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Manuel beschließt zu sterben, denn ihm fehlt der Sinn im Leben. Nicht nur in seinem, sondern im Leben aller. Doch kurz bevor er springt, zögert er. Daraufhin taucht eine mysteriöse menschenartige Gestalt auf: Herr Gutermann. Er nimmt Manuel mit zu sich und schlägt ihm dort ein Spiel vor. Ein Spiel um Manuels Leben. Dieser willigt ein, doch scheint das Spiel letztendlich nicht zu gewinnen. Wird er nun sterben müssen?
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Fabian Fischer
Herr Gutermann
Roman
Impressum
Texte:
© 2021 Copyright by Fabian Fischer
Umschlag:
© 2021 Copyright by Fabian Fischer
Verantwortlich für den Inhalt:
Fabian Fischer, Niddagaustraße 54, 60489 Frankfurt am Main, [email protected]
Druck:
epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Für alle, die ihren Platz finden.
Tot oder lebendig oder woanders.
∞
Mein Dank geht an Timo, Judith, Dennis, Chrissi und Kristin. Und natürlich auch an Herrn Gutermann und die Ameisenvölker.
Das Leben ist eine Achterbahnfahrt.
Irgendwann steigst du in einen Wagen ein und irgendwann steigst du wieder aus. Dazwischen fährst du langsam, aber stetig nach oben. Der Wagen bleibt stehen und lässt dich die Umgebung betrachten, bestaunen, bewundern. Du siehst Kirchtürme, Wälder und Berge. Autos in Ameisengröße. Menschen, die noch kleiner als Ameisen wirken. Wie Staubkörner, Mikroben. Du findest die Welt unter dir faszinierend. Und gleichzeitig so klein und irrelevant. Wie Ameisen oder Mikroben. Dort oben bist du dem Himmel so nah. Du kannst dein Gesicht in die Wolken drücken. Du kannst dir aber auch an der Sonne die Flügel versengen.
Dort oben hörst du nur den Wind. Die Ruhe vor dem Sturm?
Dann löst sich die Bremse und du fährst nach unten. Der Wagen legt an Geschwindigkeit zu. Du schreist, freust dich, die Tränen rinnen dir aus den Augen, du schreist wieder. Aus Freude? Aus Angst? Weil du gesehen hast, dass eine Schraube in der Schienenkurve locker sitzt? Was passiert, wenn sie nicht hält? Stirbst du dann? Fliegst du nur aus der Kurve und landest mit Knochenbrüchen und Blutergüssen im Gebüsch? Oder hält die Schraube und du fährst nach einer kurzen Schrecksekunde einfach weiter? Das Leben ist eine Achterbahnfahrt, jede Etappe ist eine.
In bestimmten Momenten kannst du anhalten, aussteigen und weitergehen. Manche Mitfahrer*innen steigen aus, manche bleiben sitzen. Vielleicht bleibst auch du sitzen und fährst eine weitere Runde mit. Dann stellen sich erneut die Fragen: Entdeckst du am höchsten Moment etwas Neues? Schaust du wieder fasziniert zum Boden? Blickst verächtlich auf die kleinen Menschen? Genießt du die rasante Talfahrt nun mehr? Und hält die Schraube erneut?
Erst gestern hatte Manuel beschlossen, zu sterben.
Heute würde er es in die Tat umsetzen.
Wie jeden Tag klingelte sein Wecker um 6:20 Uhr.
Geweckt werden musste Manuel heute aber nicht, denn er hatte die ganze Nacht hindurch diverse Optionen der Selbsttötung durchgespielt.
Gegen 5:05 Uhr hatte er schließlich eine Entscheidung getroffen, mit der er leben konnte.
Zumindest die verbleibenden Stunden.
Bei der Entscheidung hatte ihm eine Pro- und Contra-Liste geholfen, wie er sie auch oft im Arbeitskontext anfertigte.
Während die Contra-Seite, also die Nachteile einer Selbsttötung, viele fein säuberlich aufgelistete und damit wohldurchdachte Punkte aufwies, sah es bei den Pros, den Vorteilen, nach dem genauen Gegenteil aus: Viele durchgestrichene Begriffe und Halbsätze lagen quer und übereinander und machten diesen Teil der Übersicht kaum lesbar.
Manche Wörter waren erneut über ihre ausradierten Vorgänger geschrieben und dann wieder gestrichen worden. Der einzig noch lesbare, gültige Begriff stand vertikal und schluderig am linken Seitenrand geschrieben.
Wenn man sich das Wort durchlas, überkam einen das Gefühl, als hätte Manuel zum Ende hin keine große Lust mehr gehabt, sich noch weiter mit dem Thema zu beschäftigen.
Dort am Seitenrand, beinahe schon gequetscht, stand:
Ruhe.
Als der Wecker aus dem Schlummermodus erwachte, legte Manuel seinen Stift zur Seite, stand von seinem Bürostuhl auf und ging zu seinem Nachttisch.
Er drückte auf die Stopp-Taste, der Wecker verstummte wieder und Manuel hörte: Nichts.
Seit gestern kam es ihm so vor, als würde er sich unter einer Glocke oder etwas Ähnlichem befinden.
Er vernahm Geräusche von draußen, konnte Gerüche um sich herum aufnehmen, aber etwas schien ihn von seiner Außenwelt zu trennen. Es war eine beunruhigende Dumpfheit, keine friedliche Stille. Einmal bewegte er seine rechte Hand vorsichtig nach vorn und versuchte, etwas zu greifen.
Die unsichtbare Glocke um ihn zu berühren.
Doch er griff nur Luft. Und auch als er mit seinen Armen wild um sich schlug, zerplatzte die Blase nicht.
Er beschloss, sich ab heute darum nicht mehr zu kümmern. Insgesamt musste er sich nicht mehr um vieles kümmern.
Muss ich duschen?
Manuel blickte an sich herunter.
Er trug noch immer die dunkelblaue Jeans und das karierte Hemd, das er gestern für die Arbeit angezogen hatte.
Er war gegen 21:10 Uhr mit leerem Blick nach Hause gekommen und direkt in sein Schlafzimmer gegangen.
Dann hatte er begonnen, die Übersicht an Vor- und Nachteilen seiner Selbsttötung zu erstellen.
Dass er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, sah man ihm direkt an: Seine schwarzen, vollen Haare waren verstrubbelt, leicht fettig und alles andere als in Reih und Glied. Seine Augen waren blutunterlaufen und juckten leicht. Und seine Zähne hatte er zuletzt gestern früh geputzt.
Duschen sollte ich schon.
Er kratzte sich durch die Jeans am Hintern und schlappte zum Fenster hinüber. Als er nach draußen blickte, verbesserte sich seine Stimmung nicht unbedingt: Es war ein kalter, nasser Novembertag, so wie man ihn kannte und nicht schätzte.Die Schaukel auf dem Spielplatz gegenüber wurde vom Wind angeschubst und die kahlen Äste von zwei Apfelbäumen auf der Wiese nebenan bogen sich mal nach unten, mal nach oben.
Ätzendes Wetter. Ein richtiges Unwetter. Unwetter? Was für ein dämlicher Begriff. Wetter ist doch auch weiterhin Wetter, auch wenn es beschissen ist.
Damit räumte Manuel seinen Platz am Fenster, verließ das Schlafzimmer und ging in die Küche. Er hatte keinen Hunger, aber eine Kleinigkeit essen wollte er schon.
Das Abendessen hatte er gestern schließlich auch schon ausgelassen und für sein Vorhaben brauchte er sicher etwas Stärkung.
Nachdem er sich zwei Toastbrote mit Butter und Marmelade und die dritte Tasse Kaffee einverleibt hatte, lief er ins Badezimmer. Auf halbem Wege dorthin entschloss er sich aber doch, nicht zu duschen.
Wozu denn auch? Die Leiche wird doch eh nochmal gesäubert, das ist dann nur Wasserverschwendung.
Mit dieser neuen Entscheidung lief er wieder zurück ins Schlafzimmer, setzte sich an den Schreibtisch in der Ecke und zog ein weißes, leeres Papier aus der Schublade.
Er griff zu seinem Füller, drehte den Verschluss langsam ab und begann zu schreiben.
Liebe Eltern, lieber Thomas, ...
Manuels Abschiedsbrief war kurz. Er brauchte daher nicht lange, um ihn zu schreiben. Da er keinen konkreten und für Unbeteiligte nachvollziehbaren Grund für die Selbsttötung nennen konnte, beließ er es bei:
mir tut es leid, aber es muss sein. Das ist allein meine Entscheidung, es liegt nicht an euch oder so.
Verzeiht mir bitte. Ich habe euch erneut enttäuscht.
Euer Sohn und Bruder
Manuel
Dann legte er den Stift beiseite und packte den Brief zusammen mit seiner Übersicht an Vor- und Nachteilen in einen Umschlag.
Er blickte nach rechts. Auf dem Schreibtisch stand ein kleines gerahmtes Bild, das ihn mit seiner Familie zeigte. Mutter, Vater, zwei Söhne im jungen Erwachsenenalter. Sie im Kostüm, die drei Männer im Anzug mit Krawatte. Eine freundlich lachende Truppe mit einer gewissen Ausstrahlung von Macht und Selbstbewusstsein. Im Hintergrund erstrahlte ein herrschaftliches Haus, ein regelrechter Palast. Und über dem Hauseingang prangte ein Wappen. Mit einer Sprungfeder, Turbine, Säge und Glocke darauf sowie dem Wahlspruch SIMUL FORTIS. Gemeinsam stark.
Seine Lippen kräuselten sich. Er fixierte das Wappen und ballte seine rechte Hand zur Faust. Mit einem erneuten Blick auf seinen Brief entspannte sich sein Gesicht aber wieder und er begann zu grinsen.
Die Glocke um ihn existierte noch, allerdings war sie weniger spürbar geworden. Er sah es als Bestätigung, das Richtige zu tun. Manuel merkte, dass der Regen draußen deutlich stärker war, als er es vorhin noch gedacht hatte. Und ebenso stärker waren auch die Gerüche im Zimmer, darunter auch sein Körpergeruch.
Na gut, ich dusche doch noch. Was soll der Geiz?
Er ging daher ins Badezimmer, entkleidete sich und stieg in die Duschkabine. Dort blieb er aber nicht wie gewöhnlich nur fünf Minuten. Heute stand er wie fixiert unter dem Duschkopf und ließ sich wortlos das warme Wasser auf den Kopf regnen. Die Minuten vergingen und Manuel griff nicht zum Drehknopf, um das Wasser wieder abzustellen.
Er wusste, dass er hier nicht noch viel länger stehen konnte. Wie so oft, fiel es ihm aber schwer, eine schnelle und ihn zufrieden stellende Entscheidung zu treffen.
Erst nach fünfzehn Minuten und einem schnellen Überschlagen des zusätzlichen Wasserverbrauchs stoppte er den Wasserschwall und verließ die Duschkabine.
Beim Abtrocknen blickte er noch schnell in den Spiegel, entschied sich aber sowohl gegen das Verwenden eines Deodorants als auch die Rasur seines Fünftagebarts.
Gegen zehn Uhr stieg er dann in seinen anthrazitfarbenen Saab 900 und fuhr an die Küste.
An einem Wanderparkplatz ließ er das Auto stehen und ging weiter in Richtung Klippen. Das Wetter schien ihm sein Vorhaben nicht zu verzeihen, so sehr stürmte es. Doch je näher er dem Abgrund kam, desto weniger Geräusche hörte und desto weniger Regen spürte er.
Keine drei Meter von der Klippe entfernt sah er die hohen Wellen und die schäumende Gischt. Das Meer brodelte.
Neben seinen Füßen beobachtete er, wie der Wind das durch die Jahreszeit mittlerweile grün-braun gefärbte Gras hin und her peitschte.
Manuel bekam aber von den Elementen um ihn herum wenig mit. Die Glocke um ihn war seit seinem Aufbruch wieder deutlich spürbar, nun umso geschlossener, beinahe schon hermetisch. Es war ein seltsames Gefühl, das ihn umkam. Als würde er tauchen und alles um sich beobachten, aber nichts spüren können.
Er ging zwei Schritte nach vorn und blickte nun direkt nach unten: Die Wellen zerschellten an den Steinen knapp 80 Meter unter ihm. Gleich würden sie auch ihn zerschellen.
Manuel zögerte. Er hatte gedacht, dass er, gut gestärkt und durch das ganze Koffein belebt, sein Vorhaben schnell durchziehen würde. Doch nun zögerte er. Er blickte wieder auf und schaute aufs Meer.
Links am Horizont sah er eine Fähre, die geradewegs ins Nachbarland fuhr. Und rechter Hand war der Dicke Eugen zu sehen, ein rot-weißer Leuchtturm, dessen Architekt sich ein eigenes Denkmal setzen wollte und die normalerweise hohe und schlanke Gestalt durch einen dicken Klotz von Gebäude ausgetauscht hatte. Neben den Klippen war der Dicke Eugen die Sehenswürdigkeit in der Region.
Manuel war in seinen knapp 39 Jahren sehr oft hier gewesen. Mit seinen Eltern, seinem Bruder, Freunden. Zum Picknick am Klippenrand oder um über kleinere Schleichwege zu einer geschützten Bucht zu kommen, die nur die Einheimischen kannten. Früher hatte er auch Frauen hierhergebracht, die er beeindrucken wollte. Meist waren diese aber mehr von der Landschaft als von ihm beeindruckt gewesen.
Heute kam er allein. Und heute würde er nicht picknicken oder die Bucht aufsuchen oder jemanden beeindrucken wollen. Heute würde er wohl eher enttäuschen. Etwas anderes, etwas Neues tun. Man könnte schon sagen: Ins kalte Wasser springen.Manuel musste über seinen Wortwitz schmunzeln. Er dachte an seine Liste. Und er versuchte, das Meer und die Gischt zu hören. Er wollte den Wind und den Regen spüren. Aber er hörte und spürte nichts, die Glocke war zu dick.
Ist das der Ausblick auf die Ruhe, die ich mir erhoffe?
Die Fähre war mittlerweile am Horizont verschwunden und das Leuchtfeuer am Dicken Eugen blitzte weiterhin in regelmäßigen Abständen auf. Manuel schaute wieder aufs Meer.
»Springst du nun endlich, oder was? In zehn Minuten kommt ein Junge her, der sollte dich hier nicht so zweifelnd antreffen. Das bringt den ganzen Zeitplan durcheinander, weißt du?«
Manuel war regelrecht erschrocken, als ohne Vorwarnung eine tiefe Stimme die Stille in seiner eigenen Glocke zerschnitten hatte. Beinahe wäre er dadurch abgestürzt.
Er konnte aber einen Satz nach hinten machen und sich dadurch aus der unmittelbaren Gefahrenzone retten. Keine zehn Meter entfernt sah er einen Mann vor sich stehen. Zumindest hielt er die Person für einen Mann.
»Und für 14 Uhr hat sich ein krebskranker Mann angekündigt. 87 Jahre alt, seine Frau ist letzte Woche gestorben. Der hat immer starke Entscheidungen im Leben getroffen und so wird er es auch jetzt tun. Mächtig beeindruckend, der Typ. Bei dir bin ich mir nicht so sicher, du bist jetzt erst einmal ein Problem.Das ist wie beim Domino-Spielen: Wenn ein Stein blockiert, stoppt der ganze Prozess. Dann muss ich wieder schauen, dass die Blockade gelöst wird.
Und das dauert. Dann bekomme ich Ärger, weil wir das Tagesziel nicht erreicht haben. Du willst doch jetzt nicht dieser beschissene Dominostein sein, der mir so viel Ärger bereitet, oder? Eben. Also, zieh’s nun schnell durch oder tritt zur Seite, der Junge ist nämlich sehr entschlossen.«
»Was? Welcher Junge? Und was für ein Problem bin ich?«
Manuel hatte zunächst gedacht, dass er träumte. Dann war er sich sicher gewesen, dass der Mann, der vor ihm stand, ein Seelsorger sein musste. Der Ort war für Vorhaben wie seines in der Gegend bekannt. Dann wiederum hatte der Mann mehr erzählt, als ein Seelsorger wissen konnte. Oder der mit diesem Wissen sicher anders umgehen würde, als die Situation einfach zu akzeptieren.
Manuel musterte den Mann nun genauer und zweifelte an der Seelsorger-Theorie. Er hatte dunkel geschminkte Augen und einen ungewöhnlich roten Mund. Mit all den Furchen und Grübchen im Gesicht schien der Mann sehr alt zu sein. Sehr, sehr alt.
Wie eine Mumie.
Er war in recht altertümliche Gewänder gekleidet. Über einem ockerfarbenen Hemd trug er eine braune Weste und einen mittellangen schwarzen Mantel. An seinen Fingern schimmerten allerlei bunte Ringe, zusätzlich führte er einen knorrigen Wanderstock und einen Ledersack mit sich.
Vielleicht ein sehr alter und exzentrischer Seelsorger?
»Wer ... wer bist du? Was redest du da alles? Dominosteine? Was für ein Junge kommt vorbei? Und warum? Um sich umzubringen? Vielleicht ist er nur durcheinander?«
Der Mann schmunzelte.
»Hm, das darf ich dir leider nicht sagen. Aber er wird es durchziehen, soviel ist sicher. Wer ich bin? Ich bin ich, er! Es freut mich, Manuel.«
Der Himmel über ihnen war dunkelschwarz. Nur ein kleiner Lichtkegel brach durch die Wolkendecke und erhellte die Szenerie. Der Mann machte eine ausladende Geste und verbeugte sich leicht vor Manuel. Die Situation hatte etwas Majestätisches, auch wenn es ihn gleichzeitig gruselte.
»Du ... du bist Gott? Woher kennst du meinen Namen? Bin ich tot, bin ich schon gesprungen?«
»Gott? Hahaha, ach nein, doch nicht er. Wieso denkt jeder von euch immer gleich an ihn? So gut sieht er nun auch nicht aus. Hast du ihn schon mal gesehen?«
Manuel schüttelte irritiert den Kopf.
»Weiße Haare, weißer Kittel, Lederschlappen. Er könnte auf Ibiza wohnen und es würde keinem dort auffallen. Der Kerl hat es echt drauf. Die Massen zieht er wie früher zwar nicht mehr an, aber seine Gefolgschaft ist noch recht groß und mächtig. Und das, obwohl doch viele seiner Aussagen fragwürdig sind, meinst du nicht auch?«
Manuel meinte es auch, konnte oder wollte aber nichts darauf in diesem Moment erwidern.
»Du musst nichts sagen, ich kann dein Gesicht lesen. Wie ein Buch. Ich weiß nicht, ob das mir schmeicheln soll oder ob ich mich über den begrenzten Verstand der Menschen schämen soll. Mich mit Gott zu verwechseln. Gott ist auch nur einer unter vielen. Wenn ich alle in seinem Rang aufzählen müsste, bräuchte ich wahrscheinlich so an die 7320 Paar Hände. Aber dass der sich so an die Spitze einer Bewegung geputscht, ich meine gepusht hat, ist schon beeindruckend. Ich hätte damals auch die Chance gehabt, aufzusteigen. Aber ich bin nicht so geltungsbedürftig. Ich agiere lieber im Hintergrund, als dass ich irgendwelche Tempel mit Fotos oder Statuen von mir haben möchte.
Du hast gefragt, wer ich bin: Ich bin Herr Gutermann.
Woanders bin ich als Engel bekannt. Manchmal auch als Dschinn. Als gute oder schlechte Fee, je nach Märchen.
Nach mir sind viele Buch- und Filmcharaktere entstanden.
Kennst du vielleicht den Gluhschwanz? Oder den Sandmann? Die Liste ist schier endlos. Und je nach Region werde ich etwas anders dargestellt. Äußerlich. Mit einer anderen Motivation. Oder einer anderen Vorgehensweise. Aber im Großen und Ganzen ist das egal.
Freunde und Bekannte wie Frau Holle oder Ahone nennen mich meist Griesgram oder Besserwisser. Ich bin mir aber mittlerweile sicher, dass sie das mit einem Augenzwinkern meinen. So ganz ohne sind die nämlich auch nicht. Haben’s faustdick hinter den Ohren. ›Schüttel die Decke‹? Du kannst mich mal. Ich weiß doch, wer da alles drin schläft. Nee nee. Aber nun zu dir: Ich habe das Gefühl, dass du deine Entscheidung in dem Moment, in dem du springst, bereuen wirst. Vielleicht bereust du schon, überhaupt hierhergekommen zu sein?«
Manuels Stirn legte sich in Falten. Er musste träumen. Frau Holle kannte er aus den Märchenbüchern seiner Kindheit. Ahone konnte er nicht einordnen. Aber das sollte nicht weiter Thema sein, denn er befand sich sicher in einem Traum.
»Nein, Manuel, du träumst nicht. Falls du daran zweifelst: Schau mal an dir runter. Bist du nass? Hat der Regen deine Kleidung aufgeweicht? Ich beantworte diese Fragen schon mal: Ja. Und das ist ein Zeichen, dass du nicht träumst.
Also, mit Blick auf den kleinen Mike, der hier gleich herradelt, bitte ich dich, nun zu mir zu kommen. Ich habe etwas Zeit, daher können wir uns ein bisschen unterhalten. Ich bin nämlich sehr gesellig, weißt du? Aber lass uns erst einmal vom Ort des Geschehens oder sagen wir mal lieber vom Ort des Ungeschehens weggehen.«
Manuel war sich immer noch sicher, dass er träumte.
Die Fragen und Antworten von diesem Mann hatten ihn nicht wirklich überzeugt. Aber was sollte er nun auch machen? Springen wollte er gerade tatsächlich nicht mehr, da hatte er – Herr wie? – recht. Und die unsichtbare Glocke um ihn herum existierte auch nicht mehr.
Er nahm das als gutes Zeichen, dass er nicht gesprungen war.Er machte an der Klippe kehrt und ging vorsichtig zu dem exzentrisch gekleideten Mann hinüber.
Herr Gutermann schmunzelte erneut.
Er streckte Manuel seine Hand voll glitzernder Ringe hin und öffnete seinen Mund. Mit seinen blutroten Lippen formte er ein unnatürlich großes Oval. Aus diesem strömte ein dicker, schwarzer Nebel, der ihn, Manuel und eine kreisrunde Fläche um sie herum sofort einhüllte.
Manuel überkam ein Schauer und zog schnell seine bereits ausgestreckte Hand weg. Er versuchte erfolglos, wegzurennen, aber seine Beine waren schwer wie Blei. Er wollte aus Verzweiflung schreien und um Hilfe rufen, aber auch das funktionierte nicht. Und dann hörte er aus dem Nebel nur noch eine Frage: »Wollen wir uns nicht setzen und unterhalten? Du brauchst keine Antwort geben, denn heute wirst du so oder so nicht sterben. Du hast also alle Zeit der Welt.«
Manuel hatte das Gefühl, dass der Nebel in seinen Mund, seine Nasenlöcher, seine Ohren und Augen strömte.
Er hatte das Gefühl, gleichzeitig zu erblinden und zu ersticken. Aber er konnte nicht weg, dafür waren seine Beine zu schwer.
Also akzeptierte er sein ihm unbekanntes Schicksal und griff nach Herrn Gutermanns ausgestreckter Hand.
Er hörte nur noch ein hysterisches, schrilles Lachen, dann wurde ihm schwindelig und er fiel zu Boden.
Eine gefühlte Ewigkeit später wachte er wieder auf.
Er saß aufrecht und mit einem klaren Kopf auf einer Parkbank. Auf einer zweiten Bank ihm direkt gegenüber saß der mysteriöse Mann, der ihn so urplötzlich an der Klippe angesprochen hatte.
Manuel wusste nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Der Blick auf seine Uhr ließ ihn aber verwirrt zurück:
Er saß nun hier, fernab von Klippen und Regen und trotzdem schien nicht allzu viel Zeit vergangen zu sein.
Manuel blickte um sich. Die zwei Bänke standen in einem kleinen Wäldchen, dahinter erstreckten sich unzählige Felder über sanft geschwungene Hügel. Der Himmel war bewölkt und grau. Die Umrisse der Sonne waren aber deutlich zu sehen. Es roch erdig und feucht, nach Wald. Der Boden unter den Bänken war trocken, seitlich von ihnen waberten aber halbtransparente Nebelwolken.
»Wo bin ich? Wo sind wir?«
»Erst einmal herzlich willkommen, Manuel. Ich habe dich in mein Wohnzimmer mitgenommen, ist es nicht schön? Ich komme hier sehr gern zum Nachdenken hin. Baba Jaga gefällt es nicht so, sie lädt zum Tee lieber zu sich ein. Verrückte Alte. Als ob ein Haus auf Hühnerbeinen gefälliger wäre. Es ist vor allem auch schwieriger, hineinzukommen. Bei mir ist alles ebenerdig, das ist doch besser, oder? Manchmal muss man ja mit Leuten im Rollstuhl sprechen. Oder mit jemandem, der gar keine Beine mehr hat, weil etwas schiefgelaufen ist. Aber das versteht die Gute nicht. Naja, jeder hat so seine Präferenzen, nicht wahr? Die Gespräche mit ihr sind doch immer sehr lustig.«
Ein Telefon klingelte. Manuel sah erschrocken um sich.
»Oh, warte kurz bitte, da muss ich ran.«
Herr Gutermann stand auf und lief zu einem weißen Stein neben seiner Bank. Er griff in eine Nische und hielt, zu Manuels Verwunderung, einen Telefonhörer in der Hand. Mit der anderen Hand griff er erneut in die Nische und zog eine lange Liste heraus. Den Hörer klemmte er nun zwischen Ohr und Schulter und holte einen Stift aus seinem Mantel.
Mit einem Ruck strich er einen Namen auf der Liste durch.
»In Ordnung, danke fürs Bescheid geben.«
Dann legte er auf und verstaute die Liste und den Hörer wieder in der Nische im Stein. Er drehte sich um und ging zurück zur Parkbank.
Manuel konnte Herrn Gutermanns Körpergröße überhaupt nicht einschätzen. An der Klippe hatte er das Gefühl gehabt, vor einem Riesen zu stehen. Nun machte sein Gegenüber einen geduckten, zwergenhaften Eindruck.
Während sich Herr Gutermann auf seinen Platz setzte, begann er wieder, zu seinem Gast zu sprechen: »Mike ist gerade gesprungen. Der Junge, von dem ich dir vorhin erzählt habe. Sehr mutig. Elf Jahre alt, er hatte noch einiges vor sich. Ich mochte ihn, aber er mochte sich nicht. Die Sexualität kam ihm ins Gehege. Oder vielleicht eher die veralteten Sichtweisen seiner Eltern? Da kann ich dann auch wenig machen. Schade drum.«
Manuel überlegte, ob er einen Jungen namens Mike kannte.
Meint er den Bauernsohn aus dem Nachbarort? Der heißt glaube ich so und ist ungefähr im gleichen Alter.
Manuel ergriff ein Schaudern. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er hier gelandet war. Und mit wem er da gerade sprach.
»Du bist nicht gesprungen, das ist gut. Oder auch schlecht, je nach Sichtweise. Fakt ist, dass du nicht gesprungen bist, weil du wohl Zweifel hattest. Das scheinst du öfter zu haben. Fakt ist aber auch, dass du springen wolltest.
Nun interessiert mich natürlich der Grund. Warum wolltest du deinem Leben ein Ende setzen? Ist es eine Frau? Ein Mann? Der Job? Schulden?Du kannst ehrlich mit mir sein. Weißt du, die meisten Tode sind für mich verständlich und daher begrüße ich jeden, den ich zu meinem Tor geleiten kann. Das Alter, Krankheiten, keine Auswege mehr.
Es gibt so viele Gründe. Natürlich gibt es auch viele Fehlentscheidungen. Bei dir habe ich daher so meine Fragezeichen. Erst warst du ganz entschlossen, dann scheu wie ein Reh. Erst hast du zufrieden gewirkt, dann warst du ängstlich. Ja, was ist denn nun? Warum hast du überhaupt diesen Plan gefertigt? Du bist nicht besonders dick oder hässlich, du hast einen Job, deine Blutwerte scheinen auch weitgehend im Normalbereich zu sein und du hättest bald deine Traumfrau gefunden. Wenn auch nur für die nächsten zehn Jahre, aber manche finden die große Liebe gar nicht. Also, was soll das übertriebene Wunschdenken? Kommt das aus den ganzen Serien und Liebesschmökern, die ihr Menschen euch zu Gemüte führt?«
Manuel wollte antworten, zumindest versuchen, eine Antwort zu formulieren. Ohne Erfolg.
»Und was das natürliche Sterben angeht: Wenn ich auf meiner Liste suche ... tauchst du erst auf Seite 1503 auf. Und das nach dem Update vom Februar, wohlgemerkt.«
Manuel war von seinem Gegenüber fasziniert. Irritiert auch, ganz klar. Aber vor allem war er fasziniert. Er hatte immer noch nicht verstanden, wer oder was dieser Herr Gutermann war, aber er fühlte sich in seiner Gegenwart nicht unwohl. Und obwohl es ein kalter, grauer Novembertag war und über Herrn Gutermanns Wohnzimmer dicke Wolken hingen, war Manuel wohlig warm. Auch die bleiernen Füße, die er noch an der Klippe gespürt hatte, waren verschwunden. Er atmete tief ein und schnaufte aus.
Dann zuckte er kaum sichtbar mit seinen Schultern und begann zu sprechen: »Du fragst nach dem Grund und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn dir gut zusammengefasst nennen kann. Ich habe das Gefühl, dass der Sinn des Lebens fehlt. Damit meine ich nicht speziell meinen eigenen, vielleicht auch den. Aber ich meine auch den Sinn allen Lebens. Warum arbeiten wir? Wir mühen uns 70, 80, 90 Jahre ab, um dann abzukratzen. Mühsam aufgebaute Firmen gehen den Bach runter, Existenzen enden. Was bringt das dann, überhaupt zu arbeiten? Warum wachsen Pflanzen? Wieso gibt es so viele unterschiedliche Tiere?
Was hat es für einen Sinn, dass es Berge und Täler und Flüsse und Wälder gibt? Das ist alles schön und gut, ich bin früher auch gerne im Wald spazieren gegangen. Aber wohin führt das? Was ist der Zweck des Ganzen?
Vor allem, wenn es gleichzeitig so viel Chaos und Zerstörung gibt. Kriege, Umweltverschmutzung. Wir essen Tiere, Tiere fressen sich gegenseitig. Irgendwie macht das doch alles keinen Sinn.
Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Die Welt ist sinnlos, alles scheint aus der Bahn zu laufen und das möchte ich nicht mehr miterleben. Ich will einfach meine Ruhe haben.«
Herr Gutermann musste schmunzeln.
»Also, da bin ich fast schon sprachlos. Ich muss kurz nachdenken, ob mir dieser Grund schon einmal untergekommen ist. Dass die Frage nach dem Sinn des Lebens von irgendwelchen Philosophen oder Universalgelehrten gestellt und diskutiert wurde und wird, ist klar. Aber als Grund, sich von der Klippe zu schmeißen? Weil Wölfe Rehe reißen? Weil Bäume in die Höhe wachsen und dann wieder gefällt werden? Oder weil die meisten Menschen arbeiten, obwohl sie wissen, dass sie irgendwann sterben? Meist hat es doch mit einem selbst zu tun. Oder mit jemand anderem.
Aber dass jemand die ganze Welt, zumindest diese Welt, bemüht, ...Ich muss mal Ahone fragen, was er davon hält. Aber nicht jetzt. Was fangen wir denn nun mit dir an? So einfach nach Hause gehen kannst du nicht. Ich bin ja nicht die Wohlfahrt. Und ich muss gleich schon zum nächsten Termin.«
Herr Gutermann erhob sich von seiner Bank und schritt langsam zu seinem Gegenüber.
Manuels wohlig warmes Gefühl verschwand sofort. Auch die Bäume um ihn herum schienen sich nun im Wind zu bewegen. In einer Pfütze neben der Bank landeten erste Tropfen aus einer dicken Regenwolke. Manuel verspürte einen kalten Lufthauch im Nacken.Als Herr Gutermann in seiner düsteren Erscheinung schließlich bei Manuel angekommen war, schauderte es ihn regelrecht. Er fragte sich, was nun als Nächstes passieren würde.Herr Gutermann führte seine rechte Hand zum Kinn und streichelte andächtig darüber. Seine Augen wurden schmal und spitz und fokussierten das menschliche Häufchen Elend vor sich. So stand er minutenlang vor seinem Gast und bewegte sich nicht. Herr Gutermann wirkte auf Manuel wieder wie ein Riese.Er wünschte sich, doch gesprungen zu sein.
Doch im nächsten Moment schmunzelte Herr Gutermann und ließ sich neben Manuel auf die Bank fallen. Der Regen stoppte so plötzlich, wie er eingesetzt hatte und auch der Wind hörte auf zu blasen.
»Ich möchte gern ein Spiel mit dir spielen. Spiel ist für dich vielleicht das falsche Wort, denn der Ausgang dieses Spiels hat Auswirkungen auf dich und dein Leben. Aber für mich ist es ein Spiel, denn wir sind ja nicht befreundet. Dafür kennen wir uns nicht gut genug.«
Herr Gutermanns Mimik ließ ihn schelmisch, fast schon spitzbübisch wirken. Seine bislang eher kleinen Augen vergrößerten sich um ein Vielfaches. Sein Mund verlängerte sich nach links und rechts und zog eine grinsende Furche in die Wangen. Und aus dem geöffneten Mund blitzten bläulich-weiße Zähne hervor. Manche scharfkantig wie ein Feuerstein, manche breit und kräftig wie ein Vorschlaghammer. Er rückte Manuel näher und legte ihm eine seiner kalten, aderigen Hände auf den Oberschenkel. Seine Haut wirkte unmenschlich, wie eine alte Eichenrinde, die von Flechten und Moosen durchzogen war. Manuel konnte Herr Gutermann nun riechen. Sein Geruch erinnerte ihn an eine Mischung aus Wurzelgemüse, Holz und Metall.
Ihn schauderte es erneut. Er machte eine regelrechte Achterbahnfahrt der Emotionen durch. Am liebsten hätte er nun Reißaus genommen. So, wie er es schon oft in seinem Leben getan hatte. Dass das hier aber nicht möglich war, wusste er. Ihm war die Erinnerung an seine bleiernen Füße an der Klippe ins Gedächtnis gebrannt. Also blieb er regungslos sitzen.
»Die Idee, die ich dir nun vorstellen werde, habe ich vor Kurzem bei einem ordentlichen Glas Portwein entwickelt. Im Hintergrund lief ein schöner Brahms und das Feuer im Kamin knisterte. Es war ein sehr schöner Abend. Und man sollte seine Fähigkeiten auch nutzen und weiterentwickeln, nicht wahr? Sonst verkümmert man im Alter.«
Manuel nickte schüchtern. Er fragte sich, wie alt wohl Herr Gutermann war.
»Schau mich nicht so an. Ich kann dir keine Zahl nennen. Hunderte, Tausende Jahre vielleicht. Ich kann mich nicht an den Tag meiner Ankunft erinnern. Aber ist das gerade so relevant? Verstehst du den Ernst der Lage?«
Manuel erschrak. Er erinnerte sich, dass ihn Herr Gutermann auf sein fehlendes Pokerface hingewiesen hatte. Daher versuchte er nun, neutral und unbekümmert zu schauen.
«Netter Versuch, Manuel. Aber ich habe sehr viel Erfahrung im Lesen von Gesichtern. Und du hast null Erfahrung im Verstecken deiner Emotionen und Gedanken.
Weglaufen kannst du wohl ganz gut, aber das meine ich nicht mit verstecken. Kurzum: Man sieht dir genau an, woran du denkst. Also konzentrier dich jetzt bitte auf das, was ich sagen möchte. Ich wiederhole mich nur ungern.«
Manuel nickte und erwiderte nichts.
«Na also. Ich erkläre dir jetzt mal das Spiel: Du wirst die nächsten sieben Tage jeden Tag ein anderes Leben führen. Wenn es dir dort gefällt, kannst du dort neu beginnen. Vielleicht gibt dir das mehr Sinn im Leben? Wenn dir das Leben dort nicht taugt, sprechen wir am Abend darüber und ich stelle dir eine andere Person vor. Und dann kannst du entscheiden, ob dir dieses Leben mehr taugt. Und so weiter und so fort. Sieben Tage, mehr nicht. Ich muss auch auf meinen Ressourcenaufwand achten. Die Auswahl muss natürlich mit Bedacht getroffen werden, aber dazu später mehr.«
»Sieben Tage? Aber was ...«
»Jetzt fragst du dich wahrscheinlich, was mit deiner Arbeit als Manuel und deinem Abschiedsbrief, deinem Leben insgesamt passiert: Keine Sorge, dein jetziges Leben wird für die Zeit eingefroren, da passiert also erst einmal nichts.
Wobei – kleiner Scherz am Rande – da so oder so nichts passieren würde.«
Manuel schüttelte mit dem Kopf. Er wollte darauf reagieren, aber Herr Gutermann fuhr direkt fort.
»Ich würde dir also am jeweiligen Vorabend die Person vorstellen, in die du am nächsten Tag schlüpfen wirst. Ich selbst bin auch immer irgendwo in der Nähe. Nicht als ich natürlich, du brauchst ja keinen Aufpasser oder so. Aber du wirst zu gewisser Zeit merken, dass ich irgendwo vor Ort bin. Da kann ich dir dann auch weitere Infos geben oder dich sonst wie unterstützen.«
Manuels starrte vor sich hin.
Bislang war es um sein Leben gegangen und nun sprach dieser Unbekannte von sieben anderen Leben. Er fand die Vorstellung schrecklich und gleichzeitig sehr interessant.
»Ich würde in eine fremde Person schlüpfen? Kann ich denn dann ...«
Aber Herr Gutermann unterbrach ihn sofort wieder.
»Was ich an der Stelle noch erwähnen möchte: Du wirst als die jeweilige Person agieren und reagieren, kannst aber auch als du selbst denken. Sonst würde der ganze Spaß gar keinen Sinn machen, nicht wahr? Und Sinnlosigkeit brauchen wir keine weitere. In dieser menschlichen Hülle werden also zwei Seelen sein, wobei du die Aktionen des Gastkörpers nicht beeinflussen kannst. Du kannst aber auch zu einem gewissen Maß den Körper verlassen und dich in der näheren Umgebung umsehen. Weglaufen ist aber nicht, das würdest du sofort merken. Was sagst du, haben wir einen Deal?«
Manuel überlegte. Er räusperte sich, setzte sich aufrechter hin und sah Herrn Gutermann an.
»Was wäre denn die Alternative?«
Herr Gutermann schmunzelte.
»Ertappt. Es gibt keine Alternative. Das ist bei so jemandem wie dir vielleicht auch gut, oder? Trotzdem brauche ich für das Spiel, für das Experiment, dein Einverständnis. Ich möchte nicht belangt werden, wenn etwas schiefläuft.«
Über die Köpfe der beiden flog wie aus dem Nichts ein großer, blauer Schwan und stieß einen lauten Schrei aus.
Manuel erschrak und duckte sich schnell weg.
Herr Gutermann dagegen schien davon unbeeindruckt. Er schob seinen Mantelärmel nach oben und schaute auf seine Armbanduhr.
»Schon so spät, wie die Zeit doch vergeht. Ich muss jetzt los, aber komme am frühen Abend zurück. Bleib doch einfach hier, mach es dir gemütlich und denk darüber nach. Du kannst mir dann heute Abend deine Entscheidung mitteilen. Ach so: Bitte geh nicht vor die Tür. Ich sagte zwar vorhin, dass meine Türen offen stehen, aber damit meinte ich für meine Freunde. Sobald du als Sterblicher einen Fuß vor die Tür setzt ... mach es am besten nicht, in Ordnung? Der Kühlschrank dort hinten ist voll, Getränke findest du auch. Liest du gern? Dann findest du dort hinten eine, wie ich finde, ganz gut ausgestattete Bibliothek.
Und gib dem Schwan bitte nichts zu fressen, der sorgt für sich selbst. Ich muss nun wirklich los. Bis später, Manuel.«
Herr Gutermann öffnete wieder seinen Mund zu einem großen Oval und der daraus strömende schwarze Nebel hüllte ihn sofort ein. In weniger als zwei Sekunden war Manuels Gastgeber aus dem Raum verschwunden.
Manuel sackte auf der Parkbank zusammen. Das war gerade definitiv zu viel für ihn gewesen.
Er hätte noch sehr viele Fragen an Herrn Gutermann gehabt und nun saß er hier. Allein. In einer fremden, unwirklichen Umgebung. Und keiner konnte ihm seine Fragen beantworten. Er dachte an das Motiv, das er Herrn Gutermann genannt hatte. Im Grunde stimmte es, er verstand den Sinn allen Lebens nicht.
Er dachte aber auch an seine Familie.
An die Glockenfabrik.
An seinen Job.
An all die Ungerechtigkeiten, die er erfahren musste.
An sein eigenes Leben, nicht nur das der ganzen Welt.
Träume ich? Ich sitze auf einer Bank im Nirgendwo.
Das ist doch kein Wohnzimmer. Das ist doch nicht real.
Er stand auf und lief ein paar Schritte ins Zentrum des Zimmers, dieses seltsamen Ortes. Der Boden, auf dem er stand, war trocken. Trotzdem sackte er mit jedem Schritt leicht ein. Er lief wie auf Watte. Manuel drehte sich um.