufgeregten Stimmen drangen nur dumpf an sie heran. Das Wasser neben ihr bewegte sich unruhig. Der Versuch, sich zu bewegen, scheiterte. Ihr Körper reagierte nicht. Kühles Wasser spritzte auf ihre von der Sonne gerötete Haut.

Reflexartig zuckte sie zusammen. Warme Hände umfassten ihren Oberkörper und zogen sie von den Überresten des Schiffes herunter, so dass sie nun rücklings im Wasser lag. Den Kopf an eine Schulter gelehnt, spürte sie, wie ihr Retter einen Arm um ihre Taille schlang und sie, fest an sich gepresst, durch das Wasser zog. Die Sonnenstrahlen blendeten selbst durch das geschlossene Augenlid. Linnea kniff die Augen fest zusammen und versuchte ihr Gesicht vom Licht wegzudrehen. Wo bin ich nur? Was ist geschehen?

Linnea kamen immer wieder Bilder von furchterregenden Wellen in den Sinn. Angst stieg wieder in ihr auf, unweigerlich schreckte sie zusammen. Ihr Körper verkrampfte und sie spürte gleich darauf, wie der Griff ihres Retters fester wurde. Die Flut half ihnen voranzukommen und schlug rhythmisch gegen die Stelzen der Anlegestege. Sanftes Rauschen drang an ihr Ohr und langsam wurde ihr bewusst, was geschehen war. Der warme Atem ihres Retters streichelte sanft ihre Wange und obwohl ihr ganzer Körper schmerzte, fühlte sie sich sicher.

Vater? Linnea blinzelte, die glitzernden Wogen des Meeres strahlten ihr entgegen. Einige Hände zogen sie aus dem Wasser und legten sie auf dem harten Boden ab. Das fehlende Schaukeln bereitet ihr Übelkeit.

„Passt auf“, hörte sie eine tiefe Stimme sagen.

Wieder wurde sie kräftig an den Oberarmen gepackt und zur Seite gedreht. Sie erbrach einen Schwall Wasser und hustete, nicht im Stande, ihren Körper selbst zu bewegen.

„Das sie noch lebt ist ein Wunder“, vernahm sie von einer anderen Stimme.

„Was machen wir nun mit ihr, Kilian?“, fragte wieder ein anderer.

Linnea war verwirrt, ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wo bin ich? Wer sind all diese Menschen? Ist Vater denn nicht hier?

„Ich bringe sie zur Gilde. Nimm meinen Gürtel schon mit und lauf los. Gib Iduna Bescheid und lass dich von ihr nicht abwimmeln, Jonte!“

Schnelle Schritte entfernten sich von ihr. Ihr Retter wickelte sie in einen viel zu großen Umhang und hob sie hoch. Sein kantiges Gesicht wirkte düster, aber sein fester Griff hatte etwas Beruhigendes. Als würde er ihr zeigen wollen, dass sie in Sicherheit sei. Unter dem Umhang trug Linnea das nasse Nachtkleid, es klebte unangenehm auf der Haut und durchweichte den Mantel.

Ihr Retter schien ihren Blick nicht zu bemerken, zumindest reagierte er nicht auf ihren fragenden Blick. Seine schulterlangen weißen Haare umrahmten sein Gesicht und seine bernsteinfarbenen Augen glänzten. Er wirkte unwirklich, in ihrer Heimat gab es niemanden mit silbernem Haar. Zumindest niemanden, der nicht schon dem Tod entgegenblickte. Aber ihr Retter wirkte nicht viel älter als sie. Mit ausladenden Schritten trug er sie fort, fort vom Stimmengewirr und der grellen Sonne. Das grüne Blätterdach über ihr verschluckte die beißenden Sonnenstrahlen.

Seine Schritte klangen dumpf, aber Linnea konnte seinen Herzschlag hören. Beruhigend, sicher, sanft klang das leise Geräusch in ihren Ohren.

Linneas Körper entspannte sich langsam. Sie lehnte ihr Gesicht an seine Schulter und ein erleichtertes Seufzen kam über ihre Lippen. Linnea sah das Licht der Sonne golden durch die Blätter der Bäume schimmern, bevor sie vor Erschöpfung einschlief.

Kilian

Kilian sah das große Fachwerkhaus schon von Weitem und schritt zügig darauf zu. Sonnenstrahlen, die es durch das Blätterwerk der umstehenden Bäume schafften, malten ein funkelndes Lichtspiel auf die rötliche Wand des Hauses.

Kilian hörte das Gebrüll auch durch die geschlossene Türe. Die Stimme seiner Meisterin hatte eine Durchschlagskraft wie ein Schmiedehammer auf einen Apfel. Die Eisenangeln quietschten schrill, als die Flügeltüre schwungvoll aufgestoßen wurde.

Iduna stampfte ihm wütend entgegen. Ihre braunen Augen funkelten ihn böse an, aber diesen Anblick war er schon gewohnt. Wenn sie wütend war, dann richtig und er hatte ein Talent dazu, sie zur Weißglut zu treiben.

„Kilian! Wer ist das?“, brüllte sie ihm entgegen.

Kilian zögerte. Er musste jetzt die richtigen Worte finden, um Iduna zu besänftigen.

„Ich habe sie in Kamor aus dem Wasser gefischt. Keine Ahnung wer sie ist, aber Caellach sollte sie sich unbedingt ansehen. Das sie noch lebt ist ein Wunder, wir sollten herausfinden, wo sie herkommt“, sagte er in ruhigem Ton und ging an der aufgebrachten Frau vorbei. Dumpf klangen seine Schritte auf den Holzdielen der Eingangshalle, die Treppen hinauf bis in den ersten Stock. Obwohl sie deutlich abgemagert war, wurde ihm das Mädchen langsam zu schwer. Seine Arme waren taub vor Schmerz. Er trug sie in sein Zimmer und legte sie auf seinem Bett ab. Zaghaft schälte er sie aus dem Umhang und nestelte an ihrem Nachthemd herum.

Iduna stand währenddessen hinter ihm und folgte seinen Bewegungen mit kritischem Blick.

„Lass mich mal“, sagte sie seufzend, schob ihn beiseite und zog ihr das Nachthemd über den Kopf.

„Iduna, leih mir etwas zum Anziehen für sie. So schmal wie sie ist, wird sie meine Kleidung verlieren, wenn sie versucht damit einen Schritt zu tun.“

Er half Iduna die junge Frau in die Decke zu wickeln und strich zögerlich über ihre roten Haare. Wie feuerrote Wellen lagen sie an diesem zarten Körper.

„Was soll das Kilian? Wir wissen nicht, wer sie ist und wo sie herkommt! Außerdem wirkt sie nicht gerade, als könne sie jemals wieder einen Schritt tun“, zischte Iduna durch die zusammengepressten Lippen hervor.

„Ich weiß, aber ich habe das Gefühl, sie könnte wichtig für uns sein. Ich übernehme die volle Verantwortung für sie.“

Er kratzte sich am Kopf und sah nachdenklich zum Fenster heraus. Sie kommt mir so bekannt vor, das kann doch kein Zufall sein. An wen erinnert sie mich nur?

Kilian schüttelte den Kopf, um seine Gedanken erst einmal beiseite zu werfen. Er schob Iduna vorsichtig aus dem Raum, folgte ihr hinaus und zog die Tür sanft hinter sich zu.

„Bitte Iduna, glaub mir“, sagte er und hob beschwichtigend die Hände.

Seine Meisterin starrte ihn fassungslos an, sie fuhr sich über den Kopf und blickte nachdenklich in seine Richtung.

„Du kannst uns mit dieser Aktion alle in Gefahr bringen, Kilian. Gerade du solltest wissen, wie schwierig die Situation mit Exitium ist! Ich will hier niemanden einschleusen, der nicht hergehört. Sobald sie wach ist, will ich mit ihr reden, dann sehen wir weiter. Möglicherweise kann Liam etwas im Akademietrakt frei machen, so kannst du sie im Auge behalten. Ich nehme dich beim Wort, schadet sie in irgendeiner Weise der Gilde, geht das auf dein Konto.“

Sie wandte sich von ihm ab, stapfte aufgebracht den Flur entlang und fluchte vor sich hin.

Ich muss herausfinden, warum sie mir so bekannt vorkommt.

Nachdenklich drehte er sich um und blickte auf die Tür, hinter der diese Fremde lag. Und auch wieder nicht fremd.

Ihm war, als hätte er sie schon einmal gesehen. Ihr Gesicht war ihm so vertraut.

Er wandte sich ab und ging zur Treppe, als Iduna noch einmal auf ihn zukam.

„Warum hast du das getan? Das ist sonst überhaupt nicht deine Art. Du bist immer der vorsichtigste von uns allen und kontrollierst jeden Akademiker hundertmal. Warum sie nicht?“

„Sie erinnert mich an jemanden. Ich habe das Gefühl, genau zu wissen, wer sie ist. Aber ich komme einfach nicht darauf, an wen sie mich erinnert.“

Schulterzuckend schaute er zu Iduna. Die Stirn in Falten gelegt, fuhr sie sich mit der Hand durch ihr Haar und schnaufte laut.

„Nun gut. Sie kann bleiben. Caellach soll ihre Wunden versorgen und Jonte soll Wache halten. Sobald sie wach ist, bringen wir ihr zu essen und etwas zum Anziehen."

Kilian nickte mit dem Kopf und schaute wie Iduna hinter der nächsten Ecke verschwand. Er machte sich auf den Weg, um Jonte und Caellach aufzusuchen, doch ein Gedanke ließ ihn nicht los: Woher kam die Fremde?

Ein fehlendes Handelsschiff der Nachbarinsel wäre aufgefallen. Aber die Schiffe kamen alle an, keines wurde vermisst. Ob sie aus Menereth stammt? Bisher hat es kein Mensch durch die tosenden Meerestiefen zwischen der Insel und dem Festland geschafft. Zumindest konnte niemand mehr davon berichten. Alle paar Jahre wurden leblose Körper angespült. Aber sie lebt. Sie ist zwar halb verhungert und verdurstet. Dennoch hat sie es irgendwie geschafft. Nur wie?

Linnea

Benommen fuhr sich Linnea mit der Hand, über die Augen. Wo bin ich? Was ist passiert? Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das dämmrige Licht. Sie drehte ihren Körper und ein dumpfer Schmerz durchzog jedes Glied, als hätte sie Muskelkater. Linnea tastete ihre Umgebung ab. Die etwas kratzige Strickdecke war von ihr heruntergerutscht und lag neben ihr. Sie wickelte sich darin ein und ihr Blick streifte durch das Zimmer. Hinter ihr war eine Wand. Das Bett stand in der Ecke, von hier aus konnte sie das gesamte Zimmer überblicken. Ein Schreibtisch mit vielen Pergamentbögen, Federn und einem Kerzenhalter stand direkt neben dem Bett vor einem Fenster.

Die Kerze war fast vollständig heruntergebrannt und sollte bald ausgetauscht werden. Eine Kommode mit einer Waschschüssel und Tüchern war ihr gegenüber aufgestellt. Ein kurzer Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an das Wasser in der Schüssel dachte.

Klirrende Kälte, das Tosen des Meeres, der Mast bedrohlich schwankend und meterhohe Wellen kamen ihr in den Sinn. Sie wickelte ihren nackten Körper fester in die warme Decke und Panik stieg in ihr auf.

Vater? Was ist geschehen? Wo bin ich hier?

Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob sie sich und schaute ängstlich durch das Fenster.

Rötliches Sonnenlicht schien durch die Blätterdecke des Waldes. Das Pochen des Herzens strömte durch sie hindurch. Ich lebe. Auch wenn alles an mir schmerzt. Ich lebe. Ist es schon Abend, oder doch Morgen? Welchen Wochentag haben wir? Wie lange war ich auf dem Meer? Ich muss herausfinden, wo ich hier bin. Ich muss Vater finden.

Sie drehte sich herum und blickte genau auf ein großes Regal, vollgestopft mit Büchern.

Einige Bücher waren in Stapeln vor dem Regal abgestellt. Linnea bewegte sich langsam auf die Tür neben dem Bücherregal zu. Dabei fiel ihr Blick auf die Wand oberhalb der Kommode mit der Waschschüssel. Eine Karte hing dort, auf der allerlei Notizen angebracht waren. Über die ganze Wand verteilt waren Bilder von verschiedenen Pflanzen. Sie schwankte vorsichtig hinüber zur Tür und sah einige Schatten am Spalt entlang huschen. Ihr Atem stockte. Zögernd streckte sie die Finger zum Türknauf und für einen Augenblick schweiften ihre Gedanken zu dem Moment zurück, als ihr der Messingknauf auf dem Schiff aus der Hand glitt.

Ein Knarzen riss Linnea aus ihren Gedanken und sie schaute in das Gesicht einer Frau. Sie war etwas kleiner und stärker gebaut als Linnea und ihre braunen Augen strahlten, trotz des selbstsicheren Auftretens, eine Wärme und Geborgenheit aus.

„Du stehst?! Sah nicht so aus, als würdest du überleben. Ich habe ein Kleid für dich mitgebracht. Komm, ich helfe dir.“

Linnea spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg und ihre Wangen rot färbte. Sie strich sich mit einer Hand die widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und nickte.

„Mein Name ist Iduna. Wie heißt du?“, fragte die Frau und schob sich an ihr vorbei ins Zimmer, nachdem sie die Tür zugezogen hatte.

„Linnea. Mein Name ist Linnea“, nuschelte sie, noch immer überrascht.

Iduna half ihr, in das Kleid zu steigen, nahm ihr die Decke ab und knüpfte es am Rücken zu.

„Kannst du gehen? Der Speisesaal ist unten. Wir können dir aber auch etwas Essen hierher bringen.“

„Ich denke, ich kann gehen. Wo bin ich hier?“

Ihre Neugier erwachte, aufgeregt schaute sie auf Iduna und versuchte, ihren Schmerz beiseite zuschieben.

Iduna öffnete die Tür und zeigte auf den jungen Mann, der dort scheinbar Wache hielt.

„Jonte wird dich begleiten. Mir ist eingefallen, dass ich etwas vergessen habe. Wir sehen uns dort und dann reden wir, in Ordnung?“

Iduna wartete nicht auf eine Antwort, zielstrebig ging sie den Gang entlang und an der Treppe vorbei in einen anderen Korridor.

„Warte! Wo bin ich hier? Was ist mit meinem Vater?“, rief Linnea ihr nach, doch Iduna drehte nicht um. Jonte stand neben ihr und musterte sie von oben bis unten.

„Ist ein bisschen groß, nicht?“

Linnea nickte ihm verlegen zu. Sie schloss die Tür und schaute auf das Kleid. An ihrem schmalen Körper wirkte es viel zu groß, der blaue Stoff hing schlaff und unförmig an ihr herab. Schuhe hatte sie keine. Jetzt galt es nur herauszufinden, wo sie war und was geschehen ist.

Jonte lächelte sie freundlich an und gemeinsam gingen sie den Gang entlang bis zur Treppe.

Linnea versuchte, die Stufen hinabzusteigen. Sie biss sich auf die Zunge, um nicht laut loszuschreien. Der Schmerz kannte keine Gnade.

Ihre Beine gaben auf einer der Stufen nach, doch bevor sie die Treppen herunter stürzte, fasste Jonte sie am Arm und hielt sie fest.

„Bist du sicher, dass es geht? Soll ich dich lieber wieder ins Bett bringen?“, fragte er besorgt.

„Nein. Das geht schon. Komm bitte weiter“, antwortete sie und zog ihren Arm zurück.

Jonte schüttelte amüsiert den Kopf.

„Also, zumindest weiß ich jetzt, dass du stur bist“, sagte er schmunzelnd.

Sie klammerte sich an das Geländer und stieg weiter die Stufen hinab.

„Manchmal schon. Aber ich kann ja auch nicht ewig nur herumliegen, oder? Ich will wissen, wo ich hier bin und wie ich am schnellsten meinen Vater finden kann.“

Linneas Körper verkrampfte sich immer mehr. Eine fremde Umgebung, unbekannte Menschen, das Alles strengte sie an.

Das Treppengeländer, an dem sie sich krampfhaft festklammerte, war mit aufwendig geschnitzten Blumenranken geschmückt.

Zuerst waren sie ihr gar nicht aufgefallen, aber wenn die Schmerzen es zuließen, strichen ihre Finger daran entlang. Das Holz gab eine angenehme Wärme an sie ab. Ein leichter Geruch von scharf gebratenem Fleisch lag in der Luft und ihr Magen antwortete darauf mit einem lauten Knurren. Sie streichelte mit einer Hand darüber, um den Hunger zu vertreiben und konzentrierte sich auf die letzten paar Stufen.

Hoffentlich weiß diese Iduna, was passiert ist. Vielleicht ist mein Vater auch hier irgendwo.

Ob es wohl alle überstanden haben?

Die Erinnerung an den Sturm und die gigantische Welle ließ sie erschaudern. Gänsehaut machte sich auf ihren Armen breit. Schnell nahm sie die letzten zwei Stufen und atmete durch, als sie in der großen Eingangshalle stand.

Lux Aeterna

Gemeinsam gingen sie durch einen Korridor gleich neben dem Treppenabsatz. Zimmer an Zimmer waren hier aneinandergereiht, Dutzende vielleicht sogar mehr.

„Was ist das hier?“, fragte Linnea.

„Das soll dir am besten Iduna erklären. Komm, da vorne ist der Speisesaal. Ich könnte ein ganzes Wildschwein essen, so hungrig bin ich. Und du könntest auch mal etwas mehr auf die Rippen bekommen.“

Noch bevor sie den Saal betrat, hörte sie die vielen Stimmen, die wirr durcheinander redeten. Jonte hielt ihr die Tür auf und sie tappte zaghaft an ihm vorbei.

Als Erstes fielen Linnea die zwei großen Bäume auf, die im Raum bis durch das Dach ragten. Zwischen ihnen war eine große Feuerstelle mit Bänken darum und im ganzen Raum verteilten sich Tischgruppen, an denen hunderte von Leuten aßen, tranken und gemeinsam lachten. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, bewundernd und neugierig entdeckte sie eine Wand aus gläsernen Türen zu ihrer Linken. Scheinbar waren diese Türen auf Schienen angebracht, denn einige waren zusammengeschoben, um die warme Sommerbrise hereinzulassen.

„Jonte, woher habt ihr diese großen Scheiben? Ist das nicht viel zu zerbrechlich?“

Linnea blickte umher, doch Jonte war nicht mehr an ihrer Seite.

„Jonte?“, fragte sie ein wenig lauter, doch er schien spurlos verschwunden zu sein.

Ihr rauschte das Blut in den Ohren, ihre Beine fühlten sich an wie Pudding.

Panik stieg in ihr auf. Was soll ich tun? Einfach hier stehen bleiben und warten? Oder soll ich lieber jemanden ansprechen und nach Iduna fragen? Erschöpft schloss sie die Augen und massierte sich mit ihren Fingerspitzen die Schläfen.

Jemand kam auf sie zu und legte einen Arm um ihre Schultern. Ihre Gedanken kreisten umher. Unfähig zu reagieren ließ sie es zu, dass er sie zu einer Gruppe schob und sanft auf die Bank drückte. Nur langsam gewann Linnea die Kontrolle über ihren Körper wieder. Sie strich sich durch das Gesicht und blickte in die Runde. Ein blonder Mann mit kurzer Frisur und breitem Lächeln, hatte sie zum Tisch begleitet.

„Ich bin Liam, freut mich dich kennen zu lernen.“

„Linnea“, sagte sie und nickte kurz.

Unsicher lächelte sie in die Runde, strich sich mit einer Hand durch ihre wilden Locken und senkte ihren Kopf.

Die Blicke der anderen waren ihr unangenehm und sie war nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, hier herunterzukommen.

Hätte ich im Zimmer bleiben sollen? Mein Körper ist so schrecklich taub, der Muskelkater macht sich sogar im Sitzen bemerkbar. Nein. Ich muss Antworten auf meine Fragen bekommen.

„Schön, dass du zu uns gekommen bist. Iss etwas du hast bestimmt Hunger“, hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich.

Idunas Augen glänzten, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.

„Danke“

Ich muss wirklich bescheiden aussehen, so wie die mich alle anschauen, dachte Linnea und lächelte verlegen.

Iduna setzte sich ihr gegenüber und erst jetzt bemerkte sie den Mann schräg vor ihr. Seine weißen glatten Haare und die bernsteinfarbenen Augen kamen ihr vertraut vor. Liam stupste sie an und hielt ihr einen Teller mit Fleisch und Brot hin. Linnea nahm ihm den Teller ab und sogleich lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Das noch dampfende Fleisch hatte einen verführerischen Geruch und sie steckte sich schnell ein Stück des trockenen Brotes in den Mund.

„Ich bin überrascht, dass du schon aufstehen kannst. Du sahst nicht so aus, als würdest du überleben. Was ist passiert?“, fragte Iduna und nun blickte auch der Weißhaarige zu ihr. Sein Blick ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen und sie zuckte zusammen. Das Stück Brot, welches sie im Begriff war zu schlucken, blieb ihr im Halse stecken und löste einen Hustenreiz aus.

Weil sie hustend, mit der Faust auf den Tisch schlug, klopfte Liam ihr beherzt auf den Rücken und reichte ihr einen Becher mit Wasser. Mit hochrotem Kopf griff sie danach und das kühle Nass rann ihr die Kehle herunter.

„Vor Kilian brauchst du keine Angst haben. Er sieht zum Fürchten aus, aber ist im Grunde genommen ein Sensibelchen, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Er hat dich übrigens aus dem Wasser geholt. Wie bist du nur dorthin gekommen?“, fragte Liam und alle starrten sie gebannt an.

Linnea schaute zwischen Liam, Iduna und Kilian hin und her.

Kann ich ihnen vertrauen? Soll ich alles erzählen oder lieber nicht? Ich kenne niemanden, aber bisher haben sie mir sehr geholfen. Außerdem muss ich Vater doch irgendwie finden. Ich muss es einfach wagen, oder? Vater, wenn du nur hier wärest ...

„Ich war mit meinem Vater auf See, er ist Händler“, begann sie langsam und blickte auf ihre Hände.

„Aber dann sind wir in einen Sturm geraten. An mehr erinnere ich mich nicht. Ich hatte gehofft, ihr könnt mir vielleicht sagen, was passiert ist? Und wo ich jetzt bin?“

„Wir wissen leider nicht, was passiert ist. Kilian hat dich am Hafen von Kamor aus dem Wasser geholt. Vermutlich hattest du großes Glück, dass du nicht gestorben bist“, antwortete Iduna ihr.

„Du bist jetzt erst einmal bei uns auf der Insel Elrea“, fügte Liam hinzu.

Linnea nahm sich etwas von dem zarten salzigen Fleisch, biss hinein und kaute nachdenklich darauf herum.

Elrea? Das habe ich noch nie gehört. Oder?

„Von wo kommst du? Und wo wolltet ihr hin?“, fragte Iduna und blickte sie neugierig an. Irgendetwas hatte sich an ihr verändert, fand Linnea. Sie wirkte nicht mehr so streng, eher fürsorglich. Fast als wäre sie ihre große Schwester, oder sogar eine Mutter. Sie fühlte sich wohl bei Iduna und auch Liam wirkte eher wie ein Bruder.

Fast fühlt es sich an, als würde ich sie kennen. Aber das ist unmöglich.

„Ich bin aus Erevain und wir wollten in die Hafenstadt Endelon, im Norden von Menereth, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich jetzt bin.“

Sie versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, woher ihr der Name der Insel bekannt vorkam. Aber es schien, als seien all ihre Gedanken durch das Meer verwaschen.

Wie hieß die Insel? Erela? Elara? Nein ... Elrea.

„Du bist aus Menereth? Vom Festland? Dann hattest du wirklich Glück. Noch nie hat es jemand vom Festland über den direkten Seeweg hierher geschafft. Ihr seid sicher zu weit nördlich gefahren und in die tiefen Strömungen gelangt. Du solltest der großen Göttin Rina danken, dass sie dich auf dem Weg beschützt hat“, sagte Iduna und hielt plötzlich inne. Sie schaute auf Linnea, als würde sie durch sie hindurch blicken. Iduna stand auf und klopfte Linnea aufmunternd auf die Schulter.

„Ich komme später in dein Zimmer. Dann reden wir noch einmal in Ruhe über alles. Liam wird ein Auge auf dich haben“, sagte sie und richtete ihren Gürtel, an dem eine Axt und ein paar Beutel hingen. Zwei weitere Frauen aus der Nähe standen ebenfalls auf und folgten Iduna. Erst jetzt fiel Linnea auf, dass hier scheinbar jeder eine Waffe bei sich trug.

Wovor müssen sich die Menschen hier schützen? Drachen? Nein, das ist Unsinn. Es gibt keine Drachen.

„Also Linnea, iss dich satt. Danach werde ich dir dein vorläufiges Zimmer zeigen, wo du heute übernachten kannst. Du bist sicher ganz schön müde. Es ist ein langer Weg bis nach Menereth“, sagte Liam und deutete mit einem Kopfnicken auf das Essen vor ihnen.

Als Linnea sich gedankenverloren ihrem Fleisch widmen wollte, streifte ihr Blick den eines dunkelhaarigen Mannes am Nachbartisch. Seine blauen Augen leuchteten im Dämmerlicht, sein Lächeln brachte ihren Atem zum Stocken und ihr Herz holperte wie verrückt. Sie schaute schnell auf ihren Teller und ballte ihre Hand zu einer Faust.

Er kommt mir so bekannt vor ... aber woher?

Ein wohliges Kribbeln zog sich wie Wellen über den Körper.

Sie blinzelte zu ihm hinüber, doch er hatte sich bereits von ihr abgewandt und unterhielt sich wieder angeregt mit ein paar Kameraden.

Linnea schob den leeren Teller von sich und schaute sich ein wenig im Saal um. Es waren nur Erwachsene oder zumindest fast erwachsene Menschen anwesend. Alle trugen Waffen. Schwerter, Äxte und Dolche sah sie. Sogar jemand mit Pfeil und Bogen. Linnea wurde unbehaglich. Sie fühlte sich gefangen in dieser Ungewissheit. Wer sind all die Fremden? Wozu tragen sie Waffen? Bin ich in einen Krieg geraten?

Werden meine Träume nun Realität? Iduna, Liam, Kilian, diese Namen habe ich doch alle schon mal gehört. Oder irre ich mich? Sie kommen mir so furchtbar bekannt vor.

Völlig in Gedanken versunken, schwirrte ihr Blick weiter durch den Saal. Das Feuer in der Mitte erleuchtete die Baumrinde der beiden Bäume, dadurch schienen diese zu glänzen. Linnea konnte ihren Blick gar nicht davon abwenden, so schön wirkten diese lebendigen Stämme mitten im Raum.

Ob das Feuer wohl immer an ist? Immerhin ist Sommer, warm genug ist es definitiv.

„Du hörst mir gar nicht zu. Hab ich recht?“, sagte Liam und stupste sie mit dem Ellbogen an.

Linnea runzelte die Stirn und starrte ihn fragend an.

„Hast du was gesagt?“, fragte sie perplex.

Er lachte und schlug ihr fest auf den Rücken. Ihr Körper konnte diesen Schubs nicht ausgleichen und schwankte Richtung Tisch, dabei riss sie einen Becher um.

„Du warst so abwesend, ich dachte schon du schläfst hier gleich im sitzen ein. Soll ich dir nun dein Zimmer zeigen?“

„Ach so“, murmelte sie und streckte sich stöhnend. Der Schlag hatte gesessen. „Was ist das hier eigentlich?“

Linnea strich sich durch das Haar und deute mit einem Kopfnicken in den Raum.

„Meinst du einen Speisesaal oder unsere Gilde?“, antwortete Liam ihr, während er mit einem Lappen das Wasser aufwischte.

„Was ist das? Eine Gilde?“, Linneas Neugier war erwacht. Sie wollte alles wissen. Wo sie war. Was es mit einer Gilde auf sich hatte und natürlich, wie sie ihren Vater finden konnte.

„Oh. Nun ja. Eine Gilde ist eine Zusammenkunft von Leuten mit den gleichen Interessen. Der Ursprung fand sich darin, dass die Magiebegabten der Insel sich zusammengefunden haben, um sich auszutauschen. So wurden die ersten Gilden gegründet. Mittlerweile finden sich hier nicht nur Magiebegabte, sondern auch einfach interessierte Kämpfer und Helfer. Die Gilden unterstützen die Menschen der Insel durch verschiedene Aufgaben. Wir unterstützen Bauern indem wir ihnen lästige Kreaturen fernhalten. Wir stellen Heilmittel her, helfen beim Häuser bauen oder eben was gerade anfällt. Nur wenn wir arbeiten, landet auch Essen auf dem Tisch und wie du siehst, müssen hier genügend Mäuler gestopft werden. Gibt es so etwas bei euch nicht?“

„Wie meinst du das? Magiebegabte?“

Linnea gähnte herzhaft und versteckte ihr Gesicht hinter ihren Händen.

„Soll ich dir nicht erstmal dein Bett zeigen? Ich kann dir auch morgen noch alles erzählen.“

Liam stand auf und reichte ihr die Hand.

„Aber...“, versuchte Linnea ihn aufzuhalten. Doch Liam hatte es bereits entschieden und wartete mit vorwurfsvollem Blick vor ihr.

„Vielleicht hast du recht.“

Sie hakte sich bei ihm unter, dankbar nicht alleine laufen zu müssen. Ihre Beine waren schwer wie Blei, jeder Schritt strengte sie an. Gemeinsam verließen sie den Speisesaal.

„Keine Sorge. Das Zimmer stand zurzeit leer und wir helfen gerne. In Lux Aeterna, so heißt unsere Gilde, ist es üblich, dass man einander hilft“, sagte Liam mit einem freundlichen Lächeln.

Sie folgten dem Gang, bis sie die Eingangshalle sehen konnten, dann blieb Liam stehen.

„Das ist der Flügel der Akademie, also Gildenanwärter, welche uns mit ihrer Hilfe unterstützen und dafür eine Ausbildung und Unterkunft bekommen. Nach einer Abschlussprüfung dürfen sie dann der Gilde beitreten. Mein Zimmer ist das erste hier. Falls du also mal Fragen hast oder einsam bist, scheu dich bitte nicht vorbei zu schauen. Dein Zimmer ist gleich neben mir.“

Liam stieß schwungvoll die Tür mit seinem Fuß auf. Sie war nur angelehnt gewesen. Linnea warf einen Blick in das kleine gemütliche Zimmer. Die Decke lag zusammengefaltet auf dem Bett und es gab einen Schreibtisch, wie in dem anderen Zimmer mit einer Kerze, Papier und Feder.

Eigentlich war der ganze Raum ebenso wie der im oberen Stockwerk. Nur etwas kleiner. Aber Linnea gefiel das, es wirkte gemütlich. Fast wie in ihrer eigenen kleinen Kammer bei ihrer Tante. Ein leichter Hauch Lavendel wehte mitsamt dem warmen Sommerwind zum offenen Fenster herein. Linnea atmete tief ein und schloss genüsslich die Augen. Sie liebte Lavendel.

Aber zuhause konnte sie nur getrockneten vom Markt kaufen.

„Ich glaube Iduna hat darum gebeten, dass du nicht alleine herumstreunst und Ärger machst. Also frag mich bitte wenn du dir die Beine vertreten möchtest. Für uns alle ist es eine ungewohnte Situation. Aber es wird sich sicherlich alles aufklären und dann kommst du schon wieder nach Hause. Ich lasse dich jetzt alleine.“

„Vielen Dank, Liam“, sie schenkte ihm ein Lächeln und winkte als er zur Tür hinaus schritt und diese hinter sich zuzog. Sie mochte ihn. Er wirkte immer so lebensfroh und heiter. Manchmal war es ihr, als würde sie ihn schon ewig kennen.

Linnea legte sich auf das Bett. Sie schloss die Augen und verschränkte ihre Arme hinter ihrem Kopf. All ihre Gefühle sortierten sich allmählich und ihr wurde schmerzhaft bewusst, wie alleine sie war und was sie wohl für Möglichkeiten hätte.

Nach Hause? Das Schiff war mein zu Hause. Ich will nicht zu Tante Borghild und zurück ins Schloss, um ihre Kammerzofe zu sein. Vater, bitte sei am Leben ... ich brauche dich!

Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln herab, doch sie hatte keine Lust, sie wegzuwischen. Es war ja niemand da, der sie so sehen konnte. Bald schon, tief versunken in einem traumlosen Schlaf, merkte sie nicht, wie sich jemand in ihr Zimmer schlich.

Kilian

Langsam drehte er den Knauf und schob vorsichtig die Tür auf. Durch den kleinen Spalt schaute er zum Bett und sah Linnea dort liegen. Die Decke war heruntergerutscht und lag am Boden. Linnea hatte sich zusammengerollt und ihr Körper zitterte.

Sie sieht so friedlich aus, wenn sie schläft. Aber dennoch, irgendetwas ist seltsam an ihr.

Kilian schlich zum Fenster und schloss es leise. Dann ging er langsam zum Bett und legte ihr sanft die Decke über den Körper. Zurück an der Tür stand Liam direkt vor ihm. Mit verschränkten Armen funkelte er ihm böse zu.

„Was ist los mit dir Kilian?“, flüsterte Liam.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

Kilian ging hinaus. Er schloss die Tür und versuchte an Liam vorbei zu gehen. Doch der griff nach seinem Arm.

„Du hast dich noch nie für jemanden so sehr interessiert. Warum warst du bei ihr im Zimmer? Kennst du sie?“

Kilian entzog sich seinem Griff ruckartig und ging weiter in Richtung Eingangshalle.

„Nein ich kenne sie nicht. Aber kommt sie dir nicht auch bekannt vor?“, antwortete er, ohne sich umzudrehen.

Liam ließ die Arme sinken. Er kratzte sich am Hinterkopf und machte sich langsam auf den Weg in die Eingangshalle, um in den ersten Stock zu gelangen.

Kilian ging durch die große Flügeltür in Richtung Wald. Seine Beine trugen ihn immer weiter.

Ich muss herausfinden, woher ich sie kenne. Ich bin mir sicher, sie schon mal irgendwo gesehen zu haben. Aber das ist nicht möglich, wenn sie wirklich aus Menereth kommt. Ob sie wohl einer anderen Gilde angehört? Nein. Das glaube ich nicht.

Liam

„Nein ich kenne sie nicht. Aber kommt sie dir nicht auch bekannt vor?“, antwortete Kilian, ohne sich umzudrehen.

Liam ließ die Arme sinken. Er kratzte sich am Hinterkopf und machte sich langsam auf den Weg in die Eingangshalle, um in den ersten Stock zu gelangen.

Doch. Auch mir kommt sie bekannt vor. Aber ist das denn möglich? Ich muss mit Iduna reden.

Er öffnete die Tür einen Spalt und blickte in den Raum. Iduna saß auf einem breiten Stuhl, welcher mit Fellen bedeckt war. Sie hatte ein schweres Buch in der Hand und einen dampfenden Tonbecher auf einem kleinen Tisch vor sich.

Liam setzte sich auf einen Stuhl neben ihrem und wartete bis Iduna ihr Buch zusammenklappte.

„Ich mache mir Sorgen um Kilian“, sagte er und starrte nachdenklich in die Luft.

„Warum? Ist etwas passiert?“, fragte Iduna und wischte sich mit einer Hand die Träne aus dem Gesicht.

„Er war bei Linnea im Zimmer, hat das Fenster geschlossen und sie wieder zugedeckt. Er ist sonst nicht so fürsorglich.“ Er strich sich über die Stirn und schaute sie an.

Warum hat sie geweint? So kenne ich sie gar nicht. Selten zeigt sie Gefühle, selbst mir gegenüber.

„Das ist wirklich untypisch. Aber vielleicht hat er Gefallen an ihr gefunden. Vielleicht solltest du ihn mal darauf ansprechen? Immerhin ist er dein bester Freund.“

Iduna griff nach ihrem Tonbecher und pustete hinein, bevor sie vorsichtig einen Schluck trank. Sie stand auf und legte ihr Buch auf den Schreibtisch, um sich danach bei Liam auf den Schoß zu setzen.

„Lass uns jetzt nicht darüber reden“, sie streichelte sanft seinen Hals und küsste ihn auf die Wange.

Eine halbe Stunde saßen sie da. Dann konnte Liam es nicht mehr zurückhalten.

„Kommt sie dir nicht auch bekannt vor? Und warum bist du so unvorsichtig? Das kenne ich gar nicht von dir. Natürlich braucht sie unsere Hilfe. Aber früher hättest du eine Wache vor ihrem Zimmer und dem Fenster postiert und sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Vermutlich hättest du selbst neben ihr geschlafen, damit sie nichts anstellen kann“, sagte Liam und streichelte über ihr welliges Haar, welches sie nun offen trug.

Iduna seufzte.

„Ja. Sie kommt auch mir bekannt vor.“

Sie stand auf und holte das schwere Buch zurück, bevor sie sich wieder auf ihrem eigenen Stuhl niederließ.

„Wir wissen nicht, was mit Talea passiert ist. Sie verschwand, ohne eine Nachricht.“

Liam schaute auf den Einband: Die Großtaten der Meister.

Ob sie wohl darum geweint hat? Sie waren sehr gut befreundet, bis Talea uns alle verlassen hatte.

„Meinst du, Kilian glaubt, dass sie mit Talea verwandt sein könnte? Vielleicht hängt er deswegen so an ihr?“

Iduna schaute ihn ärgerlich an. Sie stand auf und sortierte die Dokumente auf ihrem Schreibtisch so, dass die Flamme ihrer Lampe erzitterte.

„Merkst du nicht, dass ich darüber derzeit nicht reden möchte? Wir haben nie Zeit für uns. Jetzt bist du mal hier und anstatt diesen Moment zu nutzen, möchtest du über irgendwelche Ahnengeschichten spekulieren.“

„Tut mir Leid du hast Recht“, sagte er, erhob sich und schlang seine Arme um ihre Schultern. Ihre Haare umschmeichelten sein Gesicht und er sog gierig ihren Duft in sich ein.

Iduna wandte sich ihm zu und eine Weile standen sie ineinander verschlungen da. Schweigend.

„Du wolltest noch mit ihr reden“, durchbrach Liam flüsternd die Stille.

„Du hast Recht. Als Meisterin hat man wohl nie seine Ruhe. Dann mal los“, seufzte sie und streckte ihre Glieder.

„Gut. Ich komme mit“, sagte er und folgte ihr, als sie den Raum verließ.

Linnea

Linnea schreckte aus einem Albtraum hoch. Sie hatte wieder von dem Sturm und den Wellen geträumt, aber das war nicht der Grund für ihr Erwachen. Sie hatte etwas gehört. Wieder klopfte es an der Tür und gedämpft drang die Stimme von Iduna zu ihr herein.

„Linnea? Ich komme jetzt rein, wir sollten uns unterhalten.“

Der schmale Türspalt ließ ein wenig Licht in ihren Raum. Linnea beobachtete Liam, wie dieser zum Schreibtisch ging und mit einer kleinen Handbewegung die Kerze entfachte.

„Wie hast du das gemacht?“, entfuhr es ihr und sie starrte auf die flackernde Flamme.

„Mit Magie“, antwortete ihr Iduna.

„Wie meinst du das 'mit Magie'?“

Linnea schaute gebannt zu ihr. Sie hatten ihre Neugier geweckt, der Albtraum geriet in Vergessenheit.

„Eines nach dem anderen. Ich möchte alles über dich wissen und vor allem müssen wir uns überlegen, wie wir weiter vorgehen. Was ist mit deiner Familie?“

Linnea senkte ihren Blick. Sie zog ihre Beine an sich heran und starrte auf den Boden, eine Wärme erfüllte sie. Iduna war nicht länger fremd, sie war eine Vertraute. Als würden sie sich schon ihr ganzes Leben kennen. Linnea hatte nicht das Gefühl, als könnte Iduna ihr etwas Böses tun, also erzählte sie.

„Ich lebe bei meiner Tante Borghild. Auf der Burg Erevain. Ich bin dort die Kammerzofe meiner Cousine. Mein Vater ist ein angesehener Händler und viel unterwegs. Ihm war es wichtig, dass ich die Aufgaben einer Frau erlerne“, sie rollte übertrieben mit den Augen und setzte sich aufrecht an die Bettkante.

„Er wollte mich nach unserer Reise verheiraten. Aber dann kam der Sturm. Unser Schiff... die Wellen haben alles verschlungen und -“, sie schluchzte laut auf und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Feuchte Tränen rannen zwischen ihren Fingern entlang.

„Ist schon in Ordnung“, sagte Iduna sanft und setzte sich neben sie auf das Bett. Ihre Hand glitt sanft über Linneas Rücken.

Stumm, wischte sich Linnea die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie leise weitersprach.

„Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist, vielleicht hat er es ja auch überlebt.“

„Du solltest deiner Tante einen Brief schreiben. Möglicherweise ist dein Vater in die andere Richtung abgetrieben und schon längst zuhause. Und wir müssen natürlich überlegen, wie du wieder nach Hause kommst“, sprach Iduna aufmunternd.

„Sollte mein Vater tot sein, will ich auf gar keinen Fall zurück zu dieser alten griesgrämigen Hexe. Ihr Mann ist pleite. Er hat alles beim Glücksspiel und im Freudenhaus verschleudert. Sie ist nur scharf auf das Geld meines Vaters. Ich darf nur bei ihr wohnen und arbeiten, weil er dafür bezahlt.“

Linnea zog trotzig die Nase hoch und schaute Iduna mit einem hasserfüllten Blick an.

Eher würde ich sterben, als zu Tante Borghild zurückzugehen.

„Und was ist mit deiner Mutter?“

Iduna und Liam schauten gebannt zu ihr, warteten auf eine Antwort, während die Stille immer unerträglicher wurde. Keiner der drei bewegte sich. Es war fast, als würden alle ihren Atem anhalten.

Linneas Blick wurde starr. Ihr Körper fühlte sich plötzlich schwer an. Kälte zog sich über ihre Haut und sie schüttelte sich, um sie loszuwerden.

„Meine Mutter starb; kurz nach meiner Geburt. Ich weiß nichts über sie.“

„Das tut mir Leid. Wir finden schon eine Lösung für alles. Morgen wirst du mit Liam zum Hafen gehen und einen Brief an deine Tante schreiben. Eine Überfahrt nach Menereth ist zu teuer, aber die Kosten für den Brief übernehmen wir und solange du auf eine Antwort wartest, darfst du bleiben. Natürlich musst du für deinen Unterhalt etwas arbeiten. Ist das für dich in Ordnung?“

Iduna stand auf und lächelte zu ihr herab. Linnea nickte stumm, mit so viel Hilfe hatte sie nicht gerechnet.

„Hast du noch Fragen?“, fragte Liam.

„Ein paar vielleicht...“, antwortete sie leise.

„Leg los“, lachte Iduna.

„Was hat es mit der Magie auf sich? Kann ich das auch lernen? Können das alle hier? Und, warum seid ihr eigentlich so nett zu mir? Ihr kennt mich kaum, ich euch auch nicht. Aber ich habe derzeit keine andere Möglichkeit als euch zu vertrauen, da ich nicht einmal weiß, wo ich bin. Aber ihr?“

„Das sind tatsächlich ein paar“, stellte Liam lachend fest.