Herrenhaus - Gisela Witte - E-Book

Herrenhaus E-Book

Gisela Witte

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Beschreibung

Sophie, Anfang fünfzig, entflieht dem Alltag im Haus der Tochter und zieht in ein luxuriöses Herrenhaus zu Gleichaltrigen, die einen einträglichen Begleitservice betreiben. Ihre anfängliche Euphorie bekommt bald einen Dämpfer. Die Arbeit mit den Kunden ist schwieriger als gedacht, ebenso das Zusammenleben in der Villa. Täglich muss sie erleben, wie ihre Mitbewohner sich mit kleinkarierten Intrigen und Gemeinheiten gegenseitig bekämpfen. Im Laufe der Zeit fühlt sie sich immer mehr beobachtet, bis eines Tages ihr Appartement durchwühlt wird. Fast zu spät erkennt Sophie, dass sie in das Visier eines religiös-fanatischen Serienkillers geraten ist, der die Bewohnerinnen für ihren vermeintlich unzüchtigen Lebenswandel bestraft.

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Ähnliche


Gisela Witte

Herrenhaus

Psychothriller

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Die Autorin

1. Kapitel

Dieser Stadtteil war ihr fremd. Nur mit Hilfe des Navis hatte sie hierher gefunden. Sophie verglich die Hausnummer auf dem Zettel. Nein, sie hatte sich nicht in der Adresse geirrt. Durch die Stäbe des schmiedeeisernen Tores blickte sie auf ein Haus aus den Gründerjahren. Es leuchtete ihr weiß entgegen, mit Stuckverzierungen über den Fenstern, die sich bei näherem Hinsehen als Blumengirlanden herausstellten. Ein Türmchen auf der linken Seite ragte in die Höhe, bedeckt mit einem Kupferdach, das in einer Kugel endete. Ein Portikus, getragen von schlanken Säulen, führte zum Eingang. Beeindruckend auch der große, gepflegte Garten, der das Haus umgab. Das war alles wesentlich vornehmer, als sie es sich vorgestellt hatte − und auch ein wenig einschüchternd.

In der Straße war es so ruhig, dass sie die sanfte Brise in den Bäumen hörte. Eine himmlische Ruhe. In dem Miethaus in Kreuzberg, in dem sie wohnte, toste der Verkehr Tag und Nacht vor der Tür. Hier hingegen, im tiefsten Zehlendorf, holperte nur gelegentlich ein Auto über die kopfsteingepflasterte Straße.

Unentschlossen lief sie einige Schritte hin und her und spürte ihr Herz klopfen. Sie war nervös wie vor einem Bewerbungsgespräch. Und letztlich bewarb sie sich ja auch. Sollte sie lieber umkehren? Die Für- und Widerstimmen in ihrem Kopf lieferten sich heftige Kämpfe. Was, wenn die Hausbewohner sich als schrullig und unfreundlich herausstellten oder sie ablehnten? Lass die Dinge erst einmal auf dich zukommen, riet ihr die Vernunftstimme. Was hatte sie zu verlieren? Und sie konnte jederzeit gehen, wenn sie sich nicht wohlfühlte.

Sophie überprüfte ihren grauen Hosenanzug, mit dem sie sich stets passend angezogen fand. Keine Falte, kein Fleck. Auf Anraten ihrer Freundin Edith, die behauptete, sie würde immer aussehen, als ginge sie zu einer Beerdigung, hatte Sophie sich eine rote Seidenbluse zugelegt. Sie bückte sich und fuhr mit einem Papiertaschentuch über ihre schwarzen Lackpumps. Nun noch ein rascher Blick in den Spiegel ihrer Puderdose. Grüne Augen blitzten ihr entgegen. Diese sahen wesentlich unternehmungslustiger aus, als sie sich im Moment fühlte. Sie strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Nase konnte etwas Puder vertragen. Energisch klappte sie die Puderdose zu und ließ sie in ihre Tasche gleiten. Dann gab sie sich einen Ruck und drückte auf den Klingelknopf.

Schon nach kurzer Zeit ertönte der Summer und Sophie stieß das Tor auf. Die Steinfliesen führten zum Eingang, vorbei an den wie Pudel getrimmten Buchsbaumbüschen.

Die Haustür öffnete sich und eine Frau, etwa Anfang fünfzig, stand ihr gegenüber und musterte sie. Mit den blauen Augen, den vollen Lippen und dem schulterlangen dunklen Haar erinnerte sie Sophie entfernt an Liz Taylor, nur in einer wesentlich schlankeren Ausführung. Mit einer einladenden Geste gab die Frau die Tür frei.

»Ich bin Dorothea, die Inhaberin des Hauses. Herzlich willkommen«, sagte sie lächelnd, wobei ihre Zähne strahlend weiß aufblitzten. Sie ergriff Sophies Hand und drückte sie kräftig. Eine Frau der Tat, dachte Sophie, eine, die weiß, was sie will.

»Sophie Graefe.« Sie erwiderte das Lächeln.

»Sehr erfreut. Edith hat dich ja bereits angekündigt. Du hast doch nichts dagegen, dass ich dich duze? Wir duzen uns hier alle, wir sind nicht so formell.«

Sophie sah sich in der Halle um. Nirgendwo ein Stäubchen. Das Parkett war mit orientalischen Teppichen bedeckt und an den Wänden hingen Radierungen alter Städteansichten. Sogar die orangefarbenen Gladiolen standen in der Bodenvase stramm, wie Gardesoldaten.

Dorothea berührte sie leicht am Arm. »Ich hoffe, du bleibst zum Essen, dann kannst du uns gleich besser kennenlernen.«

Sie hakte Sophie wie eine vertraute Freundin unter und führte sie durch den Flur.

»Da kommt einer unser Mitbewohner. Hans kocht heute für uns. Wir sind in der Woche viel unterwegs und versuchen, wenigstens gelegentlich sonntags gemeinsam zu essen.«

Ein kleiner, drahtiger Mann flitzte grinsend an ihr vorbei und transportierte eine Wärmeplatte. »Hallo, schöne Frau, freut mich. Bin in Eile«, murmelte er.

»Ich werde dir jetzt erst einmal das freie Apartment zeigen.«

Sie kamen an der Sitzgruppe im Erker der Halle vorbei. In einem der schwarzen Ledersessel saß ein großer, dünner Mann mit einer randlosen Brille und vollem braunen Haar und las. Sein nadelgestreiftes Hemd wirkte so steif gestärkt, als könnte man es aufstellen. Einen Moment lang musterte er sie.

»Albert war früher Bankkaufmann, heute ist er Bücherwurm.« Dorothea kicherte wie ein junges Mädchen.

Er stand auf, verbeugte sich leicht und gab Sophie die Hand. »Sehr angenehm, wirklich sehr angenehm«, murmelte er.

Sophie spürte seinen Blick noch im Rücken, während sie Dorothea hinterhereilte. Welchen Eindruck mochte er von ihr gewonnen haben?

Dorothea legte auf der gewundenen Treppe nach oben unerwartet ein gutes Tempo vor. Sophie hatte Mühe, ihr zu folgen. In der ersten Etage angekommen, drehte sich Dorothea um und sagte ohne das geringste Anzeichen von Atemnot: »Das gehört zu meinem täglichen Fitnessprogramm.«

Sie deutete mit dem Zeigefinger in die Runde.

»Wir Frauen wohnen übrigens alle hier im ersten Stock«, sagte sie, während sie eine der Türen aufschloss.

»Das hier wäre dein Reich. Es ist schon eine Weile unbewohnt, weil wir niemanden gefunden haben, der zu uns gepasst hätte.«

Sophies Blick wanderte über den glänzenden Parkettboden, die weiß gestrichenen Wände, den Stuck an der hohen Decke bis zu dem geräumigen Erker. Eine Tür führte in einen kleineren Raum, der sich als Schlafzimmer anbot.

»Den Schrank hier hat deine Vorgängerin zurückgelassen. Ich hoffe, du hast Verwendung dafür.« Dorothea zeigte auf einen hellen Jugendstilschrank.

Von dem kleinen Zimmer führte eine weitere Tür zu einem Bad. Sie würde ein eigenes Badezimmer haben! Keine Wartezeiten mehr! Und sie müsste nicht länger den täglichen Anblick zahlloser Waschlappen, Gummifrösche und -enten der Enkel ertragen und auch nicht länger über volle Wäschekörbe stolpern. Sie könnte sich endlich teure Seife zulegen, die sie nicht aufgeweicht im Waschbecken wiederfinden würde und ihre Handtücher würden nicht ständig feucht auf dem Boden herumliegen.

Sophie ging mit Dorothea in den großen Raum zurück.

»Was für schöne, helle Räume. Einfach traumhaft«, sagte sie mit Begeisterung in der Stimme, als sie sich zu Dorothea umdrehte.

Sophie schritt über das knarrende Parkett zum Fenster und schaute in die leuchtenden Baumkronen. Von hier aus blickte sie auf den hinteren Teil des Gartens. Ein Zaun, an dem üppig blühende Heckenrosen wucherten, begrenzte das Grundstück. Eine Holzpforte führte auf einen schmalen Weg nach draußen.

»Von der Tür dort«, erklärte Dorothea, »geht es zum Wirtschaftsweg, wie er früher genannt wurde. Man kommt an den Gärten vorbei. Sehr angenehm zum Spazierengehen.«

Dorothea warf einen schnellen Blick auf ihre Uhr.

»Wir sollten uns sputen. Ich schätze, dass im Speisesaal schon alle auf uns warten. Das Essen wird gleich serviert. Lass uns runter gehen«, sagte sie und verließ das Apartment. Sophie folgte ihr die Treppe hinab.

Ein lebhaftes Durcheinander von Stimmen erfüllte den Speisesaal. Sophie blieb einen Moment an der Tür stehen, um das Bild, das sich ihr bot, wirken zu lassen. Die Flügeltüren zur Terrasse waren weit geöffnet und der Duft von frisch geschnittenem Gras wehte vom Garten herein.

Die Bewohner des Hauses saßen an einer langen Tafel, gedeckt mit weißen Tellern, Kristallgläsern und blinkendem Silberbesteck. Sie blickte in die Runde und begegnete freundlich lächelnden Gesichtern. Alle begrüßten sie herzlich. Hans trug gerade den Salat auf.

Sophie dachte an die Familienessen zu Hause, an den bekleckerten Tisch, umstürzende Gläser, die Brotkrümel, das Gezänke der Enkelkinder, ihre verschmierten Münder, das ständige Geplappere. Was die Familie bei Tisch betrieb, konnte man allenfalls als gierige, laute Nahrungsaufnahme bezeichnen, als ginge es ums Überleben. Hier hingegen legte man Wert auf Esskultur, es wurde getafelt.

»Darf ich dir alle vorstellen: Edith kennst du ja aus deiner Salsagruppe.« Edith sprang auf und umarmte Sophie. »Schön, dass du gekommen bist.« Sie begutachtete Sophie aus einer Armeslänge Entfernung. »Und beim Friseur warst du auch. Der Pony steht dir gut, macht dich viel jünger. Komm, setz dich.«

Albert stand auf, rückte Sophie mit Grandezza den Stuhl zurecht und beugte sich zu ihr nieder.

»Krankheiten sind bei Tisch kein Thema«, flüsterte er ihr verschwörerisch zu. »Dorothea mag das nicht.«

»Und die Dame, die rechts neben Edith sitzt, ist Mara«, fuhr Dorothea fort.

Mara war eine kleine, schlanke Person mit einem dunklen Pagenkopf und grauen Augen hinter Brillengläsern. Sie nickte verhalten lächelnd und sah Sophie neugierig an. Neben ihr wirkte Edith mit ihren krausen roten Haaren und ihrer lebhaften Gestik geradezu explosiv.

Das Gespräch drehte sich um die Ereignisse der vergangenen Woche. Mara berichtete von einem Theaterbesuch.

»Es war hilfreich, dass wir vorher über die neue Inszenierung gesprochen hatten. So konnte ich meinen Begleiter mit meinem Wissen beeindrucken.«

Mara wandte sich an Sophie. »Wir besuchen ständig kulturelle Veranstaltungen«, erklärte sie.

Hans servierte jetzt den Hauptgang. Er machte einen dynamischen, sportlichen Eindruck. Mit federnden Schritten transportierte er nacheinander eine Platte mit aufgeschnittenem Braten, Kroketten und eine Schüssel mit grünen Bohnen. Während des Essens musterte Sophie die Anwesenden unauffällig. Alle sahen sehr gepflegt und auf ihre Weise attraktiv aus.

»Das schmeckt wie immer super, Hans«, rief Edith enthusiastisch aus und die anderen pflichteten ihr bei. Hans lächelte erfreut.

Als letzter Gang kam eine Platte mit Feigen, Melone und Käse auf den Tisch.

»Das Essen war köstlich und dazu noch in so angenehmer Gesellschaft«, sagte Sophie und tupfte sich mit der Damastserviette die Mundwinkel.

Dorothea räusperte sich und klopfte mit dem Löffel an ihr Glas. »Sophie, magst du etwas über dich erzählen? Wir sind neugierig und würden gern mehr über dich erfahren.«

Sophie sortierte ihre Gedanken. »Wo fange ich an? Ich bin dreiundfünfzig.«

Von der Tischrunde kamen bewundernde Ausrufe wie: »Nicht möglich. Das sieht dir kein Mensch an« oder »Unglaublich gut gehalten!«

Sophie fuhr fort: »Vielen Dank. Nach einem Jahr Sprachstudium in Rom und einem in London habe ich ein Studium als Dolmetscherin und Übersetzerin absolviert. Gleich danach habe ich geheiratet und war hauptberuflich Hausfrau und Mutter. Außerdem habe ich meinen Mann bei seiner Karriere als Schulleiter unterstützt. Als er vor drei Jahren starb, bin ich zur Familie meiner Tochter gezogen. Ich fürchtete mich davor, allein zu leben. Aber dieser Umzug hat sich schnell als ein großer Fehler herausgestellt. Ich hatte mir das Zusammenleben wesentlich weniger anstrengend und zeitaufwändig vorgestellt. Um die Kinder zu versorgen, habe ich das Dolmetschen aufgegeben und mache nur noch Übersetzungen, die ich zuhause erledigen kann. Manchmal muss ich dafür Nachtschichten einlegen. Meine Tochter und mein Schwiegersohn erwarten, dass ich, wann immer es ihnen beliebt, den Babysitter für meine beiden kleinen Enkel spiele. Dabei habe ich weiß Gott in meinem Leben meinen Anteil an Familienpflichten und Mütterlichkeit erfüllt, reichlich.« Sie seufzte. Die Runde reagierte mit mitfühlendem Murmeln.

»Und was erhoffst du dir von uns?«, fragte Mara.

»Nachdem ich immer für andere sorgen musste, will ich endlich etwas für mich tun. Ich will meinen Interessen nachgehen können, das Leben genießen. Aber ich gehe nicht gern allein aus und mag auch nicht allein leben. Wie viele Frauen habe ich leider während meiner Ehezeit meine Freundschaften vernachlässigt.«

Sophie schwieg einen Moment und schaute alle nacheinander an. »In einer Wohngemeinschaft erhoffe ich mir einen lebendigen Gedankenaustausch und Gesellschaft. Aber natürlich brauche ich auch meinen Freiraum und meine Unabhängigkeit.«

Alle hatten ihr konzentriert zugehört und sie ausreden lassen. Auch das war in der Familie anders. Jeder plapperte vor sich hin, Gespräche ergaben sich nur mit Unterbrechungen, weil regelmäßig größere und kleinere Katastrophen passierten. Umso mehr genoss Sophie die ungeteilte Aufmerksamkeit. »Wir verstehen genau, was du meinst«, antwortete Dorothea. »Ich würde nicht mit meiner Tochter und Enkelkindern unter einem Dach wohnen wollen. Anderseits will keiner von uns allein leben. Jeder von uns hat die Erfahrung gemacht, wie schwer das ist. Besonders nach Trennungen oder wenn der Partner verstorben ist. Wir wissen, was wir aneinander haben.«

Dorothea sah in die Runde und Edith und Hans nickten zustimmend.

»Genau«, sagte Albert. »Kann ich bestätigen.«

»Also«, fasste Dorothea zusammen, »wenn du ein aktiver, kulturell interessierter Mensch bist, der am Leben Anderer Anteil nimmt und es dir nichts ausmacht, häufiger auszugehen, dann bist du hier richtig.« Sie schenkte Sophie ein strahlendes Lächeln.

Wieso sollte es Sophie etwas ausmachen, interessante Dinge zu erleben? Danach sehnte sie sich geradezu. Sie sah sich im Kreis von Gleichgesinnten Abende mit anregenden Gesprächen verbringen. Sie würden Galerien, Museen und Konzerthallen oder auch ein Restaurant besuchen und im Garten gemeinsam Kaffee trinken. Die Mitbewohner würden ihre Befindlichkeiten und Sorgen verstehen, ohne dass es langer Erklärungen bedurfte.

»Allerdings«, fuhr Dorothea zögernd fort, »gibt es da noch etwas, das wir besprechen müssen.« Sie fixierte Sophie. »Es handelt sich um die wichtigste Grundlage unseres Zusammenlebens.« Dorothea hielt einen Augenblick inne. »Hast du schon mit ihr darüber gesprochen?«, wandte sie sich an Edith. Diese schüttelte den Kopf. Dorothea fuhr fort: »Vor etwa neun Jahren verunglückte mein Mann bei einem Verkehrsunfall und hinterließ mir einen Berg Schulden. Ich zog wieder hier in dieses Haus. Kurz danach starb auch mein Vater. Es war sein Wunsch, das Haus im Familienbesitz zu lassen und nicht zu verkaufen. Die meisten Zimmer hatte er vermietet. Allerdings musste ich feststellen, dass die Mieten nach Lust und Laune eingingen. Außerdem war das Haus in einem desolaten Zustand. Ich vermietete die Zimmer an zuverlässige Leute, aber dennoch reichten die Einkünfte nicht aus. Selbst nicht für die notwendigsten Kosten. Das Dach musste neu gedeckt werden, die Wasserleitungen erneuert, der Gärtner bezahlt. Was sollte ich tun? Das Haus verkaufen?«

Sie zögerte einen Moment. »Das wollte ich auf keinen Fall. Ein Haus verkaufen, das meine Familie schon in dritter Generation bewohnt, in dem ich aufgewachsen bin. Jeder Quadratzentimeter ist mir vertraut.« Dorothea stieß einen Seufzer aus, der alle Katastrophen zu enthalten schien, die ihr das Leben je zugefügt hatte. »Also haben meine Mieter und ich Kriegsrat gehalten und uns lange überlegt, wie wir zu Geld kommen können. Es ging ja auch darum, unser gemeinsames Heim zu erhalten. Auf dem Arbeitsmarkt wird es schwierig, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat. Aber schließlich fanden wir eine Lösung, von der jeder profitiert.«

Dorothea sah Sophie an, als wolle sie diese hypnotisieren und fuhr fort: »Wir sind auf die Idee gekommen, einen Senioren-Begleitservice für höhere Ansprüche zu gründen. Gegen ein Honorar begleiten wir begüterte ältere Damen und Herren ins Theater, zum Essen, Kaffeetrinken, manchmal auch zu Familienfeiern. Wir informieren uns laufend über die Veranstaltungen in der Stadt, über neue Bücher und Restaurants. Auch bemühen wir uns um eine angenehme, gepflegte Erscheinung und erstklassige Umgangsformen. Es gibt viele einsame Menschen in der Stadt. Der Begleitservice für Ältere hat sich als eine Marktlücke herausgestellt. Wir sind sehr gefragt. Ich kann dir sagen, der Laden läuft.« Dorothea lächelte breit.

»Wir sind aber auch Spitze«, rief Edith dazwischen.

»Und wir profitieren auch persönlich davon, in vielerlei Hinsicht«, fuhr Dorothea fort. »Nach einer kurzen Einarbeitungszeit müsstest du mindestens zweiundzwanzig Stunden in der Woche für den Service zur Verfügung stehen. Die eine Hälfte des Verdienstes gehört dir, die andere gilt als Hausgeld und Miete.«

Sie blickte Sophie eindringlich an. »Na, was meinst du?«

Sophie saß mit offenem Mund da. Mit allem hatte sie gerechnet, nur damit nicht. Alle sahen sie erwartungsvoll an. Keiner regte sich. Sophie wandte sich Edith zu. Aber die wich ihrem Blick aus, ergriff ihr Wasserglas und trank es leer, als sei sie am Verdursten. Warum hatte Edith nichts von dem Begleitservice erwähnt? Die Antwort lag auf der Hand. Sie wusste, dass sie sofort abgelehnt hätte, weil solch eine Arbeit nicht für sie infrage kommen würde. Jetzt, vor Ort, in Gegenwart dieser freundlichen Menschen, in einem Haus, das so viel Eleganz und Gediegenheit ausstrahlte, hatte die Aufgabe, die sie erwartete, erstaunlicherweise viel von ihrer Anrüchigkeit verloren.

Erinnerungen an die Aktivitäten in ihrer Jugendzeit und an die Sportcamps, an denen sie in ihrer Ehezeit teilgenommen hatte, tauchten auf. War sie nicht immer interessiert an allem Unbekannten gewesen? Die Lust auf Abenteuer erwachte wieder in ihr. Hier in diesem Haus boten sich neue Erfahrungen ohne Ende.

Dorothea wiederholte geduldig ihre Frage: »Könntest du dich mit dem Gedanken anfreunden, hier zu leben und zu arbeiten?«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Natürlich bin ich überrascht«, antwortete Sophie zögernd. »Da suche ich nach einem Zimmer in einer Wohngemeinschaft und bekomme gleichzeitig einen Job angeboten.«

»Es sind ja wie gesagt nur etwa zweiundzwanzig Stunden. Für deine Übersetzungen bleibt dir genügend Zeit. Obwohl der Verdienst hier zum Leben reicht, haben fast alle von uns noch einen anderen Job. Außerdem wohnst du, wie du sicher schon bemerkt hast, in einem äußerst luxuriösen Rahmen und kannst natürlich die Gemeinschaftsräume und den Garten nutzen.«

»Sind einige eurer Kunden nicht schwierig? Und was für Probleme kann es geben? Ich habe Mühe, mir die Arbeit in der Praxis vorzustellen.«

Jetzt redeten alle durcheinander.

»Wenn jemand respektlos mit mir umgeht, kriegt er erst was von mir zu hören und wird dann aus der Kartei geschmissen. Außerdem trennen wir strikt den Job von unserem Privatleben: Kunden kommen uns nicht ins Haus und persönliche Beziehungen mit ihnen sind streng untersagt«, sagte Mara und sah Dorothea grimmig an.

»Ihr wollt damit sagen, dass diese Art von Kundenbetreuung seriös ist?«

»Natürlich ist sie das!«, rief Edith aus. »Was denkst du denn? Meinst du, ich würde sonst so einen Job machen? Oder findest du mich vielleicht unseriös?«

Sophie musterte Ediths rote Bluse mit den schwarzen aufgedruckten Kätzchen und ihre Ohrringe mit den Herzchenanhängern und musste lachen. Auch die anderen stimmten in das Lachen ein.

»Glaub mir, Sophie«, sagte Edith. »Das ist ein spannendes Leben: Du hast mindestens drei Verabredungen in der Woche. Du bist kulturell auf dem Laufenden, weil du dich natürlich über die Inhalte der Veranstaltung informieren musst. Aber die Kunden bezahlen die Zeit, die du mit ihnen verbringst und dazu die Eintrittskarten. Außerdem trifft man häufig auf interessante, kultivierte Menschen.« Sie dachte einen Moment nach und fuhr fort: »Und du tust was Gutes, du nimmst einigen ihre Einsamkeit, gibst ihnen neuen Lebensmut. Wenn es gut läuft, kann es sogar gelingen, das Leben der Menschen nachhaltig positiv zu verändern.«

»Manchmal ist es Sozialarbeit und Seelsorge zugleich, ein Job wie jeder andere, aber mit sehr viel mehr Verantwortung«, stimmte Hans zu.

Von diesem Gesichtspunkt hatte Sophie den Nutzen eines Begleitservice noch nie betrachtet.

»Genau so ist es«, bestätigte Dorothea. »Und wenn es Probleme gibt, helfen wir dir. Du bekommst Rat und Hilfe in unseren Teamsitzungen.«

»Nun«, meinte Sophie und zögerte einen Moment, während alle Augen auf sie gerichtet waren.

Da klingelte aus dem Nachbarraum das Telefon. Dorothea sprang so heftig auf, dass der Stuhl umstürzte.

»Entschuldigt mich«, sagte sie, »auf den Anruf habe ich gewartet.« Als sie die Tür öffnete, konnte Sophie in ein kleines Büro sehen.

Für einen Moment war es still im Raum, nur die erregte Stimme von Dorothea war gedämpft durch die Tür zu hören. Nach wenigen Minuten kehrte Dorothea in das Esszimmer zurück und setzte sich. Sie atmete schwer. Es dauerte einen Moment, bis sie sich gefasst hatte.

»Entschuldigt bitte die Unterbrechung, aber das Telefonat war wichtig. Was meinst du Sophie, könntest du dich mit dem Job anfreunden? Du musst dich nicht gleich entscheiden.«

»Euer Projekt finde ich äußerst spannend. Und ich bin sicher, dass ich mich hier wohlfühlen könnte«, sagte Sophie nach einem Moment. »Aber gebt mir bitte etwas Zeit zum Nachdenken. Und auch ihr wollt ja vermutlich darüber beraten, ob ich hierher passe.«

Sophie erhob mit den anderen ihr Weinglas. Die Gläser klangen aneinander. Nur Albert stieß mit einem Glas Cola an. Sophie blickte in die Runde freundlicher Gesichter.

»Wir werden abstimmen. Du hörst von mir in etwa zwei Tagen«, sagte Dorothea. Sie sah auf ihre Uhr.

»Ich muss noch was Wichtiges erledigen.« Seufzend stand sie auf.

»Ich muss auch gehen«, meinte Sophie.

Alle begleiteten Sophie zur Haustür und verabschiedeten sie herzlich.

Auf dem Weg zum Gartentor sah Sophie einen kleinen, untersetzten Mann, etwa Anfang dreißig, der die Hecke schnitt. Sie grüßte ihn. Er sah sie aus tief liegenden Augen mit buschigen Brauen an und murmelte etwas Unverständliches. Als sie sich umdrehte, um das Tor hinter sich zu schließen, stand er noch immer reglos da und starrte ihr hinterher.

Bevor Sophie sich in ihren Audi setzte, der vor der Tür parkte, warf sie einen Blick zurück auf das Haus. Die Abendsonne ließ die Fassade hell aufleuchten. Dies war kein gewöhnliches Haus. Es war ein Ort, an dem sich ihre Sehnsucht nach Austausch, Freundschaft und Abwechslung erfüllen könnte. In diesem Moment war sich Sophie hundertprozentig sicher: Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dort zu leben. Die freundlichen Bewohner, die hellen, gepflegten Räume, der weitläufige Garten. Und dann die reizvolle neue Aufgabe. All das würde ihr Leben interessanter machen, viel interessanter, als es je gewesen war.

2. Kapitel

Warum hatte sie sich ihr ganzes Leben lang so angestrengt, es allen recht zu machen? Kommt her, die ihr mühselig und beladen seid. Ich tue alles, nur, damit ihr euch besser fühlt. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Ihr müsst mich nur liebhaben. Immer bescheiden, immer fröhlich. Das war ihr unausgesprochener Leitsatz gewesen.

Sophie hatte ihr eigenes Geld in einem anspruchsvollen Beruf verdient, aber um Gottes willen nicht zu viel – bloß nicht mehr als ihr Mann. Das hätte ihn kränken können. Selbstverständlich war sie auch eine umsichtige Hausfrau, die ihren Lieben keine Mitarbeit im Haushalt zumutete und ihnen zu festen Zeiten gesunde Kost vorsetzte. Der Tochter Klara war sie stets eine aufmerksame, liebevolle Mutter gewesen, die eigene Wünsche zurücksteckte. Nie wurde ihr etwas zu viel. Nie hatte sie sich beklagt. Weshalb sollte sie auch? Sie tat ja nur ihre Pflicht.

Sie wäre sich kleinlich vorgekommen, Forderungen zu stellen. Da hätte sie sofort das Bild eines nudelholzschwingenden Hausdrachens mit Lockenwicklern vor Augen gehabt. Doch allmählich reifte in ihr der Gedanke, dass sie auch Bedürfnisse haben und sie ausleben durfte.

Das erste Mal war sie während einer Kur aus der Rolle der braven Ehefrau ausgebrochen. Daran erinnerte sie sich gerne. Sie war dem klassischen »Schatten« begegnet, einem freundlichen, gebildeten diskreten Mann. Für sie beide war es eine wohltuende Auszeit von Ehe und Familie gewesen.

So war sie auf den Geschmack gekommen, mehr Zeit für sich zu beanspruchen und andere Männer wieder wahrzunehmen. Nachdem die Tochter das Teenageralter erreicht hatte, gestatte sie sich zweimal im Jahr eine Pause vom Familienleben.

Es hatte ganz harmlos angefangen, mit einem Seminar über Aquarellmalerei und kreativem Schreiben. Aber sie fühlte sich zu unruhig und getrieben, um derartige ruhige Tätigkeiten genießen zu können. Daraufhin begann sie Tennis zu spielen, gefolgt von Reiten. Aber das genügte ihr nicht. Sie wollte sich beweisen, brauchte den Reiz des Abenteuers. So probierte sie sich in risikoreicheren Sportarten aus, wie Bergsteigen, Surfen, Wildwasserfahren mit dem Kanu, Tauchen. In den Sportcamps fand sie Gleichgesinnte, mit denen sie sich austauschen konnte. Gelegentlich ließ sie sich auch ohne jegliches Schuldgefühl auf eine Affäre mit einem Mann ein.

Danach kehrte sie mit leisem Bedauern in ihr reales Leben zurück. Wenn sie ihrem Mann von erklommenen Höhen, rauschendem Wildwasser und den interessanten Menschen in den Sportcamps erzählte, lächelte er milde und strich ihr über den Arm. Schon damals war ihr klar geworden, dass ihr in ihrem Alltagsleben etwas Wesentliches fehlte: die Herausforderung, das Neue, die Veränderung. Ihre abenteuerlichen Reisen waren ein Ersatz gewesen – wenn auch ein unvollkommener.

Was mache ich eigentlich hier?, dachte sie, als sie wie jeden Abend den Tisch deckte. Warum funktioniere ich wie eine gut geölte Maschine?

Sie hatte das Familienleben satt, es musste sich grundlegend etwas ändern. Täglich hasste sie die Routine der Hausarbeit und die gemeinsamen Mahlzeiten mit der Familie mehr.

Selbst Klara, deren Einfühlungsvermögen nicht gerade ausgeprägt war, hatte neulich gefragt: »Du siehst unzufrieden aus. Ist was mit dir?«

Aber das war eine rein rhetorische Frage gewesen. Im Grunde interessierte sich die Tochter nicht dafür, was Sophie dachte oder fühlte. Es lag einzig in deren Interesse, den Status quo zu erhalten.

Sie sah aus dem Fenster. Die Sonne zerfloss zu einem prachtvollen Abendrot. Der Tag verschwand dahin, wohin alle Tage verschwunden waren. Keinen einzigen würde sie je zurückbekommen.

Vier Tage war es her, dass sie sich vorgestellt hatte. Der Gedanke an das schöne Haus mit seinen freundlichen Bewohnern ließ sie nicht mehr los. Dort könnte sie ein spannendes, ein freies Leben führen, ganz anders als im Moment. Sollte sie nachfragen, ob schon eine Entscheidung gefallen war?

Das Telefon klingelte. Sie rannte in den Flur, bevor die Enkelkinder wieder herbeistürzten und sie ihnen den Hörer abjagen musste. Am Apparat war ein Institut, das Verbrauchergewohnheiten abfragen wollte. Sophie beendete kurz angebunden das Gespräch, starrte einen Moment lang auf den Hörer und schlich in ihr Zimmer. Ihre Enttäuschung war so groß, dass ihr schwindlig wurde. Sie legte sich auf ihr Bett und atmete tief durch.

Vermutlich konnte sie sich ihr Traumhaus und den dazugehörigen Job abschminken. Hatte die Hausbesitzerin nicht deutlich gesagt, dass sie schon seit einiger Zeit nach einem passenden Mitbewohner suchten? Warum sollte man ausgerechnet sie auswählen?

Sie musste eingenickt sein, denn sie wachte davon auf, dass es an der Tür klopfte.

»Telefon für dich«, hörte sie Klara. Sophie stolperte in den Flur, nahm den Hörer in die Hand und meldete sich benommen.

»Hallo Sophie«, sagte Dorothea Höfner. »Ich rufe erst jetzt an, weil ich am Wochenende verreist war.«

Sophie war mit einem Schlag hellwach. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Würde sie eine Absage bekommen?

»Wir haben abgestimmt.«

Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. Die Hand, in der Sophie den Hörer hielt, wurde feucht. Dorothea machte es spannend, wann rückte sie endlich mit einer Antwort heraus? Da fuhr Dorothea fort. »Wir alle sind davon überzeugt, dass du gut zu uns passen würdest. Was meinst du?«

»Das ist wunderbar. Ich hatte sehr gehofft, ihr würdet euch für mich entscheiden.«

»Gut, dann sind wir uns einig. Wann kannst du einziehen?«

Sophie geriet ins Stottern. »Äh … vielleicht schon am Ersten?«

»In Ordnung. Hast du morgen Vormittag Zeit, vorbei zu kommen, damit wir die Einzelheiten besprechen und einen Vertrag aufsetzen können?«

Nachdem sie aufgelegt hatte, tanzte Sophie aufgeregt den Flur entlang. Es hatte geklappt! Sie hüpfte in ihr Zimmer, setzte sich auf den Sessel und sah durch das Fenster in den purpurnen Abendhimmel. Ihre Hände zitterten. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sich ihr Leben in solch einem rasanten Tempo verändern würde. Jetzt musste sie nur noch der Familie ihre Entscheidung verkünden, möglichst diplomatisch. Davor fürchtete sie sich. Sie hatte bereits das vorwurfsvolle »Du-kannst-doch-nicht-einfach …« ihrer Tochter im Ohr.

3. Kapitel

Robert Thieme lief durch die Halle und stellte den Kasten mit dem Mineralwasser in der Küche ab. Auf der Treppe hörte er Schritte. Er schlich in den Flur und spähte um die Ecke. Da sah er sie, wie sie gerade das Haus verließ: die neue Mieterin. Vor einigen Tagen war sie in das freie Apartment eingezogen. Hinter der Hecke verborgen hatte er beobachtet, wie ihre Möbel ausgeladen wurden. Alles antike Stücke, soweit er sie beurteilen konnte, sehr edel. Sie hatte in der Einfahrt gestanden und den Packern Anweisungen gegeben.

Robert hastete zum Tor und sah ihr nach. Die Frau sah anständig und solide aus in ihrem grauen Hosenanzug, der hochgeschlossenen weißen Bluse und den akkurat geschnittenen, schulterlangen blonden Haaren. Dazu völlig ungeschminkt – soweit er aus der Entfernung beurteilen konnte. Er würde sie Lady nennen, obwohl er ja inzwischen ihren richtigen Namen kannte. Lady passte genau.

Kein Vergleich mit dem rothaarigen, bunt angezogenen Flittchen, dieser Edith, die neben ihr wohnte. Immerzu kicherte sie, als sei das Leben ein einziger Spaß. Albernes Weibsbild. Auf die hatte er keinen Einfluss mehr, für die war es zu spät, gerettet zu werden. Das Gleiche galt für die beiden anderen aufgetakelten Damen, die hinternwackelnd durch das Haus stöckelten. Auch die Männer interessierten ihn nur am Rande. Jedes Mal, wenn sie sich näherten, erkannte man sie am Geruch ihres Rasierwassers. Es trieb einem fast die Tränen in die Augen. Aber das konnte er ihnen natürlich nicht als Sünde anrechnen.

Der Vater von Dorothea Höfner hatte, so erzählte der Briefträger, schon immer Zimmer vermietet. Aber die jetzigen Bewohner waren nicht nur zahlende Mieter. Das spürte er deutlich. Sie waren auf eine andere Weise miteinander verbunden, die er nicht durchschaute. Aber er würde noch dahinterkommen.

Jetzt stieg die Lady in ihren kleinen roten Audi, bog um die Ecke und entzog sich seinen Blicken. Sie wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Manchmal fehlte ihm jemand zum Reden. Er wünschte, sie kämen miteinander ins Gespräch. Dabei dachte er an alltägliche Dinge wie Gesundheit, Gartenpflege oder Kochrezepte. Und wenn sie sich besser kannten, könnte er auf das zu sprechen kommen, was ihm am Herzen lag. Er würde behutsam versuchen, die Lady von einer gottgefälligen Lebensführung zu überzeugen, um sie vor allem Schlechten und Verderblichen zu bewahren. Auf keinen Fall sollte sie sich vom Benehmen der anderen Hausbewohner beeinflussen lassen und so oberflächlich, überheblich und sündhaft werden wie diese.

Er lief zum hinteren Teil des Hauses und setzte sich auf die Holzbank neben der Tür zu seiner Wohnung.

Bilder gingen ihm durch den Kopf, wie die Lady ihn hier in seinem Reich besuchte. Er würde den Gartentisch festlich decken mit dem guten Geschirr und den bestickten Servietten von Mutter. Aus der Küche käme der verführerische Duft von Gebackenem. Dann würde er unter ihren bewundernden Blicken seinen unnachahmlichen Apfelkuchen servieren.

Köstlich die Torte. Allein wie sie duftet. Mein Lieblingskuchen. Nein! Sie haben ihn selbst gebacken? Unglaublich, was Sie alles können!

Vielleicht hatte er Glück und begegnete der Lady auf der Straße, wenn sie zurückkehrte. Der Vorgarten war ideal, um unauffällig zu beobachten, wer ins Haus kam, während er seine Arbeit machte. Sein Blick fiel auf den Rechen neben der Bank. Er stand auf, nahm den Rechen und lief den Kiesweg entlang zum Tor. Das Unkraut zwischen den Kieseln musste auch gezupft werden. Das wollte er gleich erledigen. Er holte seine Gartenhandschuhe und einen Plastikeimer und begann mit der Arbeit.

Da hörte er jemanden rufen. Thieme trat hinter den Buchsbaumbüschen hervor und erspähte einen Mann am Tor. Der Mann war etwa Anfang vierzig, groß, das schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er rüttelte jetzt am Tor. »Hallo, können Sie mal aufmachen?«

»Wer sind Sie denn bitte?«

»Mein Name ist Höfner. Nun machen Sie schon. Hab geklingelt, aber niemand meldet sich.«

»Dann wird auch niemand da sein«, brummelte Robert. »Zu wem wollen Sie denn?«

»Zu meiner Schwester Dorothea Höfner.«

Robert Thieme zuckte leicht zusammen und musterte den Mann. Von einem Bruder der Höfner hatte er bisher nichts gehört. Bei genauerem Hinsehen war eine entfernte Familienähnlichkeit erkennbar. Aber seine Kleidung machte einen etwas heruntergekommenen Eindruck, was man von der Schwester wirklich nicht behaupten konnte. Und so jemand wollte ihm Anweisungen geben. »Ich kann Sie nicht einfach so hereinlassen, wenn Frau Höfner nicht da ist. Vormittags oder am frühen Abend ist sie meist anzutreffen.«

Der Mann sah ihn finster an, blieb unschlüssig vor dem Tor stehen.

Was der wohl wollte? Robert wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Kurze Zeit später, als er zum Tor rüber sah, war der Mann verschwunden. Thieme lief mit dem Rechen in der Hand auf die Straße. Dort war weit und breit niemand zu sehen. Er begann zu harken. Besonders sorgfältig bearbeitete er das schmale Rasenstück am Zaun entlang vor dem Grundstück. Er ruhte nicht, bis er auch das letzte Blatt vom Gehweg entfernt hatte. Schließlich stopfte er das gesamte Laub in einen Plastiksack.

Ein BMW hielt am Bürgersteig und der kleine drahtige Mann, der hier wohnte, stieg aus und steuerte mit der Sporttasche in der Hand auf das Haus zu. Wie hieß er noch gleich? Gelegentlich entfielen ihm die Namen. Richtig, Hans Engler.

»Guten Tag, Herr Thieme.«

Robert nickte ihm zu und sah ihm hinterher, wie er die Haustür aufschloss.

Es hatte keinen Sinn, länger auf die Lady zu warten, in absehbarer Zeit würde sie wohl nicht zurückkommen. Vermutlich war sie zu einem Einkaufsbummel in der Stadt unterwegs. Er ließ die Schultern hängen und zog das Tor hinter sich zu. Frustriert kickte er eine Kastanie, die auf dem Weg lag, auf die Wiese.

»Herr Thieme?«

War das Wunschdenken oder hörte er tatsächlich die Stimme der Lady? Er drehte sich überrascht um.

Sie stand draußen am Gartentor, neben ihr auf dem Boden mehrere Einkaufstüten. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Er ließ den Rechen fallen, eilte zum Tor und trug die Tüten zur Haustür.

»Danke. Sie sind ein Gentleman.« Sie lächelte ihn an, was ihm die Röte ins Gesicht trieb. »Bei der Gelegenheit wollte ich Sie fragen, ob ich meine Umzugskartons in den Keller stellen kann.«

»Selbstverständlich. Wenn sie wollen, erledigen wir das gleich. Ich helfe Ihnen.«

Er beglückwünschte sich innerlich, dass es ihm gelungen war, so unbefangen mit einer Frau zu reden. Noch dazu mit einer wirklichen Dame. Er machte Fortschritte. Als er noch im Büro angestellt gewesen war, war es ihm kaum gelungen, ohne längere Pausen oder Stotteranfälle mit einer Frau einen Satz zu wechseln. Er folgte ihr die Treppe hinauf und blieb vor der Tür ihres Apartments stehen.

»Kommen Sie bitte rein«, sagte Sophie Graefe mit einer einladenden Geste.

Thieme ließ seinen Blick über die hellen, antiken Möbel, den Rosenstrauß in der weißen Bodenvase und die modernen Bilder an den Wänden gleiten. Von Kunst oder Antiquitäten hatte er keine Ahnung, aber die Einrichtung gefiel ihm. Das war völlig anders, als die klobigen Möbel und die düsteren Landschaftsbilder im Haus seiner Mutter. »Sie haben es schön hier«, sagte er spontan. »Das ist überhaupt das schönste Zimmer im Haus. Es hat so viel … Harmonie.«

»Danke.« Die Lady lächelte, was ihn wieder erröten ließ.

Gemeinsam trugen sie die zusammengefalteten Kartons die Treppe hinunter. Sophie folgte ihm bis hinter das Haus und lehnte die Pappen an die Wand neben der Kellertür. Eine Buchsbaumhecke teilte den Platz vor dem Kellereingang von dem Rest des Gartens ab.

»Das haben Sie hier alles wunderbar angelegt. Sie verstehen etwas von Pflanzen«, sagte die Lady mit Bewunderung in der Stimme.

Thieme spürte, wie er erstarrte. Ihr Kompliment brachte ihn vollständig aus dem Konzept. Er war es nicht gewohnt, dass ihn jemand lobte.